„The coldest winter I ever spent was a summer in San Francisco.“

OLIVER HENRY, AMERIKANISCHER SCHRIFTSTELLER

August
The German Loop

Dicke Regentropfen perlen am Wohnzimmerfenster herab. Sie rinnen bis auf das Sims und hinterlassen dort eine kleine Pfütze. Ich sitze an meinem Lieblingsplatz unserer WG: dem großen, alten Esstisch. Vor mir eine Tasse dampfenden tiefschwarzen Kaffees der Blue Bottle Coffee Company, einer Kaffee-Institution in der Bay Area. Ich warte auf eine Regenpause und muss dringend ein paar andere Besorgungen machen. „Running a few errands“, wie die Amerikaner das nennen. Doch seit zwei Tagen pfeift der Wind ums Haus, und die Fenster klappern im Takt der Sturmböen. Es ist nebelig und kühl. Alle paar Minuten ertönt das beruhigende Tuten des Nebelhorns in der Ferne, und vor dem Fenster ziehen weitere unheilvolle Wolken von der Bucht vorbei, die neuen Regen ankündigen. Ich wusste ja, dass der Sommer in San Francisco nebelig wird. Regen aber habe ich nicht erwartet, und der ist für diese Jahreszeit auch vollkommen untypisch. Einen entscheidenden Vorteil hat das Wetter allerdings: viel Zeit für unsere Start-up-Pläne mit Healthquestion.

Im Juni hatte Vijay mich gefragt, ob ich mit ihm gemeinsam Healthquestion aufbauen möchte, ich hatte zugesagt, und nun schreiben wir am Businessplan. Aufgrund meiner vielen Kontakte zu Ärztekammern, Versicherungen und Patienten kümmere ich mich um das Vermarktungskonzept. Eigentlich wollte ich heute potenzielle Partner anschreiben und mit Vijay das neue Layout der Website besprechen. Auch hatte ich mir bereits seit Tagen vorgenommen, zu überlegen, wie die unterschiedlichen Angebote für Versicherungspartner, Ärzte- und Patientengruppen aussehen könnten. So weit die Theorie. Praktisch sieht es jedoch so aus: Ich setze mich an mein MacBook, drücke auf „Start“ und denke an Nick. Wer glaubt, dass kalifornische Männer leicht zu handhaben sind, hat sich mächtig geschnitten. Seit unserem nächtlichen Streit hat sich die Harmonie verabschiedet. Und viel schlimmer noch: Nick hat zum Gegenschlag angesetzt, er entdeckte seine Liebe für das Klettern wieder und fährt am Wochenende mit seinen Kumpels in die Kletterhalle Mission Cliffs oder an die Felshänge des Mount Shasta außerhalb von San Francisco. Unsere Beziehung – wenn man es überhaupt so nennen kann – plätschert vor sich hin, wirklich optimistisch bin ich nicht. Doch anstatt mich damit auseinanderzusetzen, fahre ich lieber die Verdrängungsstrategie. Ganz bestimmt wird schon wieder alles gut – schließlich habe ich doch in den USA gelernt, die Dinge möglichst positiv zu sehen.

„How is it going?“ Die Wohnzimmertür geht auf und Charles steht verschwitzt im Türrahmen. „Viel zu tun“, antworte ich knapp. Charles wirft seine Sporttasche im Flur auf den Boden. Ein leichter Schweißgeruch weht zu mir herüber, als er an mir vorbei in die Küche geht. Dort wirft er lautstark den Mixer an, um sich einen Eiweißdrink zuzubereiten. Die Proteinschleuder röhrt auf voller Lautstärke. „Ich hab heut Abend ein kleines Winetasting hier!“, ruft er. Dann ein klirrendes Geräusch. Kurze Pause. „Mmh, tasty“, schmatzt Charles. „Du bist natürlich herzlich eingeladen.“ – „Danke, das ist lieb, aber für heute bin ich raus. Ich habe noch so viel zu tun. Meine Familie kommt doch am Wochenende.“ – „Alles klar. Familie geht immer vor. Dann störe ich dich mal nicht weiter.“

Meine Mutter und meine Tante haben sich für einen Besuch angekündigt, und ich kann es kaum erwarten, die beiden hier zu empfangen. „Wenn du doch dazukommen magst, sehr gerne“, fügt Charles hinzu. „Vielen Dank – ich gebe dir Bescheid“, sage ich und hätte wirklich Lust. Dass Charles und ich uns einmal so gut verstehen würden, hätte ich bei unserer ersten Begegnung auf dem Hausdach nicht erwartet. Man kann meinen Mitbewohner als waschechten San-Francisco-Lebenskünstler bezeichnen – der zugegebenermaßen seinen Traum erfolgreich in die Tat umgesetzt hat. „Ich bin in der Bay Area aufgewachsen, aber dann mit achtzehn nach New York gegangen. Dort habe ich als DJ ein paar Jahre aufgelegt. Als es mir zu viel wurde, habe ich auf Koch umgeschult. Na ja, und schließlich lag das mit der Weincompany ziemlich nah – Weine haben mich schon immer fasziniert“, erzählte er mir kurz nach meinem Einzug bei unserem ersten gemeinsamen Abendessen. Solch ein sprunghafter Lebenslauf, wie Charles ihn hat, ist für viele Kalifornier völlig normal; im sich immer wieder neu erschaffenden San Francisco, das sich – wie Phönix aus der Asche – selbst aus der Misere zieht, sowieso. Vom Unternehmensberater zum Koch, vom Inhaber eines Friseursalons zum hippen Restaurantbesitzer oder vom Obdachlosen zum Schriftsteller und Papageien-Mann – kein Problem! Letzteres hat Mark Bittner, bekannt als der Parrot Man und Autor des Bestsellers „The Wild Parrots of Telegraph Hill“, eindrucksvoll bewiesen.

Die Tage bis zur Ankunft meiner Familie vergehen schnell. Fast zu schnell. Denn als mir Samstagnachmittag bewusst wird, dass sie heute Abend eintreffen, ist unser Kühlschrank komplett leer. Auch mental bin ich noch nicht so wirklich für Mom und Tante Rita gerüstet, obwohl die beiden mich bereits seit Wochen auf ihre Ankunft vorbereiten. Mit Mails, Anrufen und SMS haben sie mich mit ihren Fragen zur bevorstehenden Kalifornienreise gelöchert. Mein Vater sagte, dass die beiden über gar nichts anderes mehr sprechen würden.

Nachdem ich den ganzen Samstag damit verbracht habe, Betten zu beziehen, zu putzen und aufzuräumen, klingelt es. Durch den kleinen Bildschirm unserer Türanlage sehe ich das aufgeregte Gesicht meiner Mutter. Dahinter Tante Rita, die wild-fuchtelnd mit der Kamera in der Hand vor dem Zaun hin- und herrennt. Und dahinter ein phänomenaler Blick auf die Bucht von San Francisco. „Hallo, Schatzi, wir sind es. Machst du uns auf?“ Voll bepackt stehen die beiden ein paar Minuten später in der Wohnungstür. „Anscheinend ist euer Aufzug kaputt“, hechelt mir Tante Rita entgegen. Wir mussten ... puuuuh …“, sie stöhnt, „… alle Koffer hochschleppen.“ Gut möglich, dass der Aufzug mal wieder versagt, die Bauweise und Funktionalität der Häuser in der Stadt entspricht eher den Standards aus den Sechzigerjahren. Charles scherzt hin und wieder, viele Vermieter würden mit der Renovierung lieber bis zum nächsten Erdbeben warten – dann würde es sich wenigstens lohnen. Ich nehme die schweren Koffer und Taschen in Empfang. Über Ritas kräftigem Busen wippt die große neue Spiegelreflexkamera. Rita lächelt glücklich und schließt mich in ihre Arme. Dann ist meine Mutter dran, ich verberge meine Nase in ihren Haaren und rieche Heimat, unser Haus und ihr Shampoo. Ich drücke ihr einen dicken Kuss auf die Wange.

„Kommt rein. Schön, dass ihr da seid.“ Am liebsten würde ich anfangen zu weinen. Es tut so gut, endlich einmal wieder mit Menschen zusammen zu sein, mit denen ich mein ganzes Leben lang schon eng verbunden bin, mit denen ich viele Erlebnisse und Stunden geteilt habe und deren Reaktionen und Verhaltensweisen ich fast sekundengenau voraussagen kann. So wie jetzt. Kaum hat Rita ihren Fuß in der Tür, inspiziert sie schon kritisch den Türrahmen, klopft gegen die Wand und behauptet, diese Bauweise dürfe so eigentlich nicht zugelassen werden – wenn das ein deutscher Bauherr sähe ... Meine Mutter hingegen schaut mich nur an, und fast ein bisschen vorwurfsvoll bemerkt sie: „Kind, du siehst ja soo amerikanisch aus – fein geschminkt und sogar die Nägel gemacht. Aber dich aus dem Jogginganzug zu pellen, das hast du wohl nicht mehr geschafft.“ Ein schneller Blick in den Spiegel, und ich gebe ihr recht. „Sorry, ich habe in der Putzeuphorie komplett vergessen, mich umzuziehen“, antworte ich, doch da strömen Rita und Mom (irgendwie hatte ich mir von Charles das amerikanische „Mom“ abgeguckt) auch schon durch die Wohnung wie Ameisen bei der Arbeit, rufen „ah“ und „oh“ und „och – wie schön“ und verteilen innerhalb kürzester Zeit ihre Habseligkeiten in meinen vier Wänden auf den Hügeln San Franciscos.

„Hanni, jetzt hab ich es ganz vergessen.“ – „Was denn?“ – „Wir haben dir doch noch etwas mitgebracht. Du kriegst doch hier bestimmt nur Pommes und Burger.“ Meine Mutter breitet ihre Mitbringsel aus: ein Paket Schwarzbrot, eine Tüte Gummibärchen, hauseigene Himbeermarmelade, zwei Packungen Kekse und die Zeitschrift BUNTE. „Lediglich die hausgemachte Leberwurst von Peters Schweinen durften wir nicht einführen“, sagt sie leidvoll. Ich bin allerdings ganz froh darüber, denn dieser grobstückigen Wurst meines Onkels konnte ich noch nie etwas abgewinnen.

Nun also Familienglück: Ein paar gemeinsame Tage haben wir in San Francisco, dann gehen die beiden alleine auf Tour. Genauer gesagt, sie reisen auf den Spuren ihrer deutschen Landsleute, dem German Loop. Damit bezeichnen die Amerikaner die klassische Reiseroute der Deutschen entlang der amerikanischen Westküste, die mit ihren Stationen in Nord- und Südkalifornien und den Highlights von Nevada der Form eines Kringels sehr nahekommt. Für heute allerdings fällt mein Besuch nach der anstrengenden Anreise und einer Flasche Rotwein, die Charles uns noch kredenzt hat, schon um zehn Uhr ins Bett. Wenig später schließe ich mich an und mache es mir, so gut es eben geht, auf Charles Luftmatratze im Wohnzimmer gemütlich.

Mitten in der Nacht werde ich von lauten Geräuschen geweckt. Schlaftrunken schlüpfe ich in meine Hausschuhe, ziehe mir einen Pulli über und schlurfe in mein Zimmer. Da sitzen Rita und Mom zwischen ihren Koffern und Klamotten und gackern vor sich hin. „Oh, Herzchen, waren wir zu laut? Deine Mutter hat aber auch so ein Organ.“ Typisch Rita, das macht sie gerne, die Schuld auf andere schieben. „Wir konnten nicht mehr schlafen und haben uns ein bisschen sortiert“, ergänzt Mom. „Leise seid ihr nicht gerade!“ Dann fällt mein Blick auf den farbenfrohen Klamottenberg, der sich zwischen den beiden auftürmt: leichte Sommer-Shirts, kurze Hosen, ein paar Röcke. „Mom, sind die paar Kleidchen alles, was ihr dabei habt?“ Rita mustert gewissenhaft die Naht eines lachsfarbenen Rocks. „Na ja, so gut wie. Es ist doch Sommer“, entgegnet meine Mutter. Und zu Rita gewandt: „Du, bei dem hier scheint sich die Naht aufzulösen. Noch ein Grund mehr, dass wir in eine dieser Shopping-Malls fahren.“

Wenn das Wetter nicht mitspielt, dürften die beiden sogar gezwungen sein, sich in den Shopping-Malls mit ein paar warmen Pullis einzudecken. Habe ich ihnen nicht gesagt, dass San Francisco die niedrigste sommerliche Durchschnittstemperatur aller amerikanischen Städte außerhalb Alaskas hat? „Ihr könnt froh sein, dass ihr nur ein paar Tage in San Francisco verbringt, denn hier gilt das Zwiebelprinzip.“ Sie hatten mich nach allem gefragt: ob sie mit Traveller-Schecks zahlen können (ja), ob sie mit ihrem Führerschein in Kalifornien fahren dürfen (ja), ob Rita im Meer schwimmen könne (besser nicht). Aber welche Temperaturen hier durchschnittlich herrschen, das ist ihnen anscheinend entgangen. In San Francisco herrscht eben nicht jenes milde und warme Klima, das die Deutschen aus Los Angeles oder San Diego gewohnt sind. Weil San Francisco von fast von allen Seiten vom Meer umgeben ist und immer ein ordentlicher Westwind weht, ist die Stadt konstant mit einer kühlen Brise gesegnet. Sobald die Sonne verschwindet, kann es sehr kühl werden, und obwohl San Francisco klein ist, können die Temperaturen in unterschiedlichen Stadtteilen stark variieren. In den westlichen, flach gelegenen Vierteln wie Sunset und Richmond liegt oft dichter Nebel. Fog City ist hier eine weitaus trefflichere Beschreibung, als es für die östlicheren Teile in Noe Valley, Castro und Mission der Fall ist, in denen es auch immer ein paar Grad wärmer ist.

„Fünf Uhr! Wollt ihr nicht wieder ins Bett gehen?“ Aber Rita und Mom sind viel zu fit, als dass sie sich wieder schlafen legen könnten. Fleißig sortieren sie weiter ihre Klamotten und studieren die auf dem Boden ausgebreitete Landkarte. „Wir planen gerade die Stationen unseres Kalifornien-Trips“, sagt Mom. „Okay, Ladys – das müsst ihr um diese Zeit ohne mich machen. Weckt mich gerne, wenn es hell wird, dann zeige ich euch die Stadt.“

Irgendwann werde ich vom Duft frischen Kaffees und dem Summen meiner Mutter geweckt. Draußen geht langsam die Sonne auf. Ein Blick auf den Wecker verrät: Es ist noch nicht einmal sieben Uhr. Doch ich raffe mich auf, schließlich habe ich nicht alle Tage hohen Besuch aus Deutschland. Außerdem könnte ich die Chance nutzen, die beiden zum Frühstück ins Mama’s am Washington Square einzuladen. Wenn man einen Tisch kriegen möchte, muss man Frühaufsteher sein – schon ab sieben Uhr morgens bilden sich dort lange Warteschlangen, so beliebt ist das Restaurant.

Unser halbstündiges Warten vor dem Mama’s lohnt sich allerdings. Eine der Spezialitäten des Restaurants ist das traditionelle Frühstücksgericht Dungeness Crab and Spinach Benedict, bestehend aus pochierten Eiern auf Brot mit Sauce Hollandaise, in Kombination mit frischem Spinat und Krabben. Danach geht es ab in die nähere Umgebung in North Beach. Wie von Mom gewünscht, machen wir uns am Nachmittag auf zum Lincoln Park und besuchen das Kunstmuseum Legion of the Honor im Westen San Franciscos. Immer ist es ein Kunstmuseum, das meine Mutter als Erstes besuchen möchte. Dadurch könne sie sofort die Seele einer Stadt erspüren, so ihre feste Überzeugung.

Mal sehen, ob das gelingt. Denn die Kunstszene San Franciscos drückt sich in einer Vielfalt von kulturellen Einflüssen und Farben aus. In den Galerien wie der Robert Koch Gallery oder der Jack Fischer Gallery im Theaterviertel entlang der Geary Street sind hochpreisige, moderne Kunstgegenstände zu finden. Auch in SoMa gibt es eine Vielzahl zeitgenössischer Kunstausstellungen, etwa die New Langton Arts oder die MM Galleries. Die Mission lockt hingegen mit solch ausgefallenen Angeboten wie Creativity Exploded, einer Galerie, die Werke von körperlich behinderten Künstlern ausstellt, oder Southern Exposure, einer gemeinnützigen Ausstellung, dank derer bereits einige junge Künstler entdeckt worden sind. Doch meine liebste Kunst ist die der Straße: In Chinatown finden sich in einer kleinen Seitenstraße zum Beispiel Street-Art-Malereien des bekannten Graffiti-Künstlers Banksy. In der Mission hingegen faszinieren mich immer die beeindruckenden Wandmalereien auf der Balmy Alley und Clarion Alley. Nicht zu vergessen die Lebenskunst der San Franciscans, die sich in der Art darstellt, wie Menschen sich kleiden, ihre Häuser gestalten und ihre Autos schmücken.

Legion of the Honor werdet ihr mögen! Es ist sehr europäisch, und ihr habt einen tollen Blick auf die Golden Gate Bridge“, bereite ich die zwei Damen vor. „Außerdem, Rita“, füge ich hinzu, „gibt es da sogar die Seerosen von Monet.“ – „Ach, wie wunderbar – die liebe ich doch so. Wie oft ich schon versucht habe, sie nachzumalen.“ Und wie oft ist sie damit kläglich gescheitert! Nach einer Tour durch die Schätze des eindrucksvollen Marmorpalastes und der Suche nach der Seele San Franciscos fahren wir weiter zum Point Lobos, dem Seelöwenpunkt. Rita, die mittlerweile friert, ist auffällig schweigsam geworden. „Gleich wird es wärmer. Im Cliff House bekommt ihr eine heiße Schokolade“, versuche ich, die Stimmung zu heben, doch ich ernte nur müde Blicke. „Und einen tollen Ausblick!“ Denn das Cliff House am Ocean Beach im Westen der Stadt eröffnet einen weiten Blick aufs blau schimmernde Meer und die Felsvorsprünge des Seal Rocks, auf dem die speckigen Seelöwen faulenzen. „Rita, Seelöwen sind doch sonst immer etwas für dich“, versuche ich sie zu ködern. Und siehe da: „Oh, herrlich. Das ist einer der schönsten Ausblicke! Toll, toll!“, schreit Rita uns ganz aufgeregt zu, nachdem sie statt einer heißen Schokolade doch lieber einen Kaffee mit Schuss bestellt hat. Innerhalb kürzester Zeit ist sie wieder aufgewärmt sowie gut gelaunt und hopst mit ihrer Kamera vor dem Panoramafenster herum.

Bis Dienstag sind Mom und Rita noch bei mir. Während ich im Büro arbeite, marschieren sie den Embarcadero entlang, die beliebten Landungsbrücken mit Blick auf die Bucht. Und während ich E-Mails schreibe, verfassen sie Postkarten im Ferry Building und genießen den Ausblick von der von Palmen und Restaurants gesäumten Promenade. Vor 1989 wäre das nicht möglich gewesen, denn bis zum Loma-Prieta-Erdbeben befand sich dort, wo das heutige Embarcadero verläuft, noch eine mehrspurige Autobahn. Nach der Katastrophe hat man die Zeit um mehrere Jahre zurückgedreht, und heute tuckern dort statt schneller Autos die nostalgischen Street Cars.

Das gesamte Embarcadero ist flach angelegt, und so laufen die beiden sogar bis zum Pier 39. Und abends erzählen sie begeistert von all den Snacks, die sie getestet haben: Clam Chowder und Dungeness Crab, chinesische Frühlingsrollen und Crab Louis Salad, Irish Coffee und chinesische Glückskekse. Lediglich die Clam Chowder, die bekannte dickflüssige Muschelsuppe, die in einem ausgehöhlten Laib Brot, dem Sourdough Bread, serviert wird, bekommt Rita nicht ganz, abends hängt sie über der Toilettenschüssel. Meine Mutter ist besorgt: „Eigentlich hat sie einen Saumagen. Aber vielleicht hätte sie nicht das komplette Brot essen sollen. Ich habe meines an die Möwen verfüttert.“ – „Morgen ist sie bestimmt wieder fit“, beruhige ich meine Mutter, und Charles verordnet Rita einen ordentlichen Digestif aus unserer Mini-Bar, den sie dankend annimmt.

Meine Familie – für ein paar Tage ein Stückchen Heimat in der Ferne! Doch am Mittwochmorgen verlassen die beiden San Francisco wieder, und kaum haben sie die Tür hinter sich zugezogen, vermisse ich sie bereits. Zu gerne hätte ich sie auf ihrem Trip begleitet, aber mein begrenzter amerikanischer Urlaub lässt das einfach nicht zu. Mit zwei Wochen im Jahr und zehn sogenannten sick days, die man in Anspruch nehmen darf, wenn man wegen einer Krankheit ans Bett gefesselt ist, muss ich genau überlegen, wann ich meine Urlaubstage einlöse. Auch Rita und Mom vermissen mich während ihres Trips. Regelmäßig erhalte ich Anrufe und E-Mail-Updates. „Eine unvergesslich schöne Tour“, bestätigt Mom schon nach drei Tagen am Telefon. Ihre Reiseroute geht von San Francisco aus Richtung Yosemite Nationalpark bis nach Las Vegas. Nach einem Abstecher in den beeindruckenden Grand Canyon National Park wollen sie weiter nach San Diego, um in Seaworld die Kunststücke der Delphine zu bestaunen. Auch Hollywood darf auf der Route nicht fehlen. In Los Angeles bleiben sie drei Tage und fahren danach die Küste wieder hinauf bis zu mir nach San Francisco. Auf dieser circa achtstündigen Strecke den Highway 1 entlang liegen sehenswerte Stopps in Santa Barbara, Big Sur, beim 17-Mile-Drive und Carmel-by-the-Sea. Das letzte Wochenende von Mom und Rita wollen wir dann mit einem gemeinsamen Tagesauflug in die nah gelegenen Weinanbaugebiete Sonoma und Napa Valley ausklingen lassen.

Nach ihrem Aufenthalt im Yosemite-Park erhalte ich Post: „Meine liebe Tochter,

am Sonntag haben wir uns auf unsere Sequoia-Tour begeben. Der gut dreißig Meter große Grizzly-Giant-Baum hat mich sehr beeindruckt. Er ist um die 2000 Jahre alt und sogar größer als die Freiheitsstatue. Rita hat ein bisschen Probleme mit der hohen Lage hier, denn der Park befindet sich circa 1800 Meter über dem Meeresspiegel, aber das ist wohl eine notwendige Bedingung für das Wachsen der Sequoias. Wie du auf dem Foto sehen kannst, ist Rita sehr angetan von den Bäumen. Sie ist bester Laune und scherzt, dass ihr immer noch die Clam Chowder quersitzt.

Bis bald in Sonoma, deine Mutter“ Und natürlich hat sie auch das übliche Zitat nicht vergessen. So machte sie es früher schon immer in ihren handgeschriebenen Briefen:

„No synonym for God is so perfect as Beauty (Kein Synonym für Gott ist so perfekt wie die Schönheit)!“

Mir gefällt das Zitat von John Muir fast besser als das zugegebenermaßen amüsante Bild von Rita, auf dem sie samt Brotstulle im Mund den Grizzly Giant Sequioa umarmt. Der Naturforscher John Muir gilt als „Vater der Nationalparks“, und er war derjenige, der den damaligen Präsidenten Theodor Roosevelt nach einer mehrtägigen Tour durch den Yosemite-Park von der enormen Bedeutung des Landschaftsschutzes und dem Aufbau der Nationalparks überzeugte. Wie viele Menschen wohl schon vor Rita den Baum so umarmt haben?

Während ich die Mail meiner Mutter lese, werde ich fast ein bisschen neidisch. Denn als ich im Frühjahr mit Sophia und Mari Carmen den Yosemite Nationalpark besuchte, lag so viel Schnee, dass wir einige der Redwoods gar nicht sehen konnten. Bereits im letzten Ort vor dem Parkeingang in Mariposa herrschte heftiges Schneewehen, und keine zwei Meilen weiter mussten wir Schneeketten kaufen. „Habt ihr eine Idee, wie man die Dinger aufspannt?“, fragte Mari Carmen. Nein, natürlich nicht. Drei Frauen im verschneiten Nationalpark! Es kostete uns zwei Stunden und die Finger waren uns fast abgefroren, bis wir die wichtigen Helfer montiert hatten. Den Rest des Ausflugs versuchten wir im meterhohen Schnee die Redwood-Bäume ausfindig zu machen und bibberten um die Wette.

Freitagabend: Komplett erschöpft von der Woche komme ich nach Hause. Mom und Rita sind weiter auf großer Tour, und ich habe die ganze Woche über viel Zeit mit Vijay verbracht. Während er die Website verbessert und mit Hilfe von Alex das Web-Design weiterentwickelt, stelle ich den Kontakt mit einigen Ärzten und Versicherungsgruppen her. Für heute steht gemeinsames Kochen mit Charles auf der Tagesordnung. „Sag mal, Sonntag wolltest du doch mit deiner Mom und deiner Tante nach Sonoma und Napa Valley, oder?“ – „Ja, ich hatte nur leider noch gar keine Zeit, ein paar gute Kellereien auszusuchen. Tante Rita hat am Sonntag auch noch Geburtstag.“ – „Ich kann euch gerne fahren und ein bisschen was zeigen. Das ist ja meine Welt“, bietet Charles an. „Wirklich? Das wäre total cool. Vielen Dank!“ Insgeheim habe ich zwar gehofft, Nick würde mitkommen, aber wieder mal ist er für ein Kletterwochenende ausgeflogen und anscheinend wenig darauf erpicht, meine Familie bei einer Tour durch rebenbedeckte Berge und einladende Weinkellereien kennenzulernen. Vor ein paar Tagen waren wir abends gemeinsam essen, doch er wirkte einsilbig und abgelenkt – irgendwie seltsam. Also muss Charles herhalten.

Ganz zur Freude von Rita, denn sie kann ihn sehr gut leiden. Am Sonntagmorgen quetschen meine Mom und ich uns auf die Rückbank von Charles schwarzem Mini, das Geburtstagskind steigt vorne ein. Meine Mutter und ich grinsen uns geheimnistuerisch an – schließlich steht Rita noch eine kleine Geburtstagsüberraschung bevor. Doch Rita ist auch ohne Überraschung schon völlig aus dem Häuschen und knipst aufgeregt ein Foto nach dem nächsten aus dem heruntergekurbelten Autofenster. „Wann wirst du bitte je wieder alle diese verwackelten Fotos von bunten Victorians anschauen?“, fragt Charles schmunzelnd, und Rita wirft ihm nur ein mildes Lächeln zu, während sie ihren Zeigefinger bereits wieder auf den Auslöser drückt. Die Stadt liegt hinter uns, und als wir gerade auf die mächtige Golden Gate Bridge auffahren, da stimmen Charles, Mom und ich an: „Happy birthday to you, happy birthday to you! Happy birthday, dear Rita …“ Rita strahlt übers ganze Gesicht. „Ach, ihr seid so süß!“ Meine Mutter zaubert einen kleinen Piccolo-Sekt aus ihrer Tasche, reicht ihn Rita und ruft: „To you, Rita!“ Die ist mächtig gerührt. Eine dicke Träne kullert über ihre Wange, während hinter ihr im Fenster die orangefarbenen Stahlseile der Brücke vorbeizischen. Am Nordende der Brücke biegt Charles rechts zum Vista Point ab, an dem wir gemeinsam mit Sekt anstoßen, Rita ihr Geburtstagsgeschenk überreichen und über die märchenhaften Hügel auf die Skyline von San Francisco blicken. „Ach, Schatz! Ich bin so froh, dass ich auf meine alten Tage so etwas noch einmal erleben darf“, schluchzt Rita gerührt, während sie zwischen Mom und mir steht und wir für ein Familienfoto vor Charles posieren. „Also, bitte! Mit 55 fängt das Leben doch gerade erst an“, ermahne ich Rita amüsiert, und Charles hält das Geburtstagsglück per Foto fest, bevor es weiter in Richtung des Weinanbaugebiets nordöstlich von San Francisco geht.

Nach einem Stopp auf dem idyllischen Silverado Trail im Napa Valley halten wir gegen Mittag an einem alten Weingut auf der Old Winery Road im beschaulichen Sonoma Valley. Auf der Terrasse genießen wir Oliven, Baguette und kalifornischen Rotwein. Und Charles gibt sich alle Mühe, den Wissensdurst von Tante Rita und meiner Mutter zu stillen. „This is a Californian Zinfandel. Can you taste the cinnamon and black pepper?“ – „Sun and moon and black papa?“ Rita ist etwas irritiert, die englischen Bezeichnungen für Zimt und Pfeffer sind ihr nicht geläufig. Aber nach dem dritten Glas Wein ist Rita das sowieso egal. Sie konzentriert sich vielmehr auf die Imitation der Schlürflaute, die Charles ihr als professioneller Sommelier beizubringen versucht. Abends kehren wir in einem urigen Lokal im Napa Valley ein, und Mom und Tante Rita erzählen vom Wein beflügelt von ihren Reiseerlebnissen mit Seerobben in San Francisco, Delphinen in San Diego und Rehen im Yosemite Nationalpark. Ich merke erst jetzt, wie Kalifornien-infiziert sie mittlerweile sind. „Wenn ich noch mal so jung wäre wie Hanni, ich würde es ganz genauso machen“, sagt Rita in brüchigem Englisch. „In Deutschland ist doch alles komplett durchreguliert. Kein Bleistift ohne DIN-Norm. Kein Fahrradfahrer ohne Helm. Und der Ladenschluss ist heilig“, fügt sie auf Deutsch hinzu. „Ja, genau. Und es herrscht so eine Art Lethargie des alten Europa“, ergänzt Mom. „Ja, deine Mutter. Als sie so alt war wie du, da wäre sie auch mit wehender Mähne und der Freiheit der Jugend über die Golden Gate Bridge gefahren“, sagt Rita. „She was a hot lady“, ergänzt sie dann in Richtung Charles.

Auf dem Weg nach Hause schlafen Rita und Mom glücklich und zufrieden auf dem Rücksitz. Ich bedanke mich bei Charles für den gelungenen Geburtstagsausflug. „Keine Ursache – sehr gerne. Wolltest du eigentlich nicht auch bald deinen Führerschein machen?“, fragt er beiläufig. Stimmt, seit Wochen schiebe ich die amerikanische Fahrprüfung auf. „Ja, die werde ich Anfang September machen“, nehme ich mir vor. Doch dann ruft Alex während der Autofahrt an und ich muss meine Pläne noch einmal verschieben.

Streifzug:
Zeigen Sie Ihren Besuchern entlegene Orte!

Ihre Besucher haben den German Loop hinter sich und wollen noch mehr sehen? Dann zeigen Sie ihren Gästen doch die weniger bekannten Sehenswürdigkeiten der Stadt: Suchen Sie im Park von Presidio nach der „Natur-Kunst“ des Briten Andy Goldsworthy, dessen Werke man zwischen den alten Eukalyptusbäumen beinahe übersieht. Ein Outdoor-Museum der etwas anderen Art gefällig? Im Schuhgarten am Alamo Square können Sie ausrangierte Treter liebevoll bepflanzen und ihre Schuhe zwischen Baumstümpfen und Blumentöpfen für immer zurücklassen. Sie haben Kinder zu Gast? Der Spielplatz mit dem wohl besten Ausblick auf die Stadt befindet sich im Alta Plaza Park in Pacific Heights. Geheimtipps für abends? San Francisco verfügt über mehrere versteckte Speakeasy-Bars, Treffpunkte, in denen während der staatlichen Alkoholprohibition zwischen 1919 und 1933 trotzdem still und heimlich getrunken werden konnte. Mein Favorit ist das Bourbon & Branch an der Grenze zum Tenderloin. Die „Flüsterkneipe“ besitzt eine versteckte Tür in der Form eines alten Bücherregals, die Ihnen das Tor zu einer weiteren geheimen Bar eröffnet, dem Russells Room – ganz wie Great Gatsby in den Roaring Twenties! Eine Speakeasy-Brauerei namens Speakeasy-Ales & Lagers finden Sie auf der Evans Avenue in Bayview – mitten in einem Industrieviertel und von außen sehr leicht zu übersehen. Keine offizielle Speakeasy-Location, aber mindestens genauso versteckt ist die Hidden Vine Bar auf der Merchant Street im Financial District mit Boccia-Bahn im Hinterhof.