IV

Die ersten Ausflüge brachten ihn hinunter zum verhaßten Meer, den Strand entlang, in dessen Sand die Ebbe ein Muster aus zierlichen Wellen hinterließ, wo Muschelschalen und leere Krebsgehäuse lagen, manchmal ein paar stinkende tote Fische, die aber schnell zu Leder austrockneten, Reste von abgerissenen Palmblättern, Bambuslaub und weggewehten Blütenblättern.

Bevor Bäcker diese kleinen Strecken abkroch, hatte er lange darüber nachgedacht, wie sich ein Mensch mit einem nutzlosen Bein, das man außerdem noch schonen mußte, fortbewegen könne, ohne Stütze, ohne Krücken, allein auf einem Sandstrand, wo nicht einmal ein Pfahl war, an dem man sich auf sein gesundes Bein aufrichten konnte.

Ein Zufall brachte ihn darauf, seine Schwimmweste zu benutzen.

Der Gedanke war ihm plötzlich gekommen, als er die gummierte Nylonweste, mit dem Mund mühsam aufgeblasen, als Unterlage für seinen mit dem nassen Sand verbundenen Schenkel benutzte. War der Verband hart, schob er die Weste weg … sie glitt über den weißen Sand wie ein Ski über den Schnee.

»Das ist es!« sagte er zu dem Albatros, der neben ihm stand und mit dem Schnabel klapperte. »Man könnte aus ihr einen Schlitten machen. Was hältst du davon, Vogel?«

Er sprach jetzt in jeder Situation mit dem Albatros. Der Vogel war ein guter Partner, er hörte zu, widersprach nicht, war klug, lobte alles, was Bäcker tat, durch Flügelschlagen oder durch gurrende Laute, und außerdem war er das Leben schlechthin, etwas, was man ansprechen konnte und nicht so stolz war wie die Sonne, das Meer, der Himmel und der Wind.

An dem Vogel schliff Bäcker seine Panik ab, für immer allein zu sein und allein zu bleiben. Ein Mann braucht einen Freund, ein Mensch etwas anderes Lebendes … völlig allein zu sein ist mehr als die Hölle.

Für Bäcker war der große Vogel da, ein stiller Freund, und es war ein Rätsel, was Vogel und Mensch so eng miteinander verkettete, daß jeder den anderen nicht mehr aus den Augen ließ. Flog der Albatros morgens und abends übers Meer und suchte seine Nahrung, wartete Bäcker ungeduldig, bis er das majestätische Flügelrauschen wieder hörte, und der Albatros hüpfte nervös um Bäcker herum, wenn dieser unter seiner Decke lag und schlief zu einer Zeit, wo man eigentlich etwas tun mußte.

So wurde mit den Wochen Bäckers Einsamkeit wie ein runder Kiesel, der keine Wunden mehr aufreißen konnte, sondern mit dem man zu spielen begann. An die Flaschenpost dachte er nicht mehr. Sie war zwar mit der Ebbe im Meer verschwunden, aber wer die Maßlosigkeit des Pazifiks mit der Armseligkeit einer Mineralwasserflasche verglich, hörte auf, an Hoffnungen zu glauben.

Mit seiner Schwimmweste aber hatte Bäcker eine gute Idee gehabt.

Er wälzte sich ganz langsam über das nur halb gefüllte Luftpolster, legte sich auf die Seite, nahm die Zange und den Zollstock aus dem Werkzeugkasten und stakte sich mit ihnen durch den Sand. Es war mühsam, schweißtreibend, ein verbissener Kampf um Zentimeter, aber es war eine Flucht von der Stelle, eine Loslösung vom Endgültigen.

»Es geht, Vogel!« keuchte Bäcker, nachdem er ein paar Meter sich mit Zange und Zollstock vorwärts gestoßen hatte. Der Albatros lief neben ihm her und schrie leise und klagend. »Ich bewege mich! Damit fing alles an – mit einem Gedanken und einer Bewegung.«

Er glitt auf seiner Schwimmweste bis zu der Stelle, wo er an Land geworfen worden war und blieb hier liegen, den Kopf zum Meer, das leise herankam, wie schleichend, voller Untertänigkeit, wie um ihn zu streicheln.

»Geh weg!« sagte er voll Haß. »Geh bloß weg! Ich kenne dich! Du bist eine tödliche Geliebte.«

Nach diesem Ausflug zu seinem Feind wurde Bäcker mutiger. Er rutschte auf seinem ›Jeep‹, wie er seine Schwimmweste jetzt nannte, am Strand herum, in immer größeren Kreisen, und er erreichte sogar den Fuß der Böschung und lag hier zum erstenmal im Schatten von Bäumen. Über ihm standen drei Kokospalmen, riesengroß aus dieser Wurmperspektive, schlank und hochmütig. Ein Fächer aus Zweigen, der sich einschläfernd rauschend bewegte, und unter ihm das gefilterte, streifige Licht und ein bläulicher, kühlerer Fleck Erde.

Bäcker legte sich in diesen Schatten und fühlte wieder ein Stück seines Menschseins zurückkommen. So geht es jetzt weiter, dachte er, Stück um Stück baue ich mich auf. Ich erschaffe mich neu, auch wenn's die alten Steine sind. Es ist noch gar nicht so lange her, wo man aus Ruinen und Trümmern ganze Städte baute. Ich war zertrümmert wie sie … aber ich werde jetzt Stein auf Stein aufeinandersetzen, bis der Werner Bäcker wieder steht.

Hier im Schatten der stolzen Palmen nahm er auch das Taschentuch von den Augen, diesen einzigen Schutz vor dem Erblinden. Das Meer reflektierte das fast weiße Licht und schleuderte Strahlenbündel wie aus einem Brennglas gegen die Augen.

Er untersuchte die Böschung und wunderte sich. Der ganze Hügel bestand aus Korallen, deren obere Schicht zu fruchtbarem Boden verwittert war. Unter den Korallen aber – er schlug mit dem Beil einen Schlitz in den Hang – traf er auf hartes Gestein und etwas weiter auf porösen Fels, in den die Erosion eine Menge kleine Höhlen gewaschen hatte.

»Der Hang ist nicht höher als vier Meter, Vogel«, sagte Bäcker. Der Albatros stieß sich ab, flog hinauf und setzte sich oben auf den Rand der Böschung. »Siehst du, du kannst es. Machst die Flügel breit und hinauf geht's. Wenn ich stehe und die Arme ausstrecke, habe ich über die halbe Strecke erreicht, und wenn ich die kleinen Höhlen als Stütze nehme, kann man mit Leichtigkeit hinaufklettern. Aber ich kann nicht stehen und schon gar nicht klettern, und daran scheitert alles. So ist das mit den Menschen, Vogel. Unsere herrliche Größe scheitert an den Kleinigkeiten. Als Gott mit dem Teufel um den Menschen pokerte, wem dieser Mensch nun am ähnlichsten sehen sollte, hat der Teufel diese Biesterei gewonnen.« Er lehnte sich an die zerklüftete Böschung, wartete, bis der Albatros vom Hang wieder herunterkam und sich vor ihn und das Meer stellte. In seinem Gefieder lag golden der Sonnenglanz.

»Warum, Vogel, bist du auf dieser einsamen Insel kein Urvogel?« sagte Bäcker weiter. »Es wäre dann deine Pflicht, mich in deine Krallen zu nehmen und den Hang hinaufzutragen. Dort oben ist Wasser, weißt du das? Kein Leben ohne Wasser. Hast du schon Blumen gesehen, die auf totem Boden blühen? Es gibt gar keine andere Wahl, mein Lieber … ich muß da hinauf!«

Auf seinem ›Jeep‹ rutschte er die Böschung entlang, und obwohl er jetzt im Schatten der hochmütigen Palmen blieb, war es ein weiter Weg, er brauchte drei Tage dafür, bis er an der Biegung lag, die er schon vom Strand gesehen hatte und hinter der er die ganze Größer der Insel erst vermutete.

Er war enttäuscht, als er sein Ziel erreicht hatte … Der Hang ging in einen kahlen, dunklen, zum Meer hin mit weißem Vogelkot überzogenen Felsen über, der gezackt wie ein Drachenrücken weit in die See hineinstieß.

»Das ist die Grenze«, sagte er. »Was dahinter liegt, wird lange unbekanntes Land für mich bleiben. Aber was ich gesehen habe, genügt. Die neue Welt scheint in Ordnung zu sein.«

Er ruhte sich lange aus und aß und trank mit großem Genuß. Wie für eine große Fahrt hatte er sich vorher ausgerüstet, schleppte, wie eine Schildkröte ihren Panzer, einen Plastiksack mit Keksen, zwei Fleischbüchsen, zwei Zinkflaschen mit Wasser, Hammer, Zange und Beil auf dem Rücken und kam sich reich ausgerüstet vor. Nachts drückte er sich zum Schlafen eng an die brüchige Hangwand und schlief sofort ein.

Am vierten Tag entdeckte er ein Stelle, wo das Meer einmal in seiner schrecklichen Wut einen Keil in die Böschung geschlagen hatte. Hier stieg die Insel sanfter an, wie durch einen Hohlweg konnte man ins Innere des Landes gelangen … eine verfilzte, von Dornbüschen abgeriegelte Straße in die Jahrhunderte.

»Siehst du, Vogel –«, sagte Bäcker, als er an dieser Stelle lag, »es ist nichts umsonst, was ein Mensch tut, auch wenn's manchmal so aussieht. Nun werden wir auch den Hang besiegen.«

Er schob sich weiter, ein kurzes Stück in den Hohlweg hinein, aber vor der Steigung, die dann begann, kapitulierte er klaglos. Er sah vor sich den Wald aus Palmen und Bambus und eine Fülle von Blüten, deren Anblick ihn vor Freude fast betäubte. Ein süßer Duft zog zu ihm hinunter, er war unerklärlich schön und ekelerregend zugleich, eine Mischung, die er sich nicht erklären konnte. Ein Hauch von Verwesung schien aus allen Blumen zu strömen. Vielleicht riechen sie hier anders, die Hibiskussträucher, die Frangipani-Blüten und die betörenden Tiare-Blumen, dachte er. Das hier ist eine Insel aus der Urwelt – da haben auch die Blumen das Recht, anders zu duften.

Er blieb auf seiner Schwimmweste liegen, drehte den Kopf nach rückwärts und sah den Vogel am Beginn des Hohlweges stehen, mit gespreiztem Gefieder und aufgerissenem Schnabel.

»Hier fängt die Welt wieder an!« schrie Bäcker. »Und du hast Angst, Vogel? Komm her, Genosse … du willst mich doch nicht an einem großen Tag allein lassen?«

Ein großartiges Gefühl durchrann ihn. Er begann, die Entdecker zu begreifen, wenn sie auf ihrem Neuland niederknieten und beteten.

Später stakte er sich wieder zurück zum Strand, machte es sich an der Böschung, im Schutz der stolzen Palmen, gemütlich, musterte seine mitgeschleppten Bestände und rechnete aus, daß Kekse, Fleisch und Wasser noch gut drei Tage reichen würden. Er aß und trank und bezog dann Posten vor dem Hohlweg.

Ich werde es wagen, dachte er. Verdammt, ich werde meinen Knochen einfach zwingen. Alles habe ich bei mir: eine Zange, einen Zollstock, um das Bein als Stütze gewickelt einen Hammer und ein Beil. In der rechten Hosentasche habe ich eine Handvoll Nägel. Was ich brauche ist nur noch die Kraft, mich aufzurichten. Dann stehe ich, verdammt, dann stehe ich aufrecht, wie es einem Menschen zukommt.

Die Wandlung vom Lurch zum Aufrechtgeher … ich werde sie neu durchmachen.

Er lag zwei Stunden auf seinem ›Jeep‹ vor dem Hohlweg, noch voll von Freude, hoffte auf eine Süßwasserquelle dort oben im Palmenwald und dem blühenden Garten, dachte an eine Höhle in den Felsen, wo er beginnen konnte, wie ein Urmensch zu leben, als über ihm sich eine dunkle, flatternde Wolke bildete.

Sie wehte zu ihm hin, verdichtete sich zu einem schreienden, kreischenden Klumpen, senkte sich zu ihm hinab und zog in niedriger Höhe über ihn hinweg. Kot bespritzte ihn wie Regen, er riß die Hände hoch, um seine Augen vor diesem ätzenden Seevogelkot zu schützen, aber diese plötzliche Bewegung machte den Schwarm noch wilder, die flatternden Leiber stürzten auf ihn herunter und hackten beim Hochziehen nach seinen Armen, seinem Gesicht, seinen Beinen.

Es sind Kampfmöwen, durchfuhr es ihn. Ich weiß nicht, ob sie so heißen, aber ich habe von ihnen gelesen. Sie sind wie die Geier, stürzen sich auf verendendes Leben, zerhacken die Wehrlosen mit ihren messerscharfen gebogenen Schnäbeln und reißen Fetzen aus ihren Körpern.

Die schreiende Wolke über ihm wurde dichter, das Gekreische ohrenbetäubend. Hunderte aufgerissener Schnäbel, Hunderte gebogener Krallen, Hunderte starrer, mordlustiger Augen schossen auf ihn herab.

Ich bin Aas für sie, durchfuhr es ihn. Ein auf dem Boden liegendes, über den Sand kriechendes Etwas, ein zuckendes Stück Fleisch, weiter nichts. Sie spüren das, sie sehen es mit ihren starren, kalten Augen, sie kennen es nicht anders. Die Natur ist grausam und gerecht zugleich, was schwach ist, wird vernichtet, es liegt da in Demut und wartet darauf, daß es weggeschafft wird … mein Gott, ist es schon soweit mit mir?

Er kroch in sich zusammen und dachte daran zu schreien, laut zu schreien, um dieser Wolke aus Mord da droben zu zeigen, daß er gar nicht daran dachte, Aas zu sein. Wenn sie alle zur gleichen Zeit über mich herfallen, bin ich erledigt. Jeder Schnabelhieb ist eine Wunde, jedes Zuhacken bedeutet ein Stück Fleisch aus meinem Körper. Und wenn sie Blut merken, sind sie nicht mehr zu halten … ich weiß nicht, ob sie wie Haie reagieren, für sie ist der Geruch des Blutes das Signal zum Wahnsinn … Wer weiß denn, ob ein Vogel riechen kann, ich weiß es nicht, aber ist es nicht möglich, daß sie alle über mich herfallen, wenn sie mir die erste Wunde in den Leib gerissen haben? Wer kann hundert, tausend dieser Hiebe von Krallen und spitzen Schnäbeln aushalten?

»Nein!« brüllte er, als die Wolke sich wieder über ihn senkte. »Nein! So nicht! Noch bin ich kein Aas! Noch nicht! Ihr verfluchten Biester, ich kann mich wehren!«

Er riß seine ›Schiene‹ aus Beil und Hammer vom Bein, rutschte stöhnend an die Böschung, umklammerte die Werkzeuge, die jetzt zur Waffe wurden, und legte alle Kraft, die er noch hatte, in beide Arme.

Kommt, dachte er. Kommt nur. Ich bin bereit.

Und sie kamen. Der Himmel verdunkelte sich von schlagendem Gefieder, das fürchterliche Kreischen klang wie Triumphgeheul.

Die erste Welle …

Sie greifen tatsächlich in Wellen an, dachte Bäcker. Militärisch exakt, wie einexerziert, in Schützenlinie, zwar etwas veralteter Kampfstil, aber in der Natur immer noch die beste Formation: Konzentration auf das Ziel, Überrennen des Gegners, Vernichtung durch geballte Kraft. So greifen die Russen und Chinesen an … die Überlegenheit der Zahl.

Bäcker riß die Arme hoch. Die ersten herunterstürzenden Schnäbel hackten nach ihm. Mit Beil und Hammer hieb er gleichzeitig zu, hinein in diese flatternde Masse, immer hinein in diesen weichen, kreischenden Berg, der auf ihn herunterfiel, und er traf, er konnte gar nicht verfehlen, denn um ihn herum gab es nichts mehr als Vögel.

Ein paar der Riesenmöwen fielen in den Sand, taumelten benommen, brachen in sich zusammen und blieben liegen. Andere schwankten zum Meer, legten sich auf das Wasser, mit ausgebreiteten Flügeln, als könne jede Welle ihre Wunden heilen.

Die zweite Angriffswoge. Dichter aufgeschlossen, mutiger, eine Mauer aus Schnäbeln. Bäcker hieb um sich, ließ beide Arme kreisen, sein Beil schlug Schneisen in die Wolke, sein Hammer dröhnte gegen Köpfe und Körper. Und dabei brüllte er, seine Stimme überschlug sich, bis er glaubte, daß seine Lungen platzten.

»Nicht mit mir!« schrie er. »Nein! Nein! Da, wieder eine! Und du! Und du! Ihr Mistbrut! Ha, das war dein Kopf, nicht meiner! Und noch einmal! Verfluchte Bande! Verfluchte! Verfluchte! Nur zu, nur zu! Und noch einer! Und du auch! Ich habe ein Beil! Jeder Schlag ist ein Treffer! Seht ihr nun, daß ich noch kein Aas bin?!«

Seine Arme begannen zu schmerzen, Schnabelhiebe trafen ihn trotz seiner unentwegt kreisenden Hände. Blut brach aus den Wunden, die diese schreienden, schnellen, gefiederten Mörder in seinen Kopf schlugen. Blut rann ihm über die Augen, verklebte den Blick, machte ihn fast blind. Aus seinen Mundwinkeln floß es über seine Lippen, und der süßliche Geschmack signalisierte ihm die Wahrheit: Du hast verloren! Sie zerhacken dich bei lebendem Leib! Dein Blut macht sie wahnsinnig. Sie sind wirklich wie Haie … Haie mit Flügeln …

Er spürte seine Arme nicht mehr, und als die zweite Angriffswelle elegant abdrehte und der dritten Platz machte, der letzten, alles vernichtenden Flut, gegen die es keinen Widerstand mehr gab, merkte er, daß er gar nicht mehr um sich schlug, sondern nur dasaß, Hammer und Beil in den Händen hielt und keine Kraft mehr in ihm war, sie auch nur einen halben Meter hochzuheben.

»So geht's nun zu Ende«, sagte er schwach. »Nicht das Meer, nicht die Sonne, nicht der Durst, nicht du, verfluchtes Bein … sondern Vögel! Ich werde begraben werden unter Vogelscheiße … Herr im Himmel, welch ein Tod! Habe ich den verdient?«

Er ließ Hammer und Beil in den Sand fallen, schlug die Hände vor die Augen und zitterte hemmungslos vor Angst. Schweiß rann über ihn wie Regen und vermischte sich mit dem Blut, biß in den Wunden und machte diese letzten Minuten zu einer wahren Höllenqual. Der Kopf fiel ihm auf die Brust – er war der kraftloseste Mensch auf der Welt.

Kommt, dachte er, kommt doch. Macht ein schnelles Ende. Ihr seht doch, ich ergebe mich. Soll ich mich wie ein Tier auf den Rücken werfen und Arme und Beine von mir strecken? Wie ist dieses Sterben überhaupt? Lebt man, bis sie einem das Herz heraushacken, oder wird der Tod so gnädig sein und sie eine Schlagader treffen lassen? Verbluten, so heißt es, ist ein sanfter Tod. Die große Müdigkeit schleicht über einen hinweg, man entgleitet dem Leben mit einer geradezu perversen Leichtheit. Mein Gott, so kommt doch endlich. Wo bleibst du denn, du dritte Welle?

Das Kreischen der Kampfmöwen wurde noch schriller, gellender. Aber seltsamerweise spürte er ihre scharfen Schnäbel nicht mehr, ihre Flügel schlugen ihn nicht mehr wie mit Peitschen. Er senkte den Kopf, kroch in sich zusammen und fror vor Grauen. Es gibt ein Stadium, dachte er, wo man den Schmerz nicht mehr spürt. So wie das Ohr eine Tongrenze hat, hinter der es nichts mehr hört, so hat auch der Schmerz eine Grenze, hinter der die Weite des Nichts liegt. Aber ich denke noch, mein Gott, ich kann noch klar denken … das ist die merkwürdigste und größte Entdeckung: ein schon im Tode Stehender kann klar denken!

Plötzlich war die kreischende tödliche Wolke weg. Das Rauschen der Flügel entfernte sich. Bäcker sah nicht, wie sich die dritte Angriffswelle wie auf ein Kommando drehte, exakt abschwenkte und sich hoch in den heißen Himmel hob. In einem weiten Bogen zog sie davon und strich um die Felsnase herum zu einem anderen Teil der Insel. Dafür blieb ein einsames, dunkleres, kräftiges, fast trompetendes Kreischen zurück.

Das große Halali, dachte Bäcker. Und ich denke noch immer …

Dann war plötzlich Stille. Bäcker lag reglos an der Böschung und wunderte sich, daß sich die Stille mit sanften, neuen Geräuschen auffüllte.

Das Rauschen des Meeres, das Singen des Windes in den Palmen, ein paar zaghafte Vogelstimmen. Das Paradies ist wirklich so wie in den Kinderbüchern, dachte er. Es gibt ein blaues Meer, eine warme, immer strahlende Sonne, einen köstlichen Wind und pulverfeinen Sand. Er krallte die Finger neben sich in den Boden und begriff erst nach einer ganzen Weile, daß er noch lebte.

Er wagte es, die Augen aufzuschlagen, und das kostete eine große Überwindung, weil er sich noch immer nicht im klaren war, ob er noch auf der Erde war oder in einem anderen Leben, von dem so viel in den Kirchen gesprochen wurde und an das er nie geglaubt hatte. Gab es das nun wirklich, war er bereit, Abbitte zu tun und zu bereuen.

Er war auf der Erde. Vor ihm lag der Pazifik, hinter ihm war die Insel, über ihm wogten die Fächer der Palmen, der Hohlweg ins Innere des Landes war da, die Felsenbarriere, der Strand, rechts von ihm, erstaunlich weit entfernt, der orangen leuchtende Fleck der Gummiinsel … Es hatte sich nichts verändert, nur das Blut tropfte noch aus vielen Rissen und Wunden seines Körpers.

Dann sah er den Albatros. Er stand im Schatten und rupfte seine blutbesudelten Federn. Brust und Hals des schönen weißen Gefieders waren rot und verklebt, er hatte ein Bein angezogen, stand auf dem anderen Bein gegen den Wind und blickte ab und zu zur Seite auf den elenden Menschen im Sand. Als Bäcker matt die Hand hob, nickte er und zog wieder die Federn durch seinen Schnabel, um so das Blut von ihnen abzustreifen.

»Du also warst es«, sagte Bäcker gerührt. »Du hast dich allein einem ganzen Heer entgegengeworfen. Welch ein Mut, Vogel! Wärest du jetzt ein Mensch, gäbe es ein großes Trara. Orden, vaterländische Reden, Beförderungen, Heldenlieder, Denkmäler, Ehrentafeln, Aufnahme in Schulbüchern, Alibis für Politiker, Themen für Schulaufsätze … und du stehst nur da, reinigst dir die Federn und hast nichts getan, als eben ein Freund zu sein. Das ist es, Vogel – man braucht einen Freund! Du hast mir das Leben gerettet – ich werde es dir nie vergessen. Nur danken kann ich es dir nicht … ich habe nichts.«

Er war so gerührt über den Albatros, daß er den Arm ausstreckte, ihn mit den Fingerspitzen gerade berühren konnte und die weichen Federn streichelte. Der Vogel ließ es geschehen und zupfte weiter an seinem Gefieder.

»Danke –«, sagte Bäcker leise.

Und er vergaß dabei völlig, daß er eigentlich, wenn er kräftig genug war, sterben wollte.