III. TEIL

Die verschlüsselte Expreß-Nachricht des CIA, die auf Egon Kallmeiers Schreibtisch im BND landete, alarmierte ihn, als habe er einen Hinweis bekommen, der Kanzler solle ermordet werden. Er ließ sich sofort beim ›Chef‹ melden und wanderte im Vorzimmer ungeduldig hin und her, bis er vorgelassen wurde.

»Jetzt wird das Bild klarer«, sagte er erregt und legte den CIA-Text auf den Tisch. »Da ist eine riesige Schweinerei im Gange.«

»Wovon reden Sie, Herr Kallmeier?« fragte der Präsident. Im Augenblick verstand er dessen Erregung nicht.

»Von dem ›Fall Köllner‹.«

»Dem flüchtigen Spion im Auswärtigen Amt?«

»Sie erinnern sich: Köllner hatte einen Onkel in Moskau, einen Bruder seiner Mutter. Ein international bekannter Atomwissenschaftler. Ein Genie auf seinem Gebiet. Vor neun Jahren starb er plötzlich an einem Infarkt. Seine Beerdigung war fast ein Staatsbegräbnis. Jetzt gelang es einem Agenten des CIA, das Grab zu öffnen. In dem Sarg lagen Steine …«

Der Präsident des BND lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück und nickte mehrmals. »Jetzt fehlt uns ein James Bond«, meinte er sarkastisch.

»Es kommt noch toller.« Kallmeier holte tief Luft. »Der angeblich tote Professor Frantzenow taucht plötzlich wieder auf, in einer Forschungsstadt im Südosten Kasachstans, die Kirenskija heißen soll. Ein Offizier des CIA hat mit ihm gesprochen. Daraus können wir einwandfrei konstruieren: Ist Köllner auf der Flucht zu seinem Onkel und taucht bei ihm auf, hat Köllner über all die Jahre hinweg Kontakt mit Frantzenow gehabt. Er hat seinem Onkel die wichtigsten Nachrichten zukommen lassen.«

»Ich denke, sein Agentenführer ist der Mann mit dem Decknamen Ludwig?«

»Für den Alltagskram. Die dicken Dinger müssen über Frantzenow gelaufen sein.«

»Von Bonn über Kasachstan nach Moskau? Ein riesiger Umweg.«

»Es scheint so, als habe Frantzenow seine Kontaktstelle in Moskau nie aufgegeben. Jetzt müssen wir nur noch recherchieren, welche Rolle die Schwester in dem Familienkomplott spielt, diese Erna Weberowsky in Nowo Grodnow. Auch und schon wieder Kasachstan! Wie war der Kontakt zwischen ihr und Köllner? Haben Bruder und Schwester zusammengearbeitet? Enthielten Köllners Briefe an seine Tante verschlüsselte Meldungen aus dem Auswärtigen Amt? War hier ein Nachrichtenring aufgebaut worden? Niemand hat doch die Briefe kontrolliert, wenn ein Bürger der BRD an seine Tante nach Rußland schreibt. So einfach kann bei uns Spionage betrieben werden! Wir observieren jahrelang tote Briefkästen und Agentenführer … und die Bundespost befördert unterdessen ein Staatsgeheimnis nach dem anderen.«

»Es gibt keine gesetzliche Handhabe, Briefe nach Rußland zu kontrollieren. Sie sind unantastbare Privatsphäre. Unser Grundgesetz, Kallmeier. Und eine Ausnahmegenehmigung? Zu spät. Köllner ist auf dem Weg nach Moskau. Das ist mir jetzt klar.« Der Präsident beugte sich etwas vor. »Wie gehen Sie weiter vor, Herr Kallmeier?«

»Wir werden uns jetzt intensiv um Professor Frantzenow und vor allem um diese Erna Weberowsky kümmern.« Kallmeier atmete wieder tief durch. »Ein Idealfall wäre es, wenn sich die Weberowskys für eine Übersiedlung nach Deutschland melden.«

»Wenn Ihr Verdacht greift … so dumm werden sie nicht sein.«

»Es ist alles möglich, Herr Präsident.« Kallmeier nahm die CIA-Meldung wieder an sich. »Möglich ist sogar, daß der Ehemann von der Tätigkeit seiner Frau nichts weiß.«

Im Kulturzentrum von Ust-Kamenogorsk saß Weberowsky dem Sprecher der Rußlanddeutschen, Ewald Konstantinowitsch Bergerow, gegenüber. Er war nicht der einzige, der den weiten Weg auf sich genommen hatte, um Klarheit zu bekommen. Man wußte nur, daß alles nicht so einfach war, wie es sich anhörte. Man konnte sich nicht in ein Flugzeug oder einen Zug setzen, eine Fahrkarte nach Deutschland lösen und losfahren. So, wie ein Deutscher von Hamburg nach München fahren kann. Man mußte erst beweisen, daß man überhaupt ein Deutscher und nicht in den vergangenen zweihundert Jahren zu einem Russen geworden war. Um diesen Beweis zu erbringen, hatte man in Bonn mit deutscher Beamtengründlichkeit einen Fragebogen erstellt, der vierundfünfzig Seiten umfaßte und Fragen stellte, die von den meisten der Rußlanddeutschen nicht beantwortet werden konnten. Dieser ›Antrag auf Aufnahme als Aussiedler‹, wie er amtlich hieß, zeigte sich voller Fallen, und wer in eine von ihnen hineintappte, bekam seinen Antrag zur ›Vervollständigung‹ zurück und mußte sich hinten wieder anstellen.

Es war schwer, so etwas den Menschen zu erklären, die nichts als in die Heimat ihrer Urväter zurückwollten. Bergerow hatte sich die Mühe auf den Hals geladen, den Hoffenden die bittere Wahrheit zu verkaufen. Für die Deutschen müßt ihr erst beweisen, daß ihr Deutsche seid.

Bergerow hatte sich eine Methode ausgedacht, wie man seine Landsleute aufklären könnte. Nicht jeden einzeln, das überstieg seine Zeit. Er hielt zweimal pro Woche eine Versammlung ab, in der er mit einem langen Vortrag alle Probleme anpackte und dann eine Diskussion anbot. Das war immer der kritischste Teil des Abends. Was er hier zu hören bekam, sollten doch einmal die Bonner Politiker und die Landesbehörden zu Ohren bekommen. Vor allem die deutschen Bundesländer gaben sich zugeknöpft. Wohin mit den Brüdern aus dem Fernen Osten? Von Hunderttausenden, vielleicht sogar von einer Million war neuerdings die Rede, wenn man den Zahlen der Allunionsgesellschaft ›Wiedergeburt‹ glauben konnte. Deutschland ist dicht. Allein fünf Millionen Ausländer leben hier, täglich kommen Hunderte von Asylbewerbern in die Sammellager, in einem Monat bis zu 20.000. Und nun wollen auch noch die Rußlanddeutschen hinein, wollen Wohnung, Arbeit, Sozialleistungen. Woher nehmen, wenn die Kassen leer sind und der Wohnraum ausgeschöpft ist? Sollen auf jedem noch freien Platz der Städte und Gemeinden Container aufgestellt werden, in die man die Menschen hineinstopft und ihnen sagt: Ihr wolltet es ja nicht anders. Warum seid ihr nicht auf euren schmucken Höfen in Kasachstan geblieben? Warum wolltet ihr nicht zurück an die Wolga? Was hat euch nach Deutschland getrieben? Armut? Nein! Politischer Druck? Nein! Was also? Nur eins: Die große Hoffnung, in ein Paradies zu kommen.

Das alles wurde natürlich nicht ausgesprochen, aber es bestimmte die Handlungen bei der Bearbeitung der Anträge. Bergerow sah das alles, und er sagte es auch seinen Landsleuten mit dem Erfolg, daß man ihn in den Bonner Ministerien einen Aufhetzer, einen Agitator, einen Volksaufwiegler nannte.

Weberowsky hatte den langen Vortrag wortlos mit angehört. Während sich die anderen empörten, dazwischenschrien und im Sprechchor »Wir sind Deutsche! Wir sind Deutsche!« brüllten, was ja nur Bergerow und nicht die Politiker am Rhein hörten, wartete er ab, bis Bergerow erschöpft das Podium verließ und sich in sein Büro zurückzog. Er wäre nie zu ihm vorgedrungen, wenn er nicht seine Freundschaft mit Kiwrin betont hätte, der wiederum ein Freund von Bergerow war.

Nun saßen sie sich gegenüber, und Weberowsky sagte:

»Es stimmt also nicht, daß jede Familie einzeln zur Botschaft muß, um dort den Antrag auszufüllen?«

»Nein, es stimmt nicht. Du kannst den Antrag hier bei uns bekommen. Du füllst ihn aus, und wir schicken ihn nach Alma-Ata. Das deutsche Generalkonsulat wird ihn weiterreichen nach Moskau zur Botschaft, und die schickt die Anträge nach Köln, zum Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. Dort werden die Anträge geprüft und kontrolliert, ob alle verlangten Nachweise auch vorhanden sind.«

»Und wie lange dauert das?«

»Wenn du Glück hast, wird dein Antrag in vier Monaten bewilligt. Aber das ist eine Ausnahme bei Härtefällen. Normal dauert das Verfahren ein Jahr … es können auch zwei Jahre werden.«

»Das heißt –« Weberowsky starrte Bergerow fassungslos an.

»Ja, das heißt es.«

»Ich will als Deutscher nach Deutschland, und die machen drüben zwei Jahre lang die Tür zu?!«

»So kann man es nennen. Sie sind jetzt besonders gründlich, nachdem man mit den Asylbewerbern schlechte Erfahrungen gemacht hat.«

»Ich bin kein Asylant, ich bin ein Deutscher, der in seine Heimat will!« schrie Weberowsky. Sein bisheriges Bild von Deutschland begann fleckig zu werden. »Meine Vorfahren kommen aus dem Hessischen.«

»Das mußt du erst beweisen.«

»Wie denn? Es gibt doch keine Dokumente mehr! Es ist eine Überlieferung. Das einzige, was ich zeigen kann, ist eine Bibel, die mein Großvater uns schenkte. Da steht drin: Johannes Weberowsky, Grodnow an der Wolga. Ukraine.«

»Das kann jeder reinschreiben, das ist für die Beamten kein Beweis. Man will ja auch gar nicht die Jahrhunderte zurück. Im Fragebogen steht, daß nachgewiesen werden muß, wo sich deine Familie von 1930 bis heute befunden hat. Nachweis aller Wohnorte durch die örtlichen Behörden. Da sind sich die Amtsstellen von Kasachstan, Rußland, Ukraine und natürlich Deutschland einig.«

»Das ist einfach. 1930 hatten wir einen Bauernhof in Grodnow. Mein Vater Anton hatte zehn Kühe im Stall.«

»Da hast du Glück, Wolfgang. Eine Bescheinigung des Bürgermeisters von Grodnow genügt.«

Weberowsky nickte schwer. »Wer soll sie ausstellen? Beim Vormarsch der deutschen 6. Armee auf Stalingrad ist Grodnow völlig zerstört worden. Man hat es nicht wieder aufgebaut. Ein Stahlkombinat steht auf dem Land. Unter dem Artilleriebeschuß sind damals alle Akten und Dokumente vernichtet worden.«

»Scheiße!«

»Du sagst es, Ewald.«

»Es kann also niemand bescheinigen, daß ihr 1930 in Grodnow an der Wolga gewohnt habt?«

»Wer? Es gibt Zeugen, unsere Nachbarn, die jetzt auch wieder unsere Nachbarn in Nowo Grodnow sind. Sie können beschwören …«

»Und die euch wiederum auch als Zeugen brauchen.« Bergerow schüttelte den Kopf. »Das kann schiefgehen, Wolfgang. Man wird sagen: Da schwört einer für den anderen in schöner Eintracht, und so wandert der Eid reihum …«

»Ich bin kein Betrüger!«

»Bei Unklarheiten solcher Art setzen die deutschen Behörden immer das Schlimmste voraus. Mißtrauen ist immer die erste Tür, die man eintreten muß, ehe man sich mit dir näher beschäftigt.«

»Das heißt, mein Antrag würde wegen dieser Kleinigkeit nicht bewilligt?«

»Auf jeden Fall bedeutet es: Nachweis nicht erbracht. Und schon behinderst du den Ablauf des Verfahrens. Das hat kein Beamter gern.«

»Was muß ich sonst noch alles beweisen?« fragte Weberowsky mit mühsam beherrschter Stimme. Seine Brust schmerzte. Gleich platze ich, dachte er. Gott, gib mir Kraft, mich zu beherrschen.

»Lies es durch. Ich gebe dir den Fragebogen mit.« Bergerow zuckte mit den Schultern. »Ich kann nichts anderes machen als zu protestieren. Aber sie halten mich in Bonn sowieso für einen Querkopf. Wenn du von draußen kommst, vor allem aus Rußland, ist es eben schwer in Deutschland zu beweisen, daß du ein Deutscher bist. Und bist du in der alten Heimat, wirst du ein Mensch zweiter Klasse bleiben. Eine Generation mindestens wird es dauern, bis ihr integriert seid. Schon wenn du fragst: ›Uo ist Härr Krämmär‹, siehst du in den Augen der anderen: Aha, auch einer von drüben …«

»Gib mir den Fragebogen, Ewald«, sagte Weberowsky hart und erhob sich. »Ich möchte dem gegenüberstehen, der mir ins Gesicht sagt: Sie haben fünf Fragen nicht beantworten können, Sie und Ihre Familie sind keine Deutschen.«

»Wolfgang, mach keine Dummheit!«

»Um diesen Satz zu hören, fliege ich nach Moskau und gebe meinen Antrag selbst bei der deutschen Botschaft ab. Weder die Zaren noch Lenin noch Stalin noch Breschnew haben einen Weberowsky in die Knie zwingen können … und einem deutschen Beamten gelingt das schon gar nicht.«

»Sei nicht so sicher, Wolfgang. Ein Stempel ›Abgelehnt‹ läßt sich nicht mehr wegwischen.«

»Sagen wir es doch klar, Ewald: Deutschland will uns nicht.«

»Es weiß nicht, wohin mit euch.«

»Aber die Asylanten nimmt man auf!«

»Diese Frage mußt du den Politikern stellen. Ich weiß darauf keine Antwort.«

Nach vier Tagen fuhr Weberowsky zurück nach Karaganda und von dort aus nach Atbasar. Er blieb noch für einen Tag in der Kreisstadt und besuchte am nächsten Morgen Kiwrin.

»Hast du den Fragebogen schon gelesen, den wir ausfüllen sollen, Michail Sergejewitsch?« rief er und warf ihm das dicke Formular auf den Schreibtisch. »Da lies! Benennen Sie Zeugen, daß bei Ihnen das deutsche Volkstum gepflegt wurde. Oder hier: Haben Sie durch Ihre deutsche Volkszugehörigkeit Nachteile erlitten? Was soll ich da schreiben? Man hat uns seit vierzig Jahren in Kasachstan angefeindet, aber es geht uns gut. Wir haben keine Sorgen. Ich bin befreundet mit dem Bezirkssekretär Kiwrin. Vereinzelt hat es im Land Flugblätter gegen uns gegeben, Schlägereien, Überfälle, ein Mord … aber das sind alles Einzelfälle, menschliche Entgleisungen. Wieviel Morde gibt es jährlich in Deutschland? Fühlen sich dadurch achtzig Millionen bedroht? Wenn ich das schreibe, kann ich das Formular gleich wegwerfen. Und hier: Waren Sie Angehöriger der sowjetischen Armee? Ich nicht, aber mein Sohn Hermann, er wurde in Ehren entlassen, und die Sowjetrepublik bezahlte sein Ingenieurstudium. Wenn ich diese Frage wahrheitsgemäß beantworte, ist Hermann in den Augen der deutschen Beamten sofort ein Russe. Antrag abgelehnt! Und so geht es auf vierundfünfzig Seiten weiter. Falle nach Falle, und am Ende stehst du da als der Musterrusse, der unbedingt ein Deutscher sein will, um an die bundesdeutschen Schmalztöpfe zu kommen. Dieser Fragebogen ist eine einzige Frechheit.«

»Er ist ein geniales Beispiel, wie man ungebetene Gäste vor der Tür stehen läßt.« Kiwrin faltete den Fragebogen zusammen. »Du brauchst den Antrag ja nicht auszufüllen. Bleib hier …«

»Ich will aber ausreisen!«

»Warum?«

»Das verstehst du nicht, Michail Sergejewitsch.«

»Du hast einen wundervollen Hof, herrliche Felder, vor Gesundheit strotzendes Vieh, du bist ein reicher Mann, du hast keine Feinde – die Beljakowa rechnen wir nicht, die hat einen Wurm im Hirn –, du bist überall gut angesehen, du hast eine Frau, die dich Holzklotz über alles liebt, du hast drei prächtige Kinder. Himmel noch mal, was willst du denn noch mehr? Nicht Hessen, Kasachstan ist deine Heimat!«

»Michail Sergejewitsch … sagen wir, du lebst in New York. Du hast es zu etwas gebracht, dir gehört ein Supermarkt. Du hast ein Stück Land in New Jersey, eine hübsche Frau, zwei Kinder, sogar eine Motoryacht kannst du dir leisten, machst jedes Jahr Urlaub auf den Bahamas oder auf Hawaii, fährst einen riesigen Wagen und spielst Golf im vornehmsten Club. Aber du bist Russe, ein Russe in New York. Was ist deine Heimat?«

»Das ist ein dämlicher Vergleich, Wolfgang Antonowitsch.« Kiwrin verzog das Gesicht, als habe man ihn gegen das Schienbein getreten. »Ich bin ein kleiner Bezirkssekretär und …«

»In New York bist du ein Millionär.«

»Wenn ich das wäre, hätte ich das Geld, ab und zu Rußland zu besuchen.«

»Und warum besuchst du Rußland?«

»Weil es … verdammt seist du, du hinterhältiger Hund … weil es meine Heimat ist!« schrie Kiwrin.

»Verstehst du mich jetzt?«

»Du füllst den Antrag also aus?«

»Ja, und ich bringe ihn selbst nach Moskau.«

»Willst du die halbe deutsche Botschaft erschlagen?«

»Nein, ich will aus ihrem Mund nur hören, daß ich kein Deutscher bin, weil es mir in Kasachstan gutgeht, ich nicht jeden Tag ein Volkslied singe, meine Söhne eine sowjetische höhere Schule besucht haben und besser russisch sprechen als deutsch. Man soll mir sagen, daß ich kein Deutscher bin, weil mein Sohn eine russische Verlobte hat, ich nie das Messer eines Kasachen zwischen den Rippen hatte, mein anderer Sohn auf Kosten des Staates Medizin studieren soll und ich nur Freunde habe. Das soll man mir ins Gesicht sagen: Abgelehnt. Ihr Nachwuchs zeigt nichts von deutscher Brauchtumspflege.«

»So wird es kommen, Wolfgang Antonowitsch. Und du änderst es nicht. An dieser Mauer wirst du dir den Kopf einrennen.«

»Das wollen wir sehen.«

»Versuch es erst gar nicht. Die Behörden sind stärker als du. Und gelingt es wirklich, sie zu überzeugen, dann werden sie dich drei Jahre zappeln lassen. Und dagegen kannst du gar nichts tun, bei den zahllosen Anträgen. Du kannst dem Staat kein Arbeitstempo vorschreiben.« Kiwrin schob Weberowsky das dicke Formular wieder zu. »Füll es aus oder nicht, aber laß mir meinen Frieden. Weißt du übrigens, daß Zirupa bei der Regierung in Alma-Ata Rubel beantragt hat, um deinen Hof zu kaufen?«

»Ehe er ihn bekommt, stecke ich ihn an!« schrie Weberowsky. Sein Lebenswerk in den Händen Zirupas! Das Haus, das Erna und er gebaut hatten, mit eigenen Händen. Er dachte daran, wie Erna das Dachholz gesägt hatte, wie sie Steine geschleppt, wie sie das erste Dach aus Reisern geflochten und wie sie stundenlang Sand gesiebt hatte und das alles ohne ein Wort der Klage. Und dieses Haus wollte Zirupa jetzt kaufen und der Sowchose ›Bruderschaft‹ eingliedern?

»Abbrennen würde ich es nicht«, sagte Kiwrin. »Das kostet dich ein paar Jahre Gefängnis in Sibirien. Und dann hast du nichts mehr. Kein Haus und keinen Ausreiseantrag. Und enteignet wirst du auch, und Zirupa kassiert dein Land, ohne einen einzigen Rubel klingeln zu lassen. Was du alles in deinem Gehirn herumwälzt, mach Platz für einen guten Rat: Bleib hier.«

Weberowsky antwortete nicht, riß das Ausreiseformular an sich und stapfte hinaus. Draußen auf dem Vorplatz stieß er auf Zirupa, der sofort auf ihn zustürzte.

»Ich höre, du willst auch weg nach Deutschland? Ich habe aus Alma-Ata eine Vollmacht bekommen. Ich biete dir für deinen Hof 40.000 Rubel!«

Wortlos schob er den aufgeregten Zirupa einfach zur Seite, ging in die gegenüberliegende Wirtschaft und bestellte sich ein Bier.

Chinesisches Bier in Dosen. Die Grenze nach China war näher als jede sowjetische Brauerei. Er war ein gutes Bier, aus Mais gebraut.

Weberowsky setzte sich an einen Holztisch, der blank gescheuert war, goß das hellgelbe Bier in ein Wasserglas und trank.

Seit neun Tagen saß Weberowsky über dem dicken ›Antrag auf Aufnahme als Aussiedler‹ und schüttelte immer wieder den Kopf. Fragen über Fragen, die er wahrheitsgemäß nicht beantworten konnte. Schließlich flüchtete er in die Ironie und schrieb unter ›Pflege deutschen Volkstums‹:

»Wir feiern jedes Weihnachten und Ostern. Ich bin der Weihnachtsmann, mein jüngster Sohn spielt den Osterhasen. Die Eier legen vierzehn Hennen von mir. Nach dem Eiersuchen singen wir alle gemeinsam ›Am Brunnen vor dem Tore …‹ und freuen uns auf das Osterlammbrot, das meine Frau nach altem deutschen Rezept gebacken hat.«

»Das muß genügen!« sagte Weberowsky laut. »Das treibt einem Tränen in die Augen.«

Der Gesamtkomplex, ob er wegen seiner deutschen Abstammung zu leiden hatte, machte Weberowsky besonders wütend. Er schrieb:

»Abgesehen davon, daß wir 1941 von Stalin nach Kasachstan und Sibirien zwangsumgesiedelt wurden, man uns unsere Höfe wegnahm, das Vieh, alles, was meine Vorfahren seit 1806 an der Wolga aufgebaut haben, wurde unserer Familie in den letzten vierzig Jahren folgendes Leid angetan: Dreimal wurde ein Huhn gestohlen. Unserer Kuh Bascha schnitt man nachts den Schwanz ab. Ein böser Kasache gab unserem Hund Flockie einen Tritt in den Hintern. Bei einer Auseinandersetzung in der Schule wurde meinem ältesten Sohn Hermann der Schulranzen zerstört. Die ›Heldin der Nation‹ Katja Beljakowa beschimpfte mich auf das übelste. Seitdem grüßt sie mich nicht mehr.«

Zufrieden mit seinem Spott ackerte Weberowsky den dicken Fragebogen durch. An einem Abend, an dem die ganze Familie anwesend war, was in letzter Zeit sehr selten vorkam, machte er sich die Mühe, seine Antworten vorzulesen. Schweigend hörten alle zu, bis er die letzte Frage zitiert hatte. Weberowsky ließ den Fragebogen sinken und blickte seine Familie an.

»Na, was haltet ihr davon?« fragte er.

»Bravo!« antwortete Gottlieb.

Daß gerade Gottlieb ihm Beifall zollte, machte Weberowsky plötzlich nachdenklich und vorsichtig.

»Was heißt hier bravo?« entgegnete er.

»Wir bleiben also hier?!«

»Wieso?«

»Ja glaubst du denn, daß die deutschen Behörden uns bei einem solchen Fragebogen ins Gelobte Land lassen? Die merken doch schon bei den ersten Antworten, daß du sie gegen das Schienbein trittst.«

»Wer so dämliche Fragen stellt, gehört nicht anders behandelt.«

»Du vergißt nur eins, Vater«, schaltete sich Hermann ein. »Wir bitten um Aufnahme in Deutschland, wir stellen den Antrag auf Aussiedlung! Deutschland hat uns nie gebeten zu kommen. Es ist froh, wenn wir hier bleiben. Darum der Fragebogen, der für viele unausfüllbar ist. Man verlangt Beweise, die gar nicht zu erbringen sind. Schon der Nachweis, ob die junge Generation – also wir – deutsch spricht, kann nicht ehrlich beantwortet werden. Wir sprechen russisch besser als deutsch. Schreibst du das hinein, werden nicht nur wir als ›Nicht mehr Deutsche‹ abgelehnt, sondern die ganze Familie, also auch du und Mutter. Der ganze Fragebogen ist nichts als ein Filter und eine Bremse. In diesem raffinierten Netz bleiben Hunderttausende hängen. Das hat System, ist beste deutsche Beamtenarbeit. Siehst du, wir sprechen jetzt russisch miteinander, auf deutsch bekäme ich von all dem keine drei Sätze zusammen.«

»Das ist ja die Tragödie unserer Familie!« schrie Weberowsky auf. »Meine Kinder haben verlernt, Deutsche zu sein!« Er warf den Fragebogen auf die Eckbank und sah seine Söhne und die Tochter aus zusammengekniffenen Augen an. »Aber das kann man ändern.«

»Und wie?« fragte Gottlieb kampfeslustig.

»Ihr lernt wieder Deutsch.«

»Das wird ein frommer Wunsch bleiben, Vater«, antwortete Hermann. »Du glaubst doch wohl nicht, daß ich als diplomierter Ingenieur noch einmal eine Schulbank drücke.«

»Das ist auch nicht nötig, mein hochnäsiger Sohn!« Weberowsky begann wieder innerlich zu glühen. »Vom Kulturzentrum in Ust-Kamenogorsk kann ich mir für unseren Fernseher einen Videorecorder leihen und Kassetten mit einem kompletten deutschen Sprachkurs. Dann werden wir hier jeden Abend sitzen und gemeinsam Deutsch lernen!«

»Warum?«

»Weil ihr Deutsche seid!« brüllte Weberowsky. »Weil wir in die alte Heimat heimkehren!«

»Er begreift es einfach nicht.« Gottlieb stand auf. »Es hat auch gar keinen Zweck, darüber zu sprechen.«

»Wo willst du hin? Ich bin noch nicht fertig.«

»Aber ich.«

»Wohin gehst du um diese Zeit?«

»Ich bin zweiundzwanzig Jahre alt, und ich gehe, wann und wohin ich will.«

»Solange du an meinem Tisch sitzt und ißt, will ich wissen, was um mich herum geschieht.«

»Das kann man ändern.« Gottlieb blieb trotzig in der Tür stehen. »Sag, ich will dich nicht mehr, dann siehst du mich auch nicht mehr.«

»Und was tut dann mein zukünftiger Chefarzt?«

»Bis ich die Zuweisung zur Universität bekomme, werde ich nicht verhungern. Es gibt Arbeit genug.«

»Und jeder wartet auf Gottlieb Wolfgangowitsch Weberowsky. Aber bitte. Geh, geh, wenn dir dein Elternhaus so widerlich ist!«

Ohne Antwort verließ Gottlieb das Haus. Erna und Eva verhielten sich still. Vater nur nicht noch mehr reizen, dachten sie. Warum hat Gottlieb seine Freude daran, mit Worten um sich zu schlagen? Noch ist doch gar nicht entschieden, ob man uns in Deutschland will, ob man uns einreisen läßt. Und die Entscheidung wird nicht vor einem Jahr bei uns eintreffen. Wer weiß, wie die Welt in einem Jahr aussieht? Wie schnell, wie rasend hat sie sich in den letzten Monaten verändert! Sowjetrußland ist inzwischen endgültig zusammengebrochen, Lenins Traum ist zu einem historischen Debakel geworden, die Weltmacht, die Angst und Schrecken verbreitet hat, zerstörte sich selbst. In Zukunft wird es das Riesenreich nicht mehr geben. Es wird in lauter kleine Staaten zerfallen, und es wird die jetzt immer wieder diskutierte Föderation bilden. Was haben da 1,8 oder 2 Millionen Rußlanddeutsche für eine Bedeutung?

»Willst du den Fragebogen wirklich in dieser Form abgeben, Vater?« unterbrach Hermann das gefährliche Schweigen.

»Denkst du, ich habe mir die Mühe, alles zu beantworten, umsonst gemacht?«

»Das sind keine Antworten, das ist dickster Hohn.«

»Anders kann man die Fragen nicht beantworten. Wenn unsere Vertreibung von der Wolga und unser jahrzehntelanger Existenzkampf in Kasachstan den deutschen Beamten nicht genügen, dann sollte man auf diesen Fragebogen spucken! Was verlangt man eigentlich von uns? Daß man uns hier die Köpfe abschlägt und wir mit dem Kopf unterm Arm zu den deutschen Behörden kommen und sagen: Dürfen wir jetzt nach Deutschland hinein?«

Hermann wechselte das Thema, es hatte keinen Sinn, mit dem Alten zu streiten. »Willst du dir den Videorecorder leihen mit dem deutschen Sprachkurs?«

»Ja. Es genügt nicht, daß wir Volkstänze aufführen und der Pfarrer in der Kirche deutsch predigt. Sie lassen uns nur ausreisen, wenn wir ein vernünftiges Deutsch sprechen. Ich kann sogar noch unsere hessische Mundart.«

»Dafür kann ich sprechen wie ein Kasache.«

»Das will keiner wissen.«

»Für mich ist es das Fundament meines Lebens, Vater. Ich bin ein russischer Ingenieur und heirate ein russisches Mädchen.« Hermann stand auch vom Tisch auf. »Vater, nimm einmal einen Rat an: Gib diesen Fragebogen nicht ab. Mit den Antworten kommst du nie nach Deutschland.«

Am nächsten Tag fuhr Weberowsky nach Atbasar, um noch einmal mit Kiwrin zu sprechen. Aber Michail Sergejewitsch war nicht zu sprechen. Er war mit größtem Eifer dabei, das Leben seiner Bürger zu schützen. Schon beim Eintritt in die Stadt hatte Weberowsky eine gewisse Aufregung bemerkt, eine ungewohnte Hektik und eine seltsame Leere auf den Straßen.

Das hatte seinen Grund in einem sehr seltenen Vorfall, auf den man in Atbasar nicht vorbereitet war.

Der Bauer Slatin Wassiljewitsch Markarewitsch hatte einen jungen Bullen zum Schlachthof gebracht. So ein Bulle bringt gutes Geld, sein Fleisch ist kräftig und fettlos, bestes Muskelfleisch und von einer nicht alltäglichen Qualität. Slatin war deshalb stolz, kassierte einen guten Rubelbetrag und trank mit dem Leiter des Schlachthauses, Wladimir Petrowitsch Micharin, zweihundert Gramm Wodka, was beide sehr beschwingte.

Weniger begeistert allerdings zeigte sich der junge Bulle. Wer weiß schon, was in einem Tier vorgeht, wenn es den Blutgeruch schnuppert und enthäutete und aufgeschlitzte Artgenossen an blitzenden Haken an sich vorbeiziehen sieht. Es begann damit, daß der Bulle einen bösen Blick bekam, die Augen rollte, durch die geblähten Nüstern schnaubte, den dicken Kopf senkte und sein linkes Horn dem Metzger Lew Igorowitsch Tomski in den Hintern rammte. Tomski vollführte einen rekordverdächtigen Hochsprung, hechtete dann aus der Reichweite des aufbrüllenden Tieres und schrie gellend durch die gekachelten Räume: »Hilfe! Hilfe! Er hat mich erwischt. Einen Arzt! Sofort einen Arzt! Ich verblute …«

Für den Stier war das ein Signal, das ungastliche Gebäude zu verlassen. Er senkte wieder den Kopf, kratzte mit den Vorderhufen über den glatten Boden und stürmte dann los. Die anderen Metzger, die herbeigeeilt waren, um dem jammernden Tomski zu helfen, warfen sich zur Seite und ließen den Bullen passieren. Einer jagte ihm ein großes Messer nach, das, dem Himmel sei Dank, nicht traf, denn es hätte das Tier noch mehr gereizt.

Slatin und Wladimir saßen am Fenster des Büros und tranken ihren Wodka, als draußen der Bulle vorbeigaloppierte. Slatin setzte erstaunt sein Glas ab und schüttelte den Kopf, als müsse er eine Vision verjagen.

»Das … das war doch Samson?« sagte er verblüfft.

»Wer ist Samson?« fragte Wladimir dumm.

»Mein Stierchen! Am Fenster vorbeigelaufen ist er, statt am Haken zu hängen.«

»Slatin, seit wann verträgst du keinen Wodka mehr?« fragte Wladimir gemütlich. »Lumpige 200 Gramm, und schon siehst du Stiere vorbeifliegen …«

Das Klingeln des Telefons unterbrach ihn. Er hörte kurz zu, was eine aufgeregte Stimme ihm sagte, und warf dann den Hörer zurück auf die Gabel. »Er ist wirklich unterwegs!« rief er und sprang auf. »Er hat Tomski mit dem Horn aufgespießt! Hinterher! Wenn er auf die Straße kommt, eine Panik gibt das! Kannst du deinen Bullen wieder einfangen?«

»Wenn man ihn wütend gemacht hat, ist er wie ein spanischer Stier in der Arena.«

»Er darf nicht weit kommen! Slatin, was kann er alles anrichten?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Slatin hilflos. »Ich habe keine Erfahrung mit wilden Stieren! Warum hat man ihn nicht richtig angebunden?«

»Fragen! Haben wir noch Zeit zu Fragen? Es muß etwas geschehen.«

Er riß das Telefon wieder an sich und rief Kiwrin an. Dort war von einem Milizionär, der an einer Straßenkreuzungstand und den Verkehr überwachte, Alarm gegeben worden. Samson hatte, seinem Namen entsprechend, ein Auto umgerannt, ein Obstgeschäft angegriffen und alle Kisten zerstört, während der Inhaber des Ladens flach hinter der Theke lag und betete. Und nun war er unterwegs in die Innenstadt. Das Chaos war vorauszusehen.

»Milizeinheiten werden gleich hinter ihm hersein!« rief Kiwrin ins Telefon. »Ich selbst fahre ihm auch nach. Wir werden ihn erschießen!«

»Kiwrin wird ihn erschießen lassen«, berichtete Wladimir und legte auf. Slatin sank auf seinen Stuhl zurück. »Welch ein unwürdiger Tod!« schnaufte er.

»Im Schlachthaus hätten sie ihn auch mit einem Bolzen erschossen.«

»Ein ehrlicher, anständiger Tod durch einen Metzger. Das ist etwas anderes, als von der Miliz gejagt und erschossen zu werden. Wie ein Schwerverbrecher! Samson ist kein Schwerverbrecher.«

»Warte ab, was er noch alles anstellt. Stell dir vor, er rennt eine Frau mit Kind um, eine kleine, junge, hübsche Frau mit einem Kind, das schwarze Locken hat. Er mordet sie dahin mit seinen Hörnern und seinen Hufen. Man muß ihn erschießen, Slatin.«

Kiwrin war unterdessen in einen Polizeijeep gesprungen und fuhr dem rasenden Bullen entgegen. Über Sprechfunk kannte er genau die Position. Samson kam direkt auf sie zu.

»Gewehre bereithalten!« rief Kiwrin.

»Ist geschehen«, antwortete der Milizionär hinter ihm. »Wo rennt er rum?«

»Er ist in der Nähe des Parteihauses. Bis jetzt hat er schon drei Autos auf dem Gewissen. Die Menschen flüchten in die Häuser. Ein wahres Ungeheuer muß er sein!«

»Sollten wir uns nicht an der Seite aufstellen, Michail Sergejewitsch?« fragte der Polizist bedrückt. Der Gedanke, einem so wütenden Stier genau entgegenzufahren, erzeugte ein mulmiges Gefühl im Magen.

»Warum auf der Seite?« rief Kiwrin.

»Von … von der Seite habe ich die bessere Schußposition. Dann kann ich besser treffen, als wenn ich nur den Kopf vor mir habe. Der pendelt beim Rennen ja immer hin und her.«

»Unsinn! Gib mir das Gewehr, wenn wir das Scheusal sehen.«

Samson, der nach Freiheit und Leben Drängende, mußte wirklich mit einem sensiblen Gefühl ausgestattet sein. Noch bevor er auf den entschlossenen Kiwrin traf, änderte er seine Richtung, warf einen Handkarren mit tönernen Dachziegeln um und begrub den schreienden Besitzer unter dem Scherbenhaufen.

Neue Meldung an Kiwrin: »Der Stier ist auf dem Weg zum Friedhof.«

»Das Aas hat sogar Humor!« rief Kiwrin. »Flieht zum Friedhof.« Und plötzlich hob er die Schultern und fuhr langsamer. »Friedhof … auch das noch …«

»Wie meinen Sie das, Michail Sergejewitsch?« fragte der Polizist. Er reichte Kiwrin das Gewehr. Damit verschaffte er sich die Möglichkeit, in Deckung zu gehen, falls der Bulle ihn sichten sollte.

»Kann man auf einem Friedhof jemanden erschießen?«

»Warum nicht?«

»Wegen der Pietät, du Klotz! Ein Friedhof ist ein Ort des Friedens. Das sagt schon das Wort. Ein geweihter Ort. Erschießt man jemanden auf geweihter Erde?!«

»Es ist ja nur ein Bulle. Ein Tier.«

»Aber ein Geschöpf Gottes!«

Die Wandlung des Genossen Kiwrin nach Gorbatschows Reformen war wirklich sehenswert. Hatte er früher getönt, die Kirche sei nur für alte, halbblinde und am Stock humpelnde Menschen da, deren Geist sich altersmüde langsam verdunkelte, so legte er jetzt Wert darauf, sonntags und feiertags in der ersten Reihe der Kirche gesehen zu werden, wie er das goldene Kreuz küßte, das ihm der Pope besonders gern entgegenhielt. Bei jedem wichtigen Begräbnis war Kiwrin dabei, begleitete den offenen Sarg bis zum Grab, hatte aufrichtende Worte des Trostes für die Hinterbliebenen und half sogar mit, den Sargdeckel draufzuschrauben.

»Aber wir können doch nicht den Stier auf dem Friedhof stehenlassen.«

»Wir müssen ihn herauslocken.«

»Aber wie?«

»Mit einer schönen Kuh. Ein echter, gesunder Bulle schnuppert das und vergißt alles andere. Wir müssen sofort eine Kuh besorgen.«

Wie befürchtet, so geschah es: Samson stürmte in den Friedhof, hielt mitten drin inne und ließ sich dann, doch etwas erschöpft, auf einem Grab nieder. Kiwrin und drei Polizeiwagen blieben vor dem Friedhofseingang stehen, mit entsicherten Gewehren, aber niemand wagte zu schießen.

»Ausgerechnet auf dem Grab von Jurij Iwanowitsch Zagolow, dem ehemaligen Bürgermeister der Stadt.« Kiwrin faßte sich mit den Händen an den Kopf. »Konnte er keinen anderen Platz finden?!«

»Eine Kuh!« schrie Kiwrin wieder. »Eine Kuh muß her!«

»Michail Sergejewitsch, woher sollen wir in Atbasar so schnell eine Kuh auftreiben?« Der Polizist hinter ihm fuchtelte mit dem Sprechfunkgerät herum.

Samson, der Sensible, schien sich auf dem Grab von Zagolow wohl zu fühlen. Er fraß die spärlichen Blumen auf, kaute sie genußvoll wieder, stieß ein paar fette Grunzlaute aus und blickte auf die Polizeiwagen, die den Eingang zum Friedhof versperrten. Der Kommandant der Miliz war mittlerweile auch eingetroffen und stand neben Kiwrin im Jeep. »Wir müssen ihn erschießen!« sagte er eindringlich. »Auch wenn er auf einem Grab liegt.«

»Ich möchte das Problem friedlich lösen«, antwortete Kiwrin.

»Wollen Sie seine Bilanz hören? Vier zertrümmerte Autos, drei verwüstete Geschäfte, ein vernichtetes Pferdefuhrwerk; der Dachdecker, dessen Ziegelwagen er umgerannt hat, liegt mit einem Nervenschock in der Bäckerei, in die er geflüchtet ist … Genügt das nicht?«

»Ich will ihn lebend haben!«

»Um ihn dann zurück zum Schlachthof zu bringen.«

»Ja.«

»Michail Sergejewitsch, ob man ihn im Schlachthaus tötet oder jetzt erschießt, es kommt auf das gleiche hinaus: er stirbt!«

»Es geht hier um das Prinzip! Aber das verstehen Sie nicht.« Nun waren auch der Bauer Slatin W. Markarewitsch und der Schlachthofdirektor Wladimir P. Micharin zum Friedhof gekommen und starrten auf den liegenden Bullen.

»Ein schönes Stierchen«, sagte Micharin. »Das gibt vorzügliche Bratenstücke und Steaks. Zu schade, sie zu verkaufen. Man sollte sie selber essen.«

»Redet nicht vom Essen!« rief Kiwrin empört. »Slatin, hol das Tierchen zurück.«

»Ich?« Slatin hob beschwörend beide Hände. »Was habe ich damit zu tun?«

»Es ist dein Bulle!«

»Nicht mehr. Verkauft habe ich ihn. Alles ist jetzt Sache des Käufers.«

»Ha! Jetzt schiebt er mir das wilde Vieh unter!« schrie Micharin empört. »Hört ihr das? Hört ihr das? Ihr seid alle meine Zeugen: Liefert eine Bestie ab und hängt sie mir an den Hals! Genosse Kiwrin –«

»Ich bin nicht mehr Genosse!« schrie Kiwrin zurück. »Ich bin aus der Partei ausgetreten! Slatin hat recht: Der Bulle gehört dem Schlachthof. Der hat dafür zu sorgen, daß die öffentliche Sicherheit nicht gefährdet wird! Wladimir Petrowitsch, holen Sie das Tierchen.«

»Ich?« Micharin umfaßte seinen Kopf mit beiden Händen. »Was verlangen Sie von mir, Michail Sergejewitsch? Ich bin Direktor eines städtischen Betriebes, aber kein Torero! Slatin kennt seinen Bullen am besten. Nur er allein kann ihn weglocken.«

»Wenn ich nur eine Kuh hätte!« Kiwrin blickte wild um sich.

»Versuchen will ich's.« Slatin seufzte tief auf. »Am liebsten möchte ich Samson behalten und ihn herzen und küssen. So ein mutiges Stierchen … und soll in die Bratpfanne. Micharin, ich gebe Ihnen die Rubel zurück. Ich nehme Samson wieder mit.«

»Kein neuer Handel mehr! Und wenn, dann schuldest du mir Geld für die 400 Gramm Wodka, die wir zusammen getrunken haben.«

»Halsabschneider! Alles Halsabschneider. Die ganze Welt besteht nur noch aus Halsabschneidern!« Slatin ballte die Fäuste. »Aber ich zeig es euch! Kann ich Samson behalten, wenn ich ihn einfange?«

»Ja!« sagte Kiwrin laut.

»Nein!« schrie Micharin empört. »Ich bestehe auf diesem herrlichen Stück Fleisch.«

»So gefühllos kann auch nur ein Schlachter sein!« rief Kiwrin empört.

»Ich bin Direktor!«

»Aber mit Blutrühren hast du angefangen!« Kiwrin gab Slatin einen Stoß in den Rücken. »Los! Versuch es! Hol deinen Samson von Zagolows Grab.«

»Betet für mich«, sagte Slatin dumpf. »Und grüßt meine Familie, wenn mir was passiert.«

Er zog seine Hose hoch und betrat dann mutig den Friedhof. Der Stier glotzte ihm entgegen, die Polizisten legten die Gewehre an.

»Mein Tierchen«, sagte Slatin freundlich und lockend. Ganz langsam kam er näher. »Du kennst mich doch. Großgezogen habe ich dich, ein prächtiges Kerlchen bist du geworden. Komm her … komm her … es geschieht dir nichts. Ich lasse dich nicht schlachten. Wir fahren zurück in den Stall, zu der schönen, fetten Weide … einen Haufen Sonnenblumen sollst du bekommen. Komm … komm …«

Samson ließ Slatin bis auf fünf Meter herankommen, dann sprang er auf, scharrte mit den Hufen, und dicke Erdbrocken flogen durch die Luft.

»Er gräbt Zagolow aus!« stöhnte Kiwrin.

Slatin blieb stehen. Er streckte beide Hände aus. Aber Samson hatte andere Gedanken. Er senkte den dicken Kopf, schnaubte laut, scharrte noch einmal eine ganze Erdwolke von Zagolows letzter Stätte und schoß plötzlich vorwärts. Es war ein halber Sprung, der Boden unter Slatin zitterte, als der massige Körper wieder aufprallte. Es war aber auch das Signal für Slatin, herumzuwirbeln und die Flucht zu ergreifen. Aber statt zum Friedhofstor zu rennen, wo die Polizei schußbereit wartete, lief Slatin weiter in den Friedhof hinein. Samson folgte ihm mit gesenkten Hörnern.

»Er ist verrückt geworden!« brüllte Kiwrin. »Warum rennt er nicht zu uns?!«

»Schießen!« stammelte Micharin. »Schießen!«

»Slatin ist im Schußfeld, und den Stier würden wir nur in den Rücken treffen und ihn noch wütender machen. Mein Gott, was macht er denn? Was macht er denn?«

Slatin hörte hinter sich das Dröhnen der Hufe und das wilde Schnaufen seines Stierchens. Er hetzte kreuz und quer durch die Grabsteine, seine Lungen pfiffen, er war ja kein sportlicher Jüngling mehr. In seinen Beinen spürte er ein Zittern, aber er raffte alle Kraft zusammen, denn ihm war klar, daß er unter die Hufe kam und Samsons Hörner keine Rücksicht darauf nehmen würden, ob er ihn großgezogen hatte.

Im Zickzack ging die Hetze um die Grabsteine herum, zwischen den Grabsteinen hindurch, und Samson, der Kluge, kürzte die Wege ab, indem er einfach mit seiner Masse die Steine umrannte. Das tat weh und reizte ihn zur blindwütigen Mordlust.

Slatin schien keine Chance mehr zu haben, seinem Stierchen zu entkommen. Soviel Haken er auch schlug, Samson walzte einfach über die Gräber hinweg und kam ihm deshalb immer näher. Der Kommandant der Miliz, neben Kiwrin stehend, schnaufte fast so laut wie der Bulle.

»Neunzehn Gräber zerstört … das zwanzigste … dreiundzwanzig …«, stöhnte er verzweifelt. »Wir werden den ganzen Friedhof neu aufbauen müssen! Hat man so etwas schon gesehen? Davon wird man in hundert Jahren noch sprechen! Und lachen wird man, lachen über Atbasar. Jetzt hat er Slatin gleich. Nur noch zwei Meter … Halt! Halt!« Der Kommandant raufte sich die Haare und hüpfte auf der Stelle. »Jetzt ist er am Grab meines Großvaters! Zurück, du Teufel, zurück! Laß meinen Großvater in Frieden ruhen!«

Aber wie konnte Samson etwas hören, wenn er vor Wut blind und gehörlos war? Mit Schwung riß er den Grabstein um und geriet damit einen Meter näher an Slatin, dem die Augen aus den Höhlen quollen.

»Das ist zuviel!« schrie der Milizkommandant. »Das muß ein Ende haben.«

Er riß Kiwrin das Gewehr aus der Hand, legte an, zielte kurz und drückte ab. Ein Meisterschuß. Samson blieb einen Augenblick wie gelähmt stehen, seine kurzen Säulenbeine bohrten sich durch die Fliehkraft in die weiche Erde. Er zitterte, warf einen traurigen Blick dem weiterrennenden Slatin nach, und dann sackte er ganz langsam in die Knie, schnaufte noch einmal mit letzter Kraft und fiel dann auf die Seite.

Die Polizisten am Friedhofstor klatschten ihrem Chef Beifall. Kiwrin preßte die Zähne aufeinander und schwieg. Direktor Micharin murmelte: »Ich ess' ihn selbst. Er ist unverkäuflich. Er ist eine Notschlachtung.« Slatin sprang hinter einen Baum und bekam gar nicht mit, daß sein Verfolger nicht mehr hinter ihm war. Er hoffte nur, daß der Baum stärker war als ein Grabstein und den Hörnern standhalten würde.

Als nichts erfolgte, kein Aufprall, kein Gebrüll, kein Zittern des Stammes, wagte es Slatin, hinter dem Baum hervorzublicken. Er starrte ins Leere … kein Stierchen mehr. Und dann entdeckte er seinen Samson hinter dem zertrümmerten Grab vom Großvater des Milizkommandanten, auf der Seite liegend, bewegungslos, und die Sonne ließ das braunweiß gefleckte Fell schimmern, als sei es aus Seide.

In Slatins Gesicht zuckte es. Er ging langsam auf Samson zu, kniete neben ihm nieder, beugte sich vor und legte sein Gesicht auf die noch heißen, verschäumten Nüstern. Als Kiwrin und der Kommandant herankamen, sahen sie, daß Slatin weinte, und wer auch alles zusah – nur Kiwrin verstand ihn, und er wußte nicht zu erklären, warum.

Er zog Slatin hoch und führte den Schluchzenden zu seinem Wagen. Und genau in diesem Augenblick traf Weberowsky ein, hielt an und schwang sich von seinem ratternden Traktor.

»Zu spät!« sagte Kiwrin traurig. »Du kommst zehn Minuten zu spät. Du hättest Slatin und Samson retten können. Du hättest das geschafft.«

»Was ist denn los?« fragte Weberowsky. Er blickte auf die Polizeiautos und die bewaffneten Polizisten, er erkannte auch Micharin und fragte sich, was ein Schlachthofdirektor mit der Polizei auf einem Friedhof zu suchen hat. »Terroristen?«

»Samson war wild geworden«, erklärte Kiwrin.

»Wer ist Samson?«

»Mein Stierchen.« Slatin weinte wieder. »Erschossen haben sie ihn! Wie einen Verbrecher! Nun liegt er da und ist eine Notschlachtung geworden. Das hat er nicht verdient.«

»Ich wußte es schon immer«, sagte Weberowsky und schüttelte den Kopf. »Atbasar ist eine verrückte Stadt. Aber das übertrifft alles. Michail Sergejewitsch, ich muß mit dir sprechen.«

Im Haus der Bezirksregierung las Kiwrin sorgfältig den Fragebogen durch, das heißt, Weberowsky las ihn in der russischen Übersetzung vor. Ein paarmal nickte Kiwrin gedankenschwer, mehrmals schlug er sich auf die Schenkel, und als Weberowsky geendet hatte, sagte er fast das gleiche wie Sohn Gottlieb:

»Gratuliere, Wolfgang Antonowitsch. Das ist gut.«

»Ich habe ihn also richtig ausgefüllt?«

»Und wie richtig! Ich frage mich nur, warum?«

»Was heißt das?«

»Mit dem Fragebogen bleibst du hier! Jeder deutsche Beamte wird sagen: Das ist entweder ein Provokateur oder ein Idiot! Beides reicht nicht für eine Ausreisegenehmigung nach Deutschland.«

»Ich werde selbst nach Moskau fliegen und ihn bei der deutschen Botschaft abgeben.«

»Sie werden den Antrag annehmen, das ist alles. Nach einem Jahr wirst du dann die Nachricht bekommen: Abgelehnt. Oder glaubst du, du bekommst sofort einen Stempel?«

»Ja.«

»Weil du Weberowsky bist …«

»Nein. Weil ich die Botschaft nicht eher verlassen werde, als bis man mir die Aufnahme als Aussiedler erteilt.«

Kiwrin starrte Weberowsky ungläubig an. »Du willst die deutsche Botschaft besetzen?«

»Ich will mein Recht. Nichts weiter!«

»Mit Gewalt?!«

»Mit Überzeugungskraft.«

»So kann man es auch nennen! Du wirst im Gefängnis landen!«

»Ich möchte den Botschaftsangestellten sehen, der einen Bittsteller ins Gefängnis werfen läßt. Das wäre eine Sensation … und brächte mir erst recht die Ausreiseerlaubnis ein. Denn dann würden alle über mich sprechen. Dann würde die Öffentlichkeit alarmiert werden!«

»Du wirfst mit zehn Messern auf einmal!«

»Es genügt, wenn nur eins trifft!«

»Und das trifft dich selbst.«

Weberowsky nahm den Fragebogen wieder an sich und verließ den verdutzten Kiwrin. Er will nach Moskau, er will in die Botschaft eindringen, er will den Sachbearbeiter zwingen, den Antrag sofort zu genehmigen – welch ein Wahnsinn! Kiwrin griff in die linke Seite seines Schreibtisches, in die er einen kleinen Kühlschrank hatte einbauen lassen, nahm eine Dose chinesisches Bier heraus, riß sie auf und setzte sie an den Mund.

Wie kann man ihn davon abhalten, dachte er, Wolfgang Antonowitsch, du bist ja nicht anders als Samson, der blindwütige Stier.

Die amerikanische Abrüstungskornmission blieb länger in Kirenskija, als es Nurgai erwartet hatte. Eine Anfrage bei der Zentrale in Semipalatinsk bestätigte, daß Moskau keine Zeitbegrenzung veranlaßt hatte. Die US-Offiziere hatten das Recht, die Vernichtung der Atomsprengköpfe für Mittelstreckenraketen zu überwachen. Nurgai empfand das als eine nationale Schmach. Mit verdüsterter Miene lief er herum, vergaß, was er zuerst von seinen Mitarbeitern gefordert hatte, nämlich Höflichkeit, und ließ die Amerikaner spüren, wie unbeliebt sie in der Stadt waren. Wirkung zeigte das gar nicht. »Sie haben uns die dickfelligsten Typen geschickt«, klagte Nurgai im Kasino der Wissenschaftler.

Im Quartier der US-Kommission saßen währenddessen die Offiziere um einen rechteckigen Tisch und hörten zu, was ihnen Captain Tony Curlis erzählte. Obwohl er der Rangniedrigste war, galt er als der Bestinformierteste. Er kam vom CIA und besaß Unterlagen, die immer wieder verblüfften. So hielt er auch diesmal einen aufsehenerregenden Vortrag und blätterte in einer CIA-Statistik herum. »Was uns alle verblüfft hat«, sagte er nüchtern, »ist die Tatsache, daß hier in Kasachstan das viertgrößte Atompotential der Welt lagert. Das glaubt zunächst niemand, aber ich habe die Zahlen hier vor mir liegen.«

Captain Curlis legte den rechten Zeigefinger auf eine Tabelle und fuhr mit ihm die Zeilen ab, während er mit bedächtiger Stimme vorlas:

»Die landgestützten modernen Interkontinentalraketen, auch kurz ICBM genannt, mit den Mehrfachsprengköpfen vom Typ SS-18 und SS-24 in Rußland sollen nach unseren Vorstellungen vernichtet werden. Rußland hat eingewilligt und verlangt als Gegenleistung, daß wir mehr als 35 Prozent der Trident-Raketen zerstören, die auf unseren U-Booten stationiert sind. Insgesamt soll die Zahl unserer Atomsprengköpfe auf 9.000 Stück, bei den Russen auf 7.000 Stück, verringert werden. Das sind nun alles vorläufige Zahlen, denn wieviel jeder an Sprengköpfen besitzt, welche Systeme der Kernspaltung, welche Sprengwirkung, das weiß keiner, auch wenn der CIA bisher die größten Kenntnisse erworben hat. Wir sehen ja jetzt hier in Kirenskija, daß der Russe an völlig neuen Atomsprengköpfen arbeitet, an Intervallköpfen, die riesige Flächen verwüsten können. Vor allem aus dem Institut von Professor Frantzenow sollen sensationelle Neuigkeiten zu erwarten sein. Auch wenn man uns diese Forschungen nicht vorgeführt hat … sie bestehen, das wissen wir. Kirenskija war eine nicht existente Stadt – nur für den CIA nicht. Im Vertrauen: Wir haben zwei Doppelagenten in der Stadt. Das aber allein ist nicht das Problem. Die Unklarheit der Abrüstung liegt bei der Verteilung der Atomsprengköpfe. Die Sowjetunion gibt es nicht mehr. Wir haben jetzt die Union der souveränen Sowjetrepubliken mit zwanzig Teilstaaten, die auseinanderstreben und jeweils ihre eigenen Interessen fördern. Und hier beginnen die Unsicherheiten: Wird sich zum Beispiel Kasachstan der Abrüstung anschließen? Ich sagte schon: In Kasachstan lagert heute das viertgrößte Atompotential. Hier der Beweis.«

Curlis' Gesicht wurde ernst. Wer so wie er in der Materie steckte, den erschreckten die Zahlen, die er jetzt vorlas. Die anderen Offiziere hörten betreten zu.

»Das heutige Rußland verfügt über: 4.278 ICBM-Köpfe, verteilt auf 1.064 landgestützte Werfer. 2.804 Sprengköpfe auf 904 U-Booten, 101 schwere Bomber können 367 Atombomben abwerfen. – Jetzt zur Ukraine: 1.240 ICBM auf 104 Werfern, 21 schwere Bomber mit 168 Köpfen. – Weigrußland: 54 schwere Bomber mit 54 Atomköpfen. Aber jetzt: Kasachstan: 40 schwere Bomber mit 320 Atomsprengsätzen und 1.040 ICBM auf 104 Werfern! Das heißt: Die Ukraine und Weißrußland und Rußland sind offenbar an Abrüstung interessiert, aber wenn ein selbständiges Kasachstan nicht mitmacht, haben wir eine potentielle Atommacht vor der Tür! Dem CIA ist bekannt, daß die kasachische Regierung heimliche Kontakte zum Iran unterhält. Ferner ist uns bekannt, daß – in geschätzten Zahlen, die von den Russen nicht dementiert wurden – in Hunderten Depots mindestens 15.000 Sprengköpfe lagern für Raketen mit einer Reichweite von 30 bis 500 Kilometern. Diese Nahzielraketen, die abgebaut werden sollen, werden nur zögernd zu den Vernichtungsstellen in der russischen Republik geliefert. Viele der Republiken betrachten den Besitz der Atombombe als Symbol ihrer Befreiung von der Moskauer Zentralregierung. Das ist ein gefährlicher Gedanke. Hinzu kommt, daß wir hier in Kirenskija und in Semipalatinsk mit noch unbekannten Weiterentwicklungen der Kernforschung konfrontiert werden. In Kasachstan, einem schon immer machtbewußten Staat! Weil man zur Sowjetunion gehörte, hat man uns bisher nachsichtig behandelt, aber mehr auch nicht! Überall spüren wir den Widerstand, mit dem man uns begegnet.«

»Ich weiß, wir sind hier nur geduldet«, sagte der General, beeindruckt von Curlis' Vortrag. »Von Kooperation keine Rede.«

»Haben wir die erwartet? Für diese Kategorie Menschen hier, für die geistige Elite, sind wir immer noch die bösen Feinde, die Rußland in die Knie zwingen wollen. Wir sind alle gespannt, was in den nächsten Monaten passiert. Eins wissen wir schon: Libyen, der Iran, der Irak und einige asiatische Staaten stehen bereits vor der Tür, um die Wissenschaftler und Atomexperten in ihre Länder zu holen. Ein Atomsprengkopf nutzt ihnen gar nichts, sie müssen auch die Geheimcodes kennen, mit denen die Sprengköpfe scharfgemacht werden. Und es fehlt ihnen an den geeigneten Abschußsystemen. Aber das ist kein Problem: Wir haben durchkalkuliert, daß ein Dutzend Nukleartechniker und Raketeningenieure genügen, solche Abschußbasen zu installieren und die Bomben zu bauen. Es wird in naher Zukunft genug freie Experten geben, die als Atomsöldner, als Landsknechte unserer Zeit, in alle Welt ziehen und fünfzig Jahre Atomforschung verkaufen, wenn die Dollarkasse stimmt. Dann haben wir auf der Welt ein Atomchaos, das nicht mehr einzudämmen ist.«

»Das heißt also: Jeder kleine Staat, der in der Lage ist, Atombomben durch die angeworbenen russischen Spezialisten zu bauen, kann die Welt in Atem halten und bedrohen!«

»So ist es, General.« Curlis nickte mehrmals. »Vor allem die Staaten der radikalen Moslems, an der Spitze der Iran, der sich seit Jahren bemüht, in den Besitz von Nuklearwaffen zu kommen. In der Hand von Fanatikern bedeutet die Atombombe die Vernichtung der Menschheit. Und wir befürchten, daß nun arbeitslos werdende Atomspezialisten dem Lockruf dieser Staaten erliegen. Wenn man bedenkt, daß ein taktischer Atomsprengkopf 2 Meter lang ist, 300 Kilogramm wiegt und einen Durchmesser von 75 Zentimetern hat, ist es erstaunlich, daß so ein leicht zu transportierendes Ding nicht schon in den islamischen Ländern ist!« Curlis klappte seine Unterlagen zu. »Es gibt im ehemaligen Sowjetrußland vielleicht zehn herausragende Atomwissenschaftler, die auf gar keinen Fall abwandern dürfen. Einer der wichtigsten ist Professor Frantzenow hier in Kirenskija.«

»Wie will der CIA seine Abwerbung verhindern?«

»Zunächst durch eine Zusammenarbeit mit dem russischen Geheimdienst, die bereits Erfolge zeigt im Austausch von Informationen. Dann hat uns der russische Atomminister Viktor Michailow versprochen, diese zehn besonders zu beobachten. Er hat sie als ›verantwortungsbewußte Patrioten‹ bezeichnet, aber gleichzeitig mit einem Anflug von Resignation hinzugefügt: ›Wessen Familie hungert, der könnte an Auswanderung denken.‹ Aber wir haben auch Möglichkeiten.«

»Und welche?«

»Wir könnten – zum Beispiel Frantzenow – die ›großen Geister‹ an der Auswanderung hindern.«

»Indem wir sie selbst abwerben.«

»Unter anderem.« Curlis lächelte leicht. »Oder daß sie zur Auswanderung nicht mehr fähig sind. Es gibt im Leben seltsame Unfälle, rätselhafte Anschläge, medizinisch nicht erklärbare Todesursachen … es ist alles denkbar. Für die Erhaltung des Weltfriedens muß man Opfer bringen können.«

»Und was wird unsere Aufgabe in Kirenskija sein?« fragte der General den bestimmenden Captain.

»Abwarten! Nichts als abwarten. So tun, als wären wir mit den Abrüstungsarbeiten zufrieden.« Curlis räusperte sich. Es war ihm unangenehm, ja peinlich, mehr zu wissen als der General, der die Kommission anführte. »Ich muß Ihnen eins verraten, was mir aus Washington zugegangen ist: Unsere Hauptaufgabe ist ab sofort, Professor Frantzenow zu überwachen. Ich hatte mit ihm ein Gespräch. Er spielt den starken Mann, ist aber durch die sich geradezu überstürzenden Ereignisse der Reformen angeschlagen. Er ist im Grunde ein labiler Mensch in einem Eisenpanzer. Er darf uns nicht durch die Finger rutschen. Frantzenow in Teheran – das wäre ein Unglück für die Welt!«

»Das heißt –« Der General stockte. Es war schwer, so etwas deutlich auszusprechen, »in letzter Konsequenz wird man Frantzenow umbringen?«

»Er galt ja schon als tot. Man wird nur durchführen, was man damals vorgetäuscht hat.«

»Soll … soll es hier in Kirenskija geschehen?« fragte einer der Obersten.

»Das hängt von Frantzenow ab.« Curlis hob die Schultern, als wolle er sein Bedauern ausdrücken. »Wenn er die Stadt verläßt, um beispielsweise nach Moskau zu fliegen, fällt es in Moskau weniger auf, wenn er einen Unfall hat. Die Möglichkeiten sind größer.«

Das dritte Flugblatt war verteilt worden. Weberowsky las schon gar nicht mehr die Hetzparolen gegen die Rußlanddeutschen, die von der Beljakowa ausgebrütet wurden. Erstaunlich fand er nur, woher Zirupa das viele Papier bezog und wer vor allem die Aktion bezahlte. Weder Katja noch Semjon Bogdanowitsch hatten so viel eigenes Geld, die Hetze zu finanzieren. Bei allem Patriotismus, man bekam nichts umsonst, es sei denn, sie wurden vom Staat oder von der Partei unterstützt. Das aber, so schwor Kiwrin beim Augenlicht seiner Mutter, sei nicht der Fall. Das war zwar nur ein halber Schwur, denn Kiwrins Mutter lebte seit sieben Jahren nicht mehr, aber Weberowsky glaubte ihm.

Woher also die Rubel?

»Es gibt nur eine Erklärung«, sagte er zu Erna, Eva und Hermann, als Gottlieb nicht zu Hause war, denn – traurig ist es, zu sagen – Weberowsky traute seinem jüngsten Sohn zu, den Verdacht an die Sowchose ›Bruderschaft‹ weiterzugeben. »Zirupa betrügt die staatliche Kontrolle, fälscht die Bücher und tauscht Fleisch und andere Produkte gegen Papier und Druckfarbe um. Ha, dabei möchte ich ihn erwischen.« Und Weberowsky legte sich auf die Lauer. Als Unterschlupf diente ihm eine alte, verfallene Scheune der Sowchose, die nicht mehr benutzt wurde, weil sich eine Reparatur nicht mehr lohnte. Gerümpel, Abfall, verrostete Maschinen und ein ausgeschlachtetes Auto waren hier abgestellt worden, und niemand betrat mehr die Scheune, es sei denn, er lud weiteren Unrat ab.

Hier, zwischen schimmeligen Balken und in einem durchdringenden Geruch, der in den Kleidern hängenblieb, wartete er auf eine günstige Gelegenheit. Er konnte von einem vergitterten Fenster mit zerbrochenen Scheiben hinübersehen zum Magazin, denn gab es Schiebungen, dann vor allem vom Magazin aus.

Weberowsky hatte eine kühne Rechnung aufgestellt: Die Flugblätter wurden immer samstags verteilt, gedruckt wurden sie also am Freitag, das Papier mußte spätestens am Donnerstag geliefert werden, Mittwoch und Dienstag waren Schlachttage und Ablieferung der Frischware an die Zentrale in Atbasar. Also mußte man den Mittwoch und den Donnerstag auf der Lauer liegen, um Zirupa zu überführen.

Weberowsky schlich schon in der Nacht zum Mittwoch in die verfallene Scheune, hatte eine Decke mitgebracht und ein Kissen, mit Stroh gefüllt, legte sich auf eine zerrissene Matratze, die auch als Gerümpel herumlag, und schlief zu frieden ein. Er wußte: Keiner stört mich. Hier ist der sicherste Ort der ganzen Provinz. Selbst ein heimliches Liebespaar würde sich hier nicht treffen, dazu stank es zu sehr nach Fäulnis und altem Öl.

Als der Morgen graute, verließ Weberowsky sein Lager, ging zur Tür, setzte sich auf einen Holzklotz und blickte durch das vergitterte Fenster. Der Betrieb auf der Sowchose begann. Eine Reihe Lastwagen mit den Landarbeitern verließ den Parkplatz, Traktoren ratterten vorbei, Zirupa betrat das Magazin, aus den Werkstätten klang Hämmern und Sägen. Mittwochmorgen. Im Schlachthaus warteten die Metzger. Heute war Schweinetag. In drei Stunden kamen die Kühlwagen aus Atbasar. Dann mußten die Schweinehälften an den Haken hängen und das Soll erfüllt sein.

Weberowsky drückte die Stirn gegen die rostigen Gitterstäbe. Der Antrieb von den Schweineställen begann. Ein ungeheures Quieken erfüllte die Luft, und dann trampelte ein Heer von Schweinen über die Straße, getrieben von zehn Arbeitern und sechs Schäferhunden, die keinen seitlichen Ausbruch duldeten. Es hagelte Stockschläge, die Tiere quiekten und rannten voller Panik, mit um den Kopf fliegenden Ohren die Straße hinunter. Ihr letzter, kurzer Weg.

Und da sah Weberowsky, wie Zirupa die Flugblätter finanzierte.

Er erschien in der Tür des Magazins, hatte einen mächtigen Knüppel in der Hand, schlug damit einem vorbeirennenden, schönen, dicken Schwein auf den Kopf und trieb dann das etwas taumelig gewordene Tier durch die Tür ins Magazin. Da gerade in diesem Augenblick die Herde zur Seite ausbrechen wollte und alle Treiber beschäftigt waren, das zu verhindern, fiel es nicht auf, daß ein Schwein fehlte. Nur nachher bei der Zählung fehlte es, eines der vielen Rätsel in einem so großen Betrieb wie die ›Bruderschaft‹. Zirupa bekam die Meldung auf den Tisch und zeichnete sie als ›Krank/Abfall‹ ab. Wer wollte das später, bei einer Buchprüfung, kontrollieren?

Aha, sagte Weberowsky zu sich. Das war der erste Schritt. Wie wird der zweite sein?

Gegen Mittag, als die Kühlwagen beladen wurden und aus dem quiekenden Heer schöne, in der Sonne rosa schimmernde Schweinehälften geworden waren, fuhr ein kleiner, unauffälliger und unbeschrifteter Lieferwagen vor dem Magazin vor. Zwei Männer schleppten Kartons ins Haus – das Papier für die neuen Flugblätter. Darauf erschien Zirupa in der Tür, blickte sich nach allen Seiten um, verschwand wieder im Magazin, und dann trugen sie zu dritt das lebende, aber betäubte ›Abfall-Schwein‹ in den Lieferwagen und verschlossen schnell die Ladetür.

Wie ich's mir gedacht habe! Zufrieden trat Weberowsky vom Fenster zurück, legte sich auf die zerschlissene Matratze und wartete bis zum Abend. In der Dunkelheit schlich er sich dann wieder aus der Sowchose und wanderte zu seinem Traktor, den er auf einem Feldweg abgestellt hatte.

In der hellen Nacht sah er schon von weitem, daß etwas nicht stimmte. Merkwürdig schräg stand der Traktor am Wegesrand, so, als sei er seitlich etwas in den Boden gesunken. Aber das war unmöglich. Die Erde war durch die wochenlange Sonne knochenhart und rissig und nicht schlammig, daß man einsinken konnte. Weberowsky beschleunigte seine Schritte. Seine Ahnung wurde noch übertroffen, als er vor seinem Traktor stand.

Jemand hatte alle Reifen zerstört. Und da es dicke, grobstollige Reifen waren, an denen ein Messer abprallte, hatte der Täter mit einer Axt gearbeitet. Mit gewaltigen Hieben hatte er die Reifen aufgeschlagen, ganze Keile herausgetrennt. Sie waren unbrauchbar geworden, als hätte man sie gesprengt. Und der Täter hatte seine Visitenkarte hinterlassen, nur konnte man nicht daraus ersehen, wie er hieß. Er hatte mit Kreide an das Blech des Traktors geschrieben:

ARSCH!

Weberowsky betrachtete die Schrift, umkreiste seinen Traktor, entschied, daß seine Gedanken auf der richtigen Spur waren, und machte sich zu Fuß nach Hause. Er mußte drei Stunden laufen, bis er Nowo Grodnow erreichte, es war schon weit nach Mitternacht, und Erna wartete immer noch auf ihn. Mit schweren Beinen trat er ein, setzte sich auf die Ofenbank und sagte müde:

»Sie haben meinen Traktor lahmgelegt. Alle Reifen zerhackt.«

»Mein Gott!« Erna faltete die Hände. »Jetzt greifen sie uns an!«

»Nein, nur mich. ARSCH, haben sie an den Traktor geschrieben. Das ist ein persönlicher Krieg.«

»Und die Reifen! Die Reifen! Woher bekommst du neue Reifen?«

»Ich weiß es nicht. Ich werde die abgefahrenen wieder aufziehen müssen.«

»Aber die rutschen dir doch weg auf dem Feld.«

»Du weißt, wie lange es dauert, neue Reifen zu bekommen. Anträge, Warten, Anfragen, dumme Antworten, Warten. Die Zuteilungsquote ist längst überschritten.« Weberowsky klemmte die Hände zwischen die Knie. »Ich könnte Reifen bekommen, aber damit gebe ich wertvolle Munition aus der Hand.«

»Dann tu es, Wolferl.«

»Ich habe Zirupa, ja, ich habe ihn! Ich kann ihm den Hals umdrehen. Aber wenn ich mein Wissen gegen vier Reifen eintausche, kann Zirupa den Kopf wieder in den Nacken werfen! Und die Flugblätter erscheinen weiter.«

»Was ist für uns wichtiger? Die Flugblätter oder der Traktor? Leben wir von Papier? Gräbt ein Flugblatt die Spätkartoffeln aus? Kann ein Flugblatt Furchen aufreißen, kann es pflügen? Wolferl –«

»Du bist eine unersetzliche Frau, Erna.«

»Ich bin die einzige, die dir gegen den dicken Kopf hämmern kann.«

»Und dafür danke ich dir.« Er stand auf, kam auf sie zu, zog sie an sich und küßte die Verblüffte auf den Mund. »Was wären wir ohne dich? Bestimmt keine Familie mehr. Schon morgen gehe ich zu Semjon Bogdanowitsch und tausche mein Wissen gegen die Reifen.« Er hob die Stimme und zugleich auch die Faust. »Aber das sage ich dir auch: Ich bekomme den, der das an meinen Traktor geschrieben hat! Er wird seinen eigenen Arsch nicht wiedererkennen!«

Ein Bauer ohne Traktor ist der bedauernswerteste Mensch, vor allem, wenn man soviel Land zu bearbeiten hat wie Weberowsky. Er zögerte deshalb nicht mehr, schon am nächsten Tag zur Sowchose ›Bruderschaft‹ zu fahren. Er stieg auf ein altes Fahrrad, das seit Jahren nicht benutzt worden war, und strampelte mit verbissener Miene die Straße hinunter. Er kam sich lächerlich vor auf dem quietschenden Gefährt und mußte ein paarmal ab- und wieder aufsteigen, weil er oft das Gleichgewicht verlor. Immerhin gelang es ihm, in gerader Haltung bei der Sowchose anzukommen und vor dem Büro abzuspringen wie ein Profiradler. Zirupa, der ihn durch das Fenster beobachtete, grinste vor sich hin und war gespannt, was Weberowsky zu ihm trieb. In einem Nebenraum saß die Beljakowa an einem Tisch und brütete das neue Flugblatt aus. Thema: Was können wir tun, die Aussiedlung der Deutschen zu beschleunigen?

»Willkommen!« rief Zirupa mit gespielter Begeisterung, die wie ein Tritt wirkte. »Was führt dich zu mir, Wolfgang Antonowitsch?«

»Nur eine Kleinigkeit, Semjon Bogdanowitsch.« Weberowsky setzte sich unaufgefordert Zirupa gegenüber. Er schlug die Beine übereinander und verbreitete einen zufriedenen Eindruck. Das ließ in Zirupa Verdacht aufsteigen. Wenn Weberowsky sich ihm gegenüber so freundlich benahm, kam eine große Sauerei auf ihn zu. Im wahrsten Sinn des Wortes, denn Weberowsky fuhr fort: »Ich möchte mir ein Schweinchen abholen.«

Zirupa starrte Weberowsky ungläubig an. »Du hast doch selbst genug Schweine. Außerdem weißt du, daß wir an keine Privatpersonen verkaufen, was immer auch die Sowchose herstellt. Alles muß abgeliefert werden – bis auf den genau festgelegten Eigenbedarf.«

»Ich möchte ein schönes, dickes Schwein von dir geschenkt bekommen.«

Zirupa war einen Augenblick sprachlos. »Geschenkt?« fragte er dann gedehnt. Hat Wolfgang Antonowitsch den Verstand verloren, dachte er dabei. Schon daß er auf einem Fahrrad herumfährt, ist ungewöhnlich. Man kennt ihn nur auf seinem Traktor, den er über alles lieben mußte. »Geschenkt?« wiederholte er.

»So wie du gestern dem Papierlieferanten Pyljow ein Schwein aus der Herde gefischt hast. War eine Meisterleistung, Semjon Bogdanowitsch. Mit einem Knüppel betäuben und schnell ins Magazin mit dem Tier. Wirklich großartig. Jetzt weiß man, daß du die Stellung als Direktor der Sowchose verdient hast.«

Zirupa saß steif hinter seinem Tisch und verzog keine Miene.

»Du bist krank«, sagte er gepreßt. »Du hast Halluzinationen. Fahr nach Hause, leg dich ins Bett und laß dir von Erna kalte Wickel um den Kopf machen.«

»Ich weiß, was ich gesehen habe.«

»Was hast du gesehen?«

»Wie man aus einem gesunden prächtigen Schwein ein Abfallprodukt in den Büchern macht. Wenn ich jetzt Kiwrin anrufe, er möchte einmal im Hof von Pyljow nachsehen lassen – na, was wird man finden? Ein Schwein mit einem Stempel der ›Bruderschaft‹. Hast du genug Koffer für deinen Wegzug?«

Zirupa knirschte mit den Zähnen, sein Blick war mit Haß erfüllt. »Du willst also ein Schwein von mir?« fragte er steif. »Willst du's hinten auf das Fahrrad schnallen?«

»Ich schlage einen Tausch vor, Semjon Bogdanowitsch.«

»Noch eine Gemeinheit?«

»Für dich eine Lebensrettung. Ich tausche mein Schwein gegen vier Reifen für meinen Traktor. Und stell dir vor: Ich bezahle die Reifen auch noch! Ist das ein Angebot?«

Zirupa ballte die Fäuste und legte sie demonstrativ auf den Tisch. »Schweine habe ich genug, aber keine Reifen«, stieß er heiser hervor. »Wenn du weißt, wie schwer es ist, einen Reifen …«

»Deshalb komme ich ja zu dir. Ein Staatsbetrieb wird immer bevorzugt gegenüber einem Privatmann. Ich weiß, du hast Reifen auf Lager.«

»Und wie soll ich begründen, daß sie plötzlich verschwunden sind, he?! Ein Schwein kann man … na ja … aber vier große Reifen? So viel auf einmal kann nicht verschleißen.«

»Dann melde eine Sabotage.«

»Eine … Wolfgang Antonowitsch, du hast wirklich Fieber im Hirn! Weißt du, was das Wort Sabotage in Karaganda auslöst? Innerhalb von wenigen Stunden wimmelt es hier von KGB-Leuten! Ich werde verhört, alle werden verhört, die Bücher werden geprüft, sie setzen sich bei uns fest wie die Läuse und ziehen nicht eher ab, bis sie was gefunden haben.« Zirupa sprang auf, als habe sein Stuhl Feuer gefangen. »Und finden werden sie was! Müssen was finden, sonst gelten sie als unfähig. Ob KGB oder Steuerfahndung – sie sind verpflichtet, Erfolge zu melden.« Zirupa stand plötzlich der Schweiß auf der Stirn. Sein Gesicht zerfloß. »Was kann allein mit der Milch passieren? In den Büchern steht, wir haben unser Soll erfüllt –«

»Was natürlich eine Lüge ist.«

»Lüge! Nur ein wenig nach oben hat man die Zahlen geschoben! Alle machen das. Aber wenn der KGB …«

»Es war Sabotage, Semjon Bogdanowitsch.«

»Was?«

»Daß ich keine Reifen mehr habe.« Weberowsky fühlte sich in Hochstimmung. »Als ich auf der Lauer lag, um deine Bezahlung des Papiers zu beobachten, hat jemand die Reifen meines abgestellten Traktors mit Axthieben völlig zerstört.«

»Wahnsinn!« schrie Zirupa. »Wer tut so etwas?!«

»Und an den Traktor hat er mit großen Buchstaben ARSCH geschrieben.«

»Es muß einer sein, der dich genau kennt«, sagte Zirupa sarkastisch.

»Du kennst ihn nicht?«

»Ich war doch hier, wie du beobachtet hast.«

»Es sagt keiner, daß du es warst.« Weberowsky stand nun auch auf. »Wo ist Katja Beljakowa?«

Zirupa druckste herum, dann antwortete er: »Sie arbeitet.«

»Am Flugblatt Nummer vier? Das Geld werft ihr zum Fenster hinaus!«

Er ging an dem verdutzten Zirupa vorbei, riß die Tür zum Nebenraum auf und trat ein. Die Beljakowa kaute gerade an einem Bleistift. Sie schrak hoch, als Weberowsky plötzlich vor ihr stand.

Aber es war nur eine Schrecksekunde. Dann reagierte sie sofort, sprang auf und baute ihren massigen Körper vor Weberowsky auf.

»Was willst du hier?« schrie sie. »Eine Ohrfeige einstecken? Raus aus meinem Zimmer!«

»Ich dachte, ich könnte dir helfen«, erwiderte Weberowsky und grinste dabei ausgesprochen gemein.

»Wobei?«

»Bei deiner neuen Dichtung. Schreib doch einmal: Sonntags essen die verdammten Deutschen kein Ferkelchen, sondern braten kasachische Babys. Im Ersten Weltkrieg hat man das praktiziert: Da erschienen große Plakate, auf denen ein deutscher Soldat zu sehen war, wie er drei kleine Kinder auf sein Bajonett aufspießt! Und man hat das geglaubt, vor allem in Amerika! Willst du's in dieser Richtung nicht auch in Kasachstan versuchen?«

»Semjon Bogdanowitsch, hörst du das?« kreischte die Beljakowa. »Er hält mich so einer Gemeinheit fähig! Er beleidigt mich wieder! Er schlägt mit Worten auf mich ein! Du bist mein Zeuge!«

»Wolfgang Antonowitsch hat nur ein historisches Ereignis erzählt«, antwortete Zirupa vorsichtig. »Es reicht nicht für einen neuen Prozeß.«

»Wo warst du gestern abend?« fragte Weberowsky plötzlich. Aber die Beljakowa war nicht zu überrumpeln. Im Gegenteil, sie sah Weberowsky hochmütig an.

»Auf meinem Zimmer, wo sonst?«

»Du hast dich nicht mit einem Liebhaber getroffen?«

»Zirupa, er beleidigt mich schon wieder!« Ihr riesiger Busen wogte auf und ab, so heftig und empört atmete sie. »Genügt das nicht?«

»Nein. Es war nur eine Frage, auf die man keine Antwort zu geben braucht.«

»Ich habe auch nicht an einen Mann gedacht.« Weberowsky blickte der Beljakowa voll in die Augen. Er bewunderte sie, wieviel Gewalt sie über sich selbst hatte. In ihrem Gesicht war nicht das leiseste Zucken zu sehen. »Ich habe so ein Gerücht gehört. Du sollst eine Vorliebe für Traktorreifen haben.«

»Das reicht.« Die Beljakowa zog sich hinter einer eisigen Miene zurück.

»Nein!« Zirupa schüttelte fast verzweifelt den Kopf. »Er hat nur ein Gerücht weitergegeben.«

»Semjon Bogdanowitsch, entferne diesen Kerl aus meinem Zimmer, oder ich gebe Wolfgang Antonowitsch einen Tritt in …«

»Laß uns gehen«, unterbrach Zirupa sie und zog Weberowsky am Jackenärmel fort. »Sie tut es wirklich. Dann kannst du nicht mehr auf dem Fahrrad sitzen und nach Hause fahren. Komm, sie kann blitzschnell sein. Das glaubt man ihr gar nicht.«

Er zog Weberowsky wieder am Ärmel, und dieser folgte ihm widerwillig. Er stieg mit dem Fuß die Tür hinter sich zu und klopfte Zirupa auf die Schulter.

»Ich glaube, ich habe den Attentäter entdeckt. Morgen hole ich die Reifen bei dir ab. Und dann vergessen wir, was ich weiß.«

In einem langen Leben wird man mit vielen Geheimnissen konfrontiert, die man nie lösen kann und die deshalb für immer Geheimnisse bleiben. Es sind die Augenblicke, die jenseits des Begreifens liegen oder die ein unauflösbares Staunen hervorrufen.

Katja Beljakowa erlebte einen solchen Augenblick.

Sie fuhr mit ihrem Pferdewägelchen von Atbasar zurück zur Sowchose. Ein warmer, angenehmer Abend war's, Zufriedenheit erfüllte ihr Herz, denn sie hatte die neuen Flugblätter abgeliefert mit einem Text, von dem selbst Zirupa sagte, er sei gut zu lesen und treffe ins Schwarze. Die Dunkelheit legte sich wie eine warme Decke über das Land, Katja zündete eine Petroleumlampe an und hängte sie an einen Haken außerhalb des Fahrersitzes. Eine Batterielampe besaß sie nicht, und hätte sie eine besessen, wäre die Batterie längst verbraucht gewesen, und neue Batterien gab es nicht. Sie zockelte friedlich durch die Dunkelheit, ließ die Zügel locker und das Pferd von selbst laufen; es kannte ja den Weg zum Stall und brauchte nicht gelenkt zu werden. Der Weg führte auch durch ein Buschgelände, das wie ein Flecken auf der sonst flachen Landschaft lag und deshalb auch von den Bewohnern poetisch ›Haare auf der Brust‹ genannt wurde.

Die Beljakowa träumte vor sich hin und wurde auch nicht munter, als das Pferdchen den Kopf hob, kurz wieherte und ein schnelleres Tempo vorlegte. Zu spät. Plötzlich wurde es völlig dunkel um Katja, und ehe sie begriff, daß man einen großen Sack über sie geworfen hatte, wurde sie schon vom Kutschbock gezerrt und auf den Boden gedrückt.

Die Beljakowa war ein kräftiges Frauenzimmer, ohne Zweifel. Aber jetzt, in einem Sack steckend, der auch ihre Arme einengte, war sie hilflos. Nur um sich treten konnte sie, und schreien, schreien. Das Geschrei wurde zum Kreischen, als sie spürte, wie der Untäter ihren Rock hochriß und ihren Schlüpfer herunterzog.

Daß sie auf ihre alten Tage noch vergewaltigt werden sollte, erzeugte bei ihr neben Panik auch Staunen. Es muß ein Irrer sein, durchfuhr es sie eiskalt. Und wenn er's hinter sich hat, bringt er mich um. Mit einem Messer, einem Strick, wer weiß das?

Sie kreischte wieder, strampelte wild, aber es nützte nicht viel. Der Unhold drückte ihre Beine auf die Erde, setzte sich darauf, schob den Rock noch höher und hieb ihr dreimal auf den nackten Hintern.

Jetzt, durchzitterte es sie. Jetzt passiert's. Ich werd's überleben, wenn er mich leben läßt. Sie streckte sich, gab den sinnlosen Widerstand auf und wartete bebend auf das, was der geile Wolf mit ihr vorhatte.

Zu ihrem großen Erstaunen geschah nichts. Sie spürte nur zwei Hände auf ihren Schenkeln, vier dumpfe Drucke, für die sie keine Erklärung hatte, ja und dann war alles vorbei. Der merkwürdige Sittenstrolch umwickelte sie noch mit einer Leine und schnürte sie mit dem Sack zusammen. Sie hörte, wie es in den Büschen raschelte, der Dreckskerl entfernte sich, sie war allein und lag bewegungslos auf der Erde.

»Du verdammter, räudiger Hund!« brüllte sie ihm nach, und dann begann sie zu strampeln und wälzte sich hin und her und versuchte, den Strick abzustreifen. Es war ganz einfach. Der Unhold hatte sie bewußt so locker gefesselt, daß sie sich leicht befreien konnte. Sie riß den Sack vom Kopf, zog ihren Schlüpfer hoch, strich den Rock glatt, stand ächzend auf und lehnte sich gegen den Wagen. Das Pferd stand ruhig da, mit gesenktem Kopf, und glotzte in die Nacht.

»Was war das nun?« fragte die Beljakowa laut. »Was wollte er von mir? Fällt einfach über mich her. Was soll das?« Es war eben eines jener Rätsel, denen man im Leben manchmal begegnet. Nur war es diesmal bloß ein halbes Rätsel.

Zirupa schreckte aus tiefem Schlaf empor, als es wie wild an seine Tür klopfte. Dann hörte er Katjas Stimme. »Mach auf! Mach auf! Ich bin überfallen worden. Man hat mir –« Zirupa sauste aus dem Bett. Die Beljakowa überfallen – das bedeutete Mißlichkeiten bis nach Karaganda. Da konnte auch Kiwrin nicht mehr helfen. Er warf einen Bademantel über, denn in den heißen, schwülen Nächten schlief Zirupa nackt, öffnete die Tür und ließ Katja hereinstürmen. Ihr Gesicht war verstört. Sie ließ sich auf das Bett plumpsen und starrte auf die Stelle, wo Zirupas Bademantel etwas auseinanderklaffte. Er raffte den Mantel zusammen und zog den Gürtel enger.

»Ich bin überfallen worden«, wiederholte sie, diesmal mit zitternder Stimme.

»Wo?«

»In den ›Haaren auf der Brust‹. Einen Sack stülpt man über mich, zerrt mich vom Wagen, fesselt mich, wirft mich auf die Erde, reißt den Rock hoch –«

»O nein!« stöhnte Zirupa, sichtlich erschüttert. »Sprich nicht weiter … Das hat man dir angetan? Hat man dich verletzt? Sicher war's ein Idiot.«

»Nichts hat man getan!« Die Beljakowa stand noch ganz unter dem Eindruck ihres Schocks.

»Nichts? Aber du hast doch gesagt, man hat dir den Rock …«

»Er hat mich trotzdem entehrt. Sieh dir das an, Semjon Bogdanowitsch.« Sie sprang auf, hob ihren Rock und entblößte sich. Zirupa mußte mehrmals schlucken. Der Anblick übertraf jede Phantasievorstellung. »Sieh es dir genau an!«

Die Beljakowa streckte ihm ihr dickes nacktes Hinterteil hin. Auf dem fetten Fleischgebirge prangten jetzt, auf beiden Seiten, je zwei Stempel, zwei runde Stempel, wie sie nach einer Fleischbeschau im Schlachthaus verwendet werden:

Trichinenfrei. Fleisch Güteklasse 1.

Zirupa hielt den Atem an. Er glaubte zu ersticken. Hellrot wurde sein Gesicht. Und dann platzte er, brüllte vor Lachen auf, krümmte sich und fiel neben der Beljakowa auf das Bett.

Er lachte noch immer haltlos, als Katja längst das Zimmer verlassen hatte und unsagbare Flüche ausstieß.

Ein Geheimnis blieb allerdings, wie es möglich war, einen solchen Stempel aus dem Schlachthof zu klauen. Aber danach fragte keiner mehr, als die ›Vergewaltigung‹ der Beljakowa bekannt wurde. Der ganze Bezirk geriet in fröhliche Stimmung.

Und – es gab auch keine Flugblätter mehr.

Der erste Brief nach neun Jahren Schweigen war für Erna Weberowsky wie ein Schock. Sie drehte ihn immer wieder zwischen den Fingern und konnte es nicht begreifen. Er lebt, dachte sie, er ist nicht verschollen, nach neun Jahren denkt er wieder an seine Schwester. Sie scheute sich, den Brief aufzuschlitzen und wartete, bis Wolfgang Antonowitsch vom Feld nach Hause kam.

»Wolferl, wir haben Post bekommen«, sagte sie mit gedämpfter Stimme, als säßen sie nebeneinander in der Kirche.

»Wieder so ein Wisch aus Karaganda oder Semipalatinsk? Was wollen sie denn jetzt von uns?«

»Mein … mein Bruder hat geschrieben.«

»Andreas?« Weberowsky sah ungläubig auf den Brief in Ernas Hand. »Wenn das auch wieder so ein gemeiner Scherz ist …« Er nahm ihr das Kuvert aus der Hand und betrachtete es von allen Seiten. »Es ist ja noch zu.«

»Ich wollte warten, bis du da bist. Ich habe Angst, ich weiß noch nicht, was er schreibt.«

»Wo kommt er her? Aus Ust-Kamenogorsk? Ich denke, Andreas ist in Moskau?!«

»Mach ihn auf, Wolferl. Mach den Brief auf, dann werden wir vielleicht alles wissen.«

Und dann saßen sie nebeneinander auf der Eckbank. Weberowsky las den Brief vor, der zu ihrem Erstaunen in deutscher Sprache geschrieben war. Nach den Worten: »Wenn Ihr noch an mich denkt, umarme ich alle. Euer Andreas«, legte Weberowsky den Brief vorsichtig auf den Tisch, als sei er auf Glas geschrieben worden.

Erna hatte zu weinen begonnen und lehnte den Kopf an Weberowskys Schulter. »Er hat keinen Brief von mir bekommen«, sagte sie leise. »Alle sind beschlagnahmt worden und verschwunden.«

»Und er hat geglaubt, ich hätte dir das Schreiben verboten. Wie kommt er nur auf diesen Gedanken?«

»Du hattest einmal eine Auseinandersetzung mit ihm und hast ihn angeschrien: ›Du bist ja ein Russe geworden!‹ Da kann man so etwas glauben.«

»Dummheit! Ich mag Andreas.«

»Neun Jahre lang war er tot, schreibt er. Feierlich ist er in Moskau begraben worden, es gibt ein Grab mit seinem Namen auf einem Stein … kannst du das begreifen, Wolferl?«

»Damals war alles möglich. Es war zur Zeit Breschnews. Man hat ihn aus politischen Gründen sterben lassen, Jelzin läßt ihn wieder auferstehen. Daran sieht man, wie Rußland sich gewandelt hat.« Er blickte auf den Brief, rührte ihn aber nicht an. »Andreas ist belogen und betrogen worden, während er sein ganzes Wissen der Sowjetrepublik schenkte. Wie enttäuscht muß er sein. Er war doch immer der große Idealist, der russische Patriot, der mithelfen wollte, Rußland zur stärksten Macht der Welt werden zu lassen.« Er stockte und sah Erna mit zusammengezogenen Brauen an. »Wäre es möglich, daß Andreas mit uns kommt?«

»Wohin?«

»Nach Deutschland.«

»Nie! Er ist mehr Russe als Deutscher.«

»Nach all dem, was er erlebt hat. Das kann man nicht abstreifen wie Wasser von der Haut! Das ist tief eingebrannt. Ich wüßte, was ich jetzt täte.«

»Du bist auch nicht Andreas. Mein Bruder ist einer der bekanntesten Atomforscher.«

»Eben darum. Ihm steht die ganze Welt offen. Man wird ihm Angebote machen, von denen er selbst nicht zu träumen wagt.«

»Das hieße für ihn, Rußland zu verraten.«

»Rußland hat ihn verraten. Es hat ihn sterben und begraben lassen.«

»Auch das neue Rußland wird ihn nicht herauslassen. Draußen, in der anderen Welt, würde er eine Gefahr für Rußland sein. Was in Zukunft auch immer wird … er wird Rußland nie verlassen können.«

»Schreib ihm wieder und frage vorsichtig an, Erna.«

»Es ist doch völlig sinnlos, Wolferl.«

»Versuche es wenigstens. Mehr als nein kann er nicht sagen.« Weberowsky stand auf und ging im Zimmer unruhig hin und her. »Ich hätte große Lust, nach Ust-Kamenogorsk zu fahren und mit ihm zu sprechen. Mein Gott, hätte ich das vor ein paar Wochen gewußt, als ich im deutschen Kulturzentrum war.«

»Da war er noch tot«, sagte Erna leise.

»Ich muß zu ihm eine Verbindung aufnehmen! Stell dir vor, ich bringe Deutschland als Geschenk einen der besten Atomforscher der Welt mit. Dann hätten auch wir keine Sorgen mehr.«

»Du willst Andreas verkaufen?« fragte sie starr. »Du willst mit meinem Bruder Geschäfte machen? Hier der Experte – gebt mir dafür einen Bauernhof mit gutem Land! Wolferl!«

»Du siehst das falsch, Erna. Wenn Andreas Rußland verlassen will …«

»Er will es nicht!«

»Nehmen wir es an.«

»Er darf es nicht. So großzügig kann auch Jelzin nicht sein, seinen besten Mann der Atomforschung in den Westen zu lassen.«

»Dann wird Andreas flüchten.«

»Und auf der Flucht erschießen sie ihn.«

»Es kann ganz einfach sein. Von Ust-Kamenogorsk ist die chinesische Grenze zum Greifen nahe. Auch die Mongolei grenzt an Kasachstan. Zwei Wege, auf denen er entkommen kann.«

»Wem sollte er entkommen? Niemand verfolgt ihn.«

»Er ist dein einziger Bruder. Soll er wieder verschwinden, und diesmal für immer? Weißt du, was nach Gorbatschow und Jelzin kommt? Die russische Geschichte ist ein großer Topf voll Blut. Wem man heute zujubelt, kann morgen schon geköpft sein. Davor habe ich Angst … und deshalb will ich nach Deutschland. Da weiß ich, ich kann ohne Zittern vor Morgen leben, da weiß ich, daß ich in Frieden und Freiheit lebe. Wer das nicht sieht, ist politisch blind!«

»Es kann aber auch ganz anders kommen, Wolferl.«

»Es kann …! Aber darauf verlasse ich mich nicht. Die Familie Weberowsky soll endlich zur Ruhe kommen – nach fast zweihundert Jahren! Ist das ein zu großer Wunsch?«

»Für dich nicht, aber laß Andreas aus dem Spiel. Er weiß besser als du, was für ihn gut ist.«

Aber damit war für Weberowsky das Thema noch nicht erledigt. Er dachte auch an die Auswirkungen auf seine Familie, wenn Professor Frantzenow sich entschloß, mit ihnen nach Deutschland auszuwandern. Sein Entschluß konnte Hermann und vor allem Gottlieb, den strammen Kommunisten, überzeugen, daß der Weg nach Westen sinnvoller war als der Weg nach Osten, in das noch immer unbekannte Sibirien. »Wenn Sibirien erschlossen wird –«, hatte Gottlieb einmal gesagt –, »wenn dort neue Städte entstehen, wenn revolutionäre Pionierarbeit getan wird, dann braucht man auch dort gute Ärzte. Viele Ärzte. Das ist mein Ziel: Ein Arzt im eroberten Sibirien sein! Und nicht ein Praxisverwalter, der jeden Monat die Krankenscheine zählt.«

Wenn ein Mann wie Frantzenow Rußland verließ, mußte auch ein Gottlieb Weberowsky nachdenklich werden.

Schreiben wir Andreas erst einmal zurück, dachte er. Nach neun Jahren ist er zurückgekehrt, und er soll unsere Freude spüren. Und dann fahre ich wieder nach Ust-Kamenogorsk zur Organisation ›Wiedergeburt‹ und dem deutschen Kulturzentrum und werde mich durchfragen bis zu Andrej Valentinowitsch Frantzenow. Und wenn sie sagen: Den gibt es nicht, werde ich antworten: Ha! Geschrieben hat er mir! Hier ist sein Brief. Also geht aus dem Weg, ehemalige Genossen, und laßt mich zu ihm.

Zufrieden mit diesen Gedanken duschte er sich, zog sein Nachthemd an und legte sich ins Bett.

Erna blieb noch auf. Sie las zum vierten Mal den Brief ihres Bruders. Es war wirklich, als sei er von den Toten auferstanden.

Im BND und beim Verfassungsschutz hatte man wenig Hoffnung, den flüchtigen Karl Köllner noch aufzuspüren. Den Schaden, den er im Außenministerium angerichtet hatte, war noch nicht zu überblicken. Eine kleine Sonderkommission des Amtes, die zur Untersuchung gebildet worden war, schien jedoch davon überzeugt, daß Köllner alles nach Moskau verraten habe, was von den einzelnen Botschaften als streng vertrauliche Sache nach Bonn gegeben wurde. Das war eine Katastrophe, und im Auswärtigen Amt war man bemüht, alles herunterzuspielen und vor allem der Öffentlichkeit diesen neuen Fall vorzuenthalten. »Es ist eine absolut interne Sache«, stellte der Staatssekretär mit knappen Worten klar. »Ich möchte fast sagen: eine Verschlußsache. Meine Herren, es ist nichts gewesen. Absolut nichts.«

Um so eifriger kümmerten sich CIA und BND um die noch unklaren Verbindungen von Karl Köllner zu seiner Tante Erna Weberowsky und seinem zu neuem Leben erweckten Onkel Professor Frantzenow. »Das kann ein ganz raffinierter Ring sein«, sagte Egon Kallmeier im Kollegenkreis. »Ein international berühmter Atomforscher, eine biedere Bäuerin und der Referent im Außenministerium … alles integere Personen, wenn nicht – und da brutzelt der Hase in der Pfanne – alles zu harmlos aussähe. Der CIA hatte zwei V-Männer in diese geheimnisvolle Atomstadt geschickt. Wir werden mit neuen, überraschenden Erkenntnissen rechnen müssen. Ideal wäre es, wenn Köllner in Kasachstan auftaucht. Aber das wäre ja schon ein Märchen …«

In Kirenskija sag Professor Frantzenow untätig herum und vervollständigte sein Tagebuch, von dessen Existenz nur er allein wußte. Ein geheimes Buch voller Zündstoff. Er schilderte darin nicht nur seine Gedanken, sondern notierte in einer raffinierten Verschlüsselung unter Verwendung von Tolstois ›Krieg und Frieden‹ die Ergebnisse seiner nuklearen Forschungen und die Entwicklung neuer russischer Sprengköpfe mit Scharfmacher-Codes, die bei jeder Raketenwerfer-Einheit täglich geändert wurden. Dadurch wurde ein Atomsprengkopf, gelangte er wirklich in fremde Hände, völlig wertlos und war nur ein Klumpen Metall. Auch die Zusammensetzung vom Uran-235 und Plutonium, als Grundmaterial für eine Kernwaffe, hatte er neu berechnet. Schon fünf Kilogramm Plutonium reichten aus, eine Bombe zu entwickeln, die verheerender war als die Bombe von Hiroshima. Fünf Kilogramm … man konnte sie wegen ihrer schwachen Alphastrahlung bequem in einer Plastiktüte wegtragen. Erst wenn das Plutonium oder Uran-235 im Reaktor aufgearbeitet wird, wird der nukleare Brennstoff zur tödlichen Waffe.

An einem Nachmittag meldete sich ein junger Mann bei Frantzenow. Er trug eine Brille mit goldenem Gestell, einen guten Anzug und machte den Eindruck, daß er nicht zu denen gehörte, die einen Rubel erst in Kopeken zerlegen, ehe sie ihn ausgeben. Er stellte sich als Boris Olegowitsch Sliwka vor und benahm sich so, als kenne er Professor Frantzenow von Kindheit an.

»Sie wollten mich sprechen?« fragte Frantzenow abweisend. »Ich kenne Sie nicht. Ich habe Ihren Namen noch nie gehört.«

»Was ist ein Name? Ein Schild, das man auswechseln kann. Sliwka ist so ein Name – im Augenblick ist er im Gebrauch.«

»Ich habe keine Zeit, mich über solche Dummheiten zu unterhalten«, erwiderte Frantzenow ungehalten. Er stand auf, um die Tür zu öffnen und den Besucher hinauszubitten, aber Sliwka blieb im Zimmer stehen und lächelte hintergründig.

»Sie haben Zeit, Andrej Valentinowitsch. Darf ich mit einer Frage beginnen? Wieviel Gehalt zahlt Ihnen Rußland?«

»Geht Sie das etwas an?!«

»Ich kenne Ihr Gehalt. Rund 100.000 Nuklearspezialisten arbeiten für Rußlands Vormachtstellung, davon sind ungefähr 3.000 jene Wissenschaftler, die mit den geheimsten Forschungen vertraut sind. Experten der höchsten Geheimhaltungsstufe. Sie sind einer der Topspezialisten. Dafür bekommen Sie vom Staat 1.500 Rubel. Ist das nicht lächerlich, wenn man bedenkt, daß zum Beispiel ein Kilo Rindfleisch schon 150 Rubel kostet. Ein Braten – das Zehntel Ihres Gehaltes!«

»Ich lebe zufrieden!« entgegnete Frantzenow steif.

»Ich kenne einen Staat, der Ihnen im Monat 15.000 Dollar zahlen will.«

Frantzenow schloß die Tür wieder, kam ins Zimmer zurück, wies auf einen Sessel, und beide setzten sich.

»Wer sind Sie?« fragte Frantzenow. Und dann gab er sich selbst die Antwort. »Sie sind ein Agent, einer von den Doppelagenten, die Nurgai in der Stadt vermutet.«

»Ich gebe dazu keine Erklärung, Andrej Valentinowitsch.«

»Wie sind Sie nach Kirenskija gekommen? Bei diesen vollkommenen Sicherheitssperren? Hier wird sogar ein Floh entdeckt.«

»Das war unter anderem auch meine Aufgabe, für eine lückenlose Überwachung zu sorgen.«

»Wie bitte? Höre ich recht … Sie …?«

»In Rußland hat sich vieles geändert. Nichts ist mehr wie früher, die Reformen zerstören viele Einrichtungen, ohne die man in der ehemaligen Sowjetunion nicht auskommen konnte. Viele Dienststellen werden verkleinert oder erhalten andere Aufgaben. Ich habe das bei Gorbatschows Übernahme der Macht im Kreml rechtzeitig kommen sehen und mich etwas seitwärts orientiert.« Sliwka grinste unverschämt. »Nennen wir es so. Ich bin eigentlich ein KGB-Mann –«

»Und jetzt ein Überläufer zu einem westlichen Geheimdienst.«

»Unter anderem. Heute, bei Ihnen, arbeite ich auf eigene Rechnung.«

»Und Sie haben keine Angst, daß ich Sie anzeige?«

»Nein. Sie tun es nicht. Ihr Patriotismus ist gestorben, als Sie von den Toten wieder auferstanden. Die Erkenntnis, was man mit Ihnen getan hat, war ein Schock für Sie. Von dieser Stunde an sind Sie für Rußland ein großes Risiko.«

»Haben Sie auf mich geschossen?«

»Ja.«

»Warum?«

»Als KGB-Mann war es meine Aufgabe, alle Unsicherheiten zu liquidieren.«

»Und jetzt nicht mehr?«

»In Rußland ändern sich jetzt die Situationen von Tag zu Tag. Immer neue Überraschungen dringen aus dem Kreml. Warum soll ich mich selbst nicht überraschen? Ich weiß so ziemlich sicher, daß ich bei einem Personalabbau des KGB auf der Straße sitze. Ganz natürlich ist es dann doch, für die eigene Zukunft vorzusorgen.«

»Indem Sie Nuklearexperten abwerben.« Frantzenow musterte Sliwka eindringlich. Wie ein biederer Mensch sieht er aus. Ein harmloser Buchhaltertyp. Ein Angestellter der mittleren Gehaltsklasse. Nur sein teurer Anzug paßt nicht dazu. »Wer interessiert sich für mich?«

»Oh, Andrej Valentinowitsch … alle Länder, die von einer Atombombe träumen. Iran, Irak, Libyen, Südkorea, Nordkorea, Vietnam … ich möchte sie nicht alle aufzählen. Es wäre langweilig.«

»Sie sind der erste, der mir ein Angebot machen will, Boris Olegowitsch.«

»Weil ich am nächsten bei Ihnen bin. Man weiß ja erst seit kurzem, daß Sie noch leben. Aber das Rennen hat begonnen. Man weiß nur nicht, wie man an Sie herankommt. Die Geheimdienste arbeiten fieberhaft, das weiß ich vom CIA.«

»Ihrem zweiten Arbeitgeber.«

»Vergessen wir das.« Sliwka winkte ab und grinste wieder. »Haben Sie schon mal etwas von Mandi Chamran gehört?«

»Nein.«

»Er ist der Kernwaffenexperte des iranischen Oberkommandos. Seit drei Tagen ist er in Kasachstan. Ich hatte eine Unterredung mit ihm.«

»Und nannten meinen Namen.«

»Schlicht gesagt: Ich habe Sie angeboten. Chamran ist bereit, mit Ihnen zu sprechen und jede akzeptable Summe zu zahlen, wenn Sie Ihren Wohnsitz verändern.«

»Man glaubt, man könnte mich in den Iran locken?«

»Bei 15.000 Dollar Monatsgehalt … mindestens. Sie wären einer der höchstbezahlten Wissenschaftler der Welt.«

»Und Sie glauben wirklich, daß ich mich an den Iran verkaufe, Boris Olegowitsch?«

»Ich habe Ihnen nur eine Anregung gegeben. Eine Hypothese. Auch Ihre Zukunft ist ungewiß. Gewiß ist nur, daß Rußland Sie nie und nimmer ins Ausland gehen läßt. Eher werden Sie liquidiert.«

»Was Sie schon versucht haben.« Frantzenow richtete sich gerade auf. Seine Stimme klang fest und endgültig. »Ich lehne das Angebot ab. Ich gehe in kein islamisches Land, in dessen Händen eine Atombombe eine globale Bedrohung bedeuten würde. Religiöse Fanatiker sind zu allem fähig, auch die Selbstvernichtung ist ein heiliger Akt. Die höchste Ehre ist es, ein Märtyrer zu sein. Außerdem bin ich als Einzelperson wertlos. In der Atombombe stecken fünfzig Jahre Forschung und Erfahrung. Allein die Sicherheitszahlencodes und die elektronischen Sperren, die nur durch ein Funksignal aktiviert werden, können nicht im Eilverfahren hergestellt werden.«

»Es genügt, wenn ein Sprengkopf ›abgezweigt‹ wird.«

»Dann kennen Sie noch immer nicht die eingegebenen Codes. Auch ein Computer kann ihn nicht aufspüren – es ist eine Kombination aus zehn Zahlen!«

»Man kann den Sprengkopf aufschrauben und die elektronischen Zahlensperren überbrücken.«

»Nein, das kann man nicht! Eine mit Sprengstoff kombinierte Demontagesperre verhindert solche Manipulationen.«

»Lächerlich!« Sliwka wurde unsicher. »Eine Atombombe ist im Grunde eine simple Sache. Was braucht man denn? Zehn Kilogramm hochangereichertes Uran, ein Stahlrohr und einen Wassereimer mit Schießpulver. Fertig ist die Hiroshima-Bombe! Die Amerikaner nennen dieses Zusammensetzungssystem ›Gun Design‹. Sie sollten das nicht kennen? Da muß ich lachen.«

»Ich muß Ihnen die Freude verderben, Boris Olegowitsch.« Jetzt lächelte Frantzenow überlegen. »Woher bekommen Sie zehn Kilo hochangereichertes Uran? Es selbst aus dem an sich schwachen Uran-235 herzustellen, ist den interessierten Ländern nicht möglich. Ihnen fehlen die komplizierten Anlagen. Und hochaktives Nuklearmaterial zu bekommen, es gefahrlos zu transportieren, ist fast unmöglich – wenn es illegal geschehen soll. Außerdem: Die Hiroshima-Bombe nach dem System ›Gun Design‹ ist ein alter Hut, den keiner mehr aufsetzt. Die neue Waffe ist die Wasserstoffbombe, und in jeder H-Bombe verbirgt sich als Zünder eine winzige Atombombe.«

»Ihr Spezialgebiet, Andrej Valentinowitsch. Deshalb zahlt man Ihnen ja 15.000 Dollar im Monat.«

»Dieses Wissen ist unbezahlbar, Sliwka.«

»Sie haben es für lächerliche 1.500 Rubel zur Verfügung gestellt.«

»Für Rußland! Ich war ein glühender Patriot.«

»Das beruhigt mich.«

»Was?«

»Daß Sie ›war‹ sagten.«

»Sie sollten nicht auf Worten herumreiten. Ich bin Russe.«

»Sie sind deutschstämmig. Sie kommen aus einer alten deutschen Familie. Das bleibt, auch wenn Sie äußerlich ein Russe sind.«

»Ich habe keinerlei Kontakt zu Deutschland gehabt und werde ihn auch nie haben.«

»Was verstehen Sie unter Kontakt? An Ihre Schwester in Nowo Grodnow haben Sie einen Brief geschrieben.«

»Ach, das wissen Sie auch?« Frantzenow hob die Augenbrauen. Die Bewachung hat nicht aufgehört. Sie ist perfekt. Auch wenn sich alles um mich herum verändert, ob Gorbatschow oder Jelzin, ob ein selbständiges Kasachstan oder eine russische Föderation – ein Andrej Frantzenow wird immer ein Gefangener bleiben. Einmal tot, einmal lebendig, einmal hochgeehrt, einmal stillgeschwiegen, ganz wie man es braucht. Als Mensch bist du ein Nichts, als dienender Geist Eigentum des Staates.

»Wir wissen sogar noch mehr«, fuhr Sliwka fort und grinste wieder.

»Als KGB-Mann.«

»Ich bin im Range eines Oberleutnants. Aber nicht nur der KGB, auch der CIA beobachtet Sie genau.«

»Wie zum Beispiel Captain Tony Curlis.«

»Er wird ein Problem … für mich.«

»Aber wenn Sie selbst –«

»Er weiß nicht, daß ich nach allen Seiten arbeite. Für ihn bin ich der Atomtechniker Sliwka, ein unwichtiger Mann. Aber Curlis überwacht Sie.«

»Von ihm kam noch kein Angebot.«

»Er hat zunächst die Aufgabe, zu verhindern, daß Sie überhaupt Angebote annehmen.« Sliwka sah sich um. »Haben Sie nichts zu trinken, Andrej Valentinowitsch? Ich habe einen trockenen Hals.«

»Ich habe einen guten Kentucky-Whiskey hier.« Jetzt lächelte Frantzenow. »Von Curlis.«

»Auch gut.«

Sliwka wartete, bis Frantzenow den Whiskey geholt und zwei Gläser eingeschenkt hatte. »Mit Wasser?« fragte er dabei.

»Nein. Ein echter Whiskey-Trinker verwässert doch das edle Zeug nicht.« Sliwka trank, stieß diskret auf und setzte das Glas ab. »Der KGB weiß auch, daß Ihr Schwager Wolfgang Antonowitsch Weberowsky ein glühender Rußlanddeutscher ist, der unbedingt nach Deutschland umsiedeln will. Nun schreiben Sie Ihrer Schwester Erna. Warum?«

»Weil sie meine Schwester ist, für die ich neun Jahre lang verschollen war.«

»Es könnte der Verdacht aufkommen, daß auch Sie mit dem Gedanken spielen, nach Deutschland auszuwandern.«

»Nie! Was soll ich in Deutschland?«

»Es als Sprungbrett benutzen für eine neue Nuklearforschungsstelle in einem der besagten Länder. Das wäre ein umständlicher Weg, das könnten Sie einfacher und vor allem schneller haben.«

»Fangen Sie nicht wieder von Ihren dunklen Hintermännern an!«

»Ich muß, weil Sie offensichtlich ein dummer Mensch sind bei all Ihrem Genie!« Sliwka trank noch einen Schluck Whiskey und rülpste wieder leise. Starker Alkohol regte ihn dazu an. »Eine Reihe Ihrer weniger berühmten Kollegen sind da großzügiger. Beauftragte des Irans sind massiv tätig in Aserbaidschan, Tadschikistan, der Ukraine und hier in Kasachstan. Vier Atomwissenschaftler sind heimlich aus dem Land geschmuggelt worden. Es ist Mandi Chamran gelungen, durch Mittelsmänner einzelne Bombenteile aus dem Moskauer Kurtschatow-Atominstitut zu besorgen, die man im Iran dann wieder zusammensetzen will. Die iranischen Botschaften in Duschanba und Baku haben Anträge von ehemaligen sowjetischen Experten vorliegen, die bereit sind, für den Iran zu arbeiten.«

»Gewissenlose Lumpen!«

»Nicht jeder kann 10.000 Dollar Monatsgehalt ausschlagen. Nach uns die Sintflut, ist die Ansicht vieler. Die Welt ist sowieso ein Scherbenhaufen, und das Leben ist kurz. Laß uns die letzten Jahre genießen.« Sliwka beugte sich vor. »Oder glauben Sie, die arabischen und asiatischen Staaten bekämen die Atombombe nicht, wenn sie keine russischen Genies herüberholen? Dann gibt es eben andere Möglichkeiten …«

»Nicht, wenn die Nuklearwaffen weltweit geächtet werden.«

»Geächtet. Auch so ein hohles politisches Wort! Als ob sich ein Mullah darum kümmert, was eine Runde alter, müder Schwätzer irgendwo, in New York oder Brüssel oder sonstwo beschließt. Ob UNO, Sicherheitsrat oder andere Debattierklubs … eine unbesiegbare Macht in den Händen zu halten, ein Druckmittel, das immer Angst erzeugt, macht doch alle Resolutionen zu Makulatur. Was geht einen Saddam Hussein ein UNO-Beschluß an, wenn er für den Irak die Atombomben nachbauen kann? Wer das klar sieht, hat keine Skrupel mehr, sich für 10.000 oder sogar 15.000 Dollar pro Monat zu verkaufen, ehe ein anderer ihm zuvorkommt. Professor Frantzenow, mein Angebot steht.«

»Und meine Absage auch!«

»Wenn das Ihr letztes Wort ist –«

»Das ist es, Boris Olegowitsch.«

»… dann leben Sie gefährlich. Ich werde Sie dann fortan in meiner Eigenschaft als KGB-Angehöriger beobachten. Was das bedeutet, wissen Sie.«

»Und wenn ich mich dem CIA anvertraue?«

»Dann bin ich auch zuständig.«

»Ich meine Captain Curlis.«

»Andrej Valentinowitsch, bitte, vermeiden Sie doch unnötige Komplikationen und tödliche Härten.«

Das war deutlich genug. Frantzenow war klar, daß der elegante, aber sonst unscheinbare Mann mit der Goldbrille und dem Alltagsgesicht gefährlicher war als ein hungriges Raubtier. Für ihn ging es sicherlich um Millionen, und er würde alles tun, um sie nicht zu verlieren. Er war ein Mensch jenseits aller Moral, frei von allen Skrupeln, ein Muster an Gewissenlosigkeit, aber er trank seinen Whiskey wie ein Gentleman, in kleinen, genußvollen Schlucken. Nur die Rülpser paßten nicht dazu.

»Das war ein guter Abschlußsatz!« sagte Frantzenow und erhob sich abrupt. »Ich glaube, wir haben uns alles gesagt, was zu sagen war. Und zu sagen ist! Passen Sie gut auf mich auf, Boris Olegowitsch.«

Auch Sliwka erhob sich und ging freiwillig zur Tür. »Was werden Sie als nächstes tun?«

»Auf die Antwort meiner Schwester warten.«

»Und dann?«

»Vielleicht besuche ich sie in Nowo Grodnow. Vielleicht. Ich bin ja jetzt nicht mehr tot. Und sonst? Ich warte.«

»Worauf?«

»Rußland vernichtet zwar die Atomsprengköpfe, aber nicht die gesamte Nuklearforschung. Irgendwo wird man einen Platz für mich finden.«

»Wo Sie an einer neuen, weltbedrohenden Waffe basteln werden.«

»Möglich, aber nicht für einen islamischen oder asiatischen Staat!«

Sliwka hob die Schultern, als wolle er damit sagen: Überleg es dir noch einmal genau, und verließ dann das Haus. Frantzenow blickte ihm durch das Fenster nach, ging dann ins Zimmer zurück und trank sein Whiskeyglas leer. Der Ausverkauf hatte also begonnen. Russische Atomwissenschaftler wurden zu modernen Söldnern und ließen sich für viel Geld anwerben. Sie wurden in den Iran, den Irak und nach Libyen geschmuggelt, ein profitabler Menschenhandel, über den sich die entsetzte russische Regierung in Schweigen hüllte. Zu verhindern war er nicht. Plötzlich fehlte ein Experte in den Forschungsstätten von Aserbaidschan oder Kasachstan, war einfach verschwunden, und wo wollte man suchen in den Weiten der Länder? Auch ein anderer, weniger abenteuerlicher Weg stand offen: Man buchte einen normalen Flug nach Rußland oder in die Ukraine, aber wenn man in St. Petersburg oder Kiew ausgestiegen war, verloren sich alle Spuren. Von dem ukrainischen Präsidenten Leonid Krawtschuk wußte man, daß er von einer Großmacht Ukraine träumte, von einer Atommacht, der drittgrößten der Welt, und daß er den Abtransport der in seinem Land lagernden Sprengköpfe zur Vernichtung in Rußland einstellen wollte. Auch er – so mutmaßte der CIA – würde den Werbern der Mullahs aus dem Iran und dem Libyer Gaddafi wohlwollend gegenüberstehen. Dabei spielte Geld keine Rolle mehr, und die neuen russischen Staaten brauchten Geld für den eigenen Aufbau der heruntergekommenen Wirtschaft. Wie ernst die Lage war, demonstrierte auf einer islamischen Konferenz in Teheran der iranische Vizepräsident Seyyed Attoallah Mohadscherani in einer Rede. Er sagte: »Weil Israel im Besitz von Atomwaffen ist, müssen wir, die Moslems, zusammenarbeiten, um eine Atombombe zu produzieren.«

Wer aber könnte das besser als die freiwerdenden sowjetischen Experten?

15.000 Dollar Monatsgehalt, das man durch geschicktes Taktieren bis auf 500.000 Dollar Jahresgehalt steigern konnte – das war ein Preis, der das Gewissen beruhigte. Frantzenow schüttelte den Kopf.

Ohne mich, dachte er. Wenn man mich wirklich nicht mehr braucht, ziehe ich mich auf eine kleine Datscha zurück, werde lesen und Bücher schreiben, mich um Kunst und Literatur kümmern, viel spazierengehen und den Wolken am Himmel nachsehen, die rein und weiß sind und nicht schwarz und schweflig gelb wie eine Atomwolke. Und ich werde sterben in dem Bewußtsein, nichts Unrechtes getan zu haben … nur meine Pflicht.

Am späten Abend traf er mit Nurgai zusammen. Der Chef von Kirenskija war guter Laune, man saß in der Kantine zusammen, die amerikanische Kommission war unterwegs an die chinesische Grenze, um einen Blick in das rote Land der Mitte zu werfen, das bei einem Amerikaner immer noch ein wohliges Gruseln hervorrief, vor allem seit dem Massaker auf dem ›Platz des Himmlischen Friedens‹ in Peking nach dem Aufstand der Studenten.

»Ich könnte in den Irak, Andrej Valentinowitsch«, sagte Nurgai zufrieden. »Saddam Hussein ließ mich wissen, Geld spiele keine Rolle und sei keine Frage mehr.«

»Und Sie nehmen das Angebot an?« fragte Frantzenow und runzelte die Stirn. Der große Kommunist Nurgai, der Herr über Kirenskija, der bisher glühende Patriot, würde in ein anderes Land und zu einem irren Diktator gehen, würde sein Vaterland verraten, nur um ein paar tausend Dollar einzustecken? Was war aus Rußland geworden – »Ich nehme nicht an!« antwortete Nurgai zum Erstaunen Frantzenows. »Hatten Sie das erwartet?«

»Nach unserem letzten Gespräch –«

»Das war nur ein Test, Andrej Valentinowitsch.« Nurgai verzog den Mund zu einem teuflischen Lächeln. »Ich wollte erfahren, wie Sie über eine Abwerbung denken. Sie lehnten sie kategorisch ab. Das hat mir gefallen. Alle paradiesischen Bilder, die ich Ihnen vom Westen schilderte, konnten Sie nicht überzeugen.«

»So wenig haben Sie mir vertraut?«

»Sie sind ein Rußlanddeutscher.«

»Verdammt! Ich bin Russe!« Frantzenow verlor die Nerven. Er hieb mit der Faust auf den Tisch. Die Teetasse schwappte über, und eine Teelache zerfloß auf der Platte.

»Sie sehen das so. Aber amtlich –«

»Ich weiß. Ich war ja bis jetzt ein Toter! Mit einem blumengeschmückten Grab und einer Beerdigung, die das Fernsehen übertragen hat.«

»Da sehen Sie, was Sie uns wert sind«, sagte Nurgai sarkastisch.

»Wenn ich schon so wertvoll bin, was wird nun aus mir nach den Reformen?«

»Unser Atomminister Viktor Michailow wird für Sie sorgen. Ich habe bereits einen Ruf nach Moskau bekommen, als Ressortleiter im Kurtschatow-Atominstitut. Ich nehme an, Sie bekommen eine bessere Stelle. Natürlich nicht für 15.000 Dollar, sondern für höchstens 7.000 Rubel. Immerhin, das ist ein Gehalt, von dem andere Russen träumen.«

»Bis auf die Schieber, die als Leichenfledderer die ehemalige Sowjetunion ausschlachten. Ich habe erst gestern im Radio gehört, daß es eine Menge neuer Millionäre gibt. Es muß überall ein schreckliches Durcheinander herrschen. Hier erfährt man ja nichts. Keiner weiß, was wird, niemand kann sagen, wie die einzelnen Republiken handeln werden. Rußland, das wie eine Mutter alle nun selbständigen Staaten unter ihrem Rock sammeln will, wird von ihren Kindern laufend betrogen und belogen, jeder will nur Geschäfte machen, untereinander und mit ausländischen Staaten. Alle wollen schnell reich werden, während die Leute wieder vor den Geschäften anstehen, aber der unbezahlbare Schwarzmarkt floriert. Soll das ein neues starkes Rußland werden?«

»Wir müssen uns damit abfinden, daß Reformen Opfer kosten.« Nurgai hob die Arme. Es war eine Geste der Hilflosigkeit und Handlungsohnmacht. »Ein Umbau ist immer komplizierter und macht mehr Dreck als ein Neubau. Alles braucht seine Zeit. Am meisten die Sicherung des Weltfriedens. Und davon sind wir noch weit entfernt, trotz nuklearer Abrüstung. Kasachstan wird bestimmt Schwierigkeiten machen, andere werden ihm nacheifern. Das plötzliche Machtdenken ist zu groß. Aber was können wir tun? Nichts!«

»Ich habe Vertrauen – wenigstens in Jelzin.«

»Mir geht es nicht anders.« Nurgai schob nachdenklich die Unterlippe vor. »Nur – was ist Jelzin wirklich in den Augen des Volkes? Einerseits eine Art Volksheld, der die Eisenklammern des Kommunismus abstreift, andererseits ein laut brummender Bär, der an einer langen Kette angepflockt ist und eins über den Rücken bekommt, wenn er zu sehr an ihr zerrt. Ich sage immer wieder: Warten wir ab.«

»Sie wissen mehr, Kusma Borisowitsch, als Sie sagen.« Frantzenow stand auf und machte Anstalten, zu gehen. »Wann und wohin will Moskau mich versetzen?«

»Ich schwöre, dieses Mal weiß ich gar nichts. Ich schwebe genauso im luftleeren Raum wie Sie. Nichts hat man mir mitgeteilt, gar nichts. Ich weiß nur, daß Sie zu der Handvoll Wissenschaftler gehören, auf die Rußland nie verzichten wird. Eine große und verdiente Ehre für Sie. Vor allem als Deutschrusse.«

»Reiten Sie nicht immer auf dem ›Deutsch‹ herum!« erwiderte Frantzenow unwillig. »Wenn Sie mich damit ärgern wollen, ist das die falsche Vokabel.«

Er verließ das Kasino, ging zurück in seine Wohnung, wo mittlerweile das Glas im Fenster ersetzt worden war. Er warf sich auf das Sofa, starrte zur hellgelb gestrichenen Decke hinauf und kam sich irgendwie verloren vor. Die Langeweile griff nach ihm.

Er hatte zu nichts Lust. Um sich aus der Leere zu flüchten, dachte er an Erna, seine Schwester in Nowo Grodnow, und an die Familie Weberowsky.

Plötzlich kam ihm ein Neffe in Erinnerung, der schon lange in Deutschland lebte. Der Sohn seiner jüngsten Schwester, die im damaligen Leningrad gelebt hatte. Karl Köllner. Oder Karl Viktorowitsch Köllnerow, wie er getauft worden war. Er wußte auch nicht, warum er jetzt an ihn dachte. Er hatte nie mit ihm in Verbindung gestanden, er wußte nur, daß es ihn gab und daß er in Deutschland lebte. Ob Erna wußte, was aus diesem Karl geworden war?

Frantzenow schloß die Augen und vergaß Köllner schnell wieder. Er beschloß, eine Schallplatte aufzulegen. Aber über diesen Gedanken schlief er ein und wachte erst am späten Abend wieder auf. Die Haustürklingel ließ ihn aufschrecken. Er ging hinaus, öffnete, aber niemand stand draußen. Er sah sich kopfschüttelnd nach allen Seiten um. Die Straße lag einsam da, umsäumt von Häusern, in denen noch kein Licht brannte. Eine tote Straße in einer toten Stadt.

Erst beim Schließen der Tür sah er den Brief, der in der Ecke lag. Er bückte sich, riß das Kuvert auf und fand darin ein Stück Papier. Mitten darauf stand nur eine Zahl.

15.000.

Frantzenow zerknüllte das Papier in seiner Faust, sah sich noch einmal nach allen Seiten um und schrie dann in die Leere hinein:

»Nein! Nein! Nein!«

Der Psychoterror hatte begonnen.

In diesen Tagen fand in Bonn eine kurze Besprechung statt. Ein Ministerialdirigent im Innenministerium und ein Ministerialdirigent im Außenministerium saßen zusammen und tauschten Erfahrungen aus.

»Das Dossier Köllner, das wir vom BND bekommen haben, läßt vieles offen«, berichtete der Ministeriale vom Innenministerium. »Viele Fragen, die Herrn Minister Schäuble sehr interessieren. Was ist aus dem Auswärtigen Amt nach Moskau weitergegeben worden?«

»Ehrlich, wir wissen es nicht.« Der Beamte des Außenministeriums sog nervös an einem Zigarillo. »Köllner arbeitete im Konsularreferat. An interne außenpolitische Geheimsachen ist er nie herangekommen.«

»Aber er kannte die dienstlichen Anweisungen an die Konsulate in aller Welt.«

»Ja. Sie gingen größtenteils über seinen Tisch und von dort an unsere Vertretungen. Was er erfahren konnte, war nichts Hochbrisantes. Aber es ist ja auch genug, wenn Moskau über die Instruktionen, die an unsere Botschaften gingen, informiert war. Aus solchen Mitteilungen geht etwa hervor, in welchem Verhältnis wir zu dem betreffenden Staat stehen.«

»Also ein großer Schaden. Erstaunlich, daß davon noch nichts an die Medien durchgesickert ist. Bei Ihnen gibt es genauso wie bei uns undichte Stellen, die eine Verschlußsache zum Sieb machen.«

»Wir haben den Fall Köllner völlig abgeblockt. Er ist nur einer Handvoll Mitarbeitern bekannt.«

»Weshalb ich zu Ihnen komme.« Der Mann vom Innenministerium holte einen Zettel aus der Jackentasche. »Dem BND ist bekannt, daß Köllner Verwandte in Rußland hat.«

»Das steht in der Akte, die wir auch haben.«

»Nur das Neueste fehlt. Der Onkel von Köllner, ein gewisser Wolfgang Weberowsky in Kasachstan …«

»… steht auch in meiner Akte.«

»… dieser Onkel hat einen Ausreiseantrag nach Deutschland vom deutschen Kulturzentrum in Ust-Kamenogorsk mitgenommen. Es ist zu erwarten, daß er ihn ausfüllt und im Generalkonsulat von Alma-Ata oder Kiew oder direkt in Moskau bei der Botschaft abgibt. Wir alle wissen, wie lange bei diesem Ansturm der Rußlanddeutschen die Bearbeitung dauert, vor allem, wenn die Bögen fehlerhaft ausgefüllt sind. Der Herr Innenminister läßt nun bitten, wenn von der Familie Weberowsky ein Antrag eingereicht wird, diesen bevorzugt, das heißt sofort zu bearbeiten und die Ausreise zu genehmigen. Der BND ist sehr daran interessiert. Es müßte auch im Interesse des Auswärtigen Amtes liegen, wenn wir Weberowsky und seine Frau Erna baldmöglichst vernehmen könnten. Hochbrisant, das steht ja in der Akte, ist die Tatsache, daß einer der berühmtesten Nuklearforscher Rußlands, Professor Frantzenow, der Bruder von Erna Weberowsky und der Onkel des flüchtigen Köllner ist. Der BND vermutet da Zusammenhänge. Die Auswanderung Weberowskys kann auch bedeuten, einen neuen, harmlosen Stützpunkt in Deutschland aufzubauen. Ein armer Auswanderer wird natürlich nicht verdächtigt und überwacht. Ich möchte überhaupt wissen, wer da alles herüberkommt. Es sind nicht alles Heimwehkranke.«

»Man spricht von Hunderttausenden Rußlanddeutschen, die in die Bundesrepublik drängen.«

»Ein Wahnsinn, sage ich.«

»Es wäre eine gute Aufgabe des Innenministeriums, diesen Strom zu lenken.«

»Wir sind ja dabei! Der umfangreiche Fragebogen ist das erste Sieb. Die zweite Bremse ist das Angebot Jelzins, einen eigenen Wolgastaat mit den Rußlanddeutschen zu gründen. Wir werden uns bemühen, den Umsiedlern dieses Angebot so schmackhaft wie nur möglich zu machen. Wer sich in den Gebieten Saratow, Wolgograd und Samara ansiedelt, soll von uns finanziell unterstützt werden in Form einer Aufbauhilfe. Das ist wesentlich billiger als eine Aufnahme der Aussiedler in der BRD. Die Hilfe kommt als Rubel zur Verteilung. Bei dem jetzigen Umtauschkurs ein Minimum an D-Mark im Vergleich zu dem, was uns die Eingliederung der Rußlanddeutschen kosten würde. Das Innenministerium wird den Staatssekretär Horst Waffenschmidt zum Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung ernennen. In den neuen autonomen Gebieten, die Jelzin anbietet, soll Ackerboden für 400.000 Wolgadeutsche zur Verfügung gestellt werden. Außerdem ein Zuschuß von 500 Millionen Rubel, also rund 10 Millionen DM. Woher Jelzin die nehmen wird, weiß keiner. Am Ende bezahlen wir sie – und mit Freuden. Wenn alle Deutschstämmigen rüberkommen, kostet uns das Milliarden an Sozialhilfe, Überbrückungsgeldern, neuen Wohnungen und Sprachkurse. Die meisten sprechen zwar deutsch, aber ein ungewöhnliches Deutsch. Noch schlimmer ist es mit dem Schreiben. Waffenschmidt muß alles Erdenkliche tun, um eine Massenauswanderung aus Rußland zu verhindern und mit Jelzins Hilfe – das heißt Landvergabe – einen großen Teil in Rußland lassen. Psychologisch wichtig ist der Ort: Ansiedlungen diesseits des Urals. Hinter dem Ural spukt in den Gehirnen: Das ist Sibirien. Ein absolutes Reizwort. Und aus Sibirien will man raus, auch aus Kasachstan. Es ist ein selbständiger, moslemisch ausgerichteter Staat geworden, in dem die Rußlanddeutschen Fremdkörper, Verhaßte, ja Feinde werden könnten. Ihnen kann dann von uns nicht mehr geholfen werden. Das ist ein Hauptargument, das Waffenschmidt so gezielt anbringen wird, daß viele in das Land vor 1941, an die Wolga, zurückkehren. Wir haben die Hoffnung, daß unser Plan gelingt. Wenn doch eine Million zu uns kommen, weil sie meinen, hinter den westlichen Türen liegt das Paradies, wird die Lage katastrophal, zumal 1993 dann die Türen für die EG-Länder offenstehen.«

»So ist die allgemeine Lage. Aber kehren wir zum Speziellen zurück.« Der Ministerialdirigent im Innenministerium sah seinen Kollegen fast bittend an. »Wenn die Familie Weberowsky sich irgendwo bei einer deutschen Stelle meldet, ist es möglich, das Verfahren sofort durchzuziehen?«

»Ich werde es dem Herrn Staatssekretär vortragen. Hat man eine Spur von unserem flüchtigen Köllner?«

»Nicht die geringste. Aber wir sind uns fast sicher, daß er nicht mehr in der BRD ist. Er ist längst in Rußland angekommen. Er hat ja Helfer genug. Schon daß er vor der Verhaftung gewarnt worden ist, obwohl sie geheim war, beweist, daß hier ein Netz vorhanden ist, in dem vieles hängenbleibt. Der BND behauptet mit allem Nachdruck: Im Außenministerium muß ein Maulwurf sitzen!«

»Wir sind dabei, alle wichtigen Mitarbeiter noch einmal gründlich zu überprüfen … bis zur Sekretariatsebene. Man kennt das ja: Eine verliebte Sekretärin, die im Bett von den Briefen plaudert, die sie geschrieben hat.«

»Und dann liegen immer die Falschen im Bett.«

Nach einem kurzen Gelächter erhoben sich die Herren und reichten sich die Hand – Dr. Lucius Kammerer vom Innenministerium und Dr. Eduard von Veyhen vom Außenministerium.

Sie trennten sich in dem Bewußtsein, daß es ein nützliches und gutes Gespräch gewesen war. Schon am nächsten Tag gingen die Anweisungen an alle deutschen Konsulate in der ehemaligen Sowjetunion hinaus. In der deutschen Botschaft in Moskau legte der Botschaftsrat Gregor von Baltenheim eine Akte ›Weberowsky‹ an.

Aus dem ahnungslosen, bisher unbekannten Bauern Wolfgang Antonowitsch war ein Fall geworden.

Was Weberowsky sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, war schwer wieder herauszubringen, vor allem, wenn er überzeugt war, das Richtige zu tun.

Also packte er seine alte Reisetasche, die er von seinem Vater geerbt hatte und die ein Sattler damals an der Wolga im Dorf Grodnow genäht hatte, legte den dicken Fragebogen auf zwei Hemden, zwei Unterhosen, ein Paar Strümpfe und das Rasierzeug und fuhr noch einmal mit dem Zug nach Ust-Kamenogorsk. Am späten Abend kam er an, suchte Ewald Konstantinowitsch Bergerow in dessen Wohnung auf und bekam ein Zimmer bei einem anderen Rußlanddeutschen, der auch Mitarbeiter im Kulturzentrum war. Er war ein Mann mit einem Vollbart, der an Rasputin erinnerte, im gleichen Alter wie Weberowsky, ein Witwer, dessen Frau vor vier Jahren gestorben war. Sie hatten einen Fisch gegessen, und Sophia war eine große Gräte im Hals steckengeblieben. Ehe der Arzt eintraf, war sie qualvoll erstickt. Auf Weberowskys Frage: »Siedelst du auch nach Deutschland aus?« hatte er kurz geantwortet: »Nein!«

»Und warum nicht?«

»Hier liegt meine Frau begraben. Meine Mutter, mein Vater, mein Sohn, alle liegen in dieser Erde. Was soll ich in Deutschland? Ich will bei meiner Familie begraben werden.« Damit war der Gesprächsstoff ausgeschöpft. Weberowsky legte sich ins Bett, schlief unruhig, stand am Morgen früh auf, saß dann in der kleinen Küche, kochte Tee und verließ die Wohnung, während der Gastgeber noch schlief.

Im Kulturzentrum mußte er eine halbe Stunde warten, bis Bergerow eintraf und ihn mitnahm in sein Büro.

»Was treibt dich in die ferne Stadt?« fragte er.

»Ich habe Privates zu erledigen, Ewald.« Weberowsky holte den Fragebogen aus der Tasche und legte ihn Bergerow auf den Schreibtisch. »Lies einmal durch, was ich ausgefüllt habe. Einige Fragen habe ich ausgelassen, sie sind einfach nicht zu beantworten.«

»Das ist nicht gut.« Bergerow drückte sich vorsichtig aus. »Jede nicht oder unvollständig beantwortete Frage verzögert die Bearbeitung.« Er zog den Fragebogen näher heran und blätterte darin herum. Ein paarmal warf er einen fast entsetzten Blick auf Weberowsky und schob die Papiere dann von sich. »Bist du verrückt, Wolfgang?« fragte er, sichtbar erregt.

»Warum?«

»Diesen Fragebogen willst du einreichen?«

»Ja.«

»Du lieber Himmel! Er strotzt von Ironie und Gemeinheiten.«

»Ich habe nur die Wahrheit geschrieben.«

»Und was soll da die Antwort auf: ›Wurden Sie verfolgt?‹ – ›Ja. Im Jahre 1950 wurde ich von einer Frau verfolgt, die mich unbedingt heiraten wollte, obwohl ich bereits verheiratet war. Sie war eine Kasachin und bedrängte mich mit den Worten: ‚Zwei Frauen sind besser als eine.‘ Sie verfolgte mich ein Jahr lang und drohte mir dann, mein Haus anzustecken.‹ – So etwas zu schreiben, ist doch blanker Hohn!«

»Es ist die Wahrheit, Ewald.«

»Unter ›verfolgt‹ versteht das Ministerium etwas anderes.«

»Ich weiß, aber ich hatte Lust, meinen eigenen Begriff von Verfolgung zu erklären.«

»Wolfgang, du sturer Hund. Ich gebe dir einen neuen Fragebogen und den füllst du vernünftig aus.«

»Gibt es viele Anträge auf Aussiedlung?«

»Wir rechnen mit nahezu einer Million. Es können aber noch mehr werden. Viele überlegen noch, aber es gibt schon ganze Dörfer, die sich geschlossen gemeldet haben.«

»Das ist auch mein großes Ziel für Nowo Grodnow. So wie wir fünfzig Jahre lang eine große Familie waren, so sollten wir auch gemeinsam nach Deutschland auswandern.«

»Ohne dich. Mit den Antworten läßt dich keiner in die alte Heimat rein.«

Bergerow gab ihm einen neuen Fragebogen, und Weberowsky steckte ihn zusammen mit dem alten in seine Tasche. »Ich möchte ihn persönlich abgeben«, sagte er dabei. »Wo ist es am besten?«

»Die schnellste Weiterleitung ist von der Botschaft in Moskau aus. Von der deutschen Botschaft in Alma-Ata dauert es etwas länger. Aber sie ist für dich näher. Und billiger.«

»Ich habe genug Rubel gespart, um nach Moskau zu fliegen und dort ein paar Tage zu bleiben.«

»Wissen die Leute von Nowo Grodnow davon?«

»Ich werde nächste Woche eine Versammlung abhalten und es ihnen erklären. Noch weiß ich nicht, wie viele ausreisen wollen. Die einen sagen ja, die anderen zögern, aber keiner hat bisher gesagt: Ich bleibe in Kasachstan. Ich glaube, sie wollen alle nach Deutschland. Einige haben Briefe von Verwandten und Bekannten bekommen, die schon vor einem Jahr ausreisen durften. Alle schreiben: Das Leben hier ist nicht leicht, aber es lohnt sich. Man muß sich eingewöhnen, und das geht langsam. Aber wenn du ein Hemd kaufen willst oder Schuhe oder einen Rock oder sogar einen Anzug … du kannst aus Hunderten auswählen. Willst du ein Stück Fleisch? Die Metzgereien sind prallvoll. Hast du Lust auf ein Glas Wein? Tausend Flaschen lachen dich an! Und im Winter brauchst du nicht mehr die Fenster verkleben und gefrorenes Holz in das Haus tragen … du drehst an einem Schalter, und die Ölheizung hüllt dich in herrliche Wärme ein. Ja, es ist schön hier, wenn man sich eingelebt hat. Nur die Anfangszeit ist schwer. Aber wir haben soviel Schweres hinter uns, es hat uns nicht geschreckt. Das Leben hier und das Leben in Rußland eine ganze Welt liegt dazwischen.« Weberowsky holte tief Atem. »So schreiben sie, und wer das von uns liest, den kann keiner mehr abhalten, nach Deutschland überzusiedeln.«

»Das Wichtigste ist: Geduld«, sagte Bergerow.

»Die haben wir jahrzehntelang geübt.«

»Du weißt: Ein Antrag kann bis zur Genehmigung ein Jahr dauern. Wir haben schon eine Beschwerde beim Innenministerium in Bonn eingereicht. Was da praktiziert wird, ist eine bewußte Verzögerungstaktik der Bundesregierung, die künstlich aufgeblähte Einreiseschwierigkeiten als Bremse benutzt. Ich habe Angst, daß die Beamten in Bonn die Gesetze verschärfen und die Tore in die Heimat noch weiter verrammeln. Das solltest du wissen, und alle Ausreisewilligen sollten sich darauf einstellen. Eine Schande ist das. Und wie reagiert Bonn? Das Innenministerium nennt mich einen Volksaufwiegler, einen politischen Verführer, einen Machtbesessenen! Ich und Macht? Was soll ich mit Macht anfangen? Ich will nur eine gerechte Behandlung.«

Bergerow hatte sich in Rage geredet. Die Empörung über das Bonner Innenministerium stand ihm im Gesicht geschrieben. Er sprang auf, ging zu einem Kühlschrank, ein altes Modell, das schon dreimal repariert worden war mit dem Improvisationstalent der Russen, denn einen neuen Kühlschrank zu bekommen, war fast unmöglich, riß die Tür auf und holte zwei Dosen chinesisches Bier heraus. »Du auch eine?« fragte er dabei.

Weberowsky nickte. »Gern.«

Bergerow riß den Verschluß auf und reichte ihm eine Dose. Ein Glas sparte er sich. »Weißt du übrigens, daß die Regierung von Kasachstan plant, in Alma-Ata und Karaganda deutsche Brauereien zu bauen, mit deutschen Braumeistern, vornehmlich von der bayerischen Bier-Universität Weihenstephan? Außerdem will sie Industriebetriebe ansiedeln. Alles, um Geld in die leeren Kassen zu holen und einen Teil der Rußlanddeutschen in Kasachstan zu halten. Dann gibt es kein chinesisches Bier mehr, sondern nur noch deutsches. Gebraut nach dem Reinheitsgebot. Es soll auch in andere Republiken exportiert werden. Ich bin gespannt, was dann aus den Schreiern wird, die überall das Volk aufwiegeln. ›Kein Viertes Deutsches Reich in Rußland‹ ist ihre Lieblingsparole. In Kasachstan und der Ukraine kommt sie gut an. Die ersten Berichte von Pogromen gegen Deutsche habe ich schon auf dem Tisch liegen.« Er nahm wieder einen langen Schluck und sah dann Weberowsky mit einem Blick voller Vorwurf an. »Was ist eigentlich bei euch im Gebiet Atbasar los? Da werden hundsgemeine Flugblätter verteilt.«

»Nimm sie nicht wichtig, Ewald.« Weberowsky winkte ab. »Ein dickes, fanatisches Weib schreibt sie. Eine ehemalige Scharfschützin eines Frauenbataillons im Großen Vaterländischen Krieg. Genau betrachtet ist es ein Privatkrieg zwischen ihr und mir. Aber ich glaube, daß es keine neuen Flugblätter mehr gibt.«

»Woher weißt du das?«

»Ich habe das wilde Frauenzimmer gestempelt.«

»Was hast du?« Bergerow riß die Augen auf. »Wenn das deine Frau erfährt!«

»Sie weiß es. Ich habe es ihr erzählt.«

»Und das nimmt sie so ohne weiteres hin? Du stempelst … du treibst es mit einer anderen Frau und –«

Weberowsky starrte Bergerow verständnislos an. »Von was redest du, Ewald?«

»Du hast selbst gesagt …«

»Ich habe gesagt: Ich habe Katja Beljakowa gestempelt. Ich habe aus dem Schlachthof einen Stempel der Fleischbeschau gestohlen und ihn ihr auf beide Arschbacken gedrückt. Der ganze Bezirk hat sich gebogen vor Lachen. Es wird behauptet, die Beljakowa habe eine Woche lang geschrubbt, aber den Stempel ist sie nicht losgeworden. Mir kann man nichts nachweisen, aber es wird Katjas letztes Flugblatt gewesen sein.«

»Darauf trinken wir noch ein Bier der chinesischen Freunde.« Auch Bergerow lachte jetzt laut und meinte dann: »Wenn man bei uns alle Probleme so einfach lösen könnte! Aber da sieht man, wie wertvoll ein Stempel ist. Stempel beherrschen unser Leben. Wenn du nicht den richtigen Stempel auf dem richtigen Papier hast, bist du kein Mensch mehr. Zum Wohle und einen tiefen Schluck auf Katja Beljakowa.« Sie tranken auch diese Bierdose leer, und dann stellte Weberowsky die Frage, die ihn eigentlich nach Ust-Kamenogorsk getrieben hatte.

»Wo liegt Kirenskija, Ewald?«

»Kirenskija? Nie gehört! Wo soll es sein?«

»Hier, in der Nähe von Ust-Kamenogorsk.«

»Unmöglich! Ich kenne hier jeden Ort, jedes Dorf. Was soll dieses Kirenskija sein?«

»Eine Stadt.«

»Sogar eine Stadt! Wolfgang, das muß ein großer Irrtum sein. Die einzige Stadt in der Umgebung ist Zyranowsk, und dann kommt nichts mehr bis zur Grenze von China. Ödes Land, Steppe, zwei Gebirgszüge, der Saissan-See, wo der später große Strom Irtysch entspringt. Ein Land ohne Menschen, einsam und feindlich. Wie kommst du auf den Namen Kirenskija?«

»Mein Schwager wohnt dort. Ernas Bruder.«

»In –«

»Der Absender lautet so. Ich habe schon bei der Post in Atbasar gefragt und bei der Post in Karaganda. Niemand kennt die Stadt. Und wenn ich den Brief zeige, den mein Schwager Andrej Valentinowitsch geschrieben hat, wundert man sich und schüttelt noch mehr den Kopf. Aber es muß dieses Kirenskija geben, denn es wohnen ja Menschen da!«

»Und hier in der Nähe soll es sein?«

»Ja. Andrej schreibt: Die nächste größere Stadt von uns aus ist Ust-Kamenogorsk. Oder gibt es noch eine andere Stadt mit diesem Namen?«

»Nein.« Bergerow streckte die Hand aus. »Gib mir mal den Brief, Wolfgang.«

Weberowsky reichte ihm das Schreiben hin. Zunächst las Bergerow den Absender. Professor Andrej V. Frantzenow. Kirenskija bei Ust-Kamenogorsk. Haus Nr. 11. Verblüfft ließ er das Kuvert sinken.

»Professor Frantzenow ist dein Schwager?« fragte er.

»Ja. Kennst du ihn?«

»Seinen Namen. Er soll einer der größten Atomwissenschaftler sein.« Bergerow riß plötzlich die Augen auf und starrte Weberowsky an. »Atom«, sagte er mit plötzlich belegter Stimme. »Das ist es! Da haben wir's.«

»Was haben wir?« fragte Weberowsky erstaunt.

»Darüber wurde schon immer geflüstert, seit Jahren, nur wußte niemand etwas Genaueres. Aber das Gerücht flog von Mund zu Mund und hörte nicht auf. Eine Stadt in der Wildnis, die keiner kennt. Eine Stadt, durch vier Sicherheitsringe völlig von der Welt abgeschnitten. Vor etwa vier Jahren kamen Nomaden aus dem Süden vom Saissan-See zurück und berichteten, daß vier von ihnen aus dem Hinterhalt erschossen wurden, weil sie einen Drahtzaun überklettern wollten. Daraufhin haben sie drei Tage und Nächte auf der Lauer gelegen, um ihre Toten zu rächen, denn einmal mußten sich die Schützen ja zeigen. Aber was sie aus der Ferne sahen, war eine Lastwagenkolonne mit Militär und einen Hubschrauber, der den Stacheldrahtzaun abflog. Dafür hatten sie keine Erklärung und zogen dann weiter auf dem alten Nomadenweg nach Norden. Natürlich war das neue Nahrung für das Gerücht von einer geheimen Stadt. Ein paar junge Leute voller Abenteuerlust machten sich vor etwa zwei Jahren mit einem Jeep auf den Weg, um diesen Südostzipfel Kasachstans zu untersuchen. Sie sind nie wieder aufgetaucht, waren einfach verschwunden, spurlos. Eine Kompanie der Garnison von Ust-Kamenogorsk sollte ausrücken, sie zu suchen. Da traf ein Befehl aus Alma-Ata ein, der den Einsatz verbot.« Bergerow holte tief Atem. »Verdammt, Wolfgang, sollte das wirklich dieses Kirenskija sein, wo heimlich Nuklearforschung betrieben wird?«

»Es muß so sein.« Weberowsky nahm den Brief wieder an sich. »Ich will meinen Schwager besuchen.«

»Willst du unbedingt erschossen werden oder für immer verschwinden?«

»Wenn Andrej schreiben kann und die Post kommt bei uns an, ist es keine geheime Stadt mehr.«

»Das ist verdammt logisch.« Bergerow kratzte sich den Kopf und dachte nach. »Aber wo liegt dieses Kirenskija?«

»Sicherlich da, wo man die Nomaden erschossen hat.«

»Das weiß man ganz genau. Aber da gibt es nur einen zwei Meter hohen Drahtzaun. Und dahinter, so vermutet man, eine Art Todeszone, die von Erdbunkern aus beobachtet wird. Wer sie betritt, hat seinen letzten Schritt getan. Es wird dir nicht anders ergehen. Ein Brief beweist gar nichts. Er kann auch hinausgeschmuggelt worden sein.«

»Ich werde fragen«, erwiderte Weberowsky stur.

»Wen?«

»Den Kommandeur der Garnison Ust-Kamenogorsk.«

»Du bist total verrückt. Sie werden dich sofort verhaften.«

»Nicht mehr, Ewald. Die Sowjetunion ist tot. Das neue Rußland ist kein totalitärer Staat mehr. Der KGB hat seine ungeheure Macht verloren.«

»Wenn das bloß nicht ein Märchen ist, Wolfgang. In Moskau ist gegenwärtig Stille, aber die Reformer um Jelzin werden noch viel von der alten Kommunistengarde hören und spüren. Und an ihrer Spitze stehen die Generäle des KGB. So einfach geben die nicht ihre siebzigjährige Macht her. Aber bitte, versuch es. Ich kann dich doch nicht davon abhalten.«

»Nein. Das kannst du nicht.«

Eine Stunde später stand Weberowsky dem General Leonid Lewonowitsch Tistschurin gegenüber. Es war schneller gegangen, als er erwartet hatte. Schon bei der Erwähnung des Namens Kirenskija beim Wachoffizier wurde er sofort an einen Major weitergereicht, der ebenso schnell den Kommandierenden anrief. Zwei Unteroffiziere brachten ihn bis vor die Zimmertür des Generals. Weberowsky hatte das Gefühl, verhaftet und abgeführt zu werden.

Tistschurin war ein großer, stämmiger Mann mit einem dicken, buschigen Schnurrbart, wie ihn im Großen Vaterländischen Krieg der legendäre Reitermarschall Budjonny getragen hatte. Semjon Michailowitsch war auch das große Vorbild Tistschurins. Auf einem edlen kasachischen Vollblutpferd ritt er oft hinaus in die Steppe und beneidete Budjonny, daß dieser einen Krieg miterleben durfte und ein Kriegsheld geworden war, der in allen Geschichtsbüchern und Lexika zu finden war. Tistschurin war deshalb auch ein heimlicher Gegner von Gorbatschow und Jelzin, deren Friedenspolitik er für eine Schande Rußlands hielt. Nur ein starkes, hartes Rußland konnte in dieser Welt bestehen, war seine Ansicht, ein Rußland als größte Atommacht der Erde. Furcht ist ein Friedensgarant, hatte er damals gesagt, als Gorbatschows Perestroika und Glasnost die ersten Erfolge zeigten. Furcht … und nicht Anbiederung an den Feind. Und ein Feind war für ihn alles, was nicht russisch war.

Nun standen sich der russische General und der deutschstämmige Bauer Weberowsky gegenüber. Keiner sprach ein Wort. Sie musterten sich wie zwei Ringer, ehe sie aufeinander zustürzten. Zwei Stiere, die ihre Hörner bereits gesenkt hatten.

»Sie wollen nach Kirenskija?« fragte Tistschurin als erstes.

»Ja!« sagte Weberowsky laut. Blicke konnten ihn nicht einschüchtern.

»Woher wissen Sie, daß es Kirenskija gibt?«

»Ich habe einen Brief aus der Stadt bekommen.«

»Unmöglich! Für welchen Staat arbeiten Sie als Agent?«

»Ich ein Agent?« Weberowsky tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Wäre ich dann so dämlich, mich ausgerechnet an Sie zu wenden? Als Agent wüßte ich, wo die Stadt liegt, da würde ich nicht fragen.«

»Was wollen Sie dort?«

»Meinen Schwager besuchen. Den berühmten Professor Frantzenow. Er hat mir geschrieben.«

»Frantzenow? Frantzenow? Den Namen habe ich schon mal gehört. Vor langer Zeit.«

»Im sowjetischen Fernsehen wurde sein Begräbnis gesendet, vor neun Jahren.«

»Sie wollen jetzt sein Grab besuchen?«

»Nein. Sein Grab liegt in Moskau. Man hat ihn in Moskau an einem Herzinfarkt sterben lassen.«

»Zum Teufel, was wollen Sie dann in Kirenskija?«

»Wie der Brief beweist, lebt er noch.« Weberowsky reichte Tistschurin den Brief. »Breschnew hat meinen Schwager in die höchste Geheimstufe versetzt, und die ist der offizielle Tod. Jelzin hat ihn wiederauferstehen lassen …«

»Diese verdammte, aufgeweichte Politik!« Tistschurin las den Brief nicht, nur den Absender. Er gab ihn zurück, ging zu seinem Schreibtisch und wählte eine Nummer, die ihn mit dem Kommandanten der Truppen in Kirenskija verband.

»Hier Tistschurin«, sagte er freundlich. »Ist dort Valerie Wassiljewitsch am Apparat?«

»Ist er, Leonid Lewonowitsch.« General Wechajew in Kirenskija wunderte sich. Man hörte es seiner Stimme an. Wie selten rief Tistschurin an; eine persönliche Beziehung gab es kaum zwischen ihnen. Im Gegensatz zu Leonid Lewonowitsch war Wechajew ein Anhänger Jelzins und seiner Reformen. Daß diese Reformen, vor allem aber die Abrüstung, auch sein Leben verändern konnten, regte ihn nicht auf. Wenn es sein muß, hatte er zu seiner Frau Neonila gesagt, lasse ich mich gern in Pension schicken. Dann werde ich den Garten in unserer Datscha bearbeiten, wir werden viel reisen, im See baden oder im Kaspischen Meer oder sogar in Sotschi am Schwarzen Meer, und ich werde steinalt werden auf Kosten des Staates. Was will man mehr vom Leben, mein Täubchen?

»Wo drückt der Schuh?« fragte er jetzt.

»Meine Schuhe passen immer!« antwortete Tistschurin steif. Die Späßchen seines Generalskameraden waren ihm zuwider. Mit Wechajew war – auch bei Konferenzen der Generalität – ein ernstes Wort kaum zu reden. Auf alles hatte er einen Witz oder einen Sinnspruch bereit, dem man kaum etwas entgegnen konnte, was Tistschurin am meisten ärgerte, denn er wollte nie, in keiner Lage und Gelegenheit, der Unterlegene sein. Aber gegen Wechajews Sprüche kam er nicht an. »Ich habe nur eine Frage.«

»Ich höre. Fragen mag ich.«

»Gibt es in Kirenskija einen Professor Frantzenow?« fragte er.

Wechajew wartete mit der Antwort und fragte zurück:

»Wie kommen Sie auf diesen Namen, Leonid Lewonowitsch?«

»Es gibt ihn also?«

»Ja«, antwortete Wechajew zögernd. »Was wollen Sie von ihm?«

»Ich will gar nichts von ihm! Vor mir steht ein Mann, Wolfgang Antonowitsch Weberowsky, der Frantzenow besuchen will.«

»Verhaften!« Wechajew war plötzlich nüchtern und gar nicht mehr fröhlich. »Verhaften und weitergeben nach Semipalatinsk. Ich werde ihn sofort beim KGB anmelden.«

»Weberowsky ist der Schwager von Professor Frantzenow. Er hat einen Brief von ihm bekommen.«

»Eine Sauerei!«

»Das kann ich nicht beurteilen.« Tistschurin freute sich, daß es ihm gelungen war, Wechajew in Unruhe zu versetzen. »Ich habe keinen Grund, ihn zu verhaften. Das überlasse ich Ihnen, Valerie Wassiljewitsch. Ich schicke Ihnen Weberowsky mit drei Mann Bewachung rüber.«

»Ich danke Ihnen, General.«

»Gern geschehen, General.«

Tistschurin legte den Hörer auf und sah Weberowsky mit zusammengekniffenen Augen an. »Sie haben gehört, wie Sie in die Stadt kommen?«

»Ja, als Verhafteter.«

»Irrtum. Sie fahren in Begleitschutz, damit Ihnen nichts passiert. Ich garantiere für Ihre Sicherheit.«

»So kann man es auch nennen«, meinte Weberowsky sarkastisch. »Der Fuchs frißt das Küken und sagt: Du bist noch so klein, in meinem Bauch bist du sicherer.«

»Das könnte sogar von Wechajew sein. Sie werden sich gut mit ihm verstehen.«

Eine Stunde später saß Weberowsky neben zwei Unteroffizieren der Armee in einem Jeep, der dritte Soldat fuhr den Wagen. Man hatte ihn weder gefesselt noch bedroht, und als sie in das Sperrgebiet kamen, verband man ihm auch nicht die Augen, wie er erwartet hatte. Lediglich ein Posten mit umgeschnallter Maschinenpistole stand an einer völlig sinnlosen Schranke der Steppenstraße. Man hatte den Schlagbaum einfach in die Wildnis gesetzt, und jeder konnte drum herumgehen. Was Weberowsky nicht wußte: Von dieser Schranke ab war links und rechts über Hunderte von Metern ein Minenstreifen angelegt. Wer ihn betrat, wurde sofort in Stücke zerrissen. Es war nach dem Drahtzaun mit den Hinweisschildern Militärgelände. Betreten verboten! der zweite Sicherheitsgürtel um die geheimnisvolle Stadt. Es schien sich viel geändert zu haben. Wenig weiter von der Stelle, wo man die vier Nomaden erschossen hatte, befand sich ein doppelflügeliges Tor im Zaun. Es stand weit offen.

Sie fuhren noch an zwei Wachen vorbei, die gelangweilt vor ihren Erdbunkern unter einer Zeltplane saßen und Schach spielten und den Jeep gar nicht beachteten. Auch einen Wachturm passierten sie, der nicht mehr besetzt war. Aber das war ein trügerischer Eindruck. Fernsehkameras überwachten das Gelände. In einer Einsatzzentrale flimmerten die Bilder über die Bildschirme. Hier wurde jede Bewegung beobachtet. Es war die einzige offene Straße, auf der man Kirenskija erreichen konnte. Wer sich aus einer anderen Richtung näherte, riskierte auch jetzt noch sein Leben.

Bei General Wechajew kam die Meldung herein: Sie kommen. Ein Offizier, ein Major, fuhr dem Jeep entgegen. Hinter dem vierten Sperrgürtel standen sie sich dann auf der Straße gegenüber. Der Unteroffizier aus Ust-Kamenogorsk erstattete Meldung, der zweite sagte zu Weberowsky: »Sie können aussteigen. Ihre Übergabe ist erfolgt.«

»Wie gütig.« Weberowsky sprang aus dem Jeep und ging dem Major entgegen. Der Offizier grüßte höflich. Er trug eine leichte, erdbraune Uniform und eine Schirmmütze, an der noch die Kokarde der Sowjetunion in der Sonne blinkte. Der Jeep von General Tistschurin wendete und fuhr schnell davon. Man schien froh zu sein, den Mann los zu sein.

»Steigen Sie ein«, sagte der Major freundlich. »Der Kommandierende erwartet Sie. General Wechajew.«

»Ist Rußland eigentlich das Land mit den meisten Generälen?« fragte Weberowsky.

»Ja.« Der Major lächelte nachsichtig. »Wir haben ja auch die größte Armee der Welt – mit Ausnahme von China.«

Die Einfahrt nach Kirenskija war imposant. Befestigte Asphaltstraßen, Häuserzeilen aus Fertigteilen, blühende, gepflegte Gärten, ein Kino, eine Halle für Versammlungen und Theater, ein künstlicher See, ein Schwimmbad, ein kleines Sportstadion, die Stadtverwaltung und langgestreckte, flache, nach außen fensterlose Bauten, die sich nur zu den Innenhöfen öffneten: die Labors und Versuchswerkstätten, das größte Geheimnis Rußlands. Was man sonst über der Erde sah, war nur ein kleiner, verhältnismäßig harmloser Teil. Das Grauen lagerte unter der Erde.

Hinter einer Parkanlage, in der sich unentwegt Wassersprenger drehten, und das bei der Wasserknappheit in diesem einsamen, wilden Gebiet zwischen zwei Gebirgszügen und einem kleinen See an der Grenze Chinas, lag das Hauptquartier der Armee. Das Wasser wurde aus dem Saissan-See in die Stadt gepumpt, ein gutes Wasser, das kaum gereinigt werden mußte.

»Ich wundere mich«, hatte Weberowsky während der Fahrt gesagt.

»Worüber?« fragte der Major zurück.

»Sie holen mich allein ab. General Tistschurin stellte drei Mann zur Bewachung ab.«

»Das ist der Unterschied. Wir bewachen Sie nicht, ich begleite Sie nur.«

»Ich bin nicht verhaftet?«

»Nein. Warum denn?«

»Ich hatte den Eindruck, daß ich ein Staatsgeheimnis entdeckt habe.«

»Das war einmal. Vor einigen Wochen hat sich das geändert. Jetzt ist Kirenskija eine Stadt wie alle anderen. Jeder kann sie besuchen. Nur kommen keine Besucher, weil keiner weiß, daß es diese Stadt gibt. Außer denen, die auch bisher Zutritt hatten, sind Sie tatsächlich der erste Besucher von außerhalb, der nichts mit der Stadt zu tun hat. Deshalb möchte General Wechajew Sie sehen.«

Sie hielten vor der Kommandantur, stiegen aus, gingen an zwei salutierenden Posten vorbei ins Haus und trafen auf den Adjutanten des Generals. Er hatte sie erwartet. Auf dem Fernsehschirm hatte man ihre Fahrt verfolgt. Der Major grüßte, drehte sich um und ging davon.

»Haben Sie einen Wunsch, Herr Weberowsky?« fragte der Adjutant. Er war im Rang eines Hauptmanns und war in Kasachstan geboren.

»Ja. Ich habe Durst«, antwortete Weberowsky. »Das war eine wahre Höllenfahrt. Ich bin wie ausgedörrt.«

»Ich will sehen, was ich herbeischaffen kann.« Der Adjutant klopfte an eine weiße Tür und stieß sie dann auf. »Gehen Sie hinein.«

General Wechajew war ein ganz anderer Typ als sein Vorgänger Schemskow, der vor kurzem in den Ruhestand versetzt worden war. Er war für seinen Rang noch ziemlich jung, was in Rußland eine Seltenheit war, denn die Generalität bestand größtenteils aus alten Männern. Wechajew, so schätzte Weberowsky, war höchstens fünfzig, drei Ordensspangen zierten seine Uniform, er hatte braunes, gewelltes Haar, war von mittlerer Statur und hatte ein Gesicht wie ein Mensch, der gerne genießt und das Leben heiter nimmt. Vor allem die braunen Augen waren lebhaft. Jetzt musterten sie Weberowsky mit deutlicher Neugier.

»Sie sind die erste Schwalbe, die bei uns einfliegt. Nach Kirenskija kommt der Frühling«, sagte er heiter. »Leider sind wir auf Schwalben nicht eingestellt. Sie werden ein Nest in Semipalatinsk bekommen. Die Freunde vom KGB sind schon unterwegs.«

»KGB?!« Weberowsky zog unwillkürlich die Schultern hoch. »Ich bin also doch verhaftet?«

»Sie wollen Professor Frantzenow besuchen?«

»Ja, meinen Schwager.«

»Das kann jeder sagen.«

»Ich kann es beweisen! Ich habe einen Brief von ihm.«

»Briefe kann man fälschen.«

»Was hätte ich sonst für einen Grund, nach Kirenskija zu kommen?«

»Das ist die Frage, die mich beschäftigt.« General Wechajew streckte die Hand aus. »Den Brief bitte.«

Weberowsky holte das Schreiben aus der Tasche und hielt es Wechajew hin. Der General las es stumm, faltete den Bogen dann wieder zusammen und steckte ihn in das Kuvert.

»Sieht echt aus«, sagte er und gab den Brief an Weberowsky zurück.

»Er ist echt.«

»Kommen Sie mal her.« Der General deutete auf einen Monitor und schaltete ihn ein. Das Bild zeigte das Schwimmbad. Eine Menge Badender füllte das Becken, auf der Wiese lagen mehrere Männer und lasen, dösten vor sich hin oder spielten Federball. Die Kamera schwenkte hin und her. Wechajew zeigte auf den Bildschirm. Langsam glitt die Kamera über Wiese und Schwimmbecken. »Erkennen Sie unter den Männern Ihren Schwager? Wenn ja, dann sagen Sie ›halt‹!«

»Ich erkenne ihn sofort – wenn er sich in den letzten neun Jahren nicht allzusehr verändert hat. Neun Jahre sind eine lange Zeit.«

»Zweimal dürfen Sie sich irren, beim drittenmal werden Sie wirklich verhaftet. Also, sehen Sie genau hin.«

Weberowsky beugte sich vor und betrachtete das vorbeiziehende Bild. Ist es eine Falle? dachte er dabei. Ist Andrej gar nicht unter den Männern? Will man auf diese Art einen Grund finden, mich nach Semipalatinsk zu bringen?

General Wechajew schien seine Gedanken zu erraten. »Professor Frantzenow ist unter diesen Männern, ich garantiere dafür. Wo ist er? Sagen Sie ›halt‹.«

Die Kamera schwenkte zum Beckenrand, zur chromblitzenden Einstiegsleiter. Ein Mann mit jetzt nassen, weißen Haaren kletterte aus dem Wasser. Er trug eine schwarze Badehose und sah für sein Alter noch recht sportlich aus. Weberowskys Kopf zuckte vor.

»Halt!« rief er. »Das ist er. Das ist Schwager Andrej Valentinowitsch.«

»Sind Sie sicher?«

»Vollkommen sicher bin ich! Das ist er. Schmaler und natürlich älter ist er geworden. Als ich ihn das letztemal sah, hatte er braune Haare mit ein paar grauen Strähnen. Jetzt sind sie weiß.«

General Wechajew schaltete den Monitor aus, zeigte auf einen Sessel und setzte sich Weberowsky gegenüber. Es klopfte an der Tür. Der Adjutant trat ein. Was brachte er auf einem Tablett mit zwei Gläsern? Natürlich chinesisches Bier.

»Sie haben recht«, sagte Wechajew. »Es ist Professor Frantzenow. Aber Sie können ihn auch von Fotos her kennen!« Sie gossen das Bier in die Gläser und tranken. Weberowsky trank sein Glas in einem Zug leer, so durstig war er und so ausgetrocknet. »Ich habe mir gedacht, jetzt machen wir es umgekehrt. Wenn Andrej Valentinowitsch das Schwimmbad verläßt, kommen Sie ihm entgegen. Wenn er Sie sieht, erkennt und Ihnen um den Hals fällt, glaube ich Ihnen. Geht er an Ihnen achtlos vorbei –«

»Ich weiß.« Weberowsky lächelte sauer. »Semipalatinsk. Aber auch ich habe mich in den neun Jahren verändert.«

»Ihr Gesicht vergißt so schnell niemand, am wenigsten ein Verwandter. Warten wir ab. Ich bekomme sofort Meldung, wenn Professor Frantzenow das Bad verläßt. Dann marschieren wir los.«

Sie hatten das chinesische Bier noch nicht ausgetrunken, als das Telefon läutete. Wechajew hob ab, sagte knapp: »Danke!« und wandte sich Weberowsky zu. »Er ist unterwegs. Gehen Sie ihm allein entgegen, aber glauben Sie nicht, Sie würden nicht scharf beobachtet. Kommen Sie.«

Vor der Kommandantur wartete wieder der Jeep. General Wechajew begleitete Weberowsky bis an die Straße, die zum Schwimmbad führte, ließ ihn dort aussteigen und nickte ihm zu.

Gott gebe, daß mich Andrej erkennt, dachte Weberowsky. Er setzte sich in Bewegung, ging langsamen Schrittes mitten auf der Straße seinem Schwager entgegen, und je näher sie sich kamen, um so heftiger klopfte sein Herz und wurden seine Beine schwerer.

Geh nicht an mir vorbei, flehte er innerlich. Andrej, du mußt mich doch erkennen. Warum hältst du den Kopf gesenkt, sieh mich doch an, ich bin's, Wolfgang Antonowitsch, der Mann deiner Schwester Erna. Andrej –

Drei Meter waren sie voneinander entfernt, als Frantzenow den Blick hob und Weberowsky ansah. Mit einem Ruck blieb er stehen, schüttelte den Kopf, als wolle er ein Traumbild verjagen, aber der Mann vor ihm war Wirklichkeit und lächelte ihn an, und er sah aus wie Wolfgang, nur etwas dicker und grauer geworden, aber dieses von der Sonne gegerbte Gesicht war unverkennbar, so ein Gesicht gab es nicht zweimal, es war –

»Wolfgang!« rief Frantzenow und breitete die Arme aus. »Schwager! Du hast es geschafft, hierherzukommen?!«

Sie rannten aufeinander zu, umarmten sich, küßten sich auf die Wangen, und sie bissen die Zähne zusammen, als sie spürten, wie ihre Augen naß wurden und ein Schluchzen im Hals hochstieg.

»Ich hatte nie geglaubt, dich je wiederzusehen«, sagte Frantzenow mit unsicherer Stimme.

Und Weberowsky antwortete: »Auch wir haben gesagt: Andrej Valentinowitsch ist verschollen. Oder er ist zu stolz geworden, um mit einem einfachen Bauern zu reden.«

»Das habt ihr mir zugetraut?«

»Wie oft hat Erna an dich geschrieben, und nie hast du geantwortet. Jetzt wissen wir, warum. Du warst für alle tot, begraben in Moskau. Darüber müssen wir noch sprechen, Andrej.«

»Komm mit in meine Wohnung. Weißt du schon, wo du schläfst?«

»Ich bin vor einer Stunde angekommen.«

»Natürlich wohnst du bei mir. Ich werde sofort die Verwaltung informieren.«

Sie faßten sich unter und gingen die Straße hinunter und kamen auch an dem Jeep vorbei, in dem General Wechajew saß. Frantzenow stieß Weberowsky an.

»Siehst du den Jeep da drüben?«

»Ja.«

»General Wechajew sitzt darin. Der Kommandant der Truppen in und um Kirenskija. Ich kenne ihn nur von einigen Herrenabenden her, damals war er aber noch nicht Kommandant. Starr nicht zu ihm hinüber, es ist besser, nichts mit ihm zu tun zu haben.«

Weberowsky schwieg. Es ist besser, dachte er, Andrej erfährt nichts davon, was am heutigen Tag alles geschehen ist. Man kann das später erzählen.

»Ist dieser General ein so grausamer Mensch?«

»Grausam? Nein!« Frantzenow zog seinen Schwager weiter. »Aber es ist immer besser, mit dem Militär nichts zu tun zu haben.«

»Das sagst du?!« Weberowsky blieb stehen. »Du hast dein ganzes Leben lang für das Militär gearbeitet. Du hast mitgeholfen, daß immer schrecklichere Atombomben konstruiert werden konnten.«

»Ich bin Nuklearforscher, Wolfgang. Die Atomforschung beschränkt sich nicht allein auf Atomsprengköpfe. Sie umfaßt unser tägliches Leben, sie hat das Leben verändert und wird das Leben noch mehr verändern. Ohne Atomenergie wird es in Zukunft nicht mehr möglich sein, auf unserer Welt zu wohnen. Sie wird in alle Bereiche eindringen. In die neue Zeit der Menschheit hineinzuführen, das ist meine Aufgabe.«

»Und du glaubst wirklich, was du sagst?«

»Du ahnst gar nicht, was in naher Zukunft alles möglich sein wird.«

»Man steckt wie eine Kopeke eine Atomtablette in einen Schlitz und hat für eine Woche Strom im Haus. Jeder Mensch besitzt sein eigenes kleines Atomwerk.«

»So ähnlich.«

»Eine teuflische Vision ist das, Andrej Valentinowitsch. Und damit kannst du leben?«

»Ich habe es für Rußland getan, für seine Vormachtstellung auf der Welt. Wir haben als erste ein Tier in den Weltraum geschossen – die Hündin Laika –, wir haben in der Satellitenforschung Amerika überholt, wir haben mit Juri Alexejewitsch Gagarin am 12. April 1961 den ersten bemannten Weltraumflug gewagt, sein Raumschiff Wostok wurde zum Grundmodell aller Raumschiffe. Wir haben mit unserer Nuklearforschung Weltgeschichte geschrieben, ja, und wir haben auch die Mehrfach-Sprengköpfe entwickelt, gegen die die Hiroshima-Bombe ein kleiner Knallfrosch war. Soll ich mich dafür schämen? Ich habe nur an Rußlands Ehre gedacht.« Frantzenow hakte sich bei seinem Schwager wieder ein. »Sollen wir das auf der Straße erörtern? Komm, wir werden bei mir ein Gläschen trinken und dann zum Essen in die Kantine gehen.«

»Das ist gut, das höre ich gern.« Weberowsky setzte sich wieder in Bewegung. »Ich habe seit heute morgen sieben Uhr nichts mehr gegessen, nur chinesisches Bier getrunken.«

In seinem Jeep blickte General Wechajew ihnen nach. Was sprechen sie miteinander, dachte er. Nach neun Jahren hat man sich viel zu erzählen. Aber was wird Frantzenow erzählen? Ein Geheimnisträger erster Klasse ist er, man muß auf ihn aufpassen, gerade jetzt, wo Kirenskija keine geheime Stadt mehr ist.

Er fuhr zurück zur Kommandantur, griff in seinem Dienstzimmer zum Telefon und rief Nurgai an.

»Kusma Borisowitsch«, sagte er. »Ich habe eine Neuigkeit für Sie: Frantzenow hat Besuch bekommen.«

»Besuch?« Man hörte Nurgais Stimme eine Art Unglauben an. »Das ist doch unmöglich.« Jetzt ist er da, dachte er dabei. Der Abwerber aus dem Iran oder Irak. Jetzt wird man Andrej Valentinowitsch einen Millionenvertrag vorlegen. Aber er irrt sich, wenn er hofft, in Teheran oder Damaskus eine Villa zu beziehen. Eher lassen wir ihn wieder sterben. Man wird in Moskau nicht tatenlos zusehen, wie einer unserer größten Wissenschaftler ins Ausland verschwindet. Auch Jelzin wird es nicht zulassen bei aller neuen Freiheit, die er propagiert.

»Der Besuch ist mir von General Tistschurin aus Ust-Kamenogorsk geschickt worden. Ich habe ihn überprüft – er ist harmlos.« Wechajew räusperte sich. »Ich hielt es für nützlich, Sie darüber zu informieren.«

»Welche Nationalität hat der Besucher?«

»Ein Russe ist er. Ein Deutschrusse aus Nowo Grodnow bei Atbasar.«

»Das kann ein Trick sein. Ein vorgeschobener Mittelsmann. Was will er von Frantzenow?«

»Er ist sein Schwager, der Mann seiner Schwester.«

»Ich danke Ihnen, General. Das war wirklich eine wichtige Mitteilung.«

Wechajew legte auf. Was meinte Nurgai mit ›vorgeschobener Mittelsmann‹, grübelte er. Was wurde hier, unter dem Deckmantel des langweiligen Alltags, wirklich gespielt? Wen erwartete Nurgai?

Nach längerem Zögern griff Wechajew wieder zum Telefon und rief die Stadtverwaltung an. »Boris Olegowitsch Sliwka will ich sprechen«, sagte er. »Sofort!«

Es dauerte dennoch eine Weile, bis Sliwka am Apparat war. »Sliwka«, meldete er sich. »Wer ist dort?«

»Wechajew.«

»Der General?«

»Kennen Sie einen anderen Wechajew?«

»Es gab einen Wechajew zu meiner Zeit in Semipalatinsk … ein Straßenräuber. Er bekam zehn Jahre Zwangsarbeit. Die Zeit müßte herum sein.«

Wechajew war weit davon entfernt, sich beleidigt zu fühlen. »Ein Bär«, entgegnete er, »raubt einen Bienenstock. Ein Fuchs kommt ihm entgegen und sagt: Bär, du Hirnloser, weißt du nicht, daß es sich um Nuruku-Bienen handelt? Die vergiften ihren Honig, nur sie können ihn vertragen. Der Bär wirft den Bienenkorb weg und trottet davon, und der Fuchs macht sich über den Honig her und frißt ihn. Genau betrachtet sind wir alle Straßenräuber, Boris Olegowitsch.«

»Haben Sie mich angerufen, General, um mir diese Parabel zu erzählen?« fragte Sliwka. Wechajew war nicht zu schlagen.

»Professor Frantzenow hat Besuch«, erwiderte Wechajew in fröhlichem Ton. »Interessiert Sie das?«

»Besuch?« Sliwkas Stimme hob sich. »Ein Moslem?«

»Ich wußte bis jetzt nicht, daß Frantzenows Schwager zu Allah betet.«

»Weberowsky ist hier?«

»Sie kennen ihn?«

»Nur aus den Akten. Rußlanddeutscher wie Frantzenow. Aktiv tätig in der Aussiedlerfrage. Hat engen Kontakt zum Deutschen Kulturzentrum in Ust-Kamenogorsk.«

»Ihr vom KGB wißt wohl alles?«

»Wir tun unsere Arbeit gründlich. Ich danke Ihnen, General, für den Hinweis.«

»Das sagte Nurgai auch.«

»Sie haben auch Nurgai benachrichtigt?«

»Natürlich. Er ist doch der Vorgesetzte von Frantzenow.«

»Das war – Verzeihung, General – ein Fehler.«

»Wieso?«

»Solche wichtigen Neuigkeiten sollte man zuerst dem KGB melden.«

»Ich war der Annahme, daß der Besuch eines Schwagers kein Anlaß zum Eingreifen des KGB ist. Daß ich Nurgai und Sie anrufe hat nur den Grund, daß dieser Weberowsky wirklich der erste Mensch ist, der bis zu uns vorgedrungen ist und ohne Sondergenehmigung Kirenskija betritt.«

»Genau das interessiert den KGB. Frantzenow hat einen Brief an seine Schwester Erna geschrieben, und schon ist der Schwager da. Üblich ist doch, daß man mit einem Brief auf einen Brief antwortet. Aber was geschieht? Plötzlich ist Weberowsky da! Kein Brief, er kommt selbst. Warum?«

»Fragen Sie ihn selbst. Er ist jetzt bei Frantzenow in der Wohnung.«

»Wie hat Nurgai auf diese Mitteilung reagiert?«

»Zuerst verblüfft, dann nachdenklich.« General Wechajew verstand Sliwkas Frage nicht. »Ich fand es nur merkwürdig, daß er, bevor er wußte, daß es Weberowsky ist, wissen wollte, welche Nationalität der Besucher habe.«

Sliwka nickte mehrmals, was Wechajew nicht sehen konnte. Er erwartet also die Werber aus dem Orient oder aus Asien. Wir wissen, daß überall, auch in Alma-Ata, die iranischen Aufkäufer massiv tätig sind, um an Sprengköpfe und Atomtechnologie heranzukommen. Bald wird ein Sturm auf Kirenskija beginnen, sobald bekannt ist, daß es diese Atomstadt gibt. Und es wird bekannt werden. Die Amerikaner in ihrer Naivität und Pressevernarrtheit erzählen es ja überall herum.

»Darf ich Ihnen einen Rat geben, General?« fragte Sliwka. »Erfahrungen eines Straßenräubers?«

Wechajew lachte. »Ich höre.«

»Bremsen Sie etwas Ihr Vertrauen zu Nurgai.«

»Was heißt das? Was ist mit Nurgai los?«

»Erwarten Sie von mir bitte keine Auskunft. Es war nur ein privater Hinweis.«

»Was wird hier gespielt, Boris Olegowitsch?«

»Ein verflucht heißes und weltbewegendes Spiel! Und wir alle spielen mit, als Akteure oder Statisten. Auf jeden Fall als Betroffene. Mehr darf ich Ihnen im Augenblick nicht sagen.«

»Das klingt nach Alarm, Sliwka!« Wechajews Stimme war plötzlich sehr ernst. »So, als sei es fünf Minuten vor zwölf …«

»Es ist bereits fünf Minuten nach zwölf, aber wir versuchen das Unmögliche: Der Zeit vorauszulaufen. Im Augenblick dementieren wir alles.«

»Wo gibt es was zu dementieren?«

»Es sollen zwei Atomsprengköpfe im Iran gelandet sein. Mit Wissen der kasachischen Regierung. Ein glattes Geschäft: Sprengköpfe gegen Benzin und Devisen. Ein tödlicher Handel.«

»Ist das wahr?!« Entsetzen klang in Wechajews Stimme.

»Leider, General. Und es ist nur die Spitze des Eisberges, wie man so plastisch sagt. Was wirklich geschieht, weiß niemand, und wenn es Moskau weiß, dann schweigt es aus Scham über diese Schande. Die verhätschelte Elite der ›Großen Geister‹, die glühenden Patrioten, von denen Atomminister Viktor Michailow sprach, entpuppen sich als verkappte Kapitalisten! Nach den Unterlagen, die dem KGB vorliegen, sind schon mindestens ein Dutzend Experten verschwunden. Sie werden im Iran, im Irak und in Libyen wieder auftauchen. Es gibt noch viel zu tun für uns.«

Wechajew, mit den Praktiken des KGB vertraut, zögerte nicht, es auszusprechen: »Man wird die Abtrünnigen liquidieren?«

»Wenn nötig … ja.« Sliwka sagte es so kalt, daß Wechajew unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern zog. »Wir werden wieder Sonderkommandos bilden müssen, dieses Mal in enger Zusammenarbeit mit dem CIA. Die Situation verlangt eine enge Zusammenarbeit. Nur so bekommen wir das Problem in den Griff und können es lösen. Wie ich schon sagte –«

»Ist es bereits fünf Minuten nach zwölf!« Wechajew runzelte angestrengt die Stirn. »Ist der Iran in der Lage, eine Atombombe zu bauen?«

»Eine einfache … ja. Aber keinen elektronisch gesicherten Zünder für eine Plutoniumbombe. Sie enthält eine ganz bestimmte Anordnung des Sprengstoffes und über fünfzig hochpräzise Zündsperren! Daran haben unsere Wissenschaftler ein halbes Jahrhundert lang gearbeitet. Man kann unsere Bomben durch Ausschlachten nicht einfach kopieren. Dazu sind sie zu kompliziert.«

»Und Professor Frantzenow arbeitet auch an diesen Teufelsdingern?«

»Er ist einer der maßgebenden Nuklearexperten.«

»Haben Sie den Verdacht, daß er auch in den Iran verschwinden könnte?«

»Nein. Dazu ist er immer noch ein zu großer russischer Patriot. In ein islamisches Land geht er nie!«

»Und Nurgai?«

»Kein Kommentar, General.«

»Die Antwort genügt mir. Ich werde mich mehr um Nurgai kümmern.«

»Nicht nötig, das tun wir schon. Das ist unsere Aufgabe. Nochmals danke, General.«

Sliwka beendete das Gespräch. Wechajew legte nachdenklich den Hörer zurück. Irgend etwas an dem Gespräch gefiel ihm nicht, reizte sein Gespür für eine dunkle Gefahr. Sliwka war ungewöhnlich informiert: Ein an sich kleiner Offizier des KGB, im Range eines Oberleutnants, wußte bis ins Detail von allen Plänen des Geheimdienstes. Woher kam dieses Wissen? Es war nicht der Stil des KGB, subalterne Mitarbeiter in alles einzuweihen, was in den neuen Republiken an Ungereimtheiten und machtpolitischen Bestrebungen vorkam.

Der revolutionäre Plan Jelzins, alle russischen Staaten um einen großen Topf zu versammeln und gemeinsam zu essen, würde nie funktionieren. Schon jetzt kochte jeder unabhängig gewordene Staat sein eigenes Süppchen und ließ die anderen nicht in seinen Kessel gucken. Vor allem die Ukraine und Georgien kapselten sich völlig von Rußland ab, im Kaukasus tobte sogar ein Bürgerkrieg mit Hunderten von Toten. Die Krimtataren wollten zurück in ihre Heimat und drohten offen mit Terror, wenn – nach einem anderen Plan Jelzins – den Rußlanddeutschen Land auf der Krim gegeben werden sollte. Die ehemalige sowjetische Schwarzmeerflotte weigerte sich, sich dem Kommando Rußlands zu unterstellen. Krawtschuk beanspruchte sie für sich, besessen von der Idee eines mächtigen ukrainischen Staates. Die ehemaligen sowjetisch-islamischen Staaten im Süden und in Asien waren bereits vom Virus der moslemischen Bruderschaft infiziert. Aserbaidschan, Turkmenien und Tadschikistan wurden zu Stützpunkten der iranischen Mullahs, die ihre bisherigen Konsulate in Botschaften umwandelten, um die Souveränität dieser Staaten zu unterstreichen, was jedem Politiker schmeichelt. Usbekistan und Kirgisistan lachten über die Bemühungen Jelzins, ihnen den Willen Moskaus aufzuzwingen, und Kasachstan tat, was es wollte, der Politik Rußlands völlig entgegengesetzt. Und die Republiken mit dem größten Atompotential? Schlossen sie ihre Tore vor allen Atomhändlern, oder wurde die Bombe in ihren Händen zum Kapital, zum Goldesel für ihr Land?

Wechajew lehnte sich zurück und blickte an die Decke. Das war alles, was man wußte und täglich ergänzt wurde durch neue Meldungen. Aber Sliwka wußte mehr. Woher bezog er sein Wissen? Welche Verbindungen hatte er zu den vertraulichen Informationen des KGB? Was wußte ein kleiner Oberleutnant von der internen Zusammenarbeit mit dem CIA?

Es ist alles sehr verwirrend, stellte Wechajew fest. Ein Wespennest, dem man am besten aus dem Weg geht. Man lebt ruhiger, wenn man sich dumm stellt und in die Fröhlichkeit flüchtet. Das ist der beste Schutz: ahnungslos sein und im geheimen doch vieles zu wissen. Rußlands Zukunft ist ungewisser als zuvor. Gott, stehe uns bei.

Er war nie ein gläubiger Mensch gewesen, erzogen in einer Zeit, wo man aus Kirchen noch Fabrikbetriebe gemacht hatte, Handwerkerkommunen und Lagerhallen, aber jetzt schien es nötig, eine Macht anzurufen, die über dem Kreml stand.

Rußland, sei wachsam. Zerbrich nicht an der neu gewonnenen Freiheit.

Zunächst kochte Frantzenow in seiner kleinen Küche eine Nudelsuppe und wärmte im Backofen pelmini auf, das sind mit Hackfleisch gefüllte Teigtaschen. Als Weberowsky helfen wollte, zeigte er hinaus ins Wohnzimmer.

»Du setzt dich jetzt in den Sessel und ruhst dich aus!« befahl er. »Keine Widerrede, Schwager! Hier bin ich der Herr im Haus. Erzähl mir von euch. Meiner Schwester. Erna geht es gut?«

»Ich weiß es nicht, ob sie mit mir zufrieden ist.« Weberowsky setzte sich in den Sessel, in dem Andrej Valentinowitsch fast erschossen worden wäre. Er sah das Loch in der Wand, aber er dachte sich nichts dabei. »Wir leben, wie wir immer gelebt haben. Harte Arbeit von früh bis spät. Aber wenn man ihre Früchte sieht, ist man glücklich. Mittlerweile bin ich zum Dorfvorstand gewählt worden.«

»Und es stimmt, daß ganz Nowo Grodnow nach Deutschland auswandern will?«

»Ich hoffe es. Wer hierbleibt, wird es sehr schwer haben. Die Häuser werden von Kasachen oder Russen gekauft werden und die zurückgebliebenen Rußlanddeutschen wie Feinde behandelt. Und sie werden sich nicht wehren können, sie werden eine Minderheit sein, um die sich niemand kümmert. Wer ein bißchen Verstand hat, kommt mit uns.«

Frantzenow brachte zuerst die aufgebackenen pelmini hinein, dazu dicke, duftende Salzgurken und in Essig eingelegte Pilze. In der Küche brodelte das Salzwasser mit den Nudeln.

»Was sagen deine Kinder dazu?« fragte er.

»Hermann ist mit einer Russin verlobt, die Kasachstan nicht verlassen will. Gottlieb wartet auf seine Zulassung an eine Universität. Die Partei hat ihm versprochen, daß er Medizin studieren darf. Er soll ein Stipendium bekommen. Ein kluger Junge ist er. Außerdem liebt er ein Mädchen, das er vor uns versteckt. Ich weiß nicht, aus welchen Gründen, aber ich frage ihn auch nicht. Er will auch bleiben.«

»Und Eva?«

»Sie wird mitkommen.«

»Erna?«

»Welche Frage, Andrej. Sie ist dort, wo ich bin.«

»Weberowsky, der Patriarch!«

Frantzenow sah zu, wie Weberowsky mit Heißhunger die pelmini aß, ging ab und zu in die Küche, prüfte die Nudeln, goß sie dann ab und schüttete sie in einen Topf mit Hühnerbrühe, den er aus dem alten Kühlschrank holte. Weberowsky schnupperte mit hoch erhobener Nase.

»Du lebst nicht schlecht!« rief er. »Was man so aus den Städten hört –«

»Kirenskija war bei Sonderzuteilungen bevorzugt. Im Kaufhaus gab es alles, was man zum täglichen Leben brauchte. Ob sich das jetzt ändert? Ich habe öfter für mich gekocht, das Essen in der Kantine schmeckt immer gleich. Außerdem immer die gleichen Gesichter, die gleichen Themen, die gleichen Klagen. Man setzt sich an den Tisch und weiß im voraus, was man zu hören kriegt.«

Weberowsky löffelte zwei Teller voll Nudelsuppe und war dann so satt, daß ihn Müdigkeit ergriff. Er legte den Kopf gegen die Sesselpolster und sah seinen Schwager mit schläfrigem Blick an.

»Du lebst sehr zurückgezogen?«

»Ja. Ich bin am liebsten mit mir allein.«

»Hast du keine Freunde?«

»Hier gibt es keine Freunde, nur neidische Arbeitskollegen. Jeder will den anderen übertreffen, um einen lobenden Eintrag in die Personalakte zu bekommen. Seit Wochen ist es noch schlimmer. Die Angst der Arbeitslosigkeit hat alle im Griff. Jeder hofft, unentbehrlich zu sein, und kriecht Nurgai in den Hintern. Dabei zittert Nurgai selbst um seine Zukunft. Was bisher unter uns eine Art Kameradschaft war, bricht auseinander.«

»Du bist unentbehrlich, Andrej.«

»Das bekomme ich täglich zu spüren. Was sagen sie zu mir? ›Dir wird nie ein Zahn wackeln. Mit Gold werden sie ihn dir ausgießen.‹ Und dabei sehen sie mich voller Verachtung an!«

»Wie lange willst du das noch aushalten, Andrej?«

»Das ist eine Frage des Charakters. Ich ziehe mich zurück, lebe für mich – und warte.«

»Worauf?«

»Ich weiß es nicht. Aber irgend etwas wird geschehen, muß geschehen. Im Augenblick sind wir alle wie gelähmt. Amerikaner in Kirenskija! Amerikaner überwachen die Vernichtung der Atomsprengköpfe. Amerikaner schnüffeln überall herum. Spekulanten gründen Firmen, kaufen Betriebe auf, erwerben die Erschließungsrechte für sibirische Gebiete, setzen sich in Fabriken fest, bestechen ganze Beamtenheere – Rußland billig zum Ausverkaufspreis! So kann es nicht weitergehen.«

»Eines Tages wirst auch du verkauft werden.«

»Bis jetzt will man mich kaufen. Eine halbe Million Dollar Jahresgehalt, dazu Prämien sind mir angeboten worden. Ein sorgenfreies Leben. Eine Traumvilla in der Gartenvorstadt von Teheran. Dafür habe ich nichts anderes zu tun, als für den Iran Atome zu spalten.«

»Mein Gott – Andrej!« Weberowsky starrte seinen Schwager entsetzt an. »Und du willst annehmen?«

»Nein! Ich arbeite nicht für religiöse Fanatiker.«

»Und für die Amerikaner?«

»Erst recht nicht. Dazu bin ich zu sehr Russe!«

»Bist du das wirklich, Schwager?«

»Ich bin nie etwas anderes gewesen.«

Frantzenow holte eine Flasche Weißwein und entkorkte sie. Er probierte, nickte beifällig und goß Weberowsky ein. »Ein 1983er«, sagte er dabei. »Ein Sonnenjahrgang. Nur für besondere Gelegenheiten. Ich habe ein paar Flaschen aufgehoben. Heute ist so ein Tag: Ich habe meine Familie wieder.«

»Ich denke, du bist Russe?« Weberowsky blickte in das Glas mit dem honiggelben Wein. »Wir sind Deutsche.«

»Der Abstammung nach. Aber 1763, als unsere Urahnen auswanderten, die deutsche Goldgräberzeit, als jeder sein Glück im Osten suchte, ist lang vergangen. Jetzt wollt ihr rückwärts laufen und in der alten Heimat nach Gold suchen. Aber auch das neue Deutschland ist kein Eldorado! Warum hat euch Katharina II. nach Rußland gelockt? Nicht, weil sie eine deutsche Prinzessin war, sondern um euch die Dreckarbeit machen zu lassen, aus Schlammfeldern und verkommenem Land, aus Unkraut und saurem Boden fruchtbare Erde zu zaubern. Das haben unsere Vorväter geschafft, und ihr habt es auch in Kasachstan geschafft. Ihr seid doch mehr Russen als Deutsche!«

Weberowsky schwieg und sah seinen Schwager verbissen an. Als Frantzenow sein Glas hob und ihm zuprostete, rührte er seinen Wein nicht an. Andrej hatte ihn an seiner empfindlichsten Stelle getroffen.

»Böse?« fragte Frantzenow.

»Ich wundere mich, wie sehr du dich verändert hast. Als du noch in Moskau warst, bist du zweimal im Jahr nach Nowo Grodnow gekommen. Zum Frühlingsfest und zum Erntedankfest. Du hast unsere alte Tracht getragen, du hast unsere Tänze mitgetanzt, du hast in der Kirche unsere alten Lieder mitgesungen und unter der Linde gesessen und unseren nach alter Tradition gekelterten Obstwein getrunken. Du warst immer einer von uns. War das alles nur gespielt? Ein Bauerntheater? Du hast nicht als Russe unsere Volkslieder gesungen, sondern als Deutscher. Ist das alles nicht mehr wahr?«

»Die gute alte Zeit … unsere Jugend. Was ist dann in all den kommenden Jahren geschehen?«

»Du bist eine Berühmtheit geworden und schämst dich jetzt, daß du deutsche Vorfahren hast. Wenn das Erna hören könnte. Ich kann es ihr gar nicht erzählen. Was hat denn dein ›Vaterland Rußland‹ mit dir getan? Es hat dich sterben und begraben lassen, hat dich einfach weggenommen aus deiner Welt und versteckt in einer Stadt, die nichts anderes war als ein Luxusstraflager. Nein, ihr seid nicht in Gitterkäfigen zur Arbeit gefahren worden wie die Sträflinge in den sibirischen Lagern, man hat euch nur in modernste Labors eingeschlossen, um dem Tod immer neue Waffen zu liefern. Und während ihr geglaubt habt, besondere Menschen zu sein, wart ihr nichts anderes als Arbeitstiere an marmornen Krippen. Jetzt erst gehen euch die Augen auf. Ein kleiner Hund und eine kleine Katze brauchen nur wenige Wochen, um aus ihrer Blindheit herauszuwachsen; ihr, die Krone der Schöpfung, seid Jahrzehnte blind geblieben und könnt auch heute noch nicht klar sehen.«

»Bravo!« Frantzenow hob wieder sein Glas. »So lange habe ich dich noch nie reden hören. Bist du fertig mit deiner Bergpredigt?«

»Im Augenblick – ja.«

»Du trinkst nicht mit mir?«

»Wäre ich wie du, müßte ich sagen: nein! Es ist russischer Wein! Ich bin Deutscher, ich trinke nur Mosel, Pfälzer oder unseren Rheinhessen, da, woher wir stammen. Aber ich bin nicht so stur.« Weberowsky hob nun doch sein Glas. »Was ist? Ein Russe trinkt nie ohne Trinkspruch.«

»Es lebe die Einigkeit und die Harmonie unter den Menschen!« sagte Frantzenow ernst.

»Und ich antworte: Es lebe die Vernunft, den richtigen Weg zu gehen!«

Sie tranken und schwiegen eine Weile, als habe man alles gesagt und hätte nun keine Gedanken mehr.

»Ich habe eine Idee«, fuhr Weberowsky endlich fort. »Du kommst mit uns nach Deutschland.«

»Wolfgang …« Frantzenow sah seinen Schwager tadelnd an und schüttelte den Kopf. »Fang nicht wieder an! Selbst wenn ich wollte, man wird mich nie weglassen.«

»Darfst du nach Moskau fliegen?«

»Ich habe Nurgai nicht gefragt. Aber nach Moskau, das wird möglich sein. Warum?«

»Du könntest nach Moskau fliegen, um mit dem Atomminister Michailow über deine Zukunft zu sprechen. Das ist glaubhaft.«

»Natürlich. Aber warum soll ich seinen Entscheidungen vorgreifen?«

»Du verstehst mich nicht, Andrej.« Weberowsky beugte sich über den Tisch vor. »Es geht darum, daß du ungehindert nach Moskau fliegen kannst. Bist du in Moskau, ist es leicht, in die deutsche Botschaft zu gehen und um politisches Asyl zu bitten. Du wirst sofort weiter nach Deutschland gebracht werden.«

»Und was soll ich da?«

»Du könntest für einen westeuropäischen Staat arbeiten. Zum Beispiel Frankreich.«

»Warum?«

»Weil sie dich hier fertigmachen werden!« schrie Weberowsky. »Weil du hier immer ein Gefangener bleiben wirst. Und das weißt du!«

»Ich kann Rußland nicht verlassen«, sagte Frantzenow. Ein Ton von Verzweiflung schwang in seiner Stimme mit. »Ich kann es nicht.«

»Nenn mir einen Grund.«

»Er ist ganz simpel. Ich käme um vor Heimweh.«

»Heimweh nach einem Gefängnis?«

»Weißt du nicht, was Heimweh ist?«

»Nein.«

»Mir würde in Deutschland oder in Frankreich oder in England oder sonstwo der Himmel fehlen, dieser ungeheure herrliche Himmel über Kasachstan, diese Weite, wo Erde und Himmel miteinander verschmelzen, wo wir aufgehen in die blaue Unendlichkeit und wo wir demütig werden vor dieser Schönheit. Was kann das ersetzen?«

»Du redest von Weite und arbeitest in unterirdischen Betonburgen. Das ist doch kein Argument, das ist doch verrückt!«

Frantzenow sprang auf und wanderte unruhig im Zimmer hin und her. Vom Fenster bis zur Wand mit dem Einschußloch, rund um den Tisch, quer durch den Raum. Plötzlich blieb er vor dem Loch in der Wand stehen und starrte es an. Weberowsky hatte es als völlig harmlos betrachtet. Da hat ein Bild an einem Haken gehangen, hatte er gedacht. Nun ist der Haken herausgezogen. Man sollte ein wenig Gips anrühren und das Loch zuschmieren.

»Wenn ich um politisches Asyl bitte, kann ich nie mehr nach Rußland zurück.«

»Das ist nicht wahr. Auch Solschenizyn und Kopelew können wieder einreisen.«

»Sie sind unter anderen Umständen ins Ausland gegangen. Sie haben eine Diktatur verlassen, ein unfreies Land. Ich aber verlasse ein Land, das sich umgestaltet, das sich im Aufbruch in eine neue Zeit befindet. Ich würde Jelzin verlassen, der mich braucht. Ich habe keine Gründe, in den Westen zu flüchten wie Solschenizyn oder Kopelew. Ich werde nicht verfolgt, verboten, verachtet. Wir haben wieder eine Freiheit.«

»Rußland war nie ein freies Land, seit tausend Jahren nicht. Ob Zar oder Sowjetbonzen, das Volk spürte immer die Faust im Nacken! Weißt du überhaupt, was Freiheit ist?«

»Weißt du es?«

»Nein … deshalb will ich ja nach Deutschland.«

»Gibt es überhaupt ein freies Land?«

»Ja. Die Schweiz, Österreich … und Deutschland. Frankreich und England. Andrej, du weißt es ganz genau, besser als ich, aber du wehrst dich dagegen.«

»Man wollte mich ermorden«, sagte Frantzenow plötzlich. Er ging zwei Schritte nach vorn und legte den Zeigefinger auf das Einschußloch.

»Was wollte man?« Weberowsky fuhr von seinem Stuhl hoch. »Dich ermorden?!«

»Mit einem Kopfschuß. Hier ist der Einschlag.«

»Wer?«

»Der KGB.«

»Und da zögerst du auch nur eine Sekunde, dieses Land zu verlassen?«

»Wenn ich bleibe, lebe ich sicherer. Sie werden mich jagen, rund um die Welt. Sie haben Sonderkommandos für diese Kopfjagd. Die früheren Dissidenten waren für Rußland verhältnismäßig harmlos. Schriftsteller, Poeten, Musiker. Sie erzeugten nur einen harmlosen Wirbel in den Medien des Westens. Aber in mir ist das Wissen von über fünfzig Jahren Atomforschung, ich bin gefährlicher als ein gestohlener Sprengkopf, denn ich habe mitgeholfen, diesen Sprengkopf zu konstruieren. Ich muß in Rußland leben.«

»Und du glaubst wirklich, der KGB läßt dich in Ruhe?«

»Nein. Er wird mich und meine Arbeit beobachten.«

»Und das nennst du Leben?«

»Ich kann es nicht ändern. Ich bin verdammt dazu.«

»Nein! Es ist etwas anderes, was dich festhält.«

»Und was?«

»Die Feigheit. Du bist zu feige, das allein ist es. Du hast Angst.«

»Ich kann nicht über meinen Schatten springen.«

»Selbst einen Schatten hast du nicht mehr! Der große Professor Frantzenow – ein Nichts!«

Frantzenow zog seinen Zeigefinger von dem Einschußloch weg, ging zum Tisch und trank mit einem Schluck sein Glas leer. »Mag sein, daß du recht hast«, erwiderte er. Weberowsky fiel auf, daß er mit schwerer Zunge redete, so, als sei sie halb gelähmt. »Gib mir noch etwas Zeit …«

»Ich glaube, du hast nicht mehr viel Zeit, Andrej. Denk an die Kugel, die dort in der Wand steckt.« Weberowsky kam zu seinem Schwager und legte ihm den Arm um die Schulter. »Ich kann dir nachempfinden, wie schwer es für dich ist, aber zögere nicht zu lange. Flieg nach Moskau, angeblich um mit Minister Michailow zu sprechen, und suche Schutz in der deutschen Botschaft. Ich werde auch nach Moskau fliegen und dort meinen Aussiedlerantrag abgeben. In Deutschland, in der wirklichen Heimat, treffen wir uns dann wieder.«

Sie sprachen noch lange miteinander. Vertraut und freundlich. Weberowsky erzählte von den vergangenen Jahren, und es wurde spät, bis er sich auf dem Sofa ausstreckte und schlafen konnte. Auch ein wenig betrunken war er, denn Frantzenow hatte noch eine Flasche Wodka entkorkt, und jeder hatte genügend getrunken.

In seinem Dienstzimmer schaltete Sliwka das Tonband ab. Die Wanze, dieses kleine Mikrophon, das er Frantzenow bei seinem letzten Besuch unter das Sofa geklebt hatte, hatte vorzüglich gearbeitet. Es war, als habe die Unterhaltung bei ihm im Raum stattgefunden. Sliwka lehnte sich müde zurück und steckte sich eine Zigarette an.

Welch ein Tonband! Welch ein Beweis, daß Frantzenow begann, unsicher zu werden. Dieser Weberowsky, dachte Sliwka. Dieser satanische Verführer! Er konnte es erreichen, daß sein Schwager wirklich nach Moskau flog und in die deutsche Botschaft flüchtete. Das Nukleargenie im Westen und nicht im Iran! Er zog die Unterlippe herunter und schloß die Augen. Die Prämie, die ihm Teheran versprochen hatte, wenn er Frantzenow zu den Mullahs schmuggeln würde, wäre dahin. Eine Prämie, die sein Leben völlig umgestalten würde. Mit neunundzwanzig Jahren ein reicher Mann, der sich alles leisten könnte. Eine Datscha am Schwarzen Meer, die schönsten Frauen, zum Frühstück Krimchampagner, Reisen in alle Welt und vor allem weg von KGB und CIA, ein freier Mensch, der sein Leben genießen konnte. Alles vorbei …?

Weberowsky wurde für ihn die Gefahr, die alle seine Pläne zerstörte.

Im Quartier der amerikanischen Delegation drückte Captain Tony Curlis auf den Haltknopf eines kleinen Bandgerätes, das von außen aussah wie ein tragbares CD-Abspielgerät. Der Major, der ihm gegenüber saß, seufzte tief auf. »Wie gut, daß ich ihm eine Wanze unter den Sessel geklebt habe«, sagte Curlis. Da Frantzenow und Weberowsky miteinander auf russisch geredet hatten, konnte Curlis jedes Wort verstehen. »Wenn es ihm gelingt, in den Westen zu kommen, ist es möglich, daß er sein Wissen nach Frankreich, England oder sonstwohin trägt. Das muß verhindert werden.« Curlis ließ das Band zurückspulen. »Auf gar keinen Fall darf er in den Iran! Das wäre eine Bedrohung des Weltfriedens! Unsere neue Politik mit Rußland ist zukunftweisend, aber nicht Gorbatschow ist der wichtigste Mann, sondern Frantzenow. Gorbatschow tanzt von einer Reform zur anderen, verkündet immer neue Ideen, aber Frantzenow kennt alle Geheimnisse der Nuklearforschung. Wir müssen jetzt etwas tun!«

»Aber was, Tony?« fragte der Major unsicher. »Wir können ihn nur mit Millionen Dollars locken.«

»Und wenn es Milliarden wären – du hast es gehört: Mit den USA will er nichts zu tun haben. Der stolze Russe! Der Patriot, der die Welt vernichten könnte, wenn er in die falschen Hände fällt. Entweder er bleibt in Rußland, oder –«

»Was heißt oder?«

»Uns muß und wird etwas einfallen«, antwortete Curlis ausweichend. »Und zwar schnell. Dieser Weberowsky kriegt ihn herum, darauf wette ich meinen Kopf.«