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Die ›Imexsüd‹, wie sich die Import- und Exportgesellschaft von Südfrüchten nannte – unter dem Schild stand auch noch ›Impo‹, als handele es sich um eine umfangreiche Firma –, hatte ihr Büro in einem schönen Jugendstil-Haus in der Harvelust-Straße. Nichts wies darauf hin, daß es sich um eine Scheinadresse handelte und die beiden Räume äußerst kärglich eingerichtet waren: Im ersten Zimmer gab es zwei einfache Tische, ein paar Stühle, einen Kleiderständer, ein offenes Regal mit ein paar Büchern, ein Telefon.

Der dahinter liegende Raum war leer bis auf sieben größere Tierkäfige und einen Berg Decken. Einige Näpfe aus Plastik waren ineinandergestapelt. In einer Ecke standen zwei Kartons mit Blechkonserven – Hunde- und Katzenfutter. An der Längswand hing ein großes Farbposter: ein struppiger Dackel, der Männchen macht, und darunter dick die Schriftzeile ›Bitte, bitte, nicht auf den Versuchstisch‹.

Der Vorsitzende der Aktionsgemeinschaft ›Rettet die Tiere e.V.‹ erwartete Horst Tenndorf schon. Steffen Holle war ein noch junger, langgelockter Mann in einer abgewetzten Lederjacke und engen, ausgewaschenen Jeans. Ein Typ, den biedere Bürger meist scheel von der Seite ansehen und nicht ahnen, was sich hinter der äußeren Lässigkeit verbirgt. Er wirkte wie ein Mensch, der sich das Leben nach Gelegenheiten einteilt und ganz glücklich dabei ist.

Holle gab Tenndorf die Hand und wies auf einen der alten Stühle. »Schön, daß Sie gekommen sind. Zigarette? Schnäpschen?«

»So früh am Vormittag nicht. Danke.« Tenndorf blieb stehen und sah sich um. »Ihr Südfrucht-Import scheint mit faulen Früchten zu handeln. Nach viel Umsatz sieht es hier nicht aus.«

»Wir lieben die englische Art.« Holle lachte jungenhaft. »Nicht zeigen, was man auf dem Konto hat, aber um so potenter sein.«

»Haben Sie viel auf dem Konto?«

»Ja, und wie … massenhaft Luft!«

»Wer trägt denn Ihren Verein?«

»Wir Mitglieder und freiwillige Spenden.« Holle breitete die Arme weit aus. »Wir sind die letzten großen Idealisten.«

»Und deshalb verstecken Sie sich auch hinter einem fremden Firmenschild.«

»Genau. Gegen uns, das heißt gegen Unbekannt, laufen vier Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft. Wegen Einbruchs und wegen Diebstahls verschiedener Tiere unterschiedlicher Rassen, wie es so schön heißt.«

»Das ist ja ein Hammer!« Tenndorf setzte sich, nahm eine Zigarette an und steckte sie in Brand. »Das waren Sie? Die spektakulären Tierbefreiungen, über die alle Zeitungen und Illustrierten schrieben?«

»Ich und meine Freunde … ja.«

»Es gab Bilder von einem Mann mit einer Strumpfmaske … das waren also Sie? Wirklich, Sie konnte keiner erkennen!« Tenndorf sah Holle durch den Rauch der Zigarette an. »Warum erzählen Sie mir das? Ich bin Ihnen völlig fremd. Ich könnte Ihr Inkognito verraten, zumal ich Kommissar Abbels kenne. Der hat den Fall doch in den Händen, nicht wahr?«

»Ja. Und ich nehme an, Sie waren wegen Pumpi und Micky bei Abbels vorstellig.«

»Vorstellig? Sie sprechen wie ein Jurist.«

»Ich bin einer.«

»Das ist wirklich ein Streich!«

Holle grinste breit und setzte sich vor Tenndorf auf die Tischkante. »Sie werden es für total verrückt halten, aber ich bin in der hiesigen Staatsanwaltschaft. Mein lieber und geschätzter Kollege Ernst Doenburg ermittelt gegen mich Unbekannten. Verstehen Sie nun, daß ich mich hinter Impo und Imexsüd verbergen muß? Noch kann es mich meine ganze Karriere kosten …«

»Noch? Sie glauben, daß sich da was ändert? Einbruch bleibt Einbruch, und Diebstahl bleibt Diebstahl. Sie haben ja keine Lebewesen vom sicheren, furchtbaren Experimentiertod befreit, sondern ganz klar eine Sache gestohlen!«

»Genau das ist es, was ich hoffe, ändern zu können. Nicht nur ich, sondern viele meiner Kollegen: die Anerkennung des Tieres als Lebewesen und nicht als juristische Sache.« Holle winkte ab. »Aber das ist ein Fernziel. Wir werden noch lange im Untergrund arbeiten müssen, bis die Herren in Bonn aufwachen und sich zu Gesetzesänderungen durchringen. Ein mit konzentrierter Waschmittellauge gefütterter Hund ist ja nicht so wichtig wie ein Beschluß, die Abgeordnetendiäten zu erhöhen. Da sind alle Parteien einstimmige Freunde.«

»Das sagt ein Diener des Staates? Sie sind mir der richtige Staatsanwalt!«

Beide lachten. Dann wurde Holle sehr ernst.

»Ich habe Sie nicht in diese Höhle eingeladen, um Sie zu einer Spende zu animieren. Ich wollte Ihnen einen Teil unseres Materials vorlegen.«

»Danke. Mir reicht das, was ich bei Professor Sänfter gesehen habe. Nur …«

»Was nur …?« Holle zog die Augenbrauen hoch. »Das hat den Unterton von Kompromißbereitschaft …«

»Vom Diphtherieserum bis zum Insulin, von den Antibiotika bis zu den Schutzimpfungen, von Venenverpflanzungen bis zur Herztransplantation – alles ist erst an Tieren erprobt worden und nutzt jetzt uns, den Menschen. Millionen Leben wurden dadurch gerettet. Da muß ich Sänfter recht geben.«

»Ich auch.«

»Ach!«

»Aber darum geht es ja nicht. Ich will jetzt nicht fragen: Wenn Ihre Micky dazu beitrüge, in der Therapie der Multiplen Sklerose einen Schritt weiterzukommen, würden Sie dann sagen: Gut denn, schreiben wir Micky ab!? Es geht um ganz andere Versuche, Experimente der Perversion, so möchte ich es nennen.« Holle griff hinter sich, zog eine Mappe zu sich heran und schlug sie auf. Sie enthielt Fotos über Fotos. Schon beim Blick auf das zuoberst liegende krampfte sich Tenndorfs Herz zusammen.

»Haarsträubende Beispiele – wollen Sie sie sehen?« sagte Holle.

»Ja«, Tenndorf überwand sich und nickte. »Ich frage mich nur: Warum?«

»Das erkläre ich Ihnen später.« Holle reichte ihm ein Bild. »Fotos aus einer sogenannten LD-50-Testreihe. Zur Erklärung: L heißt letal, also tödlich, D heißt Dosis, und 50 ist der Prozentsatz. Mit diesem LD-50-Test wird die akute und subakute Toxizität einer Substanz ermittelt, also die Giftigkeit eines Mittels. Mehrere Versuchsgruppen bekommen unterschiedliche Konzentrationen. Wenn in einer Gruppe 50 Prozent der Tiere sterben, ist das Testziel erreicht. Daher also 50! Mit anderen Worten: Die in den LD-50-Test genommenen Tiere sind zum Tode verurteilt. Wir wissen, wie lange so ein qualvolles Giftsterben dauern kann – Stunden, Tage, Wochen, ein Todeskampf unter fürchterlichen Qualen. So wurde ein neues Pflanzenschutzmittel getestet an Affen, Hunden und Katzen. Die Tiere litten danach an Atemnot, Übelkeit, Erbrechen, Lähmungen, Erblindungen, Lungenzersetzung und Hirnkrämpfen, bis sie endlich nach über zwei Wochen von ihren Leiden erlöst wurden. Nur, damit eine Rose keine Blattläuse bekommt!« Holle nahm Tenndorf das Foto ab. »Für diese LD-50-Versuche braucht man keine wertvollen Zuchttiere. Da genügen auch auf der Straße eingefangene Hunde und Katzen …«

»Mein Gott! Woher nehmen Sie die Perversität, mir, gerade mir das zu sagen?« sagte Tenndorf gepreßt.

Holle winkte ab und griff zum nächsten Foto. »Was sehen Sie hier? Ein Schwein, ein richtiges Hausschwein, auf dem Seziertisch. Eine Tierklinik, wird jeder denken, der das Foto sieht. Irrtum! Das Foto zeigt eine Vivisektion im Auftrage der Bundeswehr. Denn das Schwein wurde erschossen. Mit einer neuen Munition, deren Durchschlagskraft und Wirkung man auf verschiedene Entfernungen testet. So erprobt man an Tieren auch die sogenannte C-Waffe, die chemischen Kampfmittel wie Giftgas. Ebenso Bakterienbomben und Vakuumgranaten. Und auch das ist bekannt: Für militärische Versuche sind in den Jahren 1970 bis 1983 von der Bundeswehr rund 96.000 Schafe, Schweine, Ziegen, Maultiere und Hunde herangezogen worden. Sie hören richtig – im Militärjargon heißt es tatsächlich herangezogene Ab 1983 bisher Schweigen, aber wir ahnen Schreckliches.«

Holle legte das Foto zu den anderen. Tenndorf schwieg. Nur um seine Augen zuckte es merklich.

»Sie könnten jetzt entgegnen: Was wollen Sie eigentlich! Sie regen sich über ein erschossenes Schwein auf, und täglich werden in der ganzen Welt Millionen Schweine geschlachtet und gegessen. Millionen Rinder, Millionen Hammel, Millionen Kälbchen. Wir, die Menschen, fressen sie. Warum soll man da nicht ein paar Ziegen oder Schweine mit neuer Munition erschießen oder in Gaskammern umbringen? Die Jäger schießen ja auch Rehe, Böcke, Fasanen – für die Pfanne, für den Brattopf, für den Grill. Dieses erschossene Bundeswehrschwein vermittelt aber Erkenntnisse, die im Ernstfall eines Krieges verwertet werden können, zum Schutz der Menschen! Eine Argumentation wie bei den Medizinern. Was denken Sie jetzt?«

»An mein Mittagessen. Ich wollte mir ein Steak braten …« Tenndorf verzog den Mund zu einem matten Lächeln. »Sollen wir alle Vegetarier werden? Da werden Grüne Botaniker behaupten: Auch Pflanzen sind Lebewesen! Amerikanische Forscher haben angeblich festgestellt, daß Blumen, wenn sie ausgerupft oder geschnitten werden, weinen können! Was bleibt uns dann noch? Nur das Verhungern! Herr Holle, das ist doch irr!« Tenndorf schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Wenn man das ganze Problem der Tierversuche so sieht, hat jede Diskussion überhaupt keinen Sinn mehr! Es geht doch nicht um das getötete Tier, es geht um das gequälte Tier! Um eine vermeidbare Grausamkeit am Tier.«

»Genau das wollte ich von Ihnen hören, Herr Tenndorf.« Holle klappte die Bildermappe zu. Die anderen Fotos zeigten doch nur in Variationen das Gleiche: verstümmelte Kreaturen, auf Seziertischen, in Foltergeräten, in Apparate eingespannt, aufgehängt oder mit eingepflanzten Elektroden. »Mir schien es, als habe Professor Sänfter Sie unsicher gemacht. Natürlich braten auch wir weiterhin unser Steak und grillen unser Spanferkel.«

»Zum drittenmal meine Frage: Warum zeigen und erzählen Sie mir das alles?«

»Um Sie zu gewinnen.«

»Gewinnen? Wofür?«

»Für neue Aktionen gegen die Händler, die diese Tiere für den Tod verhökern.« Holle steckte sich eine neue Zigarette an. »Es ist doch so, Herr Tenndorf: Alle Welt regt sich über die Fotos von den Tierversuchen auf. Da werden lange Artikel geschrieben, da werden Maßnahmen gefordert, neue Gesetze, Bestrafungen, ein Volk empört sich lauthals. Aber was geschieht wirklich? Nichts! Gar nichts! Nur billige Lippenbekenntnisse, bis hinauf zur Regierung und den verantwortlichen Ministern. Neue Gesetze? Ja, aber ganz sanfte, stilisierte, denn die Lobby ist groß und wendig und stark. Mittlerweile leben ganze Industrien von den Tierversuchen. Da gibt's Fabriken für klimatisierte Mäusebrutkästen, Tiefkühlanlagen für eingefrorene Versuchstier-Embryos, sogenannte Primatenstühle, auf denen man die Affen festschnallt, nicht zu vergessen das umfangreiche Tierlabor-Zubehör, die Käfige, die Ausstattung der Tierzuchtanstalten. Wissen Sie, daß die amerikanische Multi-Firma ›Charles River Breeding Laboratories‹ jährlich 20 Millionen Versuchstiere liefert und jetzt auch in Deutschland eine Filiale eröffnet? 20 Millionen Tiere für tödliche Experimente – kann man sich diese Menge überhaupt noch vorstellen? Hier liegt die Macht der Tierschänder: die Größenordnung, die Industrialisierung des Tötens, die Tausende von Arbeitsplätzen. Da zieht jeder Minister die Decke über den Kopf.« Holle atmete tief durch. »Was nutzen Proteste? Was Schweigemärsche mit Transparenten? Was jede Aufregung? Alles nur Atem, in den Wind geblasen. Nein … es muß gehandelt werden! Und handeln heißt hier: direkter Angriff auf die Tierverächter. Zuschlagen, wo andere nur reden. Durch Taten etwas erzwingen. Das klingt sehr radikal. Aber die Trägheit der Menschen schreit nach Radikalität.«

»Und da soll ich mitmachen?«

»Ja! Es gibt, wie gesagt, viele, die reden, aber wenige, die sich engagieren. Sie sind ein Mensch, den man darauf ansprechen kann. Ihre Zeitungsanzeige beweist es.«

Tenndorf sah schweigend vor sich hin. Holle wartete auf eine Antwort, aber statt dessen sagte Tenndorf plötzlich: »Geben Sie mir jetzt doch einen Kognak.«

»Na also.« Holle griff in das wackelige Regal, schob zwei Aktenordner zur Seite und holte dahinter eine Flasche hervor. Gläser, allerdings nur Wassergläser, standen daneben. »Andere hab' ich nicht«, sagte er. »Die Russen trinken Wodka auch aus Wassergläsern.«

»Bitte nur einen Fingerbreit für mich.«

Holle goß ein. Tenndorf prostete ihm zu, trank und kippte sein Glas hinunter. »So, jetzt ist mir wohler«, sagte er dann. »Sie glauben also, ich binde mir einen Schal vor den Mund oder ziehe eine Strumpfmaske über und klaue Tiere …«

»Befreie, Herr Tenndorf, befreie …«

»Wie stellen Sie sich das vor?«

»Wir kommen hier zusammen, besprechen die Aktion, planen alles bis ins Letzte, kalkulieren Schwierigkeiten ein – so eine Art Generalstabsarbeit, wissen Sie. Dann beginnt nachts die Aktion. Nur mit dem Unterschied, daß wir dann einen Mann mehr haben.«

»Wenn ich zusage …«

»Da Sie nicht spontan aufgestanden und gegangen sind, nehme ich an, daß Sie zusagen.«

»Und welche Funktion haben Sie mir zugedacht?«

»Nicht die des eigentlichen Befreiers. Sie bilden den Troß, um weiterhin so kriegerisch zu sprechen. Sie sollen den Lkw fahren und die befreiten Tiere in das Versteck bringen.«

»Für diesen einfachen Job brauchen Sie mich? Das kann doch jeder andere auch machen.«

»Nein. Denn das Fahren ist nicht alles. Wir brauchen ein größeres Versteck.«

»Aha!«

»Wir wollen unsere Aktionen ausweiten. Wir können immer nur so viele Tiere befreien, wie wir Unterbringungsmöglichkeiten haben. Es zieht mir das Herz zusammen, wenn ich die anderen zurücklassen muß und weiß, morgen oder übermorgen sind sie zu den Versuchen abtransportiert.« Holle lächelte Tenndorf kumpelhaft an. »Sie sind Architekt, Sie haben mehrere Bauten in und außerhalb Hannovers, es ist strenger Winter, die Bauten liegen zum größten Teil still, aber was fertig ist, sind die Keller. Sie wissen, worauf ich hinauswill?«

»Nicht übel. Nur hat das einen Haken.«

»Welchen?«

»Die Keller sind natürlich ungeheizt. Bei dieser Kälte buchstäblich Eiskeller.«

»Schon einkalkuliert. Es gibt ja Wärmestrahler. Gas-Wärmestrahler, an Propanflaschen angeschlossen.« Holle trank sein Glas aus. »Sie sehen, wir haben an alles gedacht. Was wir noch nicht hatten, war ein Quartiermeister … eben Sie.«

»Ich muß sagen, ich bekomme Appetit an der Sache.« Tenndorf blickte auf seine Uhr. »Wann ist die nächste Versammlung Ihrer Aktionsgemeinschaft? Ich muß das Gespräch mit Ihnen leider abbrechen. Ich habe in einer halben Stunde einen Termin bei Professor Sänfter.«

»Dann wünsche ich Ihnen viel Standhaftigkeit.« Holle streckte ihm die Hand hin. »Seien Sie kein Politiker, fallen Sie nicht um!«

Sie lachten, verabschiedeten sich wie alte Freunde, und Holle blickte Tenndorf nach, bis das Auto an der nächsten Straßenecke abbog. Zurück im Büro, griff er zum Telefon und rief einen Mann an, den er Harry nannte.

»Ich glaube, es klappt«, sagte er. »Hast du den Wagen?«

»In Ordnung. Einen Zweitonner. Da kriegen wir gut und gern zweihundert Tiere rein.«

»Fabelhaft. Bis morgen, Harry. Achtzehn Uhr hier.«

Holle legte auf, steckte sich wieder eine Zigarette an, trat an das Fenster und blickte hinaus auf die verschneite Straße. Assessor Dr. Steffen Holle, Staatsanwaltschaft Hannover, der unbekannte Tierbefreier, gegen den bereits drei Ermittlungsverfahren liefen. Eines davon bearbeitete er selbst.

Wenn das jemals bekannt wurde, war er lebenslänglich arbeitslos. Wer würde ihn denn noch nehmen? Der Staat nicht, die Industrie nicht. Selbst eine Praxis aufmachen? Mit Juristen konnte man bald die Straßen pflastern.

Und in den nächsten Tagen würde man eine neue Akte anlegen: nächtlicher Einbruch und Großdiebstahl von Tieren. Es war anzunehmen, daß der Jüngste in der Staatsanwaltschaft auch diese Straftat zur Bearbeitung bekommen würde.

Um die Mittagszeit kam Laurenz Kabelmann ins Haus und zog ein dummes Gesicht. Er roch nach Stall, ein strenger Geruch von Kot und Urin, der sich in der Kleidung festgesetzt hatte. Zum erstenmal seit Monaten waren die Ställe richtig gesäubert worden. Mit heißem Wasser hatte Kabelmann die Gänge geschrubbt, jeden Einzelstall ausgeräumt und den festgebackenen Kot von den Gittern und den Böden gekratzt. Besonders verdreckte Tiere hatte er sogar gebadet, mit Seife und Bürste abgeschrubbt und schwärende Wunden behandelt. Er kam sich vor wie Herakles, der den Stall des Augias gesäubert hatte.

»Der Kerl ist Gold wert!« hatte Wulpert zu seiner Frau Emmi und seinem Sohn Josef gesagt. »So verwildert er aussieht – arbeiten kann er. Das hätte ich ihm nie zugetraut … wie man sich doch irren kann! Ein halbes Jahr bei uns, und wir haben aus dem wieder 'nen Menschen gemacht! Wetten? Der bleibt bei uns, auch wenn es Frühling wird. Der geht nicht wieder auf die Walze.«

»Was ist denn los?« fragte Wulpert. Er saß schon am Tisch, aus der Küche strömte Bratenduft. »Hunger? Noch zehn Minuten, Lauro. Es gibt Rindsrouladen.«

»Draußen ist einer«, sagte Kabelmann mißmutig. »Will nicht weggehen.«

»Wer ist draußen?«

»So 'n Affe von der Presse … ein Reporter …«

Wulpert zuckte hoch, als hätte ihn ein Stromstoß getroffen.

»Du Arschloch!« brüllte er. »Warum hast du ihn nicht in die Fresse gehauen?!«

»Ich wußte doch nicht …« Kabelmann riß die Augen auf und stotterte. »Ich habe gedacht … von wegen Reklame … aber dann …«

»Vollidiot!« Wulpert riß den Stuhl um, stürmte aus dem Haus und stürzte auf den Reporter zu, der draußen im Hof wartete. Die Kamera hatte er schußbereit vor der Brust. Kabelmann ging langsam hinterher. Niemand sah, wie er grinste. Wozu doch ein struppiger Bart gut ist.

»Raus!« sagte Wulpert heiser, als er vor dem Reporter stand. »Sofort runter von meinem Hof!«

»Ich komme von der Illustrierten ›Blick in die Welt‹. Ich möchte …«

»Die ›Blick in die Welt‹ kann mich kreuzweise!« brüllte Wulpert. »Hier gibt es nichts zu blicken! Das ist ein Bauernhof wie alle anderen mit Tierzucht und Tierverkauf.« Er starrte auf die Kamera und holte tief Luft. »Haben Sie schon fotografiert? Was haben Sie aufgenommen?«

»Nur das Haus, die Einfahrt, den Hof, die Ställe von außen, die Hallen, die Stapel von Käfigen. Transportieren Sie Schweine oder Kälber mit Käfigen?«

Wulpert gab keinen Laut von sich. Aber plötzlich stürzte sich der bullige Mann auf den Reporter, riß ihm mit einem wilden Ruck die Kamera vom Hals, so daß der lederne Riemen zerriß, und warf sie Kabelmann zu. Der fing sie geschickt auf.

Sprachlos starrte der Journalist den rabiaten Wulpert an und rieb sich den Nacken. »Sind … sind Sie verrückt?« stotterte er schließlich. »Geben Sie sofort die Kamera her! Das ist Körperverletzung, was Sie da tun!«

»Die kommt erst noch!« Wulpert packte den Reporter am Parka und schüttelte ihn. »Lauro«, schrie er, »reiß den Film raus! Und dann lernt der Kerl fliegen.« Er stieß den Reporter gegen die Scheunenwand und drückte ihn mit seinen Fäusten dagegen. »Hast du, Lauro?«

»Alles klar, Chef.« Kabelmann kam zu ihnen. »Film ist raus! Hier ist der Apparat.«

Wulpert nahm die Kamera, drückte sie dem Reporter in die Hand, stieß ihn durch das Hoftor und gab ihm dort drei kräftige Ohrfeigen. Der Kerl schwankte unter den Schlägen, aber er wehrte sich nicht. Gegen einen solchen Bullen von Mann kam er nicht an, auch wenn Wulpert nur noch ein Bein hatte.

»Beim nächsten Mal biste krankenhausreif!« brüllte Wulpert und gab dem Reporter noch einen Stoß vor die Brust. »Da kannste deine Knochen aufsammeln! Hau ab, Mensch!«

»Das wird Ihnen noch leid tun«, sagte der Reporter schwer atmend. »Ich kann auch ohne Fotos über Sie berichten …«

»Noch ein Wort, und du hast ein zermatschtes Gehirn!« schrie Wulpert. Dann stürmte er zum Haus zurück. Dort lehnte Kabelmann an der Wand und hielt ihm den Film entgegen. Wulpert riß ihn ihm aus der Hand und rannte ins Haus. So sah er nicht, wie Kabelmann dem Reporter zuwinkte und das Fingerzeichen des Siegers machte. Und Wulpert ahnte nicht, daß er einen unbelichteten Film mitgenommen hatte. Der richtige, belichtete Film steckte in Kabelmanns Hosentasche. Und er zeigte nicht nur den Bauernhof von außen, sondern die Ställe von innen, die langen Reihen von Käfigen aller Größe, die verängstigten Tiere in drangvoller Enge, das schreckliche Elend der ›Voroperierten‹.

Und noch etwas hatte man erreicht: Wulpert geriet in eine versteckte Panik. Man hatte ihn entdeckt. Die Presse war ihm auf der Spur …

Am Abend stand Tenndorf vor Carola Holthusens Tür, eine dickbauchige Flasche im Arm, das Gesicht bühnenreif zu einer traurigen Maske verzogen.

»Sagen Sie jetzt nicht: Ich habe keine Zeit. Ich muß irgendwohin. Vor Ihnen steht eine Vollwaise und …«

»Kommen Sie rein!« lachte Carola. »Was haben Sie denn da mitgebracht?«

»Eine große Pulle Champagner … eine Magnumflasche. Gut vorgekühlt.«

»Champagner? Was muß denn gefeiert werden?«

Sie ging zu dem Schrank mit den Gläsern, holte zwei Sektflöten heraus und eine silberne Schale mit Gebäck, das sie immer griffbereit hatte. Wie Millionen andere war auch sie dem Laster verfallen, vor dem Fernsehapparat zu knabbern. Doch hatte sie vielen eines voraus: Sie hatte keine Probleme mit der Figur. Sie konnte naschen, ohne bereuen zu müssen.

»Wir feiern heute meinen zweiten Beruf!« Tenndorf wickelte die Staniolverkleidung von dem Champagnerkorken.

Carola blickte ihn zweifelnd an. »Zweiter Beruf? Haben Sie vielleicht eine Baugesellschaft dazu gekauft?«

»Viel schöner! Ich werde ein Krimineller!«

»Wie bitte?«

»Ich werde Einbrecher, Dieb und Mithelfer.«

»Lassen Sie die Witze«, sagte Carola. So gern sie Tenndorf mochte und sich innerlich sehr mit ihm beschäftigte, manchmal ärgerte sie sich über seine sarkastische Art und seine spöttischen Bemerkungen, die ihm oft einen Anflug von Arroganz verliehen. »Was sollen wir mit dem Champagner begießen?«

»Ich weiß, es ist schwer, das zu glauben. Aber in ein paar Tagen vielleicht werde ich von der Kriminalpolizei gesucht werden, nur heiße ich dann in den Akten Unbekannt.«

»Was haben Sie da wieder gemacht, Horst?« Carola setzte sich ihm gegenüber in den Sessel. »Nein! Lassen Sie die Flasche noch zu. Erst erzählen Sie mir alles genauer, und dann entscheide ich, ob man so etwas feiern kann oder für total verrückt erklärt …«

»Ich fürchte das Letztere. Total verrückt! Aber auch das ist es wert, mit Schampus getauft zu werden.« Tenndorf ließ den Korken knallen und goß die Gläser voll.

Carola schüttelte den Kopf. »Nun mal ernst«, sagte sie geduldig. »Was feiern wir?«

»Ganz ernst: daß wir einmal allein sind. Wiga hat Klavierunterricht, Ihr Mike ist im Judo-Kursus. Wir haben eine Stunde für uns, für uns ganz allein … eine volle Stunde! Ist das kein Grund für Champagner?«

»Nur bedingt.« Sie lächelte ihn an und wußte nicht, was sie damit in Tenndorf entzündete. »Eine Stunde ist schnell herum.«

»Drum nutze die Zeit und zerrede sie nicht. Das ist nicht von einem Philosophen, sondern von mir. Gut, nicht?«

»Sie fangen schon wieder an, mich aufzuregen.«

»Und wenn das Absicht ist …?«

»Aufzuregen im negativen Sinne!« Sie hob ihr Glas, weil Tenndorf ihr das seine entgegenstreckte, und stieß mit ihm an. »Und was noch?«

»Meine kriminelle Laufbahn.«

»Herr Tenndorf!«

»Hand aufs Herz … es ist die Wahrheit! Ich bin der Aktionsgemeinschaft ›Rettet die Tiere e.V.‹ beigetreten und werde in Kürze Versuchstiere aus ihren Käfigen befreien. Das ist Einbruchsdiebstahl und wird mit Gefängnis bestraft. Also: Ich werde ein Krimineller!«

»Mein Gott!« Ihre Augen weiteten sich vor Schreck.

Tenndorf empfand ein Glücksgefühl, als er das sah. Sie macht sich Sorgen um mich, sie hat Angst um mich, ich bin ihr nicht gleichgültig.

»Das wollen Sie wirklich tun? Die letzten Tierbefreiungen haben schon viel Staub aufgewirbelt. Wenn man Sie nun entdeckt?«

»Dann hoffe ich, daß Sie mir ab und zu einen Kuchen ins Gefängnis bringen. Besonders gern mag ich Schokoladenmarmorkuchen.«

»Mit eingebackener Feile …« Jetzt lachte sie über seine Schnoddrigkeit und prostete ihm zu. »Wissen Sie, was ich Ihnen bringen werde? Hundekuchen!«

»Das ist aber gar nicht lieb, Carola …«

»Wer so dumm ist, sich in solche Abenteuer einzulassen, hat es nicht anders verdient. Sie haben einen anständigen Beruf …«

»Danke!«

»… haben eine Tochter, die ihren Vater nach dem Tod der Mutter doppelt braucht, ein Kind, dem man nachrufen wird: ›Dein Vater sitzt im Knast! Dein Vater ist ein Räuber!‹ Sie haben eine Verpflichtung auch Mike gegenüber, der Sie geradezu bewundert und auch Architekt werden und Häuser bauen will, und Sie haben mich …«

»Moment!« Tenndorf beugte sich vor. »Sagen Sie das noch mal, Carola.«

»Was?«

»Den letzten Teil des Satzes …«

»Ich bin auch noch da … oder so ähnlich …«

»Carola … ich könnte Sie jetzt küssen!«

»Warum könnten Sie?« Sie lachte ihn wieder an. »Immer diese vagen Versprechungen …«

Es dauerte genau zwei Minuten, bis dieser erste Kuß zu Ende gebracht war. Was sich an Sehnsucht und Erwartung in ihnen aufgestaut hatte, löste sich in dieser Umarmung. Tief atmend standen sie dann voreinander und tranken das nächste Glas Champagner im Stehen.

»Wir sind verrückt, Horst«, sagte sie leise. »Total verrückt …«

»Das sind wir. Verrückt aufeinander.«

»Wie wollen wir das unseren Kindern beibringen?«

»Ganz einfach. Ich werde zu Wiga sagen: Carola ist deine neue Mutti, und du wirst zu Mike sagen: Horst ist dein neuer Papa.«

»Und du glaubst, dann jubeln sie?«

»Wiga bestimmt. Sie hat gestern ganz beiläufig zu mir gesagt: ›Du, Papi, Tante Carola paßt eigentlich gut zu dir …‹ Kinder haben da ein unheimliches Gespür, mehr als wir Erwachsenen …«

»Und was hast du ihr geantwortet? Ehrlich, Horst!«

»Ich habe gesagt: ›Mal sehen, Wiga, was sich da machen läßt. Weißt du was, wir fragen mal zusammen Tante Carola, ob sie das will.‹ Und sie hat gerufen: ›Au fein, Papi!‹«

»Ist das wahr, Horst?!«

»Ich will tot umfallen, wenn das gelogen ist! Aber wie wird das mit Mike sein?« sagte er und goß Champagner nach. »Wie stark ist seine Bindung an den weggelaufenen Vater?«

»Nur noch eine Erinnerung, die immer mehr verblaßt. Je älter er wird, um so mehr löst er sich von ihm und rückt näher an mich. Und hier sehe ich das Problem …«

»Eifersucht?«

»So ähnlich. Ich bin jetzt nur für ihn da … und nun kommst du dazu. Er muß teilen. Das ist etwas völlig Neues für ihn.«

»Und wie, glaubst du, wird er reagieren?«

»Gar nicht. Er wird sagen: Okay. Aber was er denkt, wird er in sich vergraben. Das einzige, was man bemerken wird, ist ein verändertes Verhalten dir gegenüber.«

»Oder auch nicht. Seine geliebte Wiga wird seine Schwester werden.«

»Das kommt noch hinzu! Die totale Verschiebung seines engeren Weltbildes: Wiga seine Schwester, Wigas Vater sein neuer Papa und Mami die Frau von Wigas Papi und Mami die neue Mutter von Wiga – das muß man erst verkraften.« Sie nahm einen langen Schluck Champagner und pustete sich dann die Haare aus der Stirn. »Da kann einem heiß werden, Horst …«

»Für einen Architekten gibt es kaum ein unlösbares Problem, er findet meistens einen Ausweg.« Tenndorf hob sein Glas. »Ich liebe dich, Carola. Das klingt ungemein altmodisch, aber es gibt keinen schöneren Satz in unserer Sprache.«

»Ich liebe dich auch, Horst …«

»Und ich habe auch schon eine Idee. Wenn Wiga und Mike zurückgekommen sind, biete ich ihnen auch ein Glas Champagner an – das erste in ihrem Leben – und werde sagen: ›Kinder, wir beide lieben uns. Wiga, da ist deine neue Mama … Mike, ich bin dein neuer Vater. Wenn ihr was dagegen habt, dann sagt es ruhig, wir hören euch ohne Groll zu. Wenn ihr es akzeptiert, dann hebt mit uns euer Glas und stoßt mit uns an … auf eine neue, glückliche Familie …‹«

»Das hast du wunderbar gesagt, Horst.« Sie senkte den Kopf, aber er sah doch, daß Tränen in ihren Augen standen. »Eine glückliche Familie … ich weiß gar nicht, was das ist.«

»Dann werden wir es aller Welt zeigen: die Tenndorfs aus Hannover!«

»Und du gibst sofort den Plan mit dem Einbruch und der Tierbefreiung auf …«

»Das ist ein anderes Kapitel, Carola.«

»Durchaus nicht. Es gehört jetzt zur ›Familie‹! Wir wollen keinen Papa, der im Gefängnis sitzt!«

»Das hast du ja wieder hervorragend hingekriegt!« sagte Tenndorf voller Anerkennung. »Besser als jede Polizeifessel! Liebling, laß uns darüber noch sprechen …«

»Nein. Du bist nicht der Typ, der maskiert den Räuber spielt. Auch wenn es um die armen Versuchstiere geht …«

»Vielleicht sogar um Micky und Pumpi.«

»Du glaubst doch nicht, daß sie noch leben?!«

»Nachdem ich das Wunder erfahren habe, eine neue himmlische Frau zu bekommen, will ich nun auch weiter an das Wunder glauben, unsere Tiere wiederzusehen …«

Sie küßten sich wieder. Eng umschlungen, alles vergessend. Sie merkten auch nicht, daß Wiga und Mike zurückkamen, in der Tür standen und mit offenem Mund das Bild, das sich ihnen bot, anstarrten. Dann aber stieß Mike Ludwiga an, blinzelte ihr zu, legte den Finger auf die Lippen, nahm sie an der Hand, und lautlos schlichen sie nebenan in die Küche.

Erst da sagte Mike stolz: »Na, wie haben wir das gemacht, Wiga?«

Und Wiga antwortete: »Prima, Mike. Jetzt wird Papa endlich auch für sich und für uns ein Haus bauen …«