Am nächsten Tag

Behände und eifrig habe ich Knoten geknüpft, Haken eingefädelt und auch sonst allerlei Dinge getan, auf die ich vor wenigen Wochen noch nicht sehr stolz gewesen wäre. Nein, beschämt hätte ich mich selbst von guten Freunden abgewandt, wenn sie mir zu verstehen gegeben hätten, dass sie genau das zu tun beabsichtigen, was ich gerade tat. Gunki hatte bei einem seiner Surfausflüge eine Bucht ausgemacht, von der er meinte, ich könnte dort zu einem Fischer von Weltrang werden. Ich habe also meine neue und meine alte Angel (die hatte ich selbstverständlich aus Wien mitgenommen, ein sagenhaft trashiges Produkt, auf Amazon bestellt) in den Rucksack gepackt, dazu einen Plastikkoffer mit meinem neuen Spielzeug, und bin den Strand entlanggegangen auf der Suche nach Petris Heil und Fischs Verderben. Weil ich mich doch ein wenig geniert habe, habe ich mich bemüht, möglichst unauffällig zu wirken. Unter durchtrainierten Surfboys in Neopren-Anzügen fällt man aber doch auf, wenn man über dem Bierbauch ein Hemd trägt, darüber eine Regenjacke (wer weift, das Wetter könnte Umschlägen) und am Rücken einen voll gepackten Rucksack, aus dem alle paar Meter eine Angel kippt, weil er dafür einfach zu klein ist.

Sehr peinlich berührt bin ich also etliche Hundert Meter an Hundertschaften von Surfern vorbeigeschlichen. Schließlich kam ich zu einer Landzunge, hinter der die Bucht der Fische liegen sollte. Dummerweise war es eine sehr hohe und sehr felsige Landzunge. Freilich, ich hätte sie umschwimmen können — wäre sie nicht viel zu lang gewesen und wäre ich nicht ein viel zu schlechter Schwimmer. Auch mein Outfit als stilbewusster Buchhalter machte klar, dass ich hier nicht den Rettungsschwimmer von Malibu geben würde. Links das Meer, vor mir die Landzunge und rechts ein fast senkrecht aufragender Felsen, der von Disteln überwuchert ist. Okay, wir haben ein Problem, Houston. Zurückzutrotten und den Beachboys und Surfern, die mit einem hämischen Grinsen wahrscheinlich genau darauf warteten, dass ich ihnen den Triumph des Tages beschere, kam gar nicht infrage. Also habe ich mich versichert, dass die Angeln einigermaßen im Rucksack verzurrt sind, und habe mich an die Erstbesteigung gemacht.

Habe ich erwähnt, dass ich nicht schwindelfrei bin? Ich wurde nach sieben, acht Metern, die ich auf allen Vieren bewältigt habe, sehr direkt daran erinnert. Der Blick hinunter machte mich sicher: Da komme ich nicht mehr runter. Nach oben waren es aber auch noch zirka zehn Meter. Blöd. Die Füße in Gummisandalen, die Hände in Grasbüschel gekrallt (jaaa, es gab da ein paar, unter den Disteln) hockte ich in meinem nicht mehr sehr weißen Hemd, Hände und Füße zerstochen, unter der Regenjacke, die ich aus Gründen angezogen hatte, die mir nicht mehr einfallen wollen, völlig verschwitzt in der Mitte eines Felsens und malte mir die Schlagzeile aus: »Deutscher Tourist überschätzt seine Fähigkeiten (Stichwort >falsches Schuhwerk<) und stürzt von Felsen«. Nein, das wollte ich nicht. Also musste ich weiter, weiter nach oben. Der Berg ruft, auch wenn er ein kleiner ist.

Ich habe noch nie so bewusst und konzentriert darauf geachtet, wo ich meine Füße hinsetze, weil ich bei jedem Schritt (genauer, bei jedem Schritt meiner Hinterfüße — ich ging ja auf allen Vieren) damit rechnen musste, auf den Strand hinunterzustürzen und von meinen eigenen Angeln aufgespießt zu werden. Kein würdiges Ende. Also weiter, Schritt für Schritt. Besser Disteln im Fleisch als den Abgrund vor Augen. Und beides besser als der freie Fall. Gott sei Dank konnte ich mir selbst nicht zuschauen — ich hätte mich sehr für mich geniert, ich hätte geleugnet, mich zu kennen.

Einige Disteln und scharfe Felskanten später war es vollbracht — ich war oben! Oben, wo die Freiheit lacht, wo sich die Natur von ihrer schönsten Seite zeigte, wo der endlose Fels in eine saftige Kuhweide überging, die von einem Elektrozaun umzäunt war. Das ist jetzt aber blöd. Hinter mir der Abgrund, vor mir ein Elektrozaun, hinter dem bestimmt ein aggressiver und ausländerfeindlicher Stier lauert, der sich gerade nur sehr gut versteckt hat, und ich stehe auf einem zirka fünfzig Zentimeter breiten Grasstreifen. In Gummisandalen, in einem weißen Hemd, Shorts und mit einem Rucksack, aus dem Angelruten ragen, weil sie zu lange sind. Absteigen kam nicht infrage, zumindest nicht sehenden Auges. Mit geschlossenen Augen hätte ich mich eher getraut, das wäre aber auch nicht sehr vernünftig gewesen. Bin ich also mit dem Rucksack und den herausstehenden Angeln unter dem Elektrozaun durchgerobbt. Auch wenn ich mich wiederhole: sehr peinlich.

Eine Weide, wie man sie sich vorstellt, nur vielleicht nicht an einem Strand in Spanien: Gras und Kuhfladen (da jetzt bloß nicht reinsteigen, nicht in Sandalen). Der Stier und seine Frauen waren gottlob nicht daheim. Vielleicht auf einer anderen Weide, bei Freunden zu Gast, was weiß man? Am Ende der Weide konnte ich feststellen, dass die Rückseite der Landzunge nicht sanft abfiel, sondern mindestens genauso steil war wie mein Anreiseweg, dafür aber doppelt so hoch. So ein Pech, heute funktioniert aber auch gar nichts. Ich entschied mich für den Weg querfeldein über die Kuhweide und kam nach nicht einmal einer Stunde zu einer Bucht, wo Einheimische ihre obszön langen Angeberruten zum sogenannten Brandungsfischen in den Sand gesteckt hatten. Das sah ich zumindest von oben. Von der fünfzig Meter hohen Klippe, auf der ich jetzt nämlich stand. Wieso und warum mich mein Weg über die Weide ausgerechnet hierher geführt hatte, ich weiß es nicht. Aber ich war plötzlich sehr müde. Also, same procedure as every year, weiter querfeldein und siehe da — nach einer weiteren halben Stunde habe ich dann tatsächlich einen Weg nach unten gefunden.

War es ein demütigendes Schauspiel gewesen, an den Surfern vorbeizugehen, so war der Weg an den einheimischen Langruten vorbei ein Canossagang. Was rede ich, ein Spießrutenlauf. Fürchterlich. Ich mit meinen lächerlich kurzen Angelruten (die nur lang genug waren, um alle paar Meter aus dem Rucksack zu kippen), völlig overdressed, aber gut zerstochen, zerschürft und verschwitzt und der Sprache nicht mächtig, in der mich die erfahrenen Fischer wahrscheinlich gerade schmähten und ein blutiges Greenhorn hießen. Und zu Recht auch noch.

Weil ich mich nicht an die Seite der Langruten traute, suchte ich mir am äußersten Ende der Bucht einen, wie ich meinte, unauffälligen und bescheidenen Felsen, auf den ich mich kauerte. Ich begann, mein Jagdwerkzeug auszupacken und scharf zu machen. Bei der Gelegenheit fiel mir die erste Angel ins Wasser. Die Angel, nicht der Haken mit der Schnur (das wäre noch vertretbar gewesen). Also runter vom Felsen, Angel bergen — patschnass (eine Sturzwelle hat sich erbötig gemacht, mich gewissenhaft von oben bis unten zu durchnässen). Macht nichts, Angel noch einmal auswerfen, diesmal Haken und Schnur (man nennt das aber trotzdem »Angel auswerfen«). Immerhin zwei bis drei Meter weit, nicht so schlecht bei dem Wind.

Nach einer Minute etwa spüre ich Widerstand. Aha, mein erstes schuppiges Opfer. Alles wird gut. Also versuche ich, das Ganze einzukurbeln, und stelle fest, dass der Fisch entweder sehr viel größer ist als ich oder dass ich den Haken einem Felsen ins Fleisch getrieben habe. Letzteres stellte sich hurtig als richtig heraus. Da hilft nur eins — Schnur kappen. Jetzt ist eine ganze Menge wertvoller Nippes aus der Angelabteilung für immer verloren (Haken, Ösen, Karabiner, Schwimmer usw.). Wie ärgerlich.

Noch einmal von vorne: Haken aus der Box fischen, Karabiner, einen zweiten Schwimmer habe ich nicht, alles verknoten und nach kaum zwanzig Minuten geht es schon wieder weiter. Auswurf: rund zehn Meter, immerhin, ich steigere mich. Ich hole eine gewaltige Alge an Land und überlege, ob es Zufall ist, dass man den Bakterien verseuchten Schleim, den Lungenkranke ausspucken, auch »Auswurf« nennt. Ich bin nicht unzufrieden, aber meine Erwartungen dürfen nicht als erfüllt gelten. Noch einmal, noch eine Alge. Eine noch größere. Runter vom Felsen, den Wirrwarr aus Schnur, Algen und Haken lösen. Da macht sich eine weitere Welle auf den Weg zu mir. Während ich groß schaue und zu einem Fluch ansetze, hat sie mich schon erwischt. Sie schmeckt salzig. Ein wenig nach Fisch.

Jetzt packe ich meine Sachen und mache mich auf, ich will nach Hause. Nicht dass ich das Gefühl habe, völlig versagt zu haben, aber als ich an den Langruten vorbeigehe, will mir der selbstsichere Ausdruck des Anglerglücks nicht so recht gelingen. Die Einheimischen schauen mitleidig. Warum können sie nicht wenigstens hämisch grinsen? Wäre mir lieber als Mitleid.

Nach einem Kombinationslauf über Weiden und Felsen und eine weitere Weide stehe ich auf einem sumpfartigen Stück Erde. Das liegt daran, dass es ein Sumpf ist. Das merkt man zum Beispiel daran, dass das rechte Bein bis zum Knie in einer braun-schwarzen Sauce eingesunken ist. Ich kann es zwar gerade noch herausziehen, die Gummisandale bleibt aber stecken. Ich denke »Scheiße«, greife beherzt in die Sauce und finde nach wenigen Minuten den fehlenden Teil meines Schuhwerks. Der Geruch macht mich sicher: Das IST Scheiße! Die von Kühen nämlich. Was soll’s, ein kleines Missgeschick. Solange alles andere klappt.

In Wahrheit möchte ich heulen. Allein die Vorstellung, von Fremden dabei beobachtet zu werden, wie ich in kurzen Hosen und weißem Hemd auf einer spanischen Alm stehe, das rechte Bein und der rechte Arm voller Morast und Kuhscheiße, einen Rucksack mit herauskippenden Angeln am Rücken, hält mich von einem spontanen Nervenzusammenbruch ab.

So, was jetzt? Solange kein spontanes Gewitter über mich hereinbricht (in dieser Gegend von Spanien soll das Wetter innerhalb von Minuten Umschlägen)... Selbstverständlich vernehme ich in der Sekunde Donner und mache erste dunkle Wolken aus. Immerhin habe ich jetzt schon auf einer Körperhälfte eine gute Farbe bekommen. Ich bin rechts von brauner Scheiße bedeckt.

Und ich fühle mich sehr müde.

Nach etlichen Elektrozäunen und Disteln erreiche ich irgendwann den Strand und versuche, mich unauffällig im Meer zu waschen. Just in dem Moment kommt Gunki. Er hat mehr als genug Zeit gehabt, Wellen zu reiten, und, nein, ich habe keine Fische gefangen. Ist auch nicht so wichtig. Rauchen wir eine, trinken wir ein Bier. Bitte jetzt. Ich fühle mich müde. Müde und klein. Wenigstens lacht Gunki nicht. Ein wahrer Freund.