IX

Zum ersten Mal in all den Jahren, seit der Transsibirien-Expreß in Irkutsk hielt, war der Bahnsteig durch Milizsoldaten hermetisch abgeriegelt.

Nur wenigen Menschen fiel das auf. Durch die große Verspätung, die der Zug hatte, war es jetzt schon früher Morgen, eine Zeit, in der alles noch schlief.

Die Arbeiterzüge fuhren erst in zwei Stunden; das Leben in dieser Riesenstadt an der Angara war noch nicht erwacht.

So standen nur die paar Reisenden herum, die in den Expreß zusteigen wollten. Sie froren, sie hatten sich über die stundenlange Verspätung ausgeflucht und wurden nun durch die plötzliche Absperrung überrascht. Auf Fragen gab es keine Antworten –, das war man von der Miliz gewöhnt.

Dann sickerte das Gerücht durch, ein hoher Genosse aus Moskau steige aus, aber das war kaum glaubhaft, denn die Mitglieder des Ministerrates benutzten Regierungsflugzeuge.

So wartete man also, stampfte sich warm und baute sich hinter der Kette der Milizionäre auf. In wenigen Minuten würde man wissen, was das alles bedeutete …

Das war ein Irrtum.

Der Transsib hielt, die Türen öffneten sich, die Schaffner sprangen auf den Bahnsteig, dann folgten vier Männer, die trotz ihrer Zivilkleidung irgendwie uniformiert aussahen, und schließlich trat ein Genosse auf, der sofort herumkommandierte und durch die Gegend brüllte.

»Alle Reisenden für Irkutsk versammeln sich vor dem Zug!«

Da standen sie nun, mit Koffern und Kartons, mit Taschen und Säcken, die Mantelkragen hochgeschlagen, die meisten noch mit Schlaf in den Augenwinkeln, geduldig wie eine Viehherde, die zusammengetrieben worden war.

Und wie bei einer Viehzählung trotteten sie dann einzeln durch eine enge Gasse der Miliz und an einem Tisch vorbei, hinter dem Plotkin stand und jeden scharf musterte.

Die Kontrolle der Ausweispapiere war das harmloseste. Ärger gab es dagegen schon, als die vier Assistenten jeden Reisenden abtasteten, jedes Gepäckstück durchwühlten und jeden, der mehr als siebenhundert Rubel in der Tasche hatte, durch zwei Milizsoldaten abführen ließen.

Plotkin war sich klar darüber, daß alles nur eine oberflächliche Maßnahme sein konnte, daß der Aufwand größer war als der Nutzen.

Es mußte etwas getan werden, das war die Hauptsache! Man konnte nicht einen Mörder herumlaufen lassen, ohne wenigstens zu demonstrieren, daß man ihm auf der Spur war.

Verdrossen starrte Plotkin jeden Reisenden an, der an ihm vorbeimarschierte.

Alltagsgesichter, harmlose Genossen, von der Reise übermüdet, durch nichts mehr zu erschüttern, seit Karsanow sie mitten in der Taiga zum Schneeschaufeln aus den warmen Abteilen in die eisige Kälte gejagt hatte.

Sie blieben vor den Kontrolltischen stehen, hoben die Arme an, ließen sich abtasten. Ein paar protestierten lahm und drohten wohl auch mit einer Beschwerde …

Plotkin raunzte sie an, gab ihnen innerlich recht und war froh, als die Parade vorüber war.

Der Mörder sitzt noch im Zug, dachte er. Natürlich kann man keinem Menschen ansehen, ob er einen anderen Menschen umgebracht hat. Es soll ja Biedermänner geben, die ihre Frauen in Schwefelsäure auflösen, wie jener Alanajew, für dessen Lauterkeit sich jedermann verbürgt hätte … Aber diese Reisenden waren so harmlos wie der Inhalt ihrer Koffer.

Plotkin verließ seinen Tisch und ging zurück zum Zug.

Karsanow und Forster standen im Vorraum vor der Toilette Nummer fünf, wo das Schild Wegen Reparaturarbeiten gesperrt! prangte.

Mulanow sicherte auf dem Bahnsteig die offene Tür ab. Man wartete auf den Ambulanzwagen und den Zinksarg, in dem man Klaschka transportieren würde.

Vielleicht dirigierte man den Zug auch auf ein Nebengleis um es so unauffällig wie möglich zu machen.

Von einem Mord ahnte noch keiner etwas …

Die Reisenden auf dem Bahnhof von Irkutsk waren sich nun darüber im klaren, daß die Miliz Rauschgift suchte. Diese verdammte Seuche war nun auch, vom Westen kommend, in Rußland eingesickert; immer mehr Jugendliche wurden verhaftet, Kellerwohnungen wurden ausgeräumt, in denen man sich traf und mit dem Gift vollpumpte.

Plotkin stieg in den Zug. Seine Miene drückte Resignation aus.

»Alles weiße Lämmchen, nicht wahr?« fragte Karsanow. Er hatte sich inzwischen angezogen und man konnte unter seinem Jackett keinen gestreiften Schlafanzug mehr sehen.

Plotkin schnaufte laut. »Haben Sie etwas anderes erwartet?«

»Wie lassen Sie Klaschka abholen?« fragte Forster.

Plotkin blickte auf die Toilettentür und schüttelte dann den Kopf. »Überhaupt nicht.«

»Stepan Petrowitsch, soll das heißen, daß …«, rief Karsanow.

Plotkin nickte mehrmals.

»Ja, das heißt es! Klaschka bleibt im Zug!«

»Bis Wladiwostok?« stotterte Karsanow verwirrt. »Das ist ungeheuerlich! Wer hat das angeordnet? Wo gibt es denn so etwas, daß eine Ermordete tagelang liegenbleibt – unter den Augen der Polizei! Auf einem Lokus! Genosse Plotkin, das widerspricht allen Regeln! Das ist unmenschlich … gegenüber der Toten und auch uns gegenüber!«

»Ich weiß! Es ist auch ein Ausnahmefall.« Plotkin zog die Wagentür zu.

Die Milizabsperrung ließ jetzt die Reisenden durch, die den Zug bestiegen. Die Schaffner dirigierten sie von dem Wagen weg, in dem Klaschka lag.

»Der Mörder ist noch im Zug, darüber sind wir uns doch alle klar?«

»Ja!« sagte Forster. »Aber ich glaube nicht, daß er noch einmal zu Klaschka zurückkommt und ihr Blümchen bringt.«

»Aber er erwartet eines! Nämlich, daß wir die Tote hier ausladen! Er sitzt am Fenster und will den Zinksarg sehen. Erst wenn sie weg ist, wird auch er von seinem ungeheuren inneren Druck befreit sein!«

»Das arme Menschlein«, sagte Karsanow spöttisch. »Es muß seelisch so leiden!«

»Aber Klaschka verläßt den Zug nicht!« fuhr Plotkin mit erhobener Stimme fort. »Der Transsib fährt weiter! Was wird der Mörder tun? Es wird ihn innerlich zerreißen! Warum haben sie Klaschka nicht ausgeladen, wird er sich immer wieder fragen. Was ist los in Nummer fünf? Man läßt einen Toten doch nicht herumliegen! Genossen, diese Panik wird ihn auffressen!. Es wird von Stunde zu Stunde schlimmer werden, bis er sich verrät! Er ist ja kein alter Mörder, vergeßt das nicht, er ist selbst verzweifelt über seine Tat! Warten wir … die Zeit arbeitet für uns.«

Draußen zog die Miliz ab. Ein Ruck ging durch den Zug, – die Lok wurde gewechselt.

An den Speisewagen fuhr ein Elektrokarren heran, und Fedja lud Kästen und Kartons um. Die Verpflegung wurde aufgefüllt.

In der Toilette Nummer fünf zerschlug einer der Assistenten die Scheibe. Die eisige Kälte strömte in den kleinen Raum. Mulanow drehte mit einem Spezialschlüssel auch noch die Heizung ab.

In einer Stunde würde Klaschka so steif gefroren sein als wäre sie ein Eisblock. Kein Problem, sie bis Wladiwostok mitzunehmen. Es gibt keine bessere Konservierung als den sibirischen Frost.

»Fahren Sie weiter mit, Stepan Petrowitsch?« fragte Karsanow, nachdem man die Toilettentür von neuem verriegelt hatte.

»Natürlich!« Plotkin kratzte sich wieder den Haaransatz. Seine vier Assistenten verließen den Zug.

»Ich habe mich im Funkraum einquartiert. Er kann von den Reisenden nicht eingesehen werden, und ich werde mich nicht sehen lassen. Wenn wir Kontakt miteinander halten wollen, Pal Viktorowitsch, müssen Sie leider zu mir kommen. Der Mörder soll glauben, er wäre mit seiner Leiche allein …«

»Was halten Sie davon?« fragte Karsanow später, als der Transsib den riesigen Bahnhof von Irkutsk verließ. Er stand mit Forster am Fenster im Gang und blickte über die schöne große Stadt.

Irkutsk, das Herz Sibiriens!

Irkutsk, der Stolz von Pioniergenerationen!

Die weichende Nacht lag zwar noch über dem Häusermeer, aber die Faszination war die gleiche als beleuchte die Sonne die Stadt.

Auch das ist Sibirien, dachte Werner Forster. Was weiß man bei uns in Deutschland davon, was hier geschieht?

Taiga … das heißt bei uns das Ende der Welt.

Die Wirklichkeit ist ganz anders: Hier fängt die Welt erst an! Eine neue Welt, errichtet auf einem unschätzbaren Reichtum an Bodenschätzen.

Die wenigsten Menschen im Westen begreifen, daß hier Rußlands Unsterblichkeit entsteht.

»Was meinen Sie?« fragte Forster zurück, durch Karsanows Frage aus seinen Gedanken gerissen.

»Daß wir mit Klaschka weiterreisen …«

»Ein merkwürdiges Gefühl! Aber wenn wir es schon haben – wie muß es erst der Mörder empfinden? Hier muß ich Plotkin zustimmen. Für eine deutsche Mordkommission allerdings wäre so etwas undenkbar. Eine Leiche liegen lassen …«

»Darauf habe ich nur gewartet!« bemerkte Karsanow giftig. »Das mußte kommen! So etwas ist nur in Rußland möglich … der alte, verdammte hetzerische Ausruf des Westens!«

»Mein Gott, fangen Sie nicht schon wieder an, Karsanow!«

Forster drehte sich um. Irkutsk lag hinter ihnen, sie fuhren dem Baikalsee entgegen.

»Ich weiß, daß Sie ein Patriot sind; und ich beglückwünsche Sie dazu. Was ich bisher von Ihrem Land gesehen habe – und das ist bei seiner Größe kaum ein Staubkorn – läßt verstehen, warum ein Russe sein Land ›Mütterchen‹ nennt und es glühend liebt. Schließen wir damit dies Thema ab, Pal Viktorowitsch!«

Sie gingen rasch zurück zu ihrem Abteil.

Milda schlief noch immer; sie hatte Irkutsk, die Untersuchungen, die Abfahrt nicht gemerkt; ein Beweis, wie tief ihre Erschöpfung war.

Forster beugte sich über sie und gab ihr einen vorsichtigen Kuß auf die zusammengepreßten Lippen.

Karsanow setzte sich auf sein Bett. »Man könnte meinen, Sie lieben sie wirklich …«, sagte er gedämpft.

»Das begreifen Sie erst jetzt, Karsanow?«

Forster hockte sich auf die Bettkante. Es war nur ein schmaler Streifen, wollte er richtig sitzen, mußte er Milda etwas fortdrücken. Sie wäre dann erwacht …

Karsanow klopfte auf sein Bett.

»Kommen Sie herüber, Werner Antonowitsch. Setzen Sie sich neben mich. Auf der harten Kante bekommen Sie Schwielen am Hintern.«

Werner Forster wechselte auf das andere Bett hinüber.

Durch den Gang kam Fedja, der Kellner. Er hatte dem General noch einen Tee gebracht. Karsanow winkte ihn herein.

»Einen Beutel Milch für mich! Und für Sie, Werner Antonowitsch?«

»Einen doppelten grusinischen Kognak!.«

»In einigen Minuten, Genossen.«

Fedja klemmte sich das Tablett unter die Achsel. Er sah bleich und zerknittert aus. Seit zwanzig Stunden war er auf den Beinen … gerade, als er sich hingelegt hatte, um ein Schläfchen zu halten, hatte Mulanow die tote Klaschka entdeckt, und der Dienst ging weiter.

»Die Milch muß noch auftauen. Wir haben sie in Irkutsk frisch bekommen.«

»Beeilen Sie sich, Fedja!« Karsanow streckte die Beine von sich. »Ich habe einen Durst, daß ich die Fensterscheiben ablecken könnte.«

Fedja schob die Abteiltür zu und eilte zurück zum Speisewagen.

»Sie müssen mir einiges erklären, Werner Antonowitsch«, sagte Karsanow nach einer Weile.

Sie hatten beide aus dem Fenster geblickt. Der Baikalsee tauchte auf – eine riesige schwarze Scheibe. Die Morgendämmerung ließ sich Zeit, es schien ein trüber Tag zu werden.

Vielleicht würde es am Morgen wieder schneien, der Himmel hing über Land und See wie ein schwerer Sack.

»Sie lieben Milda Tichonowna. Über Geschmack läßt sich streiten, – mir ist Milda zu jung und etwas zu mager.«

»Sie sollen sie ja auch nicht lieben, Pal Viktorowitsch!«

»Lassen Sie mich ausreden. Die wichtigste Überlegung kommt noch: Wie kann ein gebildeter Mann wie Sie, ein Akademiker, sich in eine Hure verlieben? Das will und will mir nicht in den Kopf.«

Forster sah hinüber zu Milda. Vorsicht, dachte er. Karsanow ist ein raffinierter Hund. Er schleicht sich an mich heran mit einer Logik, die nur schwer zu widerlegen ist.

Eine Zugdirne, wie Milda sie sein soll, bezahlt man und damit Schluß. Man kauft sie sich, so wie Karsanow sich eben seinen Beutel Milch bestellt hat oder ich den doppelten grusinischen Kognak. Aber Liebe?

»Sie wissen von Klaschka, daß dies hier Mildas erste Reise ist«, sagte Forster und überdachte jedes seiner Worte genau. »Sie ist noch keine Professionelle wie Klaschka.«

»Und Sie haben die moralische Verpflichtung in sich entdeckt, Milda ins bürgerliche Leben zurückzuführen? Einen missionarischen Drang quasi …«

»Nicht nur das, Karsanow!.«

»Warum halten Sie mich für einen senilen Bettnässer? Ich weiß, daß Sie Milda ohne moralischen Purzelbaum lieben können, weil sie keine Hure ist! Ich habe das Mädchen beobachtet … selbst eine Anfängerin in diesem Gewerbe würde sich anders benehmen, jedenfalls mir gegenüber. Werner Antonowitsch – Sie wissen mehr!.«

»Ich weiß nur, daß ich sie liebe, ganz gleich, was sie ist.«

»Eine Liebe, die bis Wladiwostok reicht …« Karsanow hob beide Hände, als Forster antworten wollte. »Halt! Erklären Sie mir jetzt bloß nicht, daß Sie Milda sogar heiraten wollen! Daß Sie den ganzen Papierkrieg entfesseln wollen, der dazu nötig ist. Ein Mädchen, das Sie ein paar Tage kennen und von dem Sie – angeblich – nichts weiter wissen! Steigt in Swerdlowsk zu – ohne Fahrkarte! In Wattejacke, Stepphosen und derben Bauernstiefeln! Werner Antonowitsch, dahinter steckt doch ein Geheimnis!«

»Milda hat es Ihnen doch erzählt.«

»Die Sache mit dem Autofahrer, der sich als Liebeszechpreller davonmachte und das warme Vögelchen im kalten Winter allein ließ? Das soll ich glauben? Als Milda das erzählte, habe ich Sie übrigens beobachtet! Sie haben diesen Bericht mit einer Gelassenheit hingenommen, als handelte es sich um einen Wetterbericht. Sie waren ganz einfach zu unbeteiligt, Werner Antonowitsch! Auch das kann zum Verräter werden …«

Werner Forster lehnte sich zurück.

Jetzt erkannte er klar, wie sich Karsanows Zange um ihn schloß. Die Zange aus Kombinationen und Schlußfolgerungen …

Mit dem Morgen und mit Mildas Erwachen würde Karsanow rücksichtslos mit dem zermürbenden Verhör fortfahren.

Klaschkas Tod war nur ein Aufschub gewesen. Jetzt hinderte niemand Karsanow daran, den armseligen kleinen Panzer aus Ausreden und Lügen, den Milda ungeschickt um sich errichtet hatte, zu zerschlagen.

Ich muß handeln, dachte Forster. Ich muß sofort etwas tun …

Aber was? Gott im Himmel – was?

Im richtigen Augenblick kam der Kellner Fedja.

Er brachte Karsanows Milch, eine Halblitertüte, in der es noch knirschte, weil die Milch noch nicht ganz aufgetaut war.

Karsanow beschwerte sich nicht, ihm war es recht so. Im Abteil, überhaupt im ganzen Zug war es sehr warm, man konnte also eine Erfrischung gut gebrauchen.

»Es sind so kleine Dinge«, sagte er gnädig und wandte sich dem Deutschen zu, »wo die Perfektion einen Knacks bekommt. Doch sicherlich auch bei Ihnen, Werner Antonowitsch! Mal funktioniert die Heizung, als wären wir Brotlaibe, die gebacken werden sollen, – mal fällt sie aus, dann werden wir konserviert. Die Tücken der Technik!«

Karsanow sah zu, wie Fedja den herrlichen, goldfarbenen grusinischen Kognak auf den Klapptisch stellte.

Kopfschüttelnd sagte er zu Forster: »Wie Sie jetzt so etwas trinken können! Erfrischt das denn?«

»Mich ja!«

Werner Forster hob das Glas und schwenkte den Kognak. Der würzige Duft verbreitete sich in dem überheizten Abteil.

Der Kellner stand in der Tür und schwankte leicht. Seine Augen waren vor Übermüdung gerötet wie bei einem weißen Kaninchen. Auch seine Hautfarbe war fahlweiß.

»Sie sollten sich hinlegen, Fedja«, sagte Karsanow. »Wenn Sie so weitermachen, servieren Sie den Gästen das Spülwasser und schütten die Suppe weg …«

Fedja nickte stumm, wollte anscheinend etwas sagen, kaute an den Worten, und verzichtete dann doch darauf. Wie ein langer dürrer Schatten verschwand er in dem Gang.

Draußen dämmerte der Morgen. Der Transsib fuhr jetzt am Baikalsee vorbei, der – so weit Forster blicken konnte – zugefroren war. Die nächste Station würde Ulan-Ude sein, die Hauptstadt der Burjatischen Volksrepublik.

Die Grenze zur Mongolei war nahe, – man sah es an den Jurten der Burjaten und den Auls, den Dörfern aus Fellhütten, an denen der Zug vorbeidonnerte.

Davon habe ich als Kind immer geträumt, dachte Forster und trank einen Schluck von dem Kognak. Sibirien, die Mongolei, China! Das nie zu enträtselnde Geheimnis Asiens.

Und was ist aus meinen Träumen geworden?

Ich sitze mit einem Oberst des Geheimdienstes hier in einem überhitzten Zugabteil und kämpfe mit ihm um ein russisches Mädchen, das ich nur ein paar Stunden kenne und von dem ich mich schon nicht mehr trennen kann.

Gibt es etwas Verrückteres als das Leben?

»Einen Vorschlag, Pal Viktorowitsch«, sagte Forster und lehnte sich zurück.

Karsanow nickte und saugte mit einem Strohhalm die eiskalte Milch mit den gefrorenen Klumpen.

»Lassen Sie uns erst frühstücken!«

»Ich verstehe nicht, Werner Antonowitsch.«

»Verhören Sie Milda erst nach dem Kaffee.«

»Da haben Sie sich doch einen Trick ausgedacht?« Karsanow stellte seine Milchtüte ab. »Ich weiß gar nicht, warum ich bei Ihnen dauernd Ausnahmen machen soll! Ich spüre, daß hier etwas faul ist … Wissen Sie, wie ich da in Moskau handeln würde?«

»Dazu braucht man keine große Phantasie.«

»Sehen Sie! Und wie benehme ich mich Ihnen gegenüber? Wie ein zahnloses Urgroßväterchen! Warum eigentlich?«

»Vielleicht sind wir uns tatsächlich sympathisch und wehren uns nur dagegen. Als mein Vater aus sowjetischer Gefangenschaft zurückkam …«

»Das haben Sie nun lang und breit ausgewalzt, Werner Antonowitsch! Ich weiß, was Ihr Vater gesagt hat! Diese Generation, die nichts dazugelernt hat! Der Feind steht immer noch im Osten! Es ist zum Kotzen mit dieser Generation!«

»Mein Vater hat etwas anderes gesagt. Ihn hat Rußland bis zu seinem Ende nicht losgelassen –, und bei mir ist es nicht anders!«

»Werner Antonowitsch, bitte nicht diese sentimentale Platte! Da höre ich nicht hin. Milda ist ein politischer Fall, das sage ich Ihnen im voraus, bevor ich sie noch ins Verhör genommen habe.«

Er zuckte zusammen, und auch Forster war einen Augenblick lang erschrocken. Im Gang jubelte eine Stimme auf – der Tenor!

Er begrüßte den neuen Tag. ›Morgendlich leuchtend …‹, aus den ›Meistersingern‹.

Aus dem Nebenabteil stürzte, wie von einem Wolf verfolgt, der General. Über seine gestreifte Schlafanzughose trug er den Uniformrock mit der fünfstöckigen Ordensspange. »Warum ermordet man immer die Falschen?« brüllte er in Wagners ›Preislied‹ hinein. »Sie Sadist! Warum darf man Sie nicht standrechtlich erschießen?«

Singend ging der Tenor den Gang entlang und verschwand in der Toilette.

Der gesamte Waggon war geweckt.

Auch Milda hob den Kopf und blickte schlaftrunken um sich.

»Erst frühstücken?« fragte Forster noch einmal.

»Von mir aus!« Karsanow nickte. »Ich schenke diese Stunde unserer menschlichen Annäherung. Politisch leben wir sowieso auf getrennten Sternen!«

Auf seiner Morgenvisite kam Mulanow durch den Gang. Er beruhigte den General, versprach, mit dem Tenor einmal streng dienstlich zu reden, und kam dann in sein bevorzugtes Abteil.

»Ein mieser Morgen«, berichtete er. »Der Genosse Skamejkin macht Schwierigkeiten. Er hat wieder keine Schuhe! Kaum wurden sie ihm zurückgebracht, hat die Miliz sie beschlagnahmt und in Irkutsk behalten. Er verlangt, daß ich das Wirtschaftsministerium in Moskau anrufen lasse, damit er sich beschweren kann. Mit seiner Seife wäscht sich …«

»Breschnew nicht nur die Hände, sondern vermutlich auch …« Karsanow brach wütend ab.

»Ich hätte mir nie erlaubt, so etwas auch nur zu denken, Genosse Oberst!«

Mulanow setzte sich zu Milda aufs Bett; sie war etwas an die Wand gerutscht.

»Was soll ich tun?«

»Fragen Sie doch diesen Plotkin, der die Schuhe beschlagnahmt hat.«

»Das geht nicht! Er ist ja offiziell nicht im Zug …« Mulanow rieb sich verlegen die Hände. »Könnten Sie das nicht übernehmen?«

»Ich? Sind Sie verrückt, Boris Fedorowitsch? Ich bin ein Reisender – wie alle anderen! Mich gibt es offiziell auch nicht! Das ist keine Amts-, sondern eine Zivilreise. Ich bitte, diese Diskretion zu wahren.«

»Das haben Sie gut gesagt, Pal Viktorowitsch.« Forster lächelte ihn an. »Wenn ich sie richtig verstanden habe, reisen Sie als Privatmann und nicht als Oberst des KGB.«

»Ich bin immer im Dienst!« bellte Karsanow zurück.

»Dann ersuche ich Sie, sich um den Genossen Skamejkin zu kümmern, Genosse Oberst«, hakte Mulanow sofort ein.

Die Sache mit den Schuhen hatte nämlich einen Haken.

Skamejkin hatte gar nicht daran gedacht, sich zu beschweren. Er hatte resigniert, hatte wieder auf seiner Bank gesessen und die viel zu weiten, geliehenen Schuhe getragen. Still hatte er philosophiert und über sein ungeheures Schicksal nachgedacht.

Da setzte sich Mulanow zu ihm, betrachtete mitleidsvoll die alten Schuhe und begann:

»Man braucht sich doch eigentlich eine solche Behandlung nicht gefallen zu lassen, Genosse! Wer sind Sie denn? Und wo leben wir? Sie sind ein ehrbarer Parteigenosse, mit dessen Seife sich sogar … Na ja, und wir leben in einem Staat, in dem Gerechtigkeit an jede Hauswand gemalt ist. Aber was tut man Ihnen? Man beraubt Sie zweimal Ihrer Schuhe! Das letztemal sogar amtlich! Ich würde es den Beamten geben …«

Dementi Michailowitsch Skamejkin hatte dieser Rede mit wachsender Unruhe zugehört. »Sie sind ein wahrer Freund«, sagte er ergriffen zu Mulanow, als dieser schwieg. Er konnte ja nicht ahnen, daß der Schaffner diesen Dorn nur deshalb in seine Seele stach, um Milda wieder für einige Stunden vor Karsanow zu retten. Der Morgen würde schrecklich für sie werden, hatte Mulanow ganz richtig kombiniert. Und jetzt haben wir keine Klaschka mehr, die immer einen Ausweg wußte …

Wie sie das vor zwei Tagen geschafft hat! Stellt sich vor Karsanow hin und beginnt sich auszuziehen. Das war eine Leistung! Gute Klaschka!

Hinter ihr konnte man sich sicher fühlen wie hinter einem Felsen. Nun liegt sie im Abort Nummer fünf, unter dem eingeschlagenen Fenster, steif gefroren und in die Kehle gestochen.

»Was soll ich tun?« fragte Skamejkin erregt. »Meine Schuhe sind in Irkutsk geblieben! Soll ich verlangen, daß man sie mir nach Tschita fliegt und dort wieder übergibt?«

»Tschita ist zu nah, das schaffen sie nicht!« hatte Mulanow geantwortet.

Das war eine wunderschöne verrückte Idee: die Schuhe per Flugzeug abliefern! Damit konnte man Karsanow beschäftigen, das würde ihn aus der Fassung bringen.

»Aber Chabarowsk, das können Sie verlangen! Fordern Sie, daß man Ihnen die Schuhe nach Chabarowsk fliegt! Ihre Idee ist würdig eines freien Bürgers, Dementi Michailowitsch …«

Skamejkin kam in Fahrt. Er sprang auf und hielt in seinem Großabteil einen Vortrag über Menschenwürde.

Er erntete Klatschen und Hochrufe. Das feuerte ihn noch mehr an. Von nun an ging er auf Strümpfen, die geliehenen menschenunwürdigen Schuhe wollte er mit Verachtung strafen. So hatte er verkündet, und nun machte er sich auf den Weg zum Funkraum.

Er klopfte so lange, bis Wladlen Ifanowitsch herauskam und schnell die Tür hinter sich zudrückte. Man hätte sonst Hauptmann Plotkin sehen können.

»Sind Sie krank?« brüllte Wladlen mit seiner hohen Stimme.

Skamejkin nickte.

»Wen wundert das noch? Auf Socken durch Sibirien! Hat es das jemals schon gegeben, ha? Man muß ja dabei krank werden bis ins Mark! Aber ich bin noch nicht krank … ich verlange ein sofortiges Gespräch mit dem Chef der Staatsanwaltschaft von Irkutsk! Ich will, daß meine Schuhe nach Chabarowsk nachgeflogen werden …«

Wladlen schlüpfte schnell wieder in den Funkraum und lehnte sich gegen die Tür.

»Haben Sie das gehört?« fragte er leise Plotkin, der unter einer Wolldecke auf der Bank lag.

»Natürlich!« Plotkin kratzte sich zur Abwechslung die Brusthaare und nicht den Haaransatz seines Schädels. »Treten Sie ihn in den Arsch!«

»Das verstößt gegen die Transportbestimmungen. Der Genosse Skamejkin besitzt eine gültige Fahrkarte.«

Von außen hämmerte der wild gewordene Skamejkin gegen die Tür und brüllte dabei Worte, die sich selbst für einen Seifenfabrikanten nicht gehören.

»Er darf mich nicht sehen!« befahl Plotkin. »Er würde es weitererzählen, und der Mörder wäre gewarnt. Es würde unseren ganzen Plan zerstören. Bringen Sie ihn zur Ruhe!«

Das war leicht gesagt.

Wladlen schlüpfte von neuem auf den Flur und drückte Skamejkin gegen die Wand. Das war ein Fehler, denn Dementi Michailowitsch heulte schauerlich auf.

»Ha! Sie fassen mich an!« kreischte er. »Ein sowjetischer Bahnbeamter belästigt einen harmlosen Reisenden! Zu Hilfe! Zu Hilfe! Hier reißen tatarische Sitten ein!«

So weit war Skamejkins Aufhetzung gediehen, als Mulanow scheinheilig Karsanow um Hilfe ersuchte.

Als nun auch noch der Zugführer Vitali Diogenowitsch erschien, um Mulanow zu Hilfe zu holen, damit dieser Skamejkin wegen Zerstörung von Staatsbahneigentum verhafte – Skamejkin hatte nämlich unterdessen Wladlen zwei Knöpfe von der Uniformjacke gerissen –, verlor Karsanow die Beherrschung.

»Ich werde Ordnung schaffen!« schrie er und sprang auf.

Forsters verhaltenes Grinsen provozierte ihn noch mehr.

»Das geht rasch! Und dann zu Ihnen, Werner Antonowitsch und der angeblichen Hure Milda Tichonowna! Rechnen Sie damit, daß ich Sie in Tschita aus dem Zug holen lasse …«

Er rannte hinaus, Vitali, der den Weg frei hielt, hinterher.

Es war die Zeit, wo alles zum Speisewagen strömte oder in den Gängen herumstand und diskutierte. Heute ging es um die Frage, ob solche Streitereien im Transsibirien-Expreß üblich waren oder ob gerade dieser Zug eine böse Ausnahme bildete.

»He! Wo ist Klaschka geblieben?« rief ein Mann. Es war ein dicker Mensch mit einem roten Gesicht, der so aussah, als könne er Klaschka bezahlen. »Wer hat sie sich denn für vierundzwanzig Stunden gekauft? Das sind kapitalistische Manieren!«

»Klaschka ist in Irkutsk ausgestiegen«, sagte Vitali geistesgegenwärtig.

Es war das erstemal, daß jemand Klaschka vermißte.

»Warum fragen Sie?« fuhr Vitali fort. »Schreiben Sie eine Karte an Klaschka, postlagernd Moskau römisch eins.«

»Das war gut«, sagte Karsanow lobend und klopfte Vitali auf den Rücken. »Das war eine schnelle Reaktion!«

Von weitem hörten sie Skamejkin brüllen. Sie beschleunigten ihre Schritte.

Mulanow hatte unterdessen Forsters Angebot angenommen und den Rest des Kognaks ausgetrunken. Wann kann sich ein armer Schaffner schon einen solchen Grusinischen leisten? Ein ordinäres Wässerchen ab und zu, ein saures Bierchen … aber so ein Kognak steht für einen Mulanow nur zur Ansicht im Fenster der Kaufhäuser.

»Lange kann man ihn nicht mehr ablenken«, sagte Mulanow mit echter Sorge. Er legte Milda die Hand auf die angezogenen Knie und blickte sie wie ein richtiger Vater an. »Töchterchen, verbirg nichts mehr vor uns: kann Pal Viktorowitsch dir gefährlich werden?«

»Ja.« Sie legte den Kopf zurück an die Wand und starrte gegen die gewölbte Waggondecke. »Ich werde in Ulan-Ude aussteigen.«

»Daran wird Karsanow auch denken und rechtzeitig wieder zur Stelle sein.«

»Dann werde ich mich aus dem Zug stürzen!« Sie sagte es ganz ruhig, beinahe nebensächlich. Aber Forster und Mulanow wußten, daß sie es ernst meinte.

»Wenn einer aus dem Zug stürzt, ist es Karsanow!« sagte Forster hart.

Der Schaffner Mulanow wedelte entsetzt mit den Händen.

»Ich habe mit einem Mord genug!« rief er. »Diesen Zug soll der Teufel holen! Wie oft bin ich diese Strecke gefahren, hinauf und herunter, und nichts geschah! Alles war friedlich, ja, sogar langweilig! Immer normale Menschen! Aber dieser Zug? Nur Abnormitäten! Ein ganzer Zug voller Monster! Werner Antonowitsch, ich müßte Sie jetzt eigentlich anzeigen: Sie haben eine Mordabsicht an einem sowjetischen Obersten bekundet! Es wäre also meine Pflicht als Beamter …«

»Es ist aber auch Ihre Pflicht, ein Mädchen wie Milda zu beschützen.«

»Was tue ich denn seit drei Tagen anderes? Aber jetzt scheint sich die Lage zuzuspitzen. Milda, Töchterchen … nun sag doch etwas! Erzähle, was mit dir ist! Nur wenn wir die Wahrheit wissen, können wir dir helfen! Ich bin dein Freund … und der Deutsche liebt dich sogar …«

Milda senkte den Kopf. Ihre großen Augen, die ihr Gesicht beherrschten, wurden dunkel.

Sie blickte Werner Forster an … mit einem Blick, scheu und dankbar, und tief im Untergrund mit der Antwort: »Ich liebe dich auch. Aber wie sinnlos ist das alles …«

Forster beugte sich vor und ergriff ihre schmalen Hände. Wie Karsanow festgestellt hatte: Es waren nicht die Hände einer Dirne, weich und gepflegt, es waren schwielige Hände, Bauernhände; kleine bleiche Hände, die man gezwungen hatte, harte Männerarbeit zu leisten.

Über Mildas Gesicht lief ein Zucken.

Sie wollte Forster mit einem Ruck ihre Finger entziehen, aber er hielt sie mit eisernem Griff fest.

»Karsanow wird dich nicht verhaften …« sagte er eindringlich.

Woher er diese feste Überzeugung in dieser Minute nahm, wußte er nicht zu erklären.

»Krieche aus deinem Panzer heraus! Wer bist du, fremdes Mädchen? Milda, die Unbekannte von Swerdlowsk?«

Sie atmete tief auf, und ihre Stimme war plötzlich so klar, daß sie völlig fremd klang und merkwürdig kraftvoll.

»Ich habe einen Mann getötet«, sagte Milda Tichonowna. »Mit einer Axt habe ich ihm den Schädel gespalten. Er hatte es verdient …«