V
Es war Klaschka, die Milda noch einmal rettete.
Zwischen Forster und Karsanow hatte sich so etwas wie eine Front aufgebaut.
Sie saßen sich gegenüber, wie man früher in den Schützengräben gegenübergehockt hatte, bereit, aufeinander loszuschlagen, mitleidlos, bis zur völligen Vernichtung.
Die bisher nur notdürftig vorgehaltenen Masken waren heruntergerissen. Man wußte nicht zu erklären, wie es kam, aber man haßte sich plötzlich.
Daß Pal Viktorowitsch Karsanow mit einer Pistole in der Tasche reiste, war für Forster der letzte Beweis, daß der Russe nicht der war, als der er sich ausgab. Läuft ein biederer Agrarprofessor mit einer Schußwaffe herum?
Und mit welcher Ruhe und Sicherheit er zugeschlagen und sich sogar noch die Zeit genommen hatte, eine abfällige Bemerkung über Judo zu machen …
Da war eine Kaltblütigkeit, die man nicht lernte, wenn man sich mit Fünfjahresplänen beschäftigte oder mit der Anzucht neuer Tomatensorten in Kasakstan.
Klaschka Iwanowna erschien also gerade zur rechten Zeit, stürzte in das Abteil und riß Milda an sich wie eine Mutter, die ein entlaufenes Kind endlich wiedergefunden hat.
Dann sah sie Karsanow herausfordernd an.
Pal Viktorowitsch verzog sein Gesicht, als flöße ihm allein der Parfümgeruch Klaschkas tiefsten Ekel ein.
Die Hure des Transsib hatte ihre Arme wie ein Polyp um Milda geschlungen.
»Was höre ich?« sagte sie mit ihrer wirklich ordinären Stimme. »Sie haben mein armes Vögelchen beschützt? Ausgerechnet Sie? Das ist ja, als wenn sich plötzlich die Erde verkehrt herum um die Sonne dreht!«
»Irrtum!« Karsanow schäumte vor Zorn. Sein Überrumpelungseffekt war verpufft, die Ausgangslage für ein Verhör zerstört.
»Ich habe eingegriffen, weil Werner Antonowitsch in Gefahr war. Für eine Hure zittere ich nicht einmal mit der Wimper! Außerdem mißfiel mir, daß sich ein Deutscher mit Judogriffen an einem sowjetischen Bürger vergreift!«
»Wie dem auch sei, ich muß Ihnen danken«, sagte Klaschka.
»Das müssen Sie nicht. Und wenn Sie etwas Gutes tun wollen, dann verlassen Sie sofort dieses Abteil!«
»Bleib hier!« stammelte Milda unter Schluchzen. »Bleib hier, ich bitte dich!«
Sie blickte Forster an, und ihre großen Augen waren ein einziger Angstschrei.
»Warum läßt man mich nicht in Ruhe?« schrie sie plötzlich auf. »Warum quälen mich alle? Warum kann ich nicht wie jeder andere Mensch in einem Zug reisen? Was wollt ihr denn alle von mir? Genügt es nicht, daß ich Milda Tichonowna Lipski heiße? Soll ich mir meinen Lebenslauf wie ein Schild um den Hals hängen? Soll ich mich ausziehen und euch zeigen, daß ich nur ein Mädchen wie Millionen andere auch bin? Und nichts anderes? Was wollt ihr denn von mir wissen, was denn und warum denn? Laßt mich doch in Ruhe … in Ruhe … in Ruhe …!«
Sie weinte herzzerbrechend auf, und Klaschka preßte Mildas zuckenden Kopf gegen ihre gewaltige Brust.
Der plötzliche Ausbruch des Mädchens prasselte wie Schläge auf die drei Menschen hinunter; und an ihrer Reaktion merkten alle, daß auch ihre Nerven bis zum Zerreißen gespannt waren.
»Da hört ihr es!« sagte Klaschka leise und mit völlig veränderter Stimme. Ein Ton mütterlicher Anklage schwang in ihr. »Ihr tötet ihre Seele …«
Karsanow fing sich als erster. Er lehnte sich zurück und trommelte mit dem Zeigefinger auf den kleinen Klapptisch vor dem Fenster.
Die ausgetrunkene Milchtüte hüpfte dabei auf und ab.
»Es ist erstaunlich«, sagte Karsanow. »Sie stellt genau die Fragen, die ich auf der Zunge habe. Sie reist nicht wie jeder andere Mensch in diesem Zug. Wie kann sie das behaupten? Läßt sich durch Sibirien fahren und hat kein Billet!«
»Sie hat eine Fahrkarte, Pal Viktorowitsch!« rief Forster erregt.
»Jetzt ja, durch Sie! Aber als sie einstieg?«
»Man kann Fahrkarten erarbeiten!« meinte Klaschka.
»Natürlich! So machen Sie es, was? Von Station zu Station ein Kunde!«
»Wenigstens verdiene ich gut dabei!« Klaschka lachte den wütenden Karsanow an. »Wir sind Werktätige wie Sie, wollen Sie das bezweifeln? Und unsere Arbeit ist körperlich anstrengender als die Ihre! Das wollen wir doch hier feststellen!«
»Wenigstens wissen wir jetzt, daß sie Lipski heißt; ein Fortschritt!« fuhr Karsanow unbeirrt fort. »Gebt euch keine Mühe, ihr alle, mich zu täuschen! Milda Tichonowna ist keine Zugdirne …«
»Ich bin eine!«
Milda fuhr herum. Die Angst trieb sie zu Handlungen, an die sie früher nie gedacht hätte.
»Ich will mich ausziehen und mich dem zweifelnden Herrn auf den Schoß setzen!«
»Ein guter Vorschlag!« Forster stand auf und griff nach seiner Reisetasche. »Darf man die Szene fotografieren?«
»Unterstehen Sie sich!« schrie Karsanow und sprang auf.
»Ich weiß, es ist in Rußland verboten, militärische Objekte zu fotografieren! Sind Sie ein militärisches Objekt, Pal Viktorowitsch? Sind Sie ein sowjetisches Geheimnis?«
Karsanow kam in Verlegenheit. Er knirschte mit den Zähnen und überlegte eine vernünftige Antwort.
Er hat mich tatsächlich in den Hinterhalt getrieben, dachte er wütend. In eine verdammte Zange! Was soll man da antworten?
Um die Verlegenheit noch zu vertiefen, fügte Forster fast genüßlich hinzu:
»Ich nehme nicht an, daß jeder, der eine Pistole trägt, unter das militärische Geheimnis fällt …«
»Er hat eine Pistole?« hakte Klaschka sofort ein. »Er hat wirklich eine Pistole bei sich?«
»In der Hosentasche –«, sagte Milda.
»Schießen Sie damit Samen in die Erde, Agrarprofessorchen?« rief Klaschka hohnlachend. Es war deutlich: sie hatten Karsanow den ganzen Plan zerstört.
Der Russe starrte voller Haß auf Forster und hieb dann auf den kleinen Klapptisch.
»Ruhe!« Er sprang auf und schob dabei die Schultern etwas nach vorn. »Machen wir es kurz: Sie sagen mir, woher Sie kommen, Milda Tichonowna. Ist das zuviel verlangt?«
»Aus Swerdlowsk!« antwortete Forster sofort. »Ich habe es beobachtet, wie sie zugestiegen ist.«
Milda und Klaschka flüsterten miteinander, ein paarmal schüttelte Milda den Kopf, aber Klaschka redete unentwegt auf sie ein.
»Das ist nicht wahr!« sagte Karsanow.
»Haben Sie es gesehen, Pal Viktorowitsch? Sie lagen im Bett und haben geschnarcht wie ein Bernhardiner!«
»Ich kenne mich mit Bernhardinern nicht aus!« konterte Karsanow. »Aber Sie waren wach? Saßen am Fenster und beobachteten die Nacht! Wem wollen Sie das erzählen?«
»Ihnen und jedem, der es hören will. Ja, ich habe sogar am Fenster gestanden, als wir uns Swerdlowsk näherten. Ich wollte diese Stadt sehen, diese Gegend, in der Tausende von deutschen Kriegsgefangenen verreckt sind …«
»Was sagen Sie da, Werner Antonowitsch?«
Karsanows Stimme wurde gefährlich leise, lauernd. Er streckte den Kopf vor wie ein Adler, der zuhacken will. »Wiederholen Sie das.«
»Wenn es Ihnen so gut im Ohr klingt! Ich habe auf Swerdlowsk gewartet, weil dort mein Vater in einem Lager saß. Sechseinhalb Jahre! Zuerst zum Tode verurteilt, dann zu lebenslanger Haft begnadigt, dann zu fünfzehn Jahren …«
»Ein Kriegsverbrecher!«
»Sein Verbrechen war, als Kommandant einer deutschen Versorgungseinheit die Truppe mit Nachschub versorgt zu haben. Begründung des sowjetischen Militärgerichts: Der Hauptmann Leo Forster hat dadurch in hohem Maße bei der Vernichtung der Sowjetunion mitgeholfen …«
»Ein klarer Spruch!« brüllte Karsanow.
»Nach dieser Terminologie wäre jeder Soldat ein Verbrecher!«
»Jeder deutsche Soldat – selbstverständlich! Und deshalb standen Sie am Fenster?«
»Mein Vater kam aus Swerdlowsk als Wrack heim. Er hat sich nie wieder erholt. Er hat mir erzählt, daß in den sechseinhalb Jahren über …«
»Keine Zahlen, Werner Antonowitsch! Keine maßlosen Lügen! Oh, ich erkenne Sie jetzt! Sie gehören jener verfluchten Generation an, die von ihren Vätern zum Revanchismus angestiftet worden ist! Zum Chauvinismus gegenüber einer friedfertigen Sowjetunion!«
»Wenn mein Vater über Rußland sprach, hat er nie gelogen. Dazu saß dieses Rußland zu tief in seiner Seele. Er ist daran zerbrochen, aber irgendwie liebte er es doch! Warum, das konnte er selbst nicht erklären. Was er in Swerdlowsk erlebt hat, ist nie aus seinen Träumen gewichen, bis zu seinem Tode nicht. In jeder Stunde seines kurzen Lebens danach wurde er von diesen sechseinhalb Jahren umklammert … Ist das kein Grund, nachts am Fenster zu stehen und auf Swerdlowsk zu blicken?«
»Wir hatten über siebzehn Millionen Tote«, sagte Karsanow dumpf. »Wir Russen dürften danach überhaupt nicht mehr schlafen! Aber wir schlafen! Es ist immer nur der deutsche Geist, der Unruhe verbreitet.«
»Vielleicht kommt es daher, daß Menschenopfer in Rußland zum Alltag gehörten? Hier rechnet man mit Menschen einfach … in anderen Dimensionen!«
»Das hätten Sie nicht sagen dürfen, Werner Antonowitsch!« erwiderte Karsanow schwer atmend. »Das hebt praktisch Ihren Status als Gast der Sowjetunion auf. Sie verhöhnen, bespucken und beleidigen mein Vaterland! Menschenopfer? Sind wir Kannibalen? Kein Land der Erde hat nach dem Krieg solche Leistungen vollbracht wie die Sowjetunion! Unsere Schulen sind vorbildlich, der industrielle Aufbau gleicht einer Explosion, wir haben die besten Ärzte und Wissenschaftler. Unsere Universitäten sind führend in der Kybernetik und Mathematik! Wir sind der unabhängigste Staat der Welt, und wir waren die ersten im Weltraum! Und da kommt so ein kleiner deutscher Ingenieur daher und will uns bespucken! Das werden Sie zu verantworten haben, Werner Antonowitsch!«
»Ich sprach von dem Rußland, das mein Vater erlebte, Karsanow.«
»Er kam als Eroberer, als Zerstörer! Und dieser Geist lebt auch in Ihnen!«
Karsanows Finger stießen wie Speerspitzen gegen Forster.
»Wir haben in Irkutsk Aufenthalt. Ich werde dafür sorgen, daß man Ihre Äußerungen protokolliert!«
Plötzlich erstarrte Karsanow, und sein Mund blieb offen stehen. »Was ist denn das?« stotterte er, völlig außer Fassung. »Was soll diese Verrücktheit? Das ist ja unerhört!« Klaschka hatte mit sichtbarem Genuß begonnen, sich auszuziehen. Sie hatte ihre Bluse schon über den Kopf gestreift, und ihre großen Brüste lagen fast frei, nur notdürftig bedeckt und gehalten von einem viel zu kleinen Büstenhalter.
Milda tat es ihr nach, nur zögernder. Sie hatte den Stepprock aufgeknöpft und ließ ihn, schamhaft noch, zu Boden fallen. Darunter trug sie lange wollene Strümpfe und eine derbe Hose aus ungebleichtem Nessel. Trotz der Häßlichkeit dieser Kleidung wirkte sie schön … Nichts konnte ihre schlanken Beine, die schmalen Hüften und das Ebenmaß ihres Körpers zerstören, nicht einmal diese abscheulichen Kleidungsstücke.
»Die Hose runter, Milda, mein Täubchen!« sagte Klaschka mit Genuß. »Zeig dem Genossen einen weißen zarten Mädchenhintern! Er scheint mir ein Augenmensch zu sein, – er muß sehen, was er glauben soll! Erdrücken wir ihn mit unserer Weiblichkeit!«
»Einhalten!« schrie Karsanow. »Das ist widerlich! Wo ist der Schaffner? Mulanow muß her! Ich lasse Sie beide verhaften! Das ist eine glatte Schweinerei! Wo ist Boris Fedorowitsch?«
Er wollte an Forster und den beiden Mädchen vorbei auf den Gang, aber Klaschka hielt ihn fest, stemmte ihre Brüste gegen seine Schultern und drängte ihn damit zurück.
»Loslassen!« schrie Karsanow.
»Wenn Sie mich anfassen, werde ich jubeln, Genosse!« sagte Klaschka. »Ich werde losjaulen, daß alle Reisenden aus den Abteilen stürzen! Was wird der Genosse General sagen, wenn er den ehrwürdigen Genossen Karsanow mit seinen Händen an den Brüsten von Klaschka Iwanowna spielen sieht …«
»Ich schlage dir ins Gesicht!« brüllte Karsanow, kaum noch Herr seiner Sinne.
»Zwei nackte Weiberchen bei Karsanow, und das am hellen Tag! Das wird sich herumsprechen von Moskau bis Irkutsk!« jubelte Klaschka.
»Sie können auch die Notbremse ziehen, Pal Viktorowitsch«, meinte Forster gemütlich und setzte sich. »Aber was Sie auch tun werden … Ich kann bezeugen, daß Sie den Damen fünfzig Rubel versprochen haben, jeder, versteht sich, jeder von ihnen fünfzig Rubelchen, das ist klar, wenn sie sich vor Ihnen ausziehen! Ich kann es beschwören!«
»Keiner wird es glauben!«
»Wir schwören mit!« sagte Klaschka lächelnd.
»Zwei Huren und ein Deutscher! Das ist die richtige Mischung!«
»Und Sie werden diesen Cocktail austrinken, Karsanow …«
Forster sah Milda an.
Sie stand ohne Rock, in ihrer lächerlichen Unterkleidung, blaß vor Scham, an der Tür und wagte nicht, es Klaschka nachzumachen, die bereits ihren Büstenhalter entfernt hatte.
»Was wollen Sie damit erreichen?« schnaubte Karsanow und trat einen Schritt von Klaschkas Üppigkeit zurück.
Die Hure folgte ihm sofort, um sich von neuem an ihn zu werfen und ihn heiß zu umklammern, für den Fall, daß jemand in das Abteil käme.
»Nichts erreichen Sie damit! Ich habe Zeit, Zeit bis Irkutsk! Die Weiber können nicht bis Irkutsk nackt im Abteil herumstehen …«
»Sie wissen nicht, was wir alles können, Genosse!« sagte Klaschka. »Sie sind ein armer Mensch, ohne jegliche erotische Phantasie …«
»Wie Sie wollen!«
Karsanows Erregung fiel plötzlich von ihm ab.
Dafür schien er zu erstarren, etwas Eisiges strömte von ihm aus.
Klaschka spürte sofort die Veränderung und hielt mit dem Aufknöpfen ihres engen Rockes inne. Sie witterte die Gefahr mit dem Instinkt einer ständig Gehetzten.
Karsanow griff nun in die Rocktasche und holte ein ledernes Etui heraus. »Es wird nötig, das Schauspiel abzukürzen.« Er wandte sich halb zu Forster: »Mein Name ist Pal Viktorowitsch Karsanow …«
»Das weiß ich jetzt bis zum Erbrechen …«
Karsanow klappte das Etui auf.
Klaschka ließ die Arme sinken, und Milda wich zurück und duckte sich, als habe man sie mit einer Peitsche geschlagen. »Kennen Sie diesen Ausweis?« fragte Karsanow hart. Forster zuckte mit den Schultern.
»Bedaure – nein.«
Karsanow hielt das Etui nahe an Forsters Augen.
»Dann sehen Sie ihn sich genau an, Werner Antonowitsch. Ich bin Oberst Karsanow vom KGB.«
Der sowjetische Geheimdienst!
Forster spürte, wie eisige Kälte in ihm aufstieg. Es war, als ob der sibirische Frost die Wände des Waggons durchbräche. Klaschka Iwanowna war die erste, die ihre Sprache wiederfand. Sie hob Mildas Rock vom Boden auf und warf ihn ihr zu. Sie selbst ergriff ihre Bluse und klemmte sie sich unter die rechte Achsel.
»Keine Angst vor ihm!« sagte sie mit ihrer ordinären lauten Stimme. »Was kann er uns antun? Er ist zuständig für die politischen Idioten, nicht für uns Huren! Pal Viktorowitsch, warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Ich hätte mir das Ausziehen sparen können!«
Sie setzte sich auf die Polsterbank und spreizte die Beine wie ein Marktweib, das hinter einem Kohlkorb sitzt. Ihre gewaltigen Brüste hoben und senkten sich schneller als zuvor … der einzige Beweis, daß sie innerlich nicht ganz so ruhig war wie nach außen hin …
Karsanow steckte das schmale lederne Etui mit seinem Ausweis wieder in die Tasche und setzte sich auf seinen Fensterplatz.
Sein zerknittertes Alltagsgesicht, dieses etwas onkelhafte, bieder-bürgerliche Aussehen hatte sich gründlich verändert. Wer ihm jetzt in die Augen blickte, empfing Kälte – Kälte, die keinen persönlichen Kontakt mehr zuließ.
»Hier, in diesem Abteil, hat sich etwas Ungeheuerliches zugetragen!« sagte Karsanow jetzt hart. »Die Sowjetunion ist beleidigt, unsere glorreiche Armee beschimpft worden, man hat uns des Mordes an Tausenden von deutschen Kriegsgefangenen bezichtigt, man hat uns jegliche Humanität abgesprochen! Ist es so, Werner Antonowitsch?«
»Nein!« antwortete Forster ebenso laut und hart.
»Nein? Ich habe Zeugen!«
»Wir waren vollauf mit dem Ausziehen beschäftigt, Genosse«, erwiderte Klaschka mit einem breiten Lächeln. »Ausziehen ist eine Kunst, vor allem bei uns! Der Kunde bezahlt es mit …«
»Es gibt Mittel, euer Gedächtnis aufzufrischen!« Karsanow räkelte sich fast wohlig in den dicken roten Polstern.
Draußen hatte es zu schneien begonnen, dicke Flocken, so eng beieinander, daß sie wie ein gehäkelter weißer Vorhang wirkten.
Der unendliche Wald dahinter, über Hügel kletternd und in Senken verschwindend, verschwamm und löste sich auf. Es gab keine Formen mehr, nur noch den wehenden Schneevorhang.
Der Transsib fuhr jetzt etwas langsamer, auf den Schienen bildeten sich Schneeberge, die von den an der Lokomotive herausragenden stählernen Schneeschiebern zur Seite gedrückt werden mußten.
Es schien zu stimmen, was man sich erzählte: Daß nämlich sogar der Transsibirien-Expreß trotz seiner gewaltigen elektrischen oder dieselgetriebenen Loks ab und zu steckenblieb und sich dann wie ein Rammbock durch die erstarrten Schneemassen hindurchstemmen mußte.
»Jetzt drohen Sie auch noch«, sagte Forster mit belegter Stimme. »Ich stelle hier in aller Deutlichkeit fest: Ich bin Gast Ihres Landes! Ich bin von Ihrer Regierung eingeladen worden; ich fahre mit diesem Expreß, weil ich im Besitz einer Sondererlaubnis bin. Ich werde von nun an überall, wo sich die Möglichkeit bietet, eine Beschwerde nach Moskau schicken und in Deutschland im Rahmen einer Pressekonferenz über meine Behandlung in der Sowjetunion berichten.«
»Das habe ich erwartet. Genau das! Das ist der Stil der Revanchisten! Glauben Sie, das schüchtert mich ein, Werner Antonowitsch?« Karsanow streckte die Hand aus. »Geben Sie mir noch eine Zigarette von Ihrer Marke!«
»Aus dem dekadenten Westen? Eine amerikanische?«
Forster warf Karsanow die ganze Packung in den Schoß. Der Russe zog hastig eine Zigarette heraus und steckte sie mit einem Streichholz an.
Neben der Tür zog Milda ihren Stepprock wieder an. Sie zitterte so heftig, daß sie die Knöpfe nicht schließen konnte. Klaschka half ihr und streifte dann selbst ihre Bluse über.
»Erzähl ihm, wer du bist!« sagte sie dabei. »Hab keine Angst, Mildenka. Er frißt dich nicht. Er ist bloß neugierig, wieso ein so junges hübsches Mädchen wie du zur Dirne wird. Verklemmte Vatergefühle, weiter nichts! Das Interesse eines ältlichen Onkels, der gerne möchte, aber nicht kann. Erzähl ihm dein Leben, dann ist er zufrieden.«
»Für Ihr Mundwerk werden Sie noch zahlen!« knurrte Karsanow giftig, genoß aber den Zigarettenrauch sichtlich. »Sie wissen, daß öffentliche Prostitution verboten ist.«
»Weise sie mir nach, Väterchen«, antwortete Klaschka gleichgültig. »Ich reise wie alle hier im Zug. Ich habe eine Fahrkarte. Kann ich mich wehren, wenn die Männer wie Böcke hinter der Ziege her sind? Außerdem habe ich es gern … Will das KGB nun auch die Liebe verbieten?«
»Gegen Geld – ja!«
»Ich nehme kein Geld.« Klaschka grinste breit. »Es wird unmöglich sein, im ganzen Zug auch nur einen Mann zu finden, der gesteht, mich bezahlt zu haben. Wer wird so etwas sagen? Etwa der Genosse Parteisekretär im Wagen drei? Oder der Vorsitzende der Sowchose ›Gorkij‹ aus Tjumen? Oder der Hauptmann der Roten Armee im Wagen sieben? Oder …«
»Der auch?« fragte Karsanow erschüttert. »Zum Teufel, Sie verseucht den ganzen Zug!« Er blickte aus dem Fenster und überlegte, was zu tun war.
Eines war sicher: Niemand im Transsib würde ihm helfen. Er war allein, ein Einzelkämpfer sozusagen, nicht einmal das Zugpersonal würde ihm Sympathie entgegenbringen, wenn man erfuhr, daß er Oberst des KGB war.
Furcht vor allem hatte er zu erwarten, verdoppelte Wachsamkeit und den stillen Aufbau einer Abwehrfront vom ersten bis zum letzten Wagen … aber Hilfe? Nie!
Selbst der verkalkte General mit seinem Tenorproblem würde zwar höflich, aber sehr reserviert sein. Es gab keinen, den Karsanow als seinen Bundesgenossen ansehen konnte. Nur Irkutsk blieb übrig, der große Eisenbahnknotenpunkt am Baikalsee.
In der Zeit, in der man dort die Lok wechselte und neue Wagen für die fernöstlichen Bahnhöfe angehängt wurden, konnte man sofort das örtliche KGB-Büro anrufen und seine Macht beweisen.
Milda Tichonowna hatte sich angezogen und starrte Karsanow an wie einen Henker, der schon das Beil erhoben hatte. Werner Forster zog sie an sich; sie sträubte sich zuerst, aber dann kuschelte sie sich in seinen Arm wie eine kleine nasse Katze, die Schutz und Wärme sucht.
Karsanow betrachtete das Bild von Zärtlichkeit als eine Provokation. Er rauchte erregt an der amerikanischen Zigarette und bekam einen unbändigen Durst.
Aber die aufgetaute Milchpackung war leer, Forsters Kognak wollte er nicht, auch nicht Tee aus der Thermosflasche, die sich der Deutsche jeden Morgen von Fedja, dem Speisewagenkellner, neu füllen ließ und in die er einen Schuß Alkohol kippte.
Überhaupt – dieser Morgentee! Drei Tage lang kam die Zugküche durcheinander, weil die deutsche Thermosflasche nicht eingeplant war, vor allem nicht während des Frühstücks.
Es war, wie immer bei Nach- oder Sonderbestellungen, wie etwa bei einem zweiten, mittelweich gekochten Ei oder zwei Scheiben Weißbrot-Toast – nicht zu hell, nicht zu dunkel, sondern schön goldbraun –: Zunächst bemächtigte sich ehrliche Verzweiflung der Küche. Man fluchte über die degenerierten Ausländer und tat zunächst etwas typisch Russisches: man vergaß die Bestellung völlig.
Wenn dann der Gast nach zwei Stunden Wartezeit immer noch auf seinem ausgefallenen Wunsch beharrte, mußte irgendein Ausweg gefunden werden …
Forster gelang es mit fünf Rubel heimlichem Trinkgeld, Fedja von dem vierten Tag an zum selbständigen Denken zu erziehen: Er gab frühmorgens seine Thermosflasche an der Küchentür ab, und kam Forster aus dem Speisewagen zurück, so stand seine Flasche wie zufällig auf einem kleinen Klapptisch. Er nahm sie an sich und alles war erledigt.
Mit diesem Trick überrundete Forster sogar den General, der jeden Morgen herumbrüllte und drohte, in Irkutsk einen Chemiker in den Zug zu holen, damit endlich untersucht würde, ob man vielleicht Spülwasser als Kaffee ausgab.
Karsanow überlegte, ob er das Abteil verlassen solle, um sich etwas zum Trinken zu besorgen. Er wußte aber, daß dann Klaschka und Milda verschwinden würden.
Die im Augenblick zu seinem Vorteil so hochexplosiv geladene Atmosphäre im Abteil würde sich abschwächen, auflösen, und es würde schwer sein, wiederum jenen starken inneren Druck auf seine Mitreisenden aufzubauen. Jetzt lag Angst in der Luft – eine sehr gute Grundlage für ein weiteres Gespräch.
»Fangen wir also an!« sagte Karsanow streng. »Wo kommen Sie her, Milda Tichonowna? Werner Antonowitsch, unterbrechen Sie mich nicht wieder oder versuchen Sie nicht, durch irgendwelche Bemerkungen Mildas Bericht zu verharmlosen. Ich kann selbst sehr gut unterscheiden, was wahr ist oder gelogen! Milda, warum haben Sie eigentlich Angst?«
»Sie ist neu in der Branche!« fuhr Klaschka sofort dazwischen. »Und dann gleich ein Oberst vom KGB! Da rutscht das Herz in die Hosen, Genossen!«
»Verschwinden Sie!« schrie Karsanow und wurde zornrot. »Hinaus! Das ist ein Befehl!«
Klaschka erhob sich, zwinkerte Milda und Forster zu und verließ das Abteil.
Es war klar, daß sie sofort Mulanow alarmierte und sich etwas ausdachte, um das gefährliche Verhör zu stören.
Milda starrte Karsanow an. Ihr schmaler bleicher Mund zuckte, aber sie bekam kein Wort über die Lippen.
»Sie sehen doch, daß sie völlig verwirrt ist«, sagte Forster rauh.
»Das soll sie auch!« Karsanow beugte sich vor. Sein scharfer Blick stieß wie eine Lanze in Milda hinein. »Woher kommen Sie?«
»Aus Perm, Genosse Oberst …«, antwortete Milda kaum hörbar.
»Aha! Aus Perm! Und schleichen sich in Swerdlowsk in den Transsib? Wie paßt das zusammen? Der Zug hielt doch auch in Perm!«
»Es soll vorkommen, daß Reisende in den D-Zug Hamburg - München einsteigen«, sagte Forster laut, »und wohnen selbst in Bochum …«
»Lassen Sie Ihre unangebrachten westlichen Vergleiche, Werner Antonowitsch!« rief Karsanow erregt.
»Ich bin mit einem Mann von Perm nach Swerdlowsk gefahren«, sagte Milda und die Zunge schien ihr zu versagen.
Die Scham, jetzt weiterzusprechen, solche Dinge der Öffentlichkeit preiszugeben, brachte sie fast um.
»Aha!« warf Karsanow bloß ein. »Weiter!«
»Er war Ingenieur für Mineralogie. Er hatte einen Wolgawagen. Wir übernachteten in einem kleinen Gasthaus in Sarancinskij. Er … er war mein erster Kunde …«
Sie warf den Kopf herum, drückte ihr kleines Gesicht an Forsters Brust und weinte laut wie ein Kind.
Forster streichelte ihr Haar und küßte ihren zuckenden Nacken.
»Sie Sadist!« sagte er gepreßt. »Wollen Sie ihre Seele völlig zerstören? Hören Sie doch endlich auf!«
»Oh, ich fange erst an, Werner Antonowitsch. Eine Seele! Soll ich mich biegen vor Lachen? Seit wann hat eine Dirne eine Seele? Wo andere Menschen so etwas Ähnliches haben könnten, klingeln bei ihr die Rubelstücke! Milda Tichonowna, flüchten Sie sich nicht ins Heulen, das hilft Ihnen gar nichts! Sie haben mit einem Mann übernachtet, gut! Dann hatten Sie auch Geld! Warum sprangen Sie also als blinder Passagier auf diesen Zug?«
»Ich hatte kein Geld!« schrie Milda gegen Forsters Brust. »Er hat mich betrogen …«
»Betrogen? Wieso?«
Milda drehte sich wieder um. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, die Schminke, die ihr Klaschka aufgeschmiert hatte, war verlaufen. Ein kleiner trauriger Clown lehnte da, von aller Welt verlassen, ausgesetzt und hilflos …
»Als ich am Morgen aufwachte, war sein Bett leer, der Wagen weg, nicht einen Rubel hatte er dagelassen. Auch seinen Namen kenne ich nicht. Er nannte sich Wadim. Nur Wadim!«
»Ich denke, ihr arbeitet nur gegen Vorauszahlung?« fragte Karsanow giftig.
»Sie ist eben eine Anfängerin!« rief Forster befreit. »Da haben Sie es! Glauben Sie es nun endlich?«
»Sehr rätselhaft! Sehr, sehr rätselhaft.«
Karsanow blickte wieder aus dem Fenster.
Der Zug schlich jetzt nur noch durch die Taiga, der Schneesturm rüttelte an den Fenstern, der vorher wie gehäkelt aussehende weiße Vorhang war zu einer weißen Wand geworden.
Man konnte nichts mehr erkennen, nur noch Massen von Schnee, die der Sturm mit ungeheurer Gewalt gegen den Zug schleuderte.
»Und was dann?«
»Ich bin mit einem Bauernfuhrwerk nach Swerdlowsk gefahren. Dort habe ich gewartet, bis der Transsib kam. Man hat mir erzählt, daß man hier viel Geld verdienen kann.«
»Und in Perm gab es keine Arbeit? Keine vernünftige Arbeit? Was haben Sie eigentlich gelernt, Milda Tichonowna? Sie sind doch nicht als Dirne zur Welt gekommen? Wo ist Ihr Vater? Was macht Ihre Mutter? Haben Sie keine ehrbaren Geschwister?«
»Mein Vater ist mit einem Kranwagen verunglückt. Meine Mutter ist darüber trübsinnig geworden und lebt in einer Anstalt in Perm. Mein älterer Bruder ist Maschinenschlosser. Er ist verheiratet, hat seine eigene Familie, eine kleine Wohnung … ich bin ganz allein …«
»In unserem Staat ist niemand ganz allein, der nicht ganz allein sein will! Fassen wir zusammen: Sie gehören zu jenen Jugendlichen, die herumstreunen, die unseren Aufbau sabotieren, indem sie ihm ihre wertvolle Arbeitskraft entziehen. Jugendliche, die nach westlichem Muster herumlungern und hoffen, daß die fleißigen Werktätigen sie mit ernähren. Schmarotzer also! Dreckig und verkommen, in der Gosse zu Hause oder – wie Sie – in den Betten fremder Männer! Ich möchte diesem unbekannten Wadim die Hand drücken, daß er Sie um Ihren Lohn gebracht hat.«
»Sind Sie fertig mit Ihrer Arie?« fragte Werner Forster provozierend. Er steckte zwei Zigaretten an und schob eine zwischen Mildas schmale Lippen.
Sie hustete nach dem ersten Zug, krümmte sich nach vorn und spuckte die Zigarette auf den Boden.
»Und was wissen Sie nun, Pal Viktorowitsch? Sind Sie klüger als vorher?«
»Allerdings!« Karsanow zeigte erneut sein böses Lächeln. »Ich weiß jetzt, daß sie lügt …«
Es war wieder einer jener Augenblicke, in denen es eiskalt durch Forsters Körper rann. Auch er wußte, daß Milda gelogen hatte …
Gerade zur rechten Zeit tauchte Mulanow, der Schaffner, auf. Klaschka hatte ihm alles erzählt und ihn angefleht, Milda beizustehen, so gut das noch möglich war.
»Sieh an, sieh an, ein Oberst des KGB!« hatte Mulanow mit düsterem Blick gesagt. »So ein Bursche ist er also. Deshalb telefoniert er nachts mit Moskau, und keiner nimmt es ihm übel. Man muß vorsichtig sein, Klaschka, sehr vorsichtig! Wir haben noch sechs Tage vor uns bis Wladiwostok! Eine kritische Situation. Man sollte Milda in Irkutsk aus dem Zug schaffen, ehe der Genosse Karsanow uns Schwierigkeiten macht. Wie verhält sich der Deutsche?«
»Einwandfrei, Boris Fedorowitsch. Karsanow kann ihm nichts anhaben, er ist Ehrengast des Kreml! In sieben Tagen hat er die Sowjetunion verlassen, das ist besser, als aus ihm einen politischen Märtyrer zu machen. Das weiß auch Pal Viktorowitsch. Aber unser Vögelchen Milda will er rupfen.« Sie hatte einen Schluck aus Mulanows Teetasse genommen und sich dann die Nase gepudert.
»Was hat sie dir erzählt, woher sie kommt?«
»Sie kommt aus Asbest.«
»Zu Karsanow sagte sie, sie käme aus Perm!«
Die beiden hatten sich daraufhin nachdenklich angesehen und gewußt, daß etwas geschehen mußte.
Mulanow hatte sich überwunden und geseufzt. »Man muß ihn ablenken«, hatte er gesagt. Aber wie kann man einen so schnüffelnden Hund wie Karsanow sieben Tage lang ablenken? Das ist eine fast undurchführbare Kunst!
»Was geschieht schon in einem Zug? Die Diebstähle, nun ja … Aber darum kümmert sich kein KGB! Man müßte versuchen, Skamejkins verschwundene Schuhe und Olga Feodorownas geklauten Ohrring auf die politische Ebene zu heben. Machen wir Oleg Tichonowitsch Dagorski zu einem Saboteur!«
»Ein schlechter Plan, Boris Fedorowitsch«, hatte Klaschka gesagt.
»Hast du einen besseren unterm Rock?«
Sie hatte keinen.
Und so erschien also jetzt Mulanow im Abteil, für Forster und Milda einem Engel gleich, und wischte sich theatralisch mit beiden Händen über die Stirn. Die Mütze hatte er weit in den Nacken geschoben.
»Die Sorgen reißen nicht ab«, sagte er voller Verbitterung. »Wir werden uns in Irkutsk den KGB in den Zug holen müssen.«
Karsanow, der seinen letzten Satz nachwirken lassen wollte wie ein rasch wirkendes Gift, griff Mulanows Bemerkung mit einer wahren Wollust auf.
»Was haben Sie bemerkt, mein lieber Boris Fedorowitsch?« fragte er mit heuchlerischer Freundlichkeit. »Schnell! Zögern Sie nicht, teilen Sie mir Ihre Beobachtungen mit!«
»Das ist so, Genosse«, begann der Schaffner umständlich. »Wir haben Oleg Tichonowitsch in ein scharfes Verhör genommen, – und was kommt dabei heraus? Sie ahnen es nicht!«
»Wer ist Oleg Tichonowitsch?« fragte Karsanow etwas verwirrt.
»Sie müßten ihn doch am besten kennen! Sie haben ihn doch mit einer Pistole niedergeschlagen, diesen Saboteur!«
»Wer redet denn von ihm?« rief Karsanow aufgebracht.
»Ich! Wir alle! Der ganze Zug! Dieser Dagorski ist ein Saboteur!«
»Lassen Sie mich mit diesem Bullen in Ruhe!« schrie Karsanow. »Hier geht es um ganz andere Probleme!«
»Ich habe noch nie gehört, daß man in der Sowjetunion einen Saboteur nicht beachtet!« sagte Mulanow, nun fast beleidigt. »Genosse, da ist ein Kerl, der gestanden hat, Rußlands schönsten Zug zu terrorisieren! Im Packwagen mußten wir ihn einsperren! Und was macht er, dieser Hengst Dagorski? Er tritt die hölzerne Zwischenwand ein, spielt mit den Paketen Fußball und wirft dem Genossen Postschaffner die Briefsäcke an den Kopf! Kurz, er benimmt sich wie eine Sau im Morast. Mit vier Mann haben wir ihn wieder fesseln müssen! Nun liegt er da und spuckt jeden an, der ihm zu nahe kommt.«
Mulanow kümmerte sich nicht darum, daß Karsanow dauernd versuchte, ihn zu unterbrechen.
»Sie sind ein kluger Mann, Genosse, ein gelehrter Mann! Ein studierter Kopf! Ein Professor sogar! Sie sollten Dagorski belehren, daß es besser ist, wenn er sich still verhält. Ich war schon bei dem Genossen General, aber der ist beschäftigt. Er diskutiert mit dem Tenor über Richard Wagner.«
Endlich kam Karsanow zu Worte. Er zeigte mit ausgestrecktem Arm auf Milda und rief:
»Hier sitzt auch ein unklarer Fall! Sie ist eine permanente Lügnerin, Schaffner Mulanow!«
Boris Fedorowitsch straffte sich im Sitzen. »Genosse Professor?«
Karsanow griff in seine Tasche.
Jetzt kommt es, dachte Mulanow, jetzt zeigt er mir seinen KGB-Ausweis. Damit ist zunächst die erste Runde verloren. Aber ein Boxkampf, mein Freundchen, dauert zehn oder fünfzehn Runden, und wir werden mit allen Tricks kämpfen … bis Wladiwostok …
Karsanow zückte seine schmale Ledermappe. »KGB!« sagte Mulanow ehrfurchtsvoll. »Ich habe es geahnt, Genosse Oberst. Ihre Haltung, Ihre Sprache … Was befehlen Sie, Genosse Oberst?«
Karsanow kam aber nicht mehr dazu, etwas zu befehlen.
Der Zug machte einen gewaltigen Ruck und hielt so plötzlich, daß alle nach vorn geschleudert wurden.
Vom Gepäcknetz fiel Karsanows Tasche herunter, genau ihm in den Nacken. Er sank auf die Knie, verdrehte die Augen und stand dann ächzend auf.
»Da haben wir es!« schrie Mulanow und sprang hoch. »Festgefahren! Im Schneesturm festgefahren! Wann ist das zum letztenmal vorgekommen? Vor Jahren, Genosse Oberst, vor Jahren! In grauer Vorzeit! Aber jetzt sitzen wir fest! Eine Katastrophe, sage ich, eine echte Katastrophe!«
Er riß die Schiebetür auf und stürzte auf den Gang. Überall kamen die Menschen aus den Abteilen und verstopften die Gänge.
»Keine Panik, Genossen!« rief Mulanow und kämpfte sich durch die Wagen nach vorn zum Zugführer. »Es wird bald weitergehen! Setzen Sie sich hin! Wir haben für einen solch außergewöhnlichen Fall unsere genauen Instruktionen …« Es war wirklich so: Der Transsibirien-Expreß saß fest.
Riesige Schneeberge hatten die Schienen zugeweht und waren dort zu Eisklötzen erstarrt. Die stählernen Schneepflüge vor der Lok schafften es nicht mehr, die Eismassen beiseite zu räumen.
Die Gefahr, daß der ganze Zug aus den Schienen sprang, war zu groß, um mit gröbster Gewalt gegen die Schneehalden anzufahren.
Vorn saßen die beiden Lokführer in ihren heißen Kabinen und legten die Hände in den Schoß.
Zugführer Vitali Diogenowitsch telefonierte drahtlos mit der nächsten größeren Station.
Es war Irkutsk, einhundertsiebzig Werst entfernt; für sibirische Verhältnisse ein Spaziergang, aber jetzt, in diesem mörderischen Schneesturm, ein Ort, so weit weg wie ein Stern.
»Sie schicken einen Räumzug –«, sagte Vitali zwischendurch, während er, den Hörer am Ohr, auf den nächsten zuständigen Beamten wartete.
Der ganze, gut trainierte Behördenapparat lief jetzt an, eine riesige Maschinerie mit vielen Rädern, die jetzt alle in eine Richtung gedreht werden mußten … Und das war die große Schwierigkeit!
Es gab eine kleine Armee zuständiger Beamter und eine noch größere Armee nicht zuständiger Beamter, und jeder hatte etwas anderes zu sagen.
Der Transsib hängt fest? In einer gewaltigen Schneeverwehung?
Man blätterte in den Statistiken. In den letzten zwanzig Jahren gab es keinen solchen Fall.
»Man weiß es nicht«, sagte Vitali ins Telefon, nachdem sich ein hoher Beamter in Irkutsk gemeldet hatte.
»Wir haben zwar einen unangenehmen Burschen im Zug, einen Oleg Tichonowitsch Dagorski. Wir haben aber auch einen Oberst des KGB, den ehrenwerten Pal Viktorowitsch Karsanow. Soll er die Untersuchungen übernehmen?«
Armer Dagorski!
Aber es war dennoch eine hervorragende Idee, und Mulanow klopfte Vitali anerkennend auf die Schulter.
»Bitten Sie den Oberst ans Telefon«, sagte die Stimme im fernen Irkutsk. »Wir werden alles unternehmen, um den Zug so schnell wie möglich freizubekommen!«
Mulanow trabte von neuem los und fand Karsanow vor, der, mit dem Rücken zu Forster, auf den Polstern kniete und sein Hemd ausgezogen hatte.
Die herunterstürzende Reisetasche hatte mit dem Schloß seinen Nacken getroffen und eine Platzwunde gerissen.
Man hatte sie erst bemerkt, als es Karsanow warm in den Kragen rieselte.
Jetzt waren Milda und Forster dabei, die Wunde mit Mull abzutupfen, mit Jod zu bepinseln und einen Verband anzulegen.
Karsanow zuckte zusammen, weil das Jod in der Wunde höllisch brannte. Er krallte seine Finger in die Polster.
»Reisen Sie immer mit einer Sanitätstasche?« fragte er und knirschte mit den Zähnen.
»Grundsätzlich! Sie sehen, es macht sich bezahlt. Den Kopf mehr nach vorn, Pal Viktorowitsch … Milda ist gleich fertig!«
»Sie säubert die Wunde?«
»Ja! Und sie macht es sehr geschickt. Ich werde Sie verbinden.« Forster lachte leise. »Sie brauchen keine Angst zu haben, Karsanow, daß ich Sie dabei stranguliere …«
»Ich würde mich auch wehren!« Karsanow hielt still, beugte den Kopf tiefer und spürte Mildas kalte Finger an seinem Nacken. Auch das rettet sie nicht, dachte er. Damit kauft sie sich nicht frei.
Sie trägt ein Geheimnis mit sich herum – das will ich wissen! »Reist mit einem Sanitätskasten!« sagte er von neuem spöttisch. »Was ist eigentlich alles drin?«
»Alles, was man braucht, sogar Morphium und eine kleine Flasche mit Äther. Außerdem Kreislauftabletten, Antibiotika, Medikamente gegen Durchfall und Malaria, Krämpfe und Bronchitis, Fieber und Nervenschmerzen …«
»Eine Anmaßung!« Karsanow schnaubte durch die Nase. »Haben Sie gedacht, Sie kommen in ein Land, wo man noch mit Kuhmist heilt? Unsere Medizin ist die höchstentwickelte der ganzen Welt! Aber nein, Sie schleppen eine Apotheke mit sich herum! Diese westliche Frechheit, immer das Beste haben zu wollen!«
»Was würden Sie jetzt tun ohne meinen Medizinkasten, Pal Viktorowitsch?«
»Hier im Zug gibt es eine Sanitätsstation! Jeder Schaffner ist in Erste Hilfe ausgebildet! Sind das Ihre Bahnbeamten etwa, he? Ich habe Sie nur nicht beleidigen wollen, darum nahm ich Ihr Angebot an! Ich bin nun mal ein höflicher Mensch.« In diesem Augenblick betrat Mulanow das Abteil. Er keuchte vom schnellen Lauf.
Draußen hieb der Sturm gegen die Wagenwände. Ein fahles Licht drang durch die Fenster, ein Licht, wie man es sich vorstellen würde, wenn der Weltuntergang bevorstünde.
»Oberst Karsanow wird am Telefon verlangt!« meldete Mulanow stramm. Karsanow hob den Kopf, aber Forster drückte ihn wieder nach unten.
»Soll warten!« brummte der Oberst. »Wer ist es denn?«
»Eine Behörde in Irkutsk.«
»Ich bin verletzt, das sehen Sie doch!« Er legte den Kopf etwas schräg, aber er konnte Milda und Forster dennoch nicht sehen. »Wie lange dauert es noch? Mulanow, helfen Sie mit! Werner Antonowitsch hat zwar einen wunderbaren Sanitätskasten bei sich, aber von der Anwendung seines Inhalts scheint er wenig Ahnung zu haben.«
»Nicht einen blassen Schimmer!«
Forster legte gerade eine dicke Lage Mull auf die gereinigte, nur noch wenig blutende Wunde.
»Ich habe nur drei Semester Medizin studiert, ehe ich zum Ingenieur umsattelte.«
»Berufswechsel wegen Unfähigkeit, was?« sagte Karsanow.
»Nein! Mein Vater wurde Invalide, wir hatten kein Geld mehr, und ich mußte mir einen praktischen Beruf suchen, in dem man schnell etwas verdient.«
Forster begann, den Verband anzulegen und umwickelte Karsanows Hals. »Mein Vater wurde Invalide als Folge der russischen Gefangenschaft …«
»Mein Vater ist bei Orel erschossen worden!« schrie jetzt Karsanow unbeherrscht. »Ja, es war Krieg, Pal Viktorowitsch!«
»Dann hören Sie doch endlich mit Ihren Hetzreden auf! Sie haben es gehört, Mulanow; sogar bei der Versorgung eines Verletzten träufelt er politisches Gift in die Wunde!«
»Der Genosse in Irkutsk wartet am Telefon …«, antwortete Mulanow stur. »Er hat einen Auftrag für Sie.«
»Mir kann keiner einen Auftrag geben!« bellte Karsanow. »Man kann mich nur bitten! Meine Dienststelle ist ausschließlich in Moskau!«
Das Verbinden ging jetzt schnell. Nachdem sein Hals umwickelt war, zog Karsanow sein Hemd wieder an, mußte aber den Kragen offen lassen und auf seine Krawatte verzichten.
»Danke, Werner Antonowitsch«, sagte er steif und warf einen Blick in den aufgeklappten Sanitätskasten. »Eine Tablette gegen Schmerzen hole ich mir aus der Zugapotheke. Wir haben wirksamere Schmerzmittel als Sie!«
Er winkte Mulanow und verließ das Abteil. Er drängte sich an den Leuten vorbei, die noch auf den Gängen standen und heftig die Lage diskutierten.
Niemand wußte, wo der Zug festsaß, aber es mußte eine verflucht einsame Gegend sein; eines jener Gebiete, wo die Wölfe Triefaugen bekamen, weil sie ständig weinten …
Werner Forster schob die Abteiltür zu, packte die blutigen Mulltupfer in eine Tüte und knüllte diese zusammen.
Milda schraubte die Jodflasche zu und strich dann mit den Fingerspitzen über eine kleine braune Flasche in einer Kunststoffhülle.
»Das ist Äther …«, murmelte sie.
»Ja, das ist Äther.« Forster nahm ihre kalte Hand und schob sie weg.
Dann klappte er den Deckel des Sanitätskastens zu.
Er ahnte, was Milda dachte … Die Verzweiflung ist oft die Mutter der grausamsten Phantasie.
»Es ist keine Lösung deines Problems«, sagte er bestimmt.
»Der Weg bis Wladiwostok ist weit, Werner Antonowitsch.« Milda trat an das Fenster.
Man konnte nicht mehr hinaussehen, der Schnee klebte dick an der Scheibe.
Um den Zug heulte es wie aus hundert Sirenen, der Sturm verfing sich in jeder Fuge, jeder Ecke. In den Lüftungsdauben der Waggons, im Stahlgewirr der Räder, überall, wo er auftraf, schrie er mit seiner hellen Stimme, und die Taiga antwortete dem Sturm mit dem Dröhnen und dem Rauschen ihrer Millionen Baumwipfel.
»Jetzt wäre es möglich …«, sagte Milda und drückte die Stirn wie sehnsuchtsvoll gegen das eisige Glas.
»Was?«
»Der Zug steht … ich könnte hinaus!«
»Bei diesem Schneesturm? Das wäre Wahnsinn!«
»Keiner würde mich sehen, keiner würde mich verfolgen …«
»Der Sturm würde dich wegreißen, Milda!«
Forster zog sie an sich und drehte sie zu sich herum. Ihre großen schönen Augen waren leer, ihr Blick war so weit weg wie ihre Gedanken, und diese Gedanken hießen: Freiheit! Endlich Freiheit!
Leben dürfen … irgendwo … dort draußen im unbekannten Wald … nur ein kleines Tier unter Tieren … aber leben in Freiheit …
»Milda!« rief Forster und schüttelte sie. »Milda, du würdest da draußen keine Stunde überstehen!«
»Wir haben gelernt, mit Schnee und Sturm zu leben, Werner Antonowitsch.«
Sie sah ihn voll an, ihr Blick kehrte zurück, aber er versank in Traurigkeit.
»Ich bin aufgewachsen in einer Hütte, die im Winter immer zugeschneit war, und ich habe von Kind an mit der Schaufel gegen den Schnee gekämpft. Ich weiß genau, wie man sich im Eissturm verhält …«
»Ich lasse dich nicht raus!« sagte Forster fest.
Eine wahnsinnige Angst überfiel ihn plötzlich, daß der Zug auch die Nacht über stehenbleiben könnte und irgendwann, in diesen langen Stunden des Wartens, Milda doch Gelegenheit haben würde, hinauszuspringen und in der Weite der Taiga zu verschwinden.
»Wenn es sein muß, binde ich dich hier fest!«
»Du wirst mich damit töten, Werner Antonowitsch«, sagte sie stockend.
»Nein! Draußen die Taiga wird dich töten!«
»Die Taiga ist meine Freundin. Sie ist gnädiger als Karsanow!«
»Ich werde dich vor ihm beschützen!«
»Das kannst du nicht mehr. Du glaubst, weil du ein Gast der Regierung bist, wärest du unangreifbar. Was kümmert das Karsanow? Das KGB hat eigene Ansichten, und es setzt sie durch. Überall, wo es will, Werner Antonowitsch! Bitte, laß mich aus dem Zug springen! Diese Gelegenheit kommt nie wieder. Ich bin weit genug gefahren.«
»Du sollst nicht leben wie ein Tier!«
Er legte beide Arme um sie und preßte sie an sich. Er spürte ihre kleinen harten Brüste durch sein Hemd, und ihr Haar duftete nach Heu.
»Wir werden Wladiwostok erreichen, und dort suchen wir uns ein japanisches Schiff, das dich mitnimmt … auch ohne Paß! Und dann wirst du frei sein und keine Angst mehr haben. Und du wirst ein Leben kennenlernen, in dem es keine Karsanows gibt und …«
»Was für ein schönes Märchen …«, sagte Milda leise.
»Es ist die Wahrheit, Milda!«
»Nicht für mich.« Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und vermied es so, ihn weiter anzusehen.
»Warum das alles, Werner Antonowitsch? Ich bin eine Ratte, weißt du das? Kyrill Michailowitsch hat es gesagt. Nur eine Ratte! Du kennst Kyrill Michailowitsch nicht, und du wirst ihn nie kennenlernen. Er ist jetzt weit weg. Aber irgendwie hat er immer noch recht. Ich bin wirklich nur eine Ratte. Laß mich zu den anderen Ratten, bitte …«
»Du bist das schönste Mädchen, das es für mich gibt«, sagte Forster heiser. Sein Herz klopfte wild, und jeder Atemzug war eine Schwerarbeit.
»Milda … du darfst jetzt nicht aus diesem Zug springen und für immer verschwinden! Du darfst es einfach nicht. Ich liebe dich doch …«
»Werner Antonowitsch!« Sie hob wieder den Kopf. »Das ist schlimmer als jeder Schneesturm …«
»Hast du nicht gesagt, du wärest mit Sturm und Schnee aufgewachsen? Ich werde es auch lernen, Milda.«
»Nie, Werja, nie …«
Plötzlich warf sie die Arme um seinen Nacken, hob sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn.
Es war ein verzweifelter Kuß, ein Schrei von kalten Lippen, der in ihn überfloß … Es war ein Kuß mit der ganzen Inbrunst einer zerrissenen Seele.