„Your city is remarkable not only for its beauty. It is also, of all the cities in the United States, the one whose name, the world over, conjures up the most visions and more than any other city incites one to dream.“

GEORGES POMPIDOU, FRANZÖSISCHER POLITIKER

Juni
Work hard, play hard

Ein paar Tage nach dem Bay to Breakers stehe ich zwischen den Einkaufsregalen bei Trader Joe’s, der amerikanischen Bio-Version des deutschen Supermarkts ALDI. Heute Abend wollen Mari Carmen, Sophia und Rose in meiner neuen WG zum Housewarming, also zum Anstoßen aufs neue Heim, vorbeikommen. Zwar liegt mein Einzug schon ein paar Wochen zurück, aber in Amerika ist das kein größeres Problem, Einweihungspartys sind auch zwei Jahre später noch vollkommen legitim, genauso wie Geburtstagsfeste um Wochen vorgefeiert werden können. Trader Joe’s führt nur eine limitierte Auswahl an Produkten, dafür stammen die meisten Angebote aus ökologischem Anbau. Zudem ist der Einkauf beim Edel-ALDI auch noch ein echtes Erlebnis und, wie ich finde, so much fun. Schon beim Eintreten durch die gläserne Schiebetür würde ich mir am liebsten eine Blumenkette um den Hals werfen, denn die amerikanische Variante der Albrecht-Brüder-Dynastie steht unter dem Hawaii-Motto. Alle Mitarbeiter tragen bunt geblümte Hawaiihemden, die Filialleiter nennen sich selbst captain, den Stellvertreter second mate, also zweiten Steuermann. Der Rest der Belegschaft gehört zur crew.

Ich wähle ein paar Flaschen Sekt und Softdrinks aus und gehe weiter zum Käseregal. Als ich gerade prüfend an der Theke stehe, raunt plötzlich eine rauchig-sanfte Stimme mit französischem Akzent über den Käsehügel: „Excusezmoi – ich will dich nicht stören. Kannst du mir einen Käse empfehlen?“ Langsam drehe ich meinen Kopf herum und blicke in ein ebenmäßiges, von dunkelblonden, kurzen Locken eingerahmtes Gesicht, die Haut sonnengebräunt, gepflegt und perfekt glattrasiert. Ein Mann, fast wie aus einem Prospekt für ein teures Rasierwasser oder Männerparfüm. Wow, denke ich, und ein freundliches, fast jungenhaftes Lächeln lässt mich mein für heute Abend geplantes Käsearrangement vergessen. Mari Carmen liegt schon ganz richtig: Viele hübsche Männer gibt es in San Francisco nicht, Nick ist eine Ausnahme, und die paar Sonderfälle in der Stadt sind dementsprechend wählerisch. Die Männer behaupten von der Frauenwelt übrigens das Gleiche.

Ein seltener Moment also, und ich genieße ihn – auch wenn ich seinen Anmachspruch zugegebenermaßen in der Kategorie „leidiger Anfänger“ einordnen muss. Ein Gefühl wie im Marina Safeway. Dieser Supermarkt im Stadtteil Marina ist seit dem Bestseller „Tales of the City“ besser als Dateway oder Single’s Safeway bekannt, weil er als einer der besten Pick-up-Spots, also Aufreißläden, der Stadt gilt. Bevor ich allerdings mit einer guten Käseempfehlung punkten kann, spricht er auch schon weiter: „Ich will heute meinen Süßen überraschen, und suche nach einem guten Käse.“ Mit einem Schlag platzt meine angenehme Dateway-Vorstellung wie eine Seifenblase. Na klar, er ist schwul – schließlich bin ich in San Francisco, Schwulenhauptstadt der USA. Ich lasse mir nichts anmerken, erkundige mich, was er denn normalerweise so mag, und wundere mich dann doch, dass er mich fragt, zumal er mit seinem Akzent doch viel eher Bescheid wissen müsste. „Ja, ja, stimmt schon. Aber ich habe viele Jahre in Chicago gelebt und dort vom Käse komplett Abschied genommen. Nun bin ich seit kurzer Zeit in San Francisco und ganz angetan von der hochwertigen und frischen Produktvielfalt ...“, sagt er und sieht das Stück Gouda, das er in der Hand hält, beinahe zärtlich an. Er fängt an zu erzählen und ich getraue mich kaum, seine Lobeshymne auf die Lebensmittel in San Francisco zu unterbrechen. Doch auf einmal schaut er auf die Uhr und seufzt: „Och, nee. Ich muss ja los. Um Himmels willen – jetzt halte ich dich hier auf. Vielen Dank, meine Liebe.“ Dann stürzt er in Richtung Kasse, ruft noch einmal „Merci beaucoup! À bientôt!“ und ist weg.

Wie das Schicksal so will, treffe ich ihn jedoch keine drei Tage später auf einer Party wieder, die Sophia mit einer ihrer Freundinnen veranstaltet. Meine Käsebekanntschaft ist gerade in der Küche damit beschäftigt, seinen Freund mit Nüssen zu füttern, und winkt ganz aufgeregt, als er mich sieht: „Ach, du hier. Deine Empfehlung war super. Du kennst Sophia also auch? Das ist ja lustig. Das ist Jim. Jim, das ist …“ – „Hanni“, beende ich seinen Satz. „Ach, tz tz, ich bin übrigens Alex“, sagt er und schüttelt den Kopf über seine eigene Dusseligkeit. Wir betreiben den typischen amerikanischen Small Talk, der mir mittlerweile richtig Spaß macht, bis er plötzlich sagt: „Jim ist übrigens ein ganz toller Künstler. Du solltest mal bei ihm in der Galerie in SoMa vorbeikommen.“ Jim schaut ganz verschämt und versucht, von sich abzulenken: „Dafür ist Alex ein grandioser Web-Designer. Du musst dir mal seine Seite anschauen, wirklich allererste Sahne.“ Sie schauen sich ganz verzückt an, turteln miteinander, mir ist ein bisschen unwohl: „Oh, sehr gerne“, sage ich. In diesem Moment kommt Sophia mit einer neuen Flasche Wein in die Küche und rettet mich aus der Situation und der Abend wird noch lang und amüsant. Am Ende tauschen Alex und ich Nummern aus und er drückt und knuddelt mich zum Abschied. So sehr, dass Jim sogar ein bisschen blöd aus der Wäsche guckt. „Melde dich, wenn du Fragen zum Web-Design von eurer Healthcare-Website hast. Und sowieso sollten wir unbedingt mal wieder etwas gemeinsam machen“, sagt er zum Abschied. Ich gehe mit der wohligen Empfindung nach Hause, dass dies mal wieder der Beginn einer neuen Freundschaft ist.

Keine zwei Tage später wache ich mit einem ziemlich unguten Gefühl auf. Zahnschmerzen! „Kannst du mir einen guten Zahnarzt empfehlen?“, frage ich Katie im Büro, während ich mir die Wange halte. „Oh je! Poor girl.“ Sie greift in ihre Handtasche, kramt ein bisschen darin herum und reicht mir dann eine Tablette. „Hier ein Mittelchen“, schlägt sie vor. Ich bin nicht sicher, ob ein Zahnarzt in diesem Fall nicht besser helfen kann als ein Schmerzmittel von Walgreens, dem Drogeriemarkt, der auch eine große Auswahl an rezeptfrei erhältlichen Medikamenten führt. „Hast du eine Zahnarzt-Empfehlung?“, frage ich. „Ich bin bei Dr. Roberts – der ist gleich um die Ecke.“ Bisher habe ich noch keinen Zahnarzt gebraucht und so muss Katie mir die Versicherungssituation erst noch erklären. „Unsere Zahnversicherung deckt siebzig Prozent der Kosten ab – bis maximal 2500 Dollar im Jahr.“ Und mit diesem Versicherungsschutz könne ich mich im Vergleich zu anderen Amerikanern bereits schon glücklich schätzen. Da gesetzliche Versicherungen nicht existieren und man bereits für einen durchschnittlich guten Versicherungsschutz mehrere hundert Dollar im Monat bezahlt, gibt es viele Menschen, die sich gar keine Krankenversicherung oder maximal eine Notfallversicherung leisten können. Staatliche Unterstützung gibt es nur durch die Programme Medicaid und Medicare. Während Medicaid sozial schwache Bürger mit gar keinem bis geringem Einkommen unterstützt, übernimmt Medicare einen Teil der Gesundheitskosten von pensionierten Bürgern.

„Knapp fünfzig Millionen der Amerikaner haben gar keine Versicherung, über 35 Millionen sind nicht ausreichend versichert. Insgesamt hat also fast ein Drittel der Bevölkerung keine adäquate Krankenversicherung. Das amerikanische Gesundheitssystem ist nun mal das teuerste der Welt“, fährt sie seufzend fort. Dabei verschweigt sie, dass die Qualität noch nicht einmal zu den weltweit zwanzig Besten zählt. „Du kannst dir auf Yelp mal die Bewertungen meines Zahnarztes ansehen“, schlägt Katie vor. „Er ist echt gut.“ – „Was ist Yelp?“, frage ich, und sie starrt mich an, als hätte ich wissen wollen, wer Barack Obama sei. „Yelp ist eine Bewertungsund Empfehlungswebsite. Dort findest du unter anderem Ratings für Ärzte, Restaurants oder sogar Nagelstudios.“ Ich öffne die Seite und finde Katies Zahnarzt. „Nicht schlecht – er hat vier von fünf Sternen“, stelle ich fest, und Katie schaut mich zufrieden an. Ich bekomme für den nächsten Tag einen Termin.

In der Praxis werde ich schon nach einer kurzen Wartezeit von einem Assistenten in einen großen hellen Raum geführt, der durch vier hüfthohe Regale unterteilt ist. In jedem dieser Quadrate steht ein grauer Behandlungsstuhl. Der junge Assistent stellt sich vor: „Hi, ich bin John. Als Erstes werden wir achtzehn Röntgenbilder von deinem Gebiss machen.“ Ich schaue ihn fragend an. „Warum denn so viele?“ Aus Deutschland bin ich maximal eine Röntgenaufnahme gewohnt und dann in der Regel auch nur, wenn es wirklich notwendig ist. „Routine. Wir machen das bei jedem neuen Patienten, um uns ein umfassendes Bild machen zu können.“ So, so!

Ich steige in den großen Zahnarztsessel, und mein Blick richtet sich automatisch gegen die Decke, an der zwei große Bilder angebracht sind. Das linke Foto eröffnet den Blick von unten in eine grün leuchtende Palme, aus der jederzeit eine pralle Kokosnuss zu fallen droht. Das rechte Bild präsentiert drei weiß-rote Düsenflieger, die Blue Angels, Elite-Flieger der US Navy, die jährlich am Columbus-Day-Wochenende im Oktober am Himmel San Franciscos während der sogenannten Fleet Week ihre Kunststücke zeigen. „Bilder an der Decke habe ich bisher in deutschen Zahnarztpraxen noch nicht gesehen, sehr cool“, sage ich. „Danke, freut mich! Ja, der Besuch soll ja schließlich Spaß machen“, meint er. Warst du schon mal bei der Fleet Week?“, fragt er dann. „Bisher noch nicht.“ – „Es gibt Live-Musik und beeindruckende Flugdarbietungen der Kriegsmarine. Das solltest du dir auf jeden Fall einmal anschauen.“ John macht sich an die Arbeit, und die achtzehn Aufnahmen dauern keine fünf Minuten. Dank eines neuartigen Röntgengeräts kann er sie direkt im Behandlungszimmer machen, ich muss mich noch nicht einmal aus dem Stuhl erheben. Direkt vor mir an der Wand hängt ein Computerbildschirm, auf dem die Röntgenbilder in Echtzeit übertragen werden.

„Willst du Lachgas für die Behandlung?“ – „Bitte, was?“ – „Lachgas! Die Leute lieben es. Wenn du einmal damit behandelt worden bist, willst du gar nicht mehr ohne.“ Verschwörerisch lächelt er mir zu, ich nicke etwas zögerlich, und er zieht einen weißen, dicken Schlauch aus dem Schrank. Die große Öffnung samt Nasenstück in der Mitte erinnern mich an eine Beatmungsmaske im OP-Saal. Vorsichtig legt er mir das Nasenstück auf und klemmt zwei weiße Wattetupfer zwischen meine Wange und den Schlauch, so dass er nicht unmittelbar auf der Haut klebt. Ich bin gespannt, wie mein Körper darauf reagieren wird. Müde? Schwerelos? Berauscht? Ich spüre, wie das Gas in meine Nase strömt. John fragt mich, ob ich etwas lesen möchte, und reicht mir ein Frauenmagazin aus dem Regal. Doch sobald ich es in den Händen halte, sackt es auch schon nach unten. Es ist zu schwer und mir ist plötzlich auch überhaupt nicht mehr nach Lesen zumute, sondern nach Herumalbern.

„Dr. Roberts ist sofort bei dir“, gibt John mir zu verstehen. Er grinst so breit wie ein kleiner Affe und sieht total dämlich aus. Komplett zum Totlachen. Ich versuche, mich zu beruhigen, was mir jedoch nicht gelingt, und so bleibe ich einfach mit einem breiten Grinsen im Gesicht unter der Palme liegen und spüre die Schwere meines Körpers. Die weitere Behandlung zieht an mir vorbei wie ein Film, den Spritzeneinstich merke ich kaum, und auch Dr. Roberts registriere ich fast nicht. Nach gefühlten fünf Minuten ist alles vorbei. „So, das war’s schon. Der Backenzahn hatte Karies“, sagt John und nimmt den Schlauch von meiner Nase. Langsam nehme ich meine Umgebung wieder aktiv wahr und fahre mit der Zungenspitze über den Zahn. Schwer und müde erhebe ich mich. Mein Mund ist noch komplett taub. Draußen in der Mittagssonne auf der California Street rollt der Bus der Linie 1 an mir vorbei, während die Angestellten aus den umliegenden Geschäftsgebäuden lachend in ihre Mittagspausen gehen. Ich habe lediglich einen Zahnarztbesuch hinter mir, aber ich habe mich selten so stoned gefühlt.

Arztbesuche in den USA sind für mich eine komplett neue Erfahrung – und zwar im positiven wie im negativen Sinne. Die Praxen geben sich viel Mühe, dem Patienten den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen: Während der Wartezeit wurden mir Softdrinks und Kaffee angeboten, zur Lachgasbehandlung hätte ich zusätzlich Musik hören können, und beim Allgemeinmediziner, den ich wegen einer starken Erkältung aufsuchen musste, konnte ich mich im Wartezimmer mit Kuchen und Keksen vollstopfen. Die Schattenseite: Die heutige Kariesbehandlung kostet meine Versicherung und mich mehrere hundert Dollar, und mir erschienen die Ärzte wie Geschäftsmänner oder -frauen, die die Zeit im Sprechzimmer auch für Cross- und Upselling-Gespräche nutzen. Dr. Roberts wollte mir noch ein sogenanntes Bleaching aufquatschen, das meine Zähne „even more beautiful“ machen könnte, wie er sagte. Der Entscheidungsspielraum des Patienten ist dabei viel höher, in Deutschland hat mich noch kein Arzt gebeten, selbst zu entscheiden, ob ich das Medikament XY nun einnehmen möchte oder nicht.

„Wieso bist du so relaxt?“, fragt mich Vijay im Büro. „Alle anderen sind völlig aufgeregt wegen der großen Management-Präsentation.“ – „Falls du beim Zahnarzt auch schon einmal mit Lachgas behandelt worden bist, weißt du, wieso.“ – „That’s fun! Dann werde ich mir auch schon mal einen Prophylaxe-Termin geben lassen.“ Ich klicke durch meine Mails und summe vor mich hin. „Ach, übrigens, Alex, ein Kumpel, hat mir geschrieben. Er kennt sich sehr gut mit Webdesign aus und schlägt vor, dass wir uns mal unterhalten sollten.“ – „Stimmt. Von dem hattest du ja schon erzählt. Die Turteltaube?“, erinnert sich Vijay und ich überhöre seinen Kommentar. „Lust heute Abend mit ihm auf ein Bier im Toronado? Er hat echt was drauf und wir müssen dringend mal ein Feedback von einem Webdesigner einholen.“ – „Klar, hört sich gut an. Da bin ich dabei.“

Und so treffen wir uns abends mit Alex im Stadtteil Lower Haight. Vijay freut sich vor allem aufs Bier. „Es ist das Tor zum Bierhimmel. Die Bar hat über hundert verschiedene Sorten im Angebot. Es gibt auch eine saisonale Auswahl, beispielsweise das nach Wassermelone schmeckende Hell or High Watermelon Wheat Bier.“ – „Wassermelonenbier kannst du mir als Deutscher nicht verkaufen!“ – „Es gibt auch genug deutsches Bier, keine Sorge. Es ist eine der hundert besten Bierbars in den USA.“

Auf einer großen, dunklen Tafel über der Theke sind, ähnlich den Zugabfahrtszeiten in einer Bahnhofshalle, die unterschiedlichen Bierangebote angeschrieben. Die Wände hat man vollständig mit Bieraufklebern aus aller Welt plakatiert, dazwischen erspähe ich immer wieder deutsche Biermarken wie Radeberger, Spatenbräu oder Schneider Edel-Weisse. Das sind zwar nicht unbedingt meine Favoriten, hier aber ein gern getrunkenes Stück Heimat. Weil alle Tische belegt sind, quetschen wir uns an die Bar unter die große Leuchtreklame des belgischen Biers Chimay, wo Alex schon auf uns wartet. Lautstark feiert eine Gruppe junger Männer am Tisch nebenan. Sie alle tragen das gleiche T-Shirt mit der Aufschrift einer Website, und hin und wieder fallen Namen von bekannten Investoren aus dem Silicon Valley. Der Typ hinter der Bar fragt: „What can I get you, guys?“, und wir bestellen die erste Runde, auf meinen Wunsch hin das deutsche Franziskaner-Bier. Alex, nach dem zweiten Bier gesprächig geworden, fragt die Männer, was sie feiern. Ein bierseliges Muskelpaket mit Glatzkopf erzählt, sie hätten heute Morgen eine große Finanzierungsrunde durch eine Venture-Capital-Firma bekommen. Alex hört interessiert zu, doch irgendwann dreht er sich wieder zu uns um: „Was soll eigentlich dieser ganze Hype? Wieso will eigentlich jeder ins Silicon Valley?“ – „Das Silicon Valley ist so anziehend für Jungunternehmer wie Mekka für die Muslime“, feixt Vijay. „Im Valley treffen Geschäftsideengeber und -finanzierer zusammen. Die Wahrscheinlichkeit, dass man eine Geldspritze für eine Geschäftsidee bekommt, ist nirgends in der Welt so hoch wie dort. Und auch der Fun-Faktor kommt im Valley nicht zu kurz. Obwohl die Arbeit hart und intensiv ist, sollst du Spaß dabei haben, selbst wenn das einiger Whiskey Happy Hours und dicker Start-up-Parties bedarf.“ Richtig! Das Motto lautet: Work hard, play hard! Wenn man morgens in Palo Alto, einem kleinen Städtchen im Silicon Valley, in einem Café ein breakfast to go mitnimmt, laufen einem bereits eine Handvoll von Investoren und Unternehmern über den Weg. Die Leute sehen zwar nicht unbedingt so aus, sind total locker in Flipflops, Jeans und Baseballkappe gekleidet und lachen einem freundlich zu, aber jeder davon spielt im Valley eine Rolle, ob als Investor, Gründer oder Software-Ingenieur. Durch diesen Mix entstehen viele spannende Ideen; beinahe wie eine Petrischale für Tech-Start-ups.

Vijay bestellt eine weitere Runde, und Alex erklärt uns, wie wir die Website von Healthquestion verbessern könnten. Ich schreibe Nick eine SMS, dass es etwas später wird. Eigentlich sind wir heute Abend noch verabredet, doch ein Drink mit Alex und Vijay sollte schon noch drin sein. In einem Zug schüttet Vijay den Rest seines Biers hinunter, aus der Diskussion ist mittlerweile fast ein Monolog geworden. Das Mysterium Silicon Valley ist eben Vijays Lieblingsthema. „Der Großteil der amerikanischen Technologieunternehmen stammt aus dem Valley.“ Er öffnet eine App auf seinem iPhone und zeigt auf eine Liste von Unternehmen, die im Silicon Valley angesiedelt sind: Apple – Microsoft – IBM – Google – Oracle – Intel – Cisco. „Alle Unternehmen, mit Ausnahme von Microsoft in Seattle und IBM in New York, haben ihren Hauptsitz in Kalifornien“, sagt er. Zusätzlich liegen beinahe vierzig Prozent des gesamten Investmentbudgets der USA in Nordkalifornien. Hier haben die Venture Capitalists, die sogenannten Risikokapitalgeber, deren unscheinbare Büros die Sand Hill Road in Menlo Park spicken, die Spendierhosen an. Hier wird Healthquestion fliegen.

Manchmal hätte ich auch gerne die Überzeugung und anhaltende Energie Vijays, der schon viel mehr amerikanische als indische Verhaltensmuster zeigt. Kein Wunder, schließlich lebt er seit knapp zehn Jahren in den USA. Einer seiner Grundsätze ist das Think Big. Warum über die Limits und Beschränkungen nachdenken, wenn es so viele Möglichkeiten gibt? Warum nicht ein Wagnis eingehen, wenn sich daraus so viele Chancen entwickeln? Warum nicht für den großen Traum neue Wege gehen? Entschlossen leere ich mein Glas und schaue auf die Uhr: Bereits neun. Ich will eigentlich noch zu Nick und nicht zu spät bei ihm aufkreuzen, denn die letzten Tage ist er schon so verstimmt gewesen. „Guys, have fun. I am heading out“, verabschiede ich mich kurzerhand und lasse die zwei, die sich mittlerweile angeregt mit der Start-up-Truppe am Nachbartisch unterhalten, zurück.

Doch als ich bei Nick ankomme, macht er nicht eben den Eindruck als hätte er mich sehnlich erwartet. Im Gegenteil: Er sitzt mit seinen Kumpels in der Küche, von Pizzakartons und Bierflaschen umgeben. Sie haben Spaß, spielen Trinkspiele, und Nick beachtet mich nicht weiter. Ich schnappe mir ein Bier und quatsche ein bisschen mit seinem Freund Mike. Doch eigentlich frage ich mich die ganze Zeit, was ich eigentlich hier mache. Irgendwann wird es mir zu blöd und ich gehe – ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Jetzt bin ich extra früher zu ihm gefahren. Und nun? Wahrscheinlich wird Nick meinen Abgang noch nicht einmal registrieren! Kraftvoll lasse ich die Tür ins Schloss fallen. Anscheinend bemerkt er es schon, denn kaum bin ich aus der Wohnung raus, klingelt mein Handy: „Was soll denn dieser Auftritt? Wieso machst du dich einfach aus dem Staub?“ – „Wir zwei waren verabredet, falls du das vergessen hast.“ – „Es war gerade so lustig, entspann dich! Du hättest doch auch bei deinen Freunden bleiben können, wenn dir das hier nicht passt.“ Im Hintergrund grölen seine Kumpels. „Ich wollte aber etwas mit dir machen. Im Gegensatz zu dir ist mir das nämlich wichtig.“ – „Sei doch mal ein bisschen relaxter. Schließlich sind wir nicht verheiratet.“ – „Vergiss es einfach, Nick“, sage ich und lege auf. Viel zu viele Fragen gehen mir durch den Kopf, während ich durch die Nacht San Franciscos nach Hause laufe. Trage ich nicht genug kalifornische Ruhe in mir? Habe ich zu aufgebracht reagiert? Legt Nick überhaupt irgendeinen Wert auf unsere Beziehung?

Ich eile den Telegraph Hill hinauf, bemerke gar nicht, dass ich schwitze, denn dafür bin ich viel zu aufgewühlt. Als ich die Tür zu Charles’ und meiner WG öffne, höre ich laute Stimmen, Lachen und das Klirren von Gläsern. „Dies ist eine Ernte von 2004. Sehr zu empfehlen.“ Kurze Stille, jemand schenkt ein. Charles hat mal wieder eine seiner Weinproben. Ich höre ihn und seine Sommelier-Freunde schlürfen und lachen, während ich im Flur aus meinen Schuhen schlüpfe. Auf Zehenspitzen schleiche ich mich am Wohnzimmer vorbei in mein Zimmer. Keine Lust auf Menschen! Mit Blick auf die funkelnde Bucht und dem mulmigen Gefühl, dass die Beziehung zu Nick bereits vorbei sein könnte, bevor sie so richtig angefangen hat, schlafe ich erschöpft ein.

Eines habe ich schon immer sehr gut gekonnt: während der Arbeit alles verdrängen. Und so stürze ich mich in den Büroalltag, habe jede Menge Meetings, muss für meinen Arbeitgeber neue Vertriebswege in den USA aufzeigen und sitze nach Feierabend noch lange mit Vijay zusammen. Seit einigen Wochen habe ich Vijay mehr und mehr bei der Arbeit an Healthquestion unterstützt. Am vergangenen Donnerstag fragte er mich schließlich, ob ich nicht Interesse hätte, die Plattform mit ihm gemeinsam zu entwickeln und die Schnittstelle zu Ärzten und Patienten aufzubauen. „Ich könnte mich dann auf das Programmieren konzentrieren. Das macht mir Spaß. Aber ich habe ehrlich gesagt keine Idee, wie ich die Vermarktungsmaschinerie ankurbeln und Besucher auf die Seite bekommen soll. Ich glaube, dass du das viel besser kannst“, sagte er. „Wir können gemeinsam einen Businessplan entwickeln und uns gegen Ende des Jahres – wenn wir intensiv genug daran arbeiten – möglicherweise schon um eine Finanzierung bewerben. Was meinst du? Hättest du Lust?“ Ich weiß nicht, wieso, vielleicht, weil ich bereits amerikanischer geworden war oder einfach Ablenkung von Nick brauchte: Jedenfalls sagte ich ohne groß zu zögern zu. Damit war Healthquestion unser „Baby“, wie Vijay es ausdrückte und ich war meinem Start-up-Traum ein kleines Stückchen näher gekommen.

Wenige Tage später. Gemeinsam mit Charles und Vijay stehe ich am Marina Green Beach. „Harte Burschen. Erst die Bucht schwimmend bezwingen und dann alle abgefrorenen Körperteile auf dem Rad transportieren …“ Wir fiebern mit beim Escape from Alcatraz, einem jährlich im Juni stattfindenden Extremsport-Event, bei dem die 2000 besten Triathleten der Welt auf über 20 000 Zuschauer treffen. Die starken Strömungen und die Eiseskälte des Wassers machen die eineinhalb Meilen bis zum Ufer zu einer Herausforderung für jeden Schwimmer. Und danach stehen noch achtzehn Meilen Rennradfahren und acht Meilen Laufen auf dem Programm. „Die härteste Lady steht allerdings direkt neben mir. Nicht wahr, Partner?“, sagt Vijay witzelnd und auch ein bisschen stolz und legt mir den Arm um die Schulter. Und ich lege meinen Arm um seine Hüfte. In diesem Moment weiß ich: Er baut auf mich und wir sind ein Team. Charles hingegen zeigt auf die Bucht hinaus, die wie ein tintenblauer, glatter Spiegel vor uns liegt und vom Marina Green Beach aus harmlos und ruhig aussieht. „Go for it!“, ruft Charles. Er feuert die Teilnehmer an – vor einigen Jahren hat er selbst einmal teilgenommen. Kurz darauf hechten die ersten Schwimmer aus dem Wasser. Die mit farbigen Badekappen bedeckten Köpfe glänzen in der Sonne wie kleine Stecknadelköpfe. Kaum merklich bewegen sie sich immer näher auf uns zu. In diesem Moment klingelt mein Handy in meiner Handtasche. Auf dem Display erscheint das Foto von Sophia – lachend und im Marienkäfer-Outfit, im Hintergrund das Meer. Wir hatten es am Bay to Breakers geschossen. „Hey, how are you?“, fragt sie. Und ich habe mittlerweile gelernt, dass man in Amerika natürlich immer mit „Good and how are you?“ antwortet. Daher wundert mich Sophias Antwort umso mehr: „I am okay, but I’ve got bad news“, sagt sie. Das habe ich bisher noch nicht aus ihrem Mund gehört.

Streifzug:
Genießen Sie das Nachtleben!

Das Nachtleben in San Francisco ist so mannigfaltig und schrill wie seine Bewohner. Es gibt verhältnismäßig wenige Danceclubs wie das Ruby Skye am Union Square oder das Mezzanine in SoMa, in denen Sie zu House-Musik und Elektro-Beats abtanzen können. Dafür treffen Sie die multikulturelle Szene San Franciscos vermehrt in den urigen Kneipen, romantischen Piano- und Café-Bars, schnuckeligen Restaurants und in den alteingesessenen historischen Musik-Theatern. Die besten Live-Performances genießen Sie in The Fillmore (Auditorium), einem Relikt aus dem Jahre 1912, in dem Größen wie Carlos Santana und Eric Clapton spielten, bevor sie Bekanntheit erlangten. Auch das viktorianische Musiktheater The Great American Music Hall, ursprünglich ein Bordell, lässt mit seinen Rokoko-Holzvertäfelungen und Blattgold-Dekorationen Live-Events zu einem ganz besonderen Erlebnis werden. Da es außer auf der Empore fast nur Stehplätze gibt, kommen Sie sehr nah an die Bühne heran und können den Musikern aus nächster Nähe lauschen. Neben all den Live-Konzerten und jeder Menge Paraden und Festivals ist in den diversen Bars und Lounges für jeden Geschmack etwas dabei: Die Jüngeren tanzen sich durch die günstige Bar-Szene in den versteckten Gassen der Mission, Divisadero und Haight Street, während die Tanzwütigen und Bisexuellen sich in den Lounges und Clubs SoMa, Polk Gulch oder Castro die Zeit vertreiben. Junge Pärchen auf Double Dates, also Pärchenabenden, und Studenten finden Sie vermehrt in den schnuckeligen Cafés, Bars und Restaurants in Cow Hollow, Marina, North Beach oder Nob Hill.