7

Nach dem so unkompliziert verlaufenen ersten Tag in der Biosaturn brauchte Carola Holthusen keine Angst mehr zu überwinden, um am nächsten Tag erneut das Fabrikgelände betreten zu können. Wieder ging sie im weißen Laborkittel ungehindert an der Pförtnerloge vorbei und schwenkte sofort zu Haus 5 ab. Auf dem mit gebrannten Ziegeln gepflasterten Weg dachte sie an Dr. Schelling, der den Unwiderstehlichen spielte und offensichtlich bei anderen Frauen damit Erfolge erzielte. Gefahr sah sie nicht von ihm kommen, lediglich Unannehmlichkeiten, die man notfalls mit einer Ohrfeige beenden konnte.

In der Eingangsdiele von Haus 5 stieß sie auf Dr. Borromäus Polder, der unruhig hin und her ging. Als er Carola kommen sah, stürzte er auf sie zu und ergriff ihre Hand.

»Kommen Sie mit, schnell!« sagte er hastig. »In mein Zimmer.« Er zog sie durch Längs- und Querflure, von denen Carola später nicht sagen konnte, welche Erkennungsfarbe sie gehabt hatten, Gelb, Rot, Orange oder Blau, erreichte endlich sein Zimmer, stieß Carola hinein und schloß die Tür ab.

Schwer atmend ließ er sich dann auf einen Stuhl fallen – zweiundsechzig Jahre sind nun eben doch spürbar, auch wenn man es selbst nicht wahrhaben will – und sah Carola mit sorgenvollem Blick an.

»Warum tun Sie das?« fragte er.

»Was?«

»Sich hier einschleichen!«

»Ich habe mich nicht eingeschlichen.« Carola setzte sich ebenfalls auf einen Stuhl. Sie war völlig ruhig, ganz und gar nicht erschrocken, daß man sie entdeckt hatte. Sie spürte, daß von Dr. Polder für sie keine Gefahr ausging.

»In der Personalkartei werden Sie nicht geführt, der zuständige Abteilungsleiter hat noch nie Ihren Namen gehört, und ich wette, Sie haben auch keinen Werksausweis mit Codenummer und eingeschweißtem Lichtbild.«

»Stimmt! Das habe ich nicht.«

»Sie sind also illegal hier.«

»Man könnte es so nennen …« Sie blickte Dr. Polder lächelnd an. »Wie haben Sie das herausgebracht?«

»Ich nicht. Dr. Schelling.«

»Ein Widerling! Ein eingebildeter Lackaffe.«

»Aber bei den Damen hier der Platzhirsch.«

»Geht eigentlich jede Frau mit ihm ins Bett?«

»Was man so von ihm hört, danach muß es wohl so sein. Bei Ihnen ist er auf Granit gestoßen … meine Hochachtung.«

»Und nun hat er zur Jagd auf mich geblasen?«

»Ich vermute es. Aber seien Sie beruhigt, bei mir sind Sie sicher.« Dr. Polder tastete in seinen Taschen nach einer Zigarette. »Nur eines müssen Sie mir erklären: Warum sind Sie hier? Industriespionage? So sehen Sie mir nicht aus. Ausforschung für die Konkurrenz? Auch das traue ich Ihnen nicht zu. Warum also?«

»Es geht um einen kleinen Hund und eine kleine Katze.«

»Wie bitte?« Dr. Polder starrte sie wirklich entgeistert an.

Jede andere Antwort hätte er akzeptiert – aber das hielt er für einen Scherz. »Wer Sie auch sind … die Situation ist alles andere als witzig.«

»Es ist alles sehr schnell erklärt.« Carola Holthusen pustete ein paar Haarsträhnen beiseite, die ihr beim schnellen Lauf über die Augen gefallen waren. »Ich habe einen Sohn, und Mikes ganzer Stolz, der halbe Inhalt seines Lebens, außer mir sein Liebstes auf der Welt … das war Pumpi. Ein Hund. Ein mittelgroßer Mischling, in dem man keinerlei Rasse mehr erkennen konnte. Ein schwarz-weiß-roter Hund …«

»Ein geradezu kaiserlicher Hund, was?«

»Und Mike hat eine Freundin, Wiga, die Tochter meines Verlobten, und Wiga hatte eine ganz süße Katze, Micky mit Namen, rot-weiß gestreift. Beide wurden von Tierfängern am hellichten Tage, vor den Augen der Kinder, auf der Straße in einen Lieferwagen gelockt.« Sie wischte sich schnell über die Augen. »Können Sie sich vorstellen, daß für Wiga und Mike eine Welt zusammenbrach?«

»Und wie ich mir das vorstellen kann.« Dr. Polder hatte seine Zigaretten gefunden, eine zerknüllte Packung, aus der er jetzt eine herauszog. »Sie auch eine?«

»O ja … gern …«

Sie machten beide erst ein paar tiefe Züge, ehe Dr. Polder weitersprach. »Aber was hat das alles mit der Biosaturn zu tun?«

»Jeder weiß, wo die Tierfänger die Tiere hinbringen, ja, daß sie sogar im Auftrag arbeiten, also stehlen. Für Versuche in Kliniken, Fabriken, Labors aller Art … auch für die Biosaturn.«

»Nein!«

»Doch! Ich war doch im Versuchstierkeller, nur habe ich erst einen Raum gesehen. Ich bin hier, um festzustellen, ob Pumpi und Micky da unten auf ihr schreckliches Ende warten!« Plötzlich, trotz aller Willensanstrengung, es nicht zu tun, mußte sie doch weinen. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und schluchzte auf.

Dr. Polder zerdrückte nervös seine Zigarette. Seine Antwort glich fast wörtlich der von Prof. Sänfter auf Tenndorfs Vorhaltungen.

»Die Tiere, die wir bei der Biosaturn für Versuchszwecke brauchen müssen, sind nicht gestohlen, sondern entweder Sonderzüchtungen aus bekannten Instituten oder Tiere, die rechtmäßig gekauft wurden … meistens alte und kranke Tiere. Vor allem aber: Bei uns leidet kein Tier Qualen. Sie alle werden behandelt wie Menschen, nach humanen Richtlinien.«

»Indem man sie voll Gift pumpt? Oder ist es human, an ihnen neue Instrumente auszuprobieren?«

»Wäre es human, diese Instrumente oder diese Medikamente nicht herzustellen und deswegen Hunderttausende von Menschen sterben zu lassen? Die Gegner von Tierversuchen sollten mal darüber nachdenken, daß ihre eigene Grippe mit Mitteln bekämpft wird, die vorher am Tier ausprobiert wurden. Und wenn wir selbst schwere Infektionen und Entzündungen dank Antibiotika in wenigen Tagen vergessen können … es wäre nicht möglich, hätte man nicht an Tieren die Wirksamkeit und die Dosierung getestet.« Dr. Polder erhob sich abrupt. »Ich gehe jetzt in den Tierkeller und sehe nach, ob Ihr Pumpi oder Ihre Micky bei uns gelandet sind. – Sie bleiben hier. Ich schließe Sie sogar ein … schon wegen Dr. Schelling.«

Tatsächlich verschloß er die Tür hinter sich. In der gehetzten Eile hatte Carola noch gar nicht ganz begriffen, was Dr. Polder ihr alles gesagt hatte. Jetzt erst erfaßte sie, in welcher Situation sie sich wirklich befand. Ob sie eine strafbare Handlung begangen hatte, im juristischen Sinne, das wußte sie nicht. Sie ahnte nur eins: Es würde vielleicht Schwierigkeiten geben, für die man ungeheuer gute Nerven brauchte. Ob sie die besaß?

Unruhig sprang sie auf, lief in dem kleinen Zimmer hin und her, stellte sich ans Fenster, blickte durch die Gardine in den Garten, dessen Büsche und Bäume zu bizarren Schneeplastiken erstarrt waren, und sagte sich immer wieder vor: Laß ihn Pumpi und Micky finden! Laß das Wunder geschehen, daß wir sie wiederfinden …

Aber es hielt sie nicht lange am Fenster. Die Unruhe trieb sie herum, und dabei warf sie auch einen Blick in den halb geöffneten Wandschrank. Akten lagen da herum, Zeichnungen, Statistiken, Tabellen und Fotos. Schon das oberste jagte ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken. Es zeigte einen Hund, dem man ein elektrisches Instrument in den freigelegten Kehlkopf eingesetzt hatte.

Mit einem wilden Schwung knallte Carola die Schranktür zu und setzte sich wieder auf den Stuhl. Sie sind alle gleich, dachte sie verbittert. Ob Sänfter oder Dr. Polder, Schelling oder wie sie sonst noch heißen mögen, die ihren Ruhm durch das Leid armer gequälter Kreaturen erhöhen wollen. Was sollen alle diese Argumente: Rettung der Menschheit, Heilung von Krankheiten, Fortschritte der Lebensverlängerung, das große, noch so weite, vielleicht nie erreichbare Ziel: Mensch, werde 150 Jahre alt! Dann mach dir aber andere Sterne Untertan, denn diese Erde wird zu eng für dich werden …

Sie schrak aus ihren Gedanken hoch, als sich der Schlüssel in der Tür drehte. Dr. Polder kam herein und schloß sofort von innen wieder ab. Schweigend setzte er sich hinter seinen Schreibtisch, fingerte wieder eine verbogene Zigarette aus der Rocktasche und zündete sie an.

Carola starrte ihn mit weiten Augen an. Nicht nur eine stumme Frage, auch Entsetzen lag in diesem Blick. Da Dr. Polder weiter schwieg, fragte sie endlich leise: »Sie … Sie haben Pumpi und Micky gefunden, nicht wahr? Sie sind hier …«

»Nein!« Dr. Polder inhalierte einen tiefen Zug und blies dann den Rauch durch die Nase aus. »Das kann ich Ihnen versichern. Hier sind sie nicht. Aber …«

»Was aber?«

»Sie hatten recht.« Dr. Polder atmete schwer. »Wir arbeiten zum Teil mit Versuchstieren, die wirklich illegal zu uns kommen! Tiere, deren Herkunft unklar ist. Ich habe mich davon eben überzeugt. Bitte, glauben Sie mir, ich hatte davon keine Ahnung. Es ist eine grandiose Sauerei …«

»Ich habe diese Sauerei gesehen.« Carola zeigte auf den geschlossenen Wandschrank. »Beeindruckende Fotos haben Sie gemacht …«

»Eine Versuchsreihe wegen Kehlkopfkrebs. Bisher gab es nur die Chordektomie oder verschiedene Teilresektionen. Wir sind in der Forschung, in der Pharmakologie jetzt so weit, daß wir Hoffnung hegen können, auch chemotherapeutisch das Larynxkarzinom erfolgreich angehen zu können.« Dr. Polder machte wieder zwei tiefe Züge. »Wie könnte man das anders erforschen als am Tier …«

»Ich kann es nicht hören!« Carola hielt sich beide Ohren zu. »Der Mensch als Supergott über allen anderen Wesen! Früher, zu Zeiten meiner Großeltern oder Urgroßeltern …«

»… betrug die Lebenserwartung im Durchschnitt 55 Jahre! Heute liegt sie bei zirka 73 Jahren.« Dr. Polder winkte ab. »Das ist ja alles tausendmal gesagt worden. Aber das Foto eines mit Schläuchen gespickten Äffchens alarmiert natürlich alle unsere Gefühle und verdrängt die Wahrheit: Dieses Äffchen kann vielleicht eine Epidemie aufhalten! Es wird geopfert für etwas Gutes, für einen Segen für die ganze Menschheit … im Gegensatz zu den Millionen Toten auf den Schlachtfeldern der Kriege, die sinnlos geopfert wurden und noch werden! Davon spricht keiner. Im Gegenteil, man nennt die in den Tod getriebenen Helden, schießt Ehrensalut, senkt die Regimentsfahnen, hält patriotische Reden, spielt mit verklärten Blicken das Lied vom guten Kameraden, anstatt die Politiker und die Generalität des Verbrechens an der Menschheit anzuklagen! Meine Liebe, wir leben in einer furchtbaren Welt der Heuchelei und der Umdrehung aller Vernunft!« Dr. Polder zerdrückte eine Zigarette in einem Aschenbecher aus Zinn. »Und jetzt geht es los! Jetzt werde ich auf den Tisch hauen und den Verantwortlichen suchen, der da für unsere Biosaturn geklaute Tiere kauft!«

»Wichtiger ist, wer sie verkauft …«

»Da haben wir mehrere Händler. Einige sind spezialisiert auf Hunde, andere auf Ratten und Mäuse, wieder andere auf Affen …«

»Bitte, bitte, hören Sie auf.« Carola preßte wieder die Hände gegen ihre Ohren. »Ich möchte nach Hause. Wenn Sie sagen, Pumpi und Micky sind nicht hier, dann glaube ich Ihnen das.«

»Ich bringe Sie weg.« Dr. Polder erhob sich. »Wo steht Ihr Wagen?«

»Zwei Straßen weiter, um die Ecke.«

»Aber vorher hätte ich noch eine Frage: Was hätten Sie getan, wenn die Tiere wirklich bei uns gewesen wären?«

»Ich hätte sie mitgenommen, was sonst? Und anschließend die Kripo verständigt.«

Dr. Polder schloß die Tür seines Zimmers wieder auf. Keine Sekunde zu früh, denn fast gleichzeitig klopfte es, die Tür flog auf, und Dr. Schelling trat ein.

»Ein Schäferstündchen ist so fein – allein nur muß man dabei sein!« deklamierte er und breitete die Arme weit aus, als wolle er Carola und Dr. Polder an seine Brust ziehen.

»Von Goethe ist das nicht«, sagte Carola aggressiv. »Nicht mal von Felix Meier.«

»Wer, zum Teufel, ist Felix Meier?« tönte Dr. Schelling wie ein Burgschauspieler des vorigen Jahrhunderts.

»Niemand! Das wollte ich damit ausdrücken.«

»Ihre Schlagfertigkeit imponiert, meine Dame. Wo aber wird sie bleiben, wenn ich Ihnen sage, was ich über Sie herausbekommen habe?«

»Frau Holthusen ist bereits informiert.« Dr. Polder ergriff Carolas Arm. »Ich werde sie jetzt auf das Firmengelände führen. Wir waren gerade dabei …«

»So einfach ist das nicht!« Dr. Schelling grinste breit. »Eine Werkspionin muß schon etwas opfern, um unbehelligt davonzukommen.«

»Reden Sie kein Blech, Schelling!« sagte Dr. Polder hart.

»Das mindeste ist ein Wegzoll … ein Küßchen …«

»Jetzt werden Sie sogar kindisch.«

»Moment mal!« Dr. Schellings Stimme veränderte sich, sie wurde schneidend. »Werden wir jetzt dienstlich! Was hier passiert ist, kann man nicht so einfach wegwischen, auch wenn man sich sagt, man könnte es! In die streng geheimen Forschungslabors hat sich eine fremde Person eingeschlichen. Ich sage bewußt Person, um die Anonymität zu dokumentieren und nicht gefühlsmäßig zu reagieren. Ich habe diese Person gestellt und wäre dazu verpflichtet, den Werkschutz zu alarmieren und dann die Polizei. Das Einsickern der Person in die Biosaturn muß ja einen triftigen Grund haben …«

»Genau das ist es!« Carola Holthusen lächelte Dr. Schelling an. »Wenn Sie jetzt zum Telefon greifen und die Polizei rufen, ist es genau das, was ich will!«

»Wie bitte?«

»Wir sind in der mieseren Position, Kollege Schelling.« Dr. Polder griff nach Mantel und Hut. Draußen schneite es wieder, dicke, lautlose Flocken, ein Wintermärchen. »Die Polizei wird uns hochgehen lassen, um im Jargon zu bleiben. In unserer Versuchstierabteilung haben wir eine Anzahl offenbar gestohlener Tiere.«

»Nein!«

»Ich habe mich selbst davon überzeugt. Sie sind zwar ordnungsgemäß gegen Rechnung und Quittung geliefert, aber von den Händlern geklaut worden!«

»Da kann man doch uns keinen Vorwurf machen!«

»Wir sind verpflichtet, uns über die Herkunft der Tiere zu informieren. Ihr Schuß mit der Polizei geht nach hinten los!« Dr. Polder sah Dr. Schelling fordernd an. »Geben Sie nun endlich die Tür frei, Kollege?!«

»Ungern. Ohne Wegzoll …« Dr. Schelling trat zur Seite. »Es ist aber immer noch nicht geklärt, warum die schöne Frau …«

»Die schöne Frau sucht einen Hund und eine Katze, die ihr gestohlen worden sind!« sagte Carola hart. »Zufrieden?« Sie ging an ihm vorbei aus dem Zimmer.

Auf dem Flur holte Dr. Polder sie ein, faßte sie unter und brachte sie aus dem Gelände der Biosaturn hinaus bis zu ihrem Wagen. Dort hielt er beim Abschied ihre Hand fest, länger als notwendig.

»Verstehen Sie mich bitte nicht falsch.« Dr. Polder machte den Eindruck eines verliebten, schüchternen Primaners. »Ich mag Sie. Vor allem aber möchte ich Ihnen helfen. Ich werde jetzt mehr und selbstkritischer über die Tierversuche nachdenken. Mein Gott, ich führe sie ja selbst durch, ich stehe ja auch in der Reihe der Pharmaforscher. Und oft ist es sinnlos, was man da in den Retorten zusammenkocht. Mittlerweile gibt es für jede Krankheit durchschnittlich zehn Medikamente gleicher Substanzen, nur die Namen und Firmen sind verschieden. Um diese Flut an den Mann, das heißt an den Arzt und den Patienten, zu bringen, gibt die Pharmaindustrie jährlich fünf Milliarden Mark aus, mehr als das Doppelte dessen, was man in die Erforschung neuer Medikamente steckt. Begreifen Sie? Fünftausend Millionen Mark nur für die Werbung! Unvorstellbar! Und wissen Sie, wieviel Arzneimittelvertreter und sogenannte Ärzteberater allein in Deutschland tagaus, tagein durch die Lande ziehen? 16.000 Mann! Eine ganze Armee. Bei rund 36.000 zugelassenen Ärzten kommt auf fast jeden zweiten Arzt ein Pharmaberater! Dafür forschen wir …«

»… und bringen Millionen Tiere um!«

»Wir drehen uns bei diesem Thema in einem Teufelskreis. Tierliebe und Achtung vor dem Leben gegen Heilung, Hilfe und Lebensverlängerung beim Menschen … Es kann da einfach keine klare Entscheidung fallen! Denken Sie an das jetzt so aktuelle Problem AIDS, auf das auch wir uns konzentrieren. Wir kennen das Virus und stehen trotzdem heute noch hilflos da! Und schon erheben sich überall die Stimmen: Wo bleiben die ach so klugen Ärzte? Was tut die Forschung? Warum kommt man nicht weiter in der Therapie? Warum dauert alles so lange, warum müssen immer mehr Menschen sterben? Immer nur warum, warum, warum! Aber wenn wir dann sagen: Ja, wir forschen ja, tun alles, was uns möglich ist, wir sind mitten in erfolgversprechenden Tierversuchen – dann geht wieder der Aufschrei durchs Land: Tierversuche! Mörder an der armen, wehrlosen Kreatur! Verbrecher im weißen Kittel! Ja, was sollen wir denn tun?! Man kann das Mittel gegen das AIDS-Virus nur am lebenden Körper erforschen. In den Retorten sieht alles anders aus. Da zerfallen sogar Krebszellen, die im menschlichen Körper noch jedes Medikament überleben! Das klingt alles furchtbar simpel, aber die Wahrheit ist oftmals trivial.«

Er küßte Carola die Hand, schlug hinter ihr die Wagentür zu, als sie eingestiegen war und spürte wirklich einen Kloß im Hals, als sie durch das heruntergekurbelte Fenster sagte:

»Dr. Polder … danke …«

Er blieb am Bordstein stehen, winkte ihr nach, bis sie um die Ecke verschwand, und ging dann langsam im beginnenden Schneetreiben zur Biosaturn zurück. Als er Haus Nummer 5 betrat, sah er aus wie ein Schneemann.

Dr. Schelling kam gerade in die Eingangshalle und blieb mit breitem, provozierendem Grinsen stehen. »Das paßt zu Ihnen!« grölte er. »Ein Schneemann! Nur was ich Ihnen nicht zutraue, ist eine anständige Möhre …«

Dr. Polder ließ ihn stehen. Schelling war ein Ferkel, das wußte jeder. Wozu sich da aufregen. In der nächsten Zeit würde sowieso einiges anders werden in Haus 5. Die zwei Tage, in denen Carola Holthusen hier gewesen war, hatten vieles verändert …

Da Carola in der Biosaturn und Horst Tenndorf bei der Aktionsgemeinschaft ›Rettet die Tiere e.V.‹ waren, konnten Wiga und Mike nicht mit dem Wagen von der Schule abgeholt werden. Sie hatten deshalb ihre Fahrräder aus den Kellern geholt und waren trotz des Schnees zur Schule gefahren. Die Straßen waren am frühen Morgen durch Schneepflüge freigemacht worden; aber der Untergrund war glatt, man konnte nur ganz vorsichtig und langsam fahren; wenn schon die Autos rutschten, wie schnell erst ein Fahrrad.

Mike wartete am Schultor, bis Wiga herauskam. Sie schoben ihre Räder ein Stück über die Straße und wollten gerade aufsteigen, als Mike wie festgenagelt stehenblieb. Mit offenem Mund starrte er einen vorbeifahrenden Wagen an. Weiß, ein Kastenaufbau, die hintere Stoßstange etwas eingedrückt.

»Das … das ist er …«, stammelte Mike. »Wiga, das ist er … die haben uns Pumpi und Micky geklaut … Das … das sind sie …!«

»Aber da steht doch drauf ›Wäscherei Blütenweiß‹!«

»Schilder kann man ändern! Los, hinterher!« Mike schwang sich auf sein Rad. »Wir haben sie … wir haben sie …!«

Sie traten wie wild in die Pedale, hatten Mühe, auf der schneeglatten Straße nicht wegzurutschen, schlingerten über die Fahrbahn, aber sie schlossen zu dem weißen Kastenwagen auf.

Die Firma ›Wäscherei Blütenweiß‹ verließ den Ortsteil Bothfeld und fuhr aus Hannover hinaus aufs Land.

Wiga radelte an Mikes Seite. »Die fahren ja weit weg!« rief sie.

»Na und?«

»Sollen wir weiter mitfahren?«

»Aber klar!«

»Glaubst du, das ist wirklich der Wagen?«

»Er ist es! Die eingedrückte Stoßstange … Hast du Angst?«

»Nein. Aber Papa weiß ja nicht, wo ich bin, wenn ich nicht aus der Schule nach Hause komme.«

»Dann fahr zurück. Ich bleibe dran! Die haben mir Pumpi geklaut!«

»Dann fahre ich auch!«

Sie mußten hart in die Pedale treten. Außerhalb der Stadt war der Schnee nicht geräumt, und durch Schnee zu fahren kostet viel Kraft. Verbissen strampelten sie hinter dem weißen Lieferwagen her, kamen an dem Ortsschild Otternbruch vorbei und durchfuhren das schmucke Dorf. Wiga winkte hinüber zu Mike; er saß mit ausdruckslosem Gesicht im Sattel.

»Ich kann nicht mehr!« rief sie verzweifelt. »Mike, meine Beine tun weh, die Waden … laß uns aufhören!«

»Nein! Und wenn ich später tot umfalle … sie haben Pumpi, ich muß wissen, wer sie sind!«

Keuchend fuhren sie weiter, bogen auf eine enge Landstraße ab und sahen dann von weitem die Gebäude des Wulpert-Hofes. Da der Weg abschüssig und vereist war, stiegen sie von den Rädern und warteten unter einem Baum, dessen Zweige schneeschwer fast bis zum Boden hingen, ob der weiße Kastenwagen weiterfuhr oder in den Bauernhof einbog.

»Er kann ja gar nicht weiter«, sagte Mike heftig atmend. »Da ist ja gar kein Weg mehr. Der geht nur bis zum Haus. Er muß da rein …«

Sie warteten, bis der Wagen durch die große Toreinfahrt verschwunden war, lehnten ihre Räder an den vereisten Baumstamm, schlichen hinunter bis zum Wulpert-Hof und versteckten sich hinter den Ruinen eines uralten Backhauses, in dem jetzt Runkelrüben lagerten und aus dem es faulig und gärig stank. Von hier aus konnten sie in den großen Innenhof blicken, auf die Laderampe an Halle I und auf die gestapelten Drahtkäfige unter dem Dach einer offenen Scheune.

Ein Mann mit langen Haaren und ziemlich wildem Bart erschien an der Rampentür und schob eine Art Laufgitter über das Podest. Ein jüngerer Mann in einem weißen Kittel – auf dem Wagen stand ja ›Wäscherei Blütenweiß‹ – sprang aus der Fahrerkabine, schlug dem Bärtigen freundschaftlich auf den Rücken, half das Laufgitter bis zur Ladeklappe zu schieben und öffnete dann die Tür. Mit wildem Gebell und lautem Fauchen rasten ein paar Hunde und Katzen durch das Gitter in das Innere der Halle.

Mit weiten Augen starrten Mike und Wiga auf das Geschehen. Jetzt wußten sie: So war es auch Pumpi und Micky ergangen. Eingefangen, hierher nach Otternbruch gefahren, in die Halle getrieben … und dort, irgendwo in zwei Käfigen, mußten sie jetzt vegetieren, so eng eingesperrt, daß sie sich kaum bewegen konnten, hungernd und vielleicht sogar geschlagen, wenn sie nicht schon längst in irgendein Labor abtransportiert worden waren.

»Mike …«, flüsterte Wiga und tastete nach Michaels Hand, »Mike … sie sind da drinnen …«

»Nicht weinen, Wiga.« Er legte seinen Arm um ihre Schulter; er war ja jetzt der große starke Junge, auch wenn ihm selbst elend und zum Heulen zumute war. »Wir wissen es ja nun. Wir werden das deinem Papa und meiner Mami sagen, und die werden Pumpi und Micky herausholen. Mit der Polizei! Jetzt muß die Polizei kommen. Das da waren auch gestohlene Tiere. Wie viele? Hast du sie gezählt?«

»Mindestens über zwanzig. Und drei große Hunde dabei … Warte mal –« Wiga schloß die Augen und dachte nach. »Ein Boxer, ein Schäferhund, ein Collie … Ja, so war's.« Sie öffnete wieder die Augen. Ihre Zähne klapperten vor Kälte, die Mundwinkel zuckten. »Was machen wir nun?«

»Zurück nach Hause.«

»Nicht da rein, Mike?«

»Die hauen uns durch! Guck dir den mit dem Bart an! Das ist ein Schläger, kennst ihn doch aus dem Fernsehen! Wir müssen uns ganz heimlich verdrücken, keiner darf uns sehen. Und dann zur Polizei.«

»Wenn die uns das nicht glauben?«

»Dann schwören wir.«

»Und wenn die sagen: Schwören ist Quatsch. Ihr spinnt …«

»Das kann die Polizei nicht, Wiga. Ich weiß es, steht doch immer in der Zeitung … die Erwachsenen müssen schwören, daß sie die Wahrheit sagen. Wenn sie das nicht tun, kommen sie in den Knast.«

»Hoffentlich stimmt das alles, Mike.« Wiga blickte wieder hinüber in den Innenhof. Die Wagentür war nun geschlossen, der Mann mit dem wilden Bart ging hinüber zur Scheune und holte drei Drahtkäfige.

»Das ist ein ganz Gefährlicher«, flüsterte Mike. »Wie der schon geht … 'n richtiger Schläger!«

Sie warteten, bis Kabelmann wieder in Halle I verschwunden war und Josef Wulpert den Kastenwagen in die breite Garage gefahren hatte. Dann kam noch ein älterer Mann in einer Pelzjacke aus dem Haupthaus, er hinkte stark und brüllte etwas über den Hof, was sie nicht verstehen konnten. Sie sahen nur, daß der junge Wagenfahrer schnell das Garagentor schloß.

»Das ist der Boß!« flüsterte Mike. »Wie in 'nem Krimi … Das ist der Tierhändler.«

»Der Pumpi und Micky hat?«

»Genau.«

»Im Krimi, im Fernsehen, wird so einer erschossen …«

»Im Fernsehen! Das kannst du hier nicht machen! Hier kann nur dein Papa und meine Mami helfen.«

»Wenn die Zeit haben …«

»Warum nicht?« Mike sah Wiga verblüfft an. »Wieso haben die keine Zeit?«

»Die sind doch verliebt.«

Mike hauchte über seine eiskalten Hände und nickte. »Daran hab' ich gar nicht mehr gedacht. Stimmt ja. Wiga, dann machen wir das allein, bei der Polizei und so. Das kriegen wir auch hin. Wetten?! Wenn Pumpi noch lebt, krieg' ich den wieder.«

»Und Micky auch!«

»Klar!«

Sie blieben noch ein paar Minuten in der Backhausruine hocken und rannten dann den Weg zurück zu dem Baum, an dem ihre Fahrräder lehnten. Da niemand hinter ihnen herschrie, nahmen sie an, daß auch niemand sie gesehen hatte. So schnell es ihre Kräfte zuließen, strampelten sie zur Chaussee zurück.

Sie kamen drei Stunden zu spät aus der Schule, wie Wigas Vater sofort strafend an der Haustür sagte.

»Nun, beichte, Tochter!« sagte er streng. »Was hast du angestellt? Warum mußtest du nachsitzen?«

Das klang sehr ernst, aber Horst Tenndorf war gar nicht in der Verfassung, seiner Tochter etwas übelzunehmen. In ihm war das Glück vollkommen … er dachte jetzt mehr an Carola als an alles andere. Er dachte, um ehrlich zu sein, überhaupt nur noch an Carola, an ihren ersten Kuß, an das erste Streicheln.

»Ich hatte kein Nachsitzen, Papi.« Wiga reckte sich hoch und sah Tenndorf herausfordernd an. »Mike und ich können mehr als du und Tante Carola …«

»Toll! Und was könnt ihr?! Eine Salzbrezel quer essen?«

»Jetzt wirst du aber staunen: Wir wissen, wo Micky und Pumpi sind!«

»Sag das noch einmal, Wigaschätzchen …« Tenndorf zog Wiga an den Armen zu sich. »Du, solche Witze macht man nicht!«

»Kein Witz, Papi. Es ist wahr. Mike sagt, wir sollen sogar schwören, daß ihr es auch alle glaubt. Wir waren da, wo Micky jetzt ist.«

»Du lieber Himmel! Wo wart ihr?!« Er zog Wiga den Parka aus. »Los, erzähl! Was ist passiert?!«

»Das war so, Papi. Wir kommen aus der Schule, da fährt ein Wagen vorbei, und Mike schreit: ›Das ist er! Der weiße Kastenwagen!‹ Nur stand da drauf ›Wäscherei Blütenweiß‹. Und da sind wir hinterhergefahren. Stell dir vor, bis Otternbruch! Und da ist ein großer Bauernhof mit vielen Ställen, und Käfige stehen da rum, und aus dem Auto haben sie wieder Tiere ausgeladen. Hunde und Katzen, mindestens zwanzig Stück, Papi! Und Mike hat gesagt: ›Jetzt wissen wir, wo Micky und Pumpi sind. Da drüben!‹ Und ein Mann ist da, ein ganz wilder Mann mit langen Haaren und einem langen Bart, und Mike hat gesagt, das ist ein Schläger. Wie die im Fernsehen. Da sind wir wieder weggeschlichen, und darum kommen wir so spät, Papi.« Und ehe Tenndorf noch etwas fragen oder darauf eingehen konnte, fügte sie schnell hinzu: »Ach Papi, dann kam ein Mann aus dem Haus, der hinkte, und das war der Boß, sagt Mike.«

»Der Boß! Aha!« Tenndorf zog Wiga an sich und blickte ihr ernst in die Augen. »Du, sag mal, was habt ihr euch da ausgedacht? Was soll das? Wilder Mann mit Bart, der Boß … ihr verkohlt uns doch.«

»Da haben wir's.« Wiga befreite sich aus Tenndorfs Griff und hob die rechte Hand hoch in die Luft. »Ich schwöre, daß ich die Wahrheit sage und nichts als die Wahrheit … Richtig so, Papi?!«

Tenndorf starrte seine Tochter an. »Es stimmt also, ihr habt tatsächlich …«

Das Klingeln des Telefons unterbrach ihn. Carola war am anderen Ende der Leitung, atemlos, aufgeregt. Sie konnte gar nicht so schnell sprechen, wie sie wollte.

»Hat dir Wiga auch diese Räuberpistole erzählt? Ich glaube, Michael spinnt! Du, der will mit Wiga …«

»Ganz ruhig, mein Liebling«, sagte Tenndorf und lächelte, allein schon aus Glück, Liebling zu ihr sagen zu dürfen. »Ganz ruhig. Natürlich hat sie mir das Gleiche erzählt, und ich glaube, es stimmt. Sie hat nämlich eben geschworen …«

»Mike auch! Er hält noch immer die Hand hoch, weil ich ihm nicht glaube. Stell dir vor, sie waren draußen in Otternbruch, mit den Rädern, bei diesem Wetter! Und sie wissen angeblich, wo Pumpi und Micky sind!«

»Stimmt.«

»Du sagst so einfach ›stimmt‹, als wenn das gar nichts wäre! Horst, sie wollen den weißen Kastenwagen gesehen haben!«

»Und sind ihm nachgefahren, ja. Und einen Boß haben sie auch ausgemacht!« sagte Tenndorf fröhlich.

»Spinnst du jetzt auch? Einen Boß …«

»Wir müssen uns daran gewöhnen, Liebling, daß diese Generation eine andere Sprache spricht als wir damals in ihrem Alter. Die Rechteck-Sprache, so genannt nach dem rechteckigen Bildschirm.«

»Wenn du das alles glaubst, dann muß doch etwas geschehen. Dann müssen wir doch was tun, ganz schnell tun!«

»Und wie wir das werden, Carola! Jetzt werde ich Kommissar Abbels auf den Pelz rücken! Jetzt wird endlich etwas geschehen! Ich komme sofort zu euch rüber. Und dann wollen wir mal die Beamten, die Freund und Helfer sein wollen, mobil machen! Ein großer Bauernhof in Otternbruch – man sollte es nicht für möglich halten. Wir werden selbst auch hinfahren. Diesen hinkenden Boß will ich mir ansehen.«

Er legte auf, zog Wiga an sich, küßte sie auf die Augen und sagte zärtlich: »Mein Kleines, Papi wird das jetzt alles machen. Du bekommst deine Micky wieder … das schwöre ich dir!«