VII

Nach zwölf Wochen trat Werner Bäcker zum erstenmal mit seinem gebrochenen Bein auf.

Es war ein wichtiges Datum, auf das er sich gewissenhaft vorbereitet hatte. Von dem Tage an, da ihn das Meer hier an Land gespien hatte, führte er einen genauen Kalender. Der Tag des Schiffsuntergangs stand fest. Wie lange er ohnmächtig auf der Insel gelegen hatte, oder wie lange er in der Rettungsinsel auf See getrieben war, wußte er nicht, aber er gab sich zwei Tage Vergessen – das erschien ihm reichlich – und rechnete von da an.

»Zwei Tage weniger in einem neuen Leben –«, sagte er zu dem Albatros, »vielleicht auch drei – was macht das aus? Wieviel Tage lebt ein Mensch in seinem Leben sinnlos, und er zählt sie alle mit. Vergessen wir also diese zwei, drei Tage. Wir holen sie auf durch intensiveres Leben.«

Aus einem gespaltenen Baumstück, das er mit seinem Beil so glatt hieb, wie es möglich war, machte er einen Dauerkalender, ein ganz primitives Tagezählen, und malte für jeden begonnenen Tag mit dem Bleistift einen Strich. Danach war jetzt Ende Juli, nach der Zeitrechnung von Viktoria-Eiland. Wenn sechs Tage abgestrichen waren, zog er einen Strich quer über die Tage, das hieß Sonntag, der siebte Tag, Ende einer Woche.

»Die Einsamkeit habe ich mir schrecklicher vorgestellt«, sagte er, als die zwölf Wochen auf dem Brett voll waren. »Wo man auch ist … die Zeit hat ihr Wesen verloren, sie rast überall. Das ist beruhigend. Man rennt in das Alter hinein und vergißt darüber die Trostlosigkeit.«

Für diesen wichtigen Tag hatte er sich den frühen Morgen ausgesucht. Er hatte sich an der Gummiinsel mit dem weichen Regenwasser gewaschen, hatte auf dem Deckel der Arzneikiste zwei Vogeleier gebraten und kalten, am Vorabend gebackenen Fisch gegessen. Die Sonne schwamm noch dicht über dem Meer, der Albatros war eben von den Brutplätzen auf dem Felsen herübergekommen, die Kühle der Nacht war noch nicht aufgesogen, vom Hang duftete der Atem der herrlichen Blumenfelder, die Bäcker zwar sehen, aber noch nicht erreichen konnte.

»Fangen wir an, du verdammter Knochen!« sagte Bäcker. »Glaub nicht, daß ich Angst habe! O nein!« Er sagte es sehr laut, weil es gelogen war, denn er hatte Angst, einfache, tierische Angst, daß sein Bein sofort wieder brach, wenn er ihm gleich die Last des Körpers zumutete.

Er wickelte die Bambusstützen, dieses Korsett aus starren Bambusrohren, von seinem Bein, hielt sich an einem Pfosten des Daches fest und sog die Luft laut durch die Nase ein.

»Ich weiß nicht, wie du da drinnen aussiehst, Knochen«, sagte er, »aber ich weiß, was du gleich für eine Aufgabe hast. Das allein ist wichtig. Du hast zwölf Wochen Zeit gehabt, es dir zu überlegen, jetzt mußt du die Wahrheit sagen. Paß auf, Knochen, gleich stützt sich wieder ein Mensch auf dich.«

Er schob die Gabel der Krücke unter seine linke Achsel, stemmte sie in den Boden, setzte den linken Fuß in den Sand und verlagerte vorsichtig sein Gewicht auf das gebrochene Bein.

»Lauf nicht weg, Vogel, wenn gleich jemand schreit«, sagte er zu dem Albatros, der einen Meter vor ihm stand und leise gurrte. »Bleib hier. Ich brauche jemanden, den ich umarmen kann, wenn ich zehn Schritte gegangen bin, oder der neben mir steht, wenn ich besiegt werde.« Er sah an sich herunter. Das Bein, zum erstenmal seit Wochen entblößt, war bleich, schmal, dürr, häßlich durch den Muskelschwund, armselig. »Bist du bereit, Knochen?«

Er belastete das Bein, hieb die Zähne aufeinander, wartete auf den stechenden Schmerz, der bis unter die Hirnschale zucken mußte. Die Zehen krümmten sich und krallten sich in den Sand – aber nichts geschah, nur ein Zittern durchflog ihn von den Augen bis zu den Fußsohlen und das erstaunliche Gefühl, links wie auf einer dünnen Säule aus Gummi zu stehen.

Natürlich, dachte er. Zwölf Wochen nur ein Anhängsel am Körper, da verkümmern die Muskeln, da ist kein Saft mehr im Fleisch. Er bewegte die Zehen stärker als vorher, freute sich, daß die Sehnen gehorchten, daß er sich wie ein Vogel in den Sand krallen konnte, atmete noch einmal tief auf und machte dann den ersten Schritt.

Die Knie gaben nach, er fing sich mit der Krücke auf, warf sich auf die Gabel, wartete auf ein Knirschen im Bein, auf den alles vernichtenden Schmerz – jetzt, dachte er, jetzt, das Bein ist selbst erstaunt, aber jetzt muß es durchbrechen – aber er stand, seine linke Fußsohle drückte sich deutlich in den Sand, sein Körper ruhte auf beiden Beinen.

»Kapitulation!« schrie er da. »Kapitulation! Mein lieber Knochen, wir gewöhnen uns wieder aneinander.«

Nach einer Stunde humpelte er, unterstützt von einem Stock aus Bambusrohr, vor dem Dach und der Böschung herum. Er ging hinunter zum Meer und brüllte: »Ich gehe! Ich gehe!« Er ging hinüber zum Hohlweg und schrie ins Innere der Insel hinein: »Ich gehe! Ich gehe!« Er stellte sich vor den Albatros hin, warf den Bambusstock weg und lief vier, fünf Schritte völlig frei und breitete dabei die Arme aus.

»Ich gehe, Vogel, ich gehe! Ich habe den Knochen besiegt!«

Er trank eine ganze Flasche voll Wasser, aß kalten Fisch, sammelte neue Kraft und humpelte dann wieder los, die Böschung entlang, immer nahe genug, um sich an ihr abzustützen oder anzulehnen. Er zwang sein Bein zu begreifen, daß es wieder eine Funktion zu übernehmen hatte.

Und das Bein gehorchte.

Am nächsten Tage begann er, seinen großen Plan zu verwirklichen: Er baute eine Hütte. Er nahm endgültig Besitz von Viktoria-Eiland.

Alles, was an Holz, Palmblättern, Wurzelwerk und Bambusrohr herumlag, schleppte er zur Böschung. Mit dem Beil hieb er in der Nähe der Felsen schlanke rötliche Korallensäulen aus den Riffen, wenn die Ebbe die bizarren Korallenbänke freigab.

»Vogel, das wird mein schönster Bau!« sagte er. »In Auckland habe ich Fabriken gebaut, Hochhäuser, Kirchen, Wohnsiedlungen, Schulen … McKindley wird sie jetzt nach meinen Plänen weiterbauen und vielleicht wird man einen dieser Klötze nach meinem Namen nennen, nach dem im Pazifik verschollenen Werner Bäcker. Welche Ehre! Soll ich stolz darauf sein? Nein, Vogel, hierauf bin ich stolz … auf diese Hütte … sie ist mein schönstes Werk!«

Nach einer Woche war die Hütte fertig. Aus einem Raum bestand sie, zwölf Quadratmeter groß, groß genug für einen Mann, der darin nur schlafen und sich erinnern wollte. In der dem Meer zugewandten Seite hatte er in der Bambuswand ein Fenster ausgespart, durch das er den Strand beobachten konnte und jeden Morgen nach dem Aufstehen und jeden Abend vor dem Niederlegen das Meer beschimpfte. Den Boden legte er dicht mit Palmblättern aus, in vier Schichten, und es wurde ein weicher, grüner Teppich.

Als die Hütte fertig war, ruhte er zwei Tage aus, stach wieder einen großen silbernen Fisch, der gebraten ein paar Tage reichte, und begann dann, die Inneneinrichtung anzufertigen.

Auch hier nahm er vor allem Bambusrohr und biegsame Zweige der Büsche, die über die Böschung hingen. Er hackte die einzelnen Bambusstangen auf die richtige Länge, band sie mit Bastfasern zusammen oder verband sie mit dem Zweiggeflecht. So zimmerte er Tisch und Hocker und eine Kiste, in die er alles legte, was immer zur Hand sein mußte – Werkzeuge, Verbandkasten, die Signalpistole, einen Kanister mit Wasser, eine Seekarte – so sinnlos sie jetzt auch war –, den Sextanten und den hölzernen Kalender.

Für die Liege verwendete er besonders dünne Bambusstäbe, die biegsam waren und nachgaben, wenn man sich darauf legte. Er spannte sie eng zusammen, breitete die Decken darüber, und als er sich zum erstenmal auf das Bett legte, federte es ganz wundervoll. Es war ein Genuß, darauf zu liegen und dem harten Boden entronnen zu sein.

»Der Luxus fängt schon wieder an, Vogel«, sagte Bäcker am nächsten Morgen. »Ich habe geschlafen wie auf Daunenkissen. Ein Mensch, das mußt du dir merken, ist nie zufrieden. Er verbessert immer alles – nur nicht sich selbst.«

Am schwierigsten war die Herstellung der Tischplatte. Sie sollte glatt sein, denn er hatte vor, darauf zu schreiben. Er besaß in seiner Notausrüstung drei Schulhefte, und wenn man sie eng beschrieb, konnte man allerhand erzählen, was vielleicht einmal die Nachwelt interessieren würde. Außerdem verblödete man nicht … Wer schreibt, beschäftigt seinen Geist – man sollte es wenigstens annehmen.

Bäcker widmete der Tischplatte fast eine ganze Woche. Mit dem Beil bearbeitete er die angeschwemmten dickeren Hölzer so lange, bis sie brettdünn waren. Er teilte sie dann in 1,50 Meter Länge, schnitzte in die Kanten mit dem Schraubenzieher Nut und Feder hinein, fügte die Bretter zu einer Platte zusammen, opferte ein paar Nägel, die er zu Bügeln bog und einschlug, und umhumpelte dann stolz den Tisch, ein wahres Prunkstück seiner Hütte.

»Komm herein, Vogel –«, sagte er erschöpft und hielt die geflochtene Tür auf. Er hatte nun zwei Wochen lang vom Sonnenaufgang bis zur Dämmerung gearbeitet, er hatte gestanden und war herumgelaufen, und sein Bein war still geblieben. Noch immer ging er mit einem Stock, verlegte das Gewicht seines Körpers mehr auf das rechte Bein und hielt das gebrochene beim Stehen immer etwas hochgezogen, in den Knien leicht angewinkelt. Er traute seinem Knochen nicht.

Der Vogel blieb draußen. Wenn Bäcker arbeitete hockte er an der Böschung, zupfte an seinen Federn flog ab und zu übers Meer, stieß ins Wasser hinunter holte sich kleine Fische aus den Wellen und kam satt und zufrieden zurück.

»Du hast es gut«, sagte Bäcker. »Aber warte, ich werde mich anpassen. Wenn mein Haus fertig ist, sehe ich mir meine neue Welt an.«

An diesem Abend, als er den Tisch aufgestellt hatte, begann er mit der ersten Seite seines Berichtes. Er schrieb in das Schulheft:

»Heute ist nach dem Kalender von Viktoria-Eiland der 9. August 1965. Ich habe ein Haus, einen Tisch, einen Stuhl und ein Bett … Ich bin wieder ein Mensch.«

Zwei Tage später nahm er seinen Bambusspeer und ging hinunter ans Meer. Die Ebbe war gelaufen, im gewellten Sandboden waren Krebse und Muscheln zurückgeblieben, man brauchte sie nur aufzusammeln und ins kochende Wasser zu werfen, um zu leben wie im Hilton. Manchmal waren es Dutzende von Krebsen, ab und zu auch eine Schildkröte; es war, als wolle das Meer sich bei Bäcker entschuldigen für alles, was es ihm angetan hatte.

Jedesmal aber, gerade bei Ebbe, konnte Bäcker die besten Fische stechen. Er wußte nicht, warum … wenn sie bei laufender Flut herangekommen wären, würde er das als logisch betrachtet haben, aber wenn das Meer zurückweicht und die Fische drängen zum Land, dann ist das verwunderlich.

An diesem Tag zog er seine Schuhe aus, klemmte den Bambusspeer unter den Arm und watete ins Meer. Er suchte nach den Fischen, die man fast mit der Hand greifen konnte; es waren oft Schwärme, silbernen Wolken unter Wasser gleich.

Aber heute war das Meer leer. Erstaunt blickte er sich um, suchte die schnellen, eleganten, schuppigen Leiber und watete weiter in die See, so tief, daß ihn die flachen Wellen bis über den Gürtel trafen.

Und da sah er ihn … Zwei Meter von ihm entfernt schwamm ein großer, grauschimmernder Fisch mit einem breiten Maul und kleinen, böse glitzernden Augen. Nur ein kleiner Teil von ihm ragte aus dem Wasser … ein dreieckige Rückenflosse.

Werner Bäcker blieb stehen und schob den Bambusspeer in beide Fäuste. Er begann zu zittern und betrachtete den Fisch mit fürchterlichem Haß. Der Albatros schwamm hinter ihm, das Gefieder aufgebläht, den Kopf mit dem scharfen Hakenschnabel zum Angriff vorgestreckt.

»Das ist er, Vogel!« sagte Bäcker heiser vor Haß. »Das ist der Mörder, der Vicky umgebracht hat und Holger und Peter und Marion. Den Orkan hätten sie vielleicht überlebt, sie hatten gute Schwimmwesten an, sie trieben auf dem Meer, sie konnten nicht ertrinken, es war ganz unmöglich. Aber dann kam er, schoß aus der Tiefe herauf, trotz Sturm, trotz Wellen so hoch wie ein Haus, und fraß sie stückweise auf. Sie hingen in ihren Schwimmwesten hilflos vor seinem Maul, wie zur Fütterung hingeworfen, und sie haben geschrien, Vicky, Holger, Peter und Marion. Ich habe es gehört, sie haben fürchterlich geschrien, und je mehr sie schrien, um so blutgieriger wurde er. Und jetzt ist er wieder da, der Mörder! Siehst du ihn, Vogel? Er ist krank, sonst wäre er nicht im seichten Wasser, er wird sicherlich sterben – aber ich gönne ihm keinen ruhigen Tod! Er soll zahlen mit allen Schmerzen dieser Welt für Vicky und meine Kinder.«

Er watete ein paar Schritte weiter ins Wasser, den Speer vor sich gesenkt, und der Hai sah ihn an, schlug mit der Ruderflosse, kreiste in der See und kam langsam zurück und auf ihn zu.

»Greif an!« stammelte Bäcker. Er war bleich vor Wut, und jedes Wort brannte ihm im Hals. »Greif an, du Mörder! Du oder ich – es gibt nichts anderes mehr zwischen uns. Komm her, ich habe keine Angst vor dir …«

Der Hai blieb fast auf der Stelle stehen, betrachtete den Menschen mit kalten, schrecklichen Augen und öffnete wie gähnend sein Maul. Die Zahnreihen, spitz wie Stacheln und dreieckig wie die Rückenflosse, bleckten dem selbstmörderischen Feind entgegen.

»Komm doch –«, sagte Bäcker und watete noch zwei Schritte dem Hai entgegen. »Komm endlich, du verfluchtes Aas! Wenn du nicht angreifst, tu' ich es.«

Er zielte auf das klaffende Maul, bog sich zurück, umklammerte mit beiden Händen den Bambusspeer und stieß dann zu. Sein ganzes Körpergewicht legte er hinein, und es war ihm gleichgültig, ob er sich nach diesem Stoß wieder auffangen konnte.

Er traf den Hai in die Nase, spürte, wie der Speer in den Körper drang, sah die Wunde aufreißen, das Wasser färbte sich rot, und der Fisch schien aus den Wellen zu schnellen, als wolle er sich breitseitig auf den Menschen stürzen, warf sich in der Luft noch herum, löste sich von der Speerspitze, klatschte ins Meer zurück, warf sich erneut herum und schoß auf den Feind zu. Wie ein Torpedo griff er an, die Rückenflosse durchschnitt das Meer wie ein Messer.

»So ist es gut!« schrie Bäcker. »Renn in deinen Tod, du Vieh!«

Er stemmte sich gegen den Speer, hielt ihn so, daß der Hai in seiner blinden Wut genau auf die Spitze losschoß … »Ha!« brüllte Bäcker. »Ich stehe! Ich stehe!« – Der Anprall war fürchterlich, der Speer bohrte sich in das Fischfleisch, Bäcker roch das Blut, und er meinte sogar, den Hai zu riechen, faulig, nach Aas, nach Verwesung … er stemmte sich gegen den Druck des großen Fisches. Wenn er jetzt umfiel, war es das Ende, aber er stand, zog den Speer aus dem Fischleib, stieß wieder zu, immer wieder und schrie bei jedem Stoß: »Ich bring' dich um, du Satan! Das ist für Vicky … und das für die Kinder und das für mein vernichtetes Leben und das …« Seine Stimme zerbrach, er sah den Hai noch einmal kommen, senkte noch einmal den Speer und ließ ihn hineinrennen. Das Meer wurde zu einem kochenden Kessel voll Blut.

»Hab' ich dich endlich?« keuchte Bäcker. Er konnte den Fisch nicht mehr sehen. Der Druck hatte nachgelassen, also war er wieder weg. Mit dem Speer stach er blindwütend um sich, suchte in dem aufgewühlten Wasser nach dem zerstochenen Leib, aber der Hai war nicht mehr da.

Bäcker stieß den Speer in den Meeresboden und hielt sich an ihm fest. Er schwankte, die Erschöpfung leerte ihn aus. Aber er gab nicht auf, er suchte weiter die Meeresfläche ab und holte tief Atem, um zu brüllen.

»Flüchte nicht, du Mörder!« brüllte er. »Vicky und die Kinder konnten auch nicht flüchten! Wo bist du, du verdammtes Aas?!«

Er wartete, watete dann müde an Land und fiel in die Knie. Plötzlich weinte er, umfaßte die blutige Spitze des Speeres und zerrieb das Blut des Hais zwischen seinen Händen.

»Du Feigling …«, stammelte er. »Du erbärmlicher Feigling. Frauen und Kinder kannst du zerreißen, aber vor einem Mann bist du feige. Doch ich habe dich getroffen, du blutest, du wirst nicht weiterleben. Stirb … stirb …«

Am nächsten Tag lag der Hai am Strand, in der Nähe der Klippen. Noch im Tode sah er fürchterlich aus.

Bäcker ließ ihn liegen, den Raubmöwen zum Fraß. Er brachte es nicht über sich, diesen Mörder zur eigenen Nahrung zu zerteilen und zu braten. Er spuckte den Kadaver an, trat nach ihm. Aber als er wegging zu seiner Hütte, war der Stolz des Siegers nicht in ihm. Dazu war sein Haß zu groß.

An einem Sonntag – nach dem Kalender von Viktoria-Eiland mußte es ein Sonntag sein – hängte Bäcker sich seinen Bogen über die Schulter, band den Pfeilköcher um und nahm den Bambusspeer in die Hand. Dann winkte er dem Albatros zu, der vom Fischfang zurückgekommen war, gegen den Wind stand und seine Federn trocknete.

»Es ist soweit«, sagte er. »Erobern wir die neue Welt. So ist das nun, mein Bester – kaum kann man laufen, wird einem der Platz, auf dem man hockt, zu klein. Man könnte hier bleiben, natürlich, alles zum Leben ist da: der Strand, die Bucht, der Hang, das Meer, die Bäume, die Hütte … mehr als genug! Wenn man sich hinlegen will und verrecken, spielt die Platzfrage gar keine Rolle mehr – aber ein Mensch muß erobern! Immerzu. Du, Vogel, hast dein Nest, deine See, dein Stückchen Sand, du bist zufrieden. Aber der Mensch ist nie zufrieden. Er ist Gottes mißlungenstes Geschöpf!« Er winkte, und der Albatros hüpfte auf ihn zu. »Gehen wir.«

Er humpelte die Böschung entlang und in den Hohlweg hinein, überwand mit Schweißausbrüchen und großer Angst, sein Knochen könne das übelnehmen, die leichte Steigung und stand dann zum erstenmal oben auf dem Hang. Die drei stolzen Palmen, denen vor Wochen noch seine ganze Sehnsucht galt, rauschten mit ihren breiten Fächern im Wind. Er ging zu ihnen, umfaßte mit beiden Händen einen der Stämme und war glücklich, die Handflächen an der Rinde schaben zu können. Ich bin gesund, dachte er, ich bin wirklich gesund. Und wenn ich im Inneren der Insel Wasser finde, will ich hier leben und dankbar sein für jede Stunde.

Er ließ den Blick weit über die Insel gleiten und war sicher, das Paradies gefunden zu haben.

Die Sonne brannte aus einem wolkenlosen Himmel, der Passatwind ging ihm ins Blut und erfüllte ihn mit Sehnsucht nach etwas Unbekanntem, Unerklärbarem. Wie ein König durch einen Park stieg er zwischen den Palmen, Büschen und Farnen weiter den Hügel hinauf, stützte sich auf seinen Speer und fühlte sich so stark wie nie. Von der Kuppe des Hügels übersah er die ganze Insel: sie war nicht groß, fast rund, am Rande durch sanfte Buchten ausgefranst, bis auf die Sandstrände dicht bewachsen und glich einer Riesenschildkröte, auf derem bemoosten Panzer er jetzt stand. Nur der dunkle Felsen, der links von ihm ins Meer schnitt, störte die Harmonie. Er war wie ein stählerner Griff, eine Zange, die dieses Paradies im Meer festhielt. Jenseits der Klippen war eine andere, halbkreisförmige Bucht mit rötlichem Korallensand und Erdnestern ihm unbekannter Vogelarten.

»Da hinunter, Vogel –«, sagte Bäcker. »Wohnst du dort? Du hast mich besucht – machen wir bei dir einen Gegenbesuch.«

Auf dem Weg zur Bucht, der sanft den Hang hinabführte, durchbrach er Mangrovengebüsch, entdeckte Yam- und Tarowurzeln und erinnerte sich daran, daß man sie essen konnte und daß sie von gutem Geschmack waren. Er kam an Flächen von Tiare- und Frangipani-Blumen vorbei und atmete den starken, aufreizenden Geruch der Essenzpflanzen ein und die verschwenderische Süße des Hibiskus.

»Aber kein Wasser!« sagte Bäcker zu dem Albatros. »Siehst du Wasser, Vogel? Eine Quelle? Einen Bach? Nichts! Vielleicht irgendwo dort hinten auf der anderen Seite? Wir werden sehen. Zuerst in diese Bucht und zu den Felsen. Ein böser Felsen. Er ist wie ein Messer, das man in die Insel gestoßen hat.«

Das Wasser floß träge heran und spülte müde über den rötlichen Korallensand. Scharen von Vögeln bedeckten den Strand, und sie flogen nicht auf, als Bäcker am Waldrand erschien, sie drehten nur die Köpfe zu ihm und starrten ihn an. Sie kannten keinen Menschen, sie hatten keine Feinde. Sie hatten nie die Furcht gelernt, es waren glückliche Geschöpfe.

Das flache Wasser, von der Sonne erwärmt wie eine Brühe, wimmelte von Fischschwärmen. Hier war es nicht nötig, sie aus der See zu stechen oder mit einer Angel zu überlisten, man griff nur ins Wasser, und sie schwammen einem in die Hände wie im Märchen vom Schlaraffenland.

Bäcker ging ein paar Schritte ins Meer hinein. Von den Felsen wuchsen wundersame Gebilde in die See und ließen die anrollenden Wellen brechen. Myriaden von Korallentierchen hatten hier in Jahrmillionen bizarre Türme und Bögen aufgehäuft, steinerne Gärten von zauberhafter Filigranarbeit. Aber sie waren gefährlich. Ihre Oberfläche war wild gezackt, und die Spitzen scharf wie Messer. Wen das Meer in seiner Wut hier dagegen warf, dessen Körper wurde zerrissen, als würde man ihn über ein Nagelbrett ziehen.

Bäcker blieb im seichten Wasser stehen. Die Fischschwärme umringten ihn. Glitzernde, pfeilschnelle Leiber schossen an seinen Beinen entlang, und die Vögel umkreisten ihn mit ahnungsloser Vertrautheit.

»Ist das hier wirklich das Paradies, Vogel?« fragte Bäcker. Er fing mit der Hand einen Fisch, hielt den zappelnden Leib in die Sonne und warf ihn dann zurück ins Meer. »Arme Natur, es wird sich alles ändern! Ein Mensch ist gekommen!«

Es fing damit an, daß Bäcker ungewöhnlich große Vogeleier sammelte, wie er sie bisher noch nicht kannte – vielleicht waren es sogar Albatroseier –, mit dem Speer ein Loch hineinbohrte und eines austrank. Es schmeckte etwas herb, fischig, und er sagte sich, daß man sie besser braten oder kochen müsse. Dann nahm er einen Pfeil aus dem Köcher, legte ihn auf die Nylonschnursehne, spannte den Bogen und schoß auf ein entenartiges Tier, das nahe an ihm vorbeiflatterte. Er traf es gleich beim erstenmal. Es stürzte in den Sand, und es war das erste Blut, das durch Menschenhand auf dieser Insel floß.

Nach vier Stunden – es war sein längster Ausflug, und er wunderte sich, daß sein Bein das aushielt – humpelte er durch den Wald zu seiner Hütte zurück, nahm die Ente aus, rupfte sie, würzte sie mit Meersalz und briet sie an einem Bambusspieß.

»Du hast es vorher gewußt, Vogel«, sagte er zu dem Albatros, der mit vorgestrecktem Kopf das gebratene Fleisch roch, wenn er überhaupt riechen konnte. Auch das war neu auf der Insel … der Geruch von über dem Feuer gedrehtem Fleisch. »Kokospalmen, Bambus, Dornen, das Meer, die Sonne, der Himmel, Blumen, ein rundes, volles Paradies – aber kein Süßwasser! Daran muß man sich gewöhnen, das muß man erst verkraften, Vogel. Alles hier lebt nur vom Regen. Wir sind vollkommen in Gottes Hand. Darauf muß man sich einstellen. Ein Leben durch Gnade …«

Aber die Gnade blieb: Es regnete. Jeden Tag oder jeden zweiten Tag, dann blieb der Regen vier Tage aus, aber es war immer genug, um mit der Gummiinsel das Wasser aufzufangen, die Plastikbeutel und den Kanister zu füllen. Die Gummiinsel hing jetzt aufgespannt an acht starken Pfählen, und Bäcker nannte sie ›mein Wasserwerk‹.

Mitte August konnte Bäcker frei, ohne Stock, gehen. Nur ab und zu stützte er sich auf seinen Speer und streckte das zusammengeheilte linke Bein voll aus. Da erst merkte er, daß er hinkte. Mit dem Zollstock maß er seine Beine nach, von der Ferse bis zum Hüftgelenk, dann hatte er Klarheit: Das linke Bein war zwei Zentimeter kürzer geworden.

»Damit wirfst du mich nicht um, Knochen!« knurrte er. »Ist das deine ganze Rache? Billig, Knochen, billig! Was sind zwei Zentimeter. Ich werde mir eine dicke Holzsohle schnitzen und sie mir unter den Fuß binden. Du machst dich lächerlich, Knochen –«

Er hatte sich in den langen Tagen angewöhnt, immerzu und mit allem, was ihm begegnete, zu sprechen. Er redete mit dem Wind und dem Meer – das er allerdings nur beschimpfte –, mit dem Sand und den Bäumen, den Blumen und den Fischen, seinen Gliedmaßen und den Kaurimuscheln, seinem Freund, dem Albatros, und dem Regen, der ihn am Leben hielt, seiner Hütte und seinem Bett, seinen Pfeilen und seinem Speer. Es war die einzige Möglichkeit, nicht zu verblöden.

Solange er an der Arbeit war und seine Hütte und seine Möbel baute, war der Rhythmus seiner Bewegungen Sprache genug, und selbst da sprach er mit dem Beil und dem Hammer, der Zange und den Nägeln; aber wenn er dann herumsaß wie ein reicher Faulenzer vor seiner Bambushütte und unter dem Palmblätterdach, fehlte ihm der Ton einer menschlichen Stimme im Konzert aus Meeresrauschen, Windgebläse, Vogelschrei und Ästeknarren. Dann sprach er mit seinem Paradies wie mit einer Gesellschaft von Menschen; später, mindestens einmal am Tag, sang er laut, aus voller Brust, im Sand stehend, Sonne, Himmel und Meer als Zuhörer. Zuerst sang er Volkslieder, dann Operettenlieder und am Ende Opernarien, ab und zu auch Schlager, aber in dieser herrlichen, grandiosen und verdammten Einsamkeit klangen sie ausgesprochen blöd. Er fand, daß Arien wie ›Land, so wunderbar‹ oder ›Im fernen Land, unnahbar euren Schritten …‹ oder vor allem ›Dich, teure Halle, grüß ich wieder …‹ am besten klangen. Von allen Arien kannte er nur den Anfang des Textes und sang dann mit lalala weiter, später machte er einen eigenen Text dazu und dachte: Den sollte man vorschlagen zur Opernerneuerung. Das sind Worte, die aus dem vollen kommen.

Wenn er sang, war er selbst ergriffen von seiner Stimme, deren Wohllaut er erst jetzt entdeckte. Er hatte sich nie darum gekümmert … Er hatte Häuser entworfen und gebaut, Geld verdient und das Leben genossen, aber nie gesungen. Jetzt hörte er, daß er etwas verpaßt hatte.

Im August baute er seine einsamen Darbietungen aus. Er stellte regelrechte Programme zusammen und gab abends Konzerte und Rezitationsvorstellungen. Er begrüßte seine Zuhörer, sang ein ganzes, ausgewähltes Programm herunter, deklamierte Balladen von Schiller, Goethe und Uhland und spielte einmal sogar den Wilhelm Teil, so gut er die Handlung im Kopf hatte. Den großen Monolog vor Geßlers Tod konnte er noch von der Schulzeit fast vollständig auswendig, den anderen Text dichtete er dazu und durchsetzte ihn mit Schillerzitaten aus anderen Dramen. So hielt er sich geistig beweglich und trainierte nicht nur seine Muskeln.

»Nichts ist schlimmer, als völlig allein zu sein«, sagte er dem Albatros nach einem ›Opernabend mit Verdi-Melodien‹. »Es ist alles Blödsinn, was man von der ›göttlichen Ruhe‹ sagt. Ein Mensch ganz allein auf einer leeren Welt würde verrückt. Es wäre die armseligste Kreatur überhaupt. Aber wir sind hier besser dran, Vogel: Du bist da, tausend Geräusche sind um uns – wir werden nicht verrückt, Vogel!«