6.Kapitel
„Meinst du nicht, wir sind zu
aufgetakelt?“
„Ach Quark, du siehst super aus. Nun komm schon.“ Ida zerrt mich
die Treppe hinunter. Es hatte keine Möglichkeit gegeben einen
Rückzieher zu machen. Direkt heute Morgen nach dem Aufwachen hatte
sie Laura angesmst und erhielt auch prompt Antwort. „ Wir sind
heute Vormittag im MC. Wenn ihr Lust habt, kommt vorbei.“
Da Ida nicht sonderlich scharf auf ihre Leute zuhause war, stopfte sie nach einem schnellen Frühstück ein paar Sachen in den Rucksack und gab ihrer Mutter nur die kurze Info, „es kann später werden. Wir gehen jetzt zu Paula und dann in die Stadt.“
Britta nickte abwesend und schien den eisigen Unterton in der Stimme ihrer Tochter nicht zu bemerken. „Viel Spaß. Genießt eure Ferien“, rief sie uns nach.
Bei mir zuhause, beförderte Ida ihren halben Kleiderschrank auf mein Bett. Sie kam mir ein bisschen vor wie Mary Poppins, die unermüdlich Dinge aus ihrer Tasche zaubern konnte, ohne dass der Rucksack leerer zu werden schien. Ich schüttelte ungläubig den Kopf. „Sowas muss vorbereitet sein. Einen ersten Eindruck kann man nicht mehr wiederholen“, meinte sie nur. Mir war nicht ganz klar, wen wir jetzt genau mit unserem glanzvollen Erscheinen beeindrucken sollten, sparte mir aber den Kommentar.
Jeans und mein Lieblingsshirt fielen bei der Ein-Mann-Jury einstimmig durch. Ida redetet so lange auf mich ein, bis ich mich tatsächlich in einen Sommerrock zwängte, der mal knielang gewesen ist,- damals, auf Omas Sechzigsten Geburtstag vor drei Jahren. Inzwischen war sogar ich gewachsen und konnte ihn nun nur noch als sehr knappen und überaus engen Mini tragen. Beim Top setzte ich mich durch und weigerte mich standhaft ein Bikinioberteil unter einer halb offenen Bluse zu tragen. Es war genug, dass ich in dem Rock kaum einen Schritt vor den anderen setzen konnte und Ida mir vier Schichten deepest black Mascara mit „falsche Wimpern Effekt“ aufgespachtelt hatte.
Sie selber hatte sich in eine hautenge Röhrenjeans geschossen. Staunend sah ich zu, wie sie ihren wattierten BH noch zusätzlich mit Taschentüchern ausstopfte und sich so ein nicht unakzeptables Dekolleté zauberte. „Den Trick hab ich mir letztens im Fernsehen abgeguckt“, kicherte sie und regte mir stolz ihre falschen Brüste entgegen.
Zögernd hatte ich mich mit ihr auf den Weg in die Stadt gemacht. Schon an der Bushaltestelle froren meine nackten Beinen entsetzlich. Ida hatte gemeint, eine Strumpfhose zum Sommerrock sähe schräg aus und es wären ja nur ein paar Minuten zu laufen.
Warum hatte ich mich darauf eingelassen? In normalen Klamotten würde ich mich erheblich sicherer fühlen und die Chance sich eine Blasenentzündung zu fangen wäre auch geringer. Nun weigerte sich jeder Faser meines Körpers das Café zu betreten. Was, wenn ich ausgerechnet jetzt auf Tim stoße?
„Du siehst wirklich, wirklich super aus“,
wiederholt Ida und sieht mich flehend an.
„Also gut, gehen wir rein.“
Ida zieht mich schnell hinter sich her, bevor ich es mir anders
überlegen kann.
Nun betrete ich also die Welt die mir vorher verschlossen war. Das Musikcafé ist sozusagen die nächste Stufe zum Erwachsenwerden. Nie hätten wir uns getraut einfach so alleine hier aufzutauchen. Ein ungeschriebenes Gesetz besagt, dass alle Leute der unteren Jahrgangsstufen in die Eisdiele, zu Starbucks oder sonst wohin zu gehen haben. Das Musikcafé, oder einfach „MC“ wie wir Schüler es nennen, ist den Älteren vorbestimmt.
Und nun betrete ich, Paula Riester, Dreizehn Jahre, Schülerin der siebten Klasse, in einem viel zu kurzen und engen Rock mit zugekleisterten Augenwimpern, das unbekannte Gebiet.
Eine hässliche, unscheinbare Betontreppe führt zum Kellerlokal in einem alten Gebäude. Ein Schild mit kleinem Pfeil weist den Weg zur Tür. Hier hin verirren sich nur Schüler aus dem Bermudadreieck, den drei umliegenden Schulen der Umgebung.
Ich weiß nicht, was ich genau erwartet habe, aber diese heruntergekommene Kaschemme sprengt meine ganze Erwartung. An den renovierungsbedürftigen, orange farbenden Wänden hängen alte Schwarzweiß Fotografien hinter Glas von Rocklegenden wie Queen, Rolling Stones und einer Gruppe die Ramones heisst und von der ich noch nie etwas gehört habe. Rote, zerschlissene Kunstleder Sitzecken gruppieren sich um runde, schwarze Hochglanztische, deren Oberflächen so zerkratzt sind, dass man vermuten könnte, Mäuse auf Schlittschuhen würden nach Feierabend hier ihre Runden drehen.
Beim Betreten des Raumes schlägt uns sofort ein sympathischer Lärmpegel entgegen. Es ist rappelvoll, niemand achtet auf uns, keiner zeigt mit dem Finger auf uns und ruft, „was wollen die denn hier, das sind ja noch Kinder“ oder so. Ich entspanne mich und scanne die Umgebung.
Laura sitzt an der Theke und schaut drei älteren Jungen beim Darten zu. Vermutlich ist einer davon ihr Freund, denn er nippt zwischen den Würfen an ihrer Cola und flüstert ihr jetzt etwas ins Ohr. Laura wirft ihre schwarze Mähne nach hinten und lacht schrill. Ob Jungs auf sowas stehen?
„Da hinten sind sie. Los komm schon.“ Ohne meine Antwort abzuwarten steuert Ida zielstrebig auf die Gruppe zu. Ich lasse ihr einen kleinen Vorsprung und versuche so lässig wie möglich hinterher zu schlendern.
„Schön, dass ihr es geschafft habt“, flötet Laura. Soviel Höflichkeit hätte ich ihr gar nicht zugetraut. Sie scheint sich ehrlich zu freuen. Knigge-gerecht stellt sie uns ihren Freunden vor. „Louisa kennt ihr ja sicher vom Sehen, sie ist in der 8c und das sind Alex, mein Freund, Levin und Nils. Paula und Ida sind in meiner Klasse.“
Alex streckt uns lässig die Hand entgegen. „Hi, cool, dass ihr da seid.“ Die anderen beiden Jungs geben uns ebenfalls die Hand, Louisa lässt nur ein müdes „Hi von sich vernehmen. Sie ist könnte Lauras Schwester sein, wenn auch in Blond gefärbt. Man kann ihren dunklen Haaransatz deutlich erkennen. Das sieht zwar etwas dämlich aus, aber ihr Haarschnitt ist echt hipp.
Ich trage die gleiche Frisur, oder eher Nicht-Frisur seit dem Kindergarten: Gleichlang, glatt, vorwiegend Zopf, langweiliger blonder Haarton, Nuance Strassenköter. Ich bin noch nie auf die Idee gekommen meine Haare zu verändern, geschweige denn zu färben. Vor zwei Jahren habe ich sie um ganze fünfzehn Zentimeter kürzen lassen. Das war haartechnisch bisher meine mutigste Aktion, die, bis auf meiner Mutter, niemanden aufgefallen ist. Alle fünf bis sechs Monate lasse ich die Spitzen in „Tonis Haarsalon“ nachschneiden und benutze regelmäßig eine Kur gegen fettige Haare. In der letzten Zeit sind sie ständig strähnig. „Pubertät“, sagt Mama. Ich hasse dieses Wort, aber noch mehr den Zustand, der Haare plötzlich jeden Tag fettig werden lässt und Pickel mit Gewalt durch die Haut drückt.
Wenn ich mich so umblicke, bin ich wirklich eine der wenigen ohne echte Frisur. Ida verändert sich laufend auf dem Kopf. Im Moment trägt sie einen durchgestuften, halblangen Bob und tönt sich manchmal einen Rotton in ihr braunes Haar. Wieder ein Punkt auf meiner Liste zur Metamorphose. Ich brauche einen erwachseneren Haarschnitt, wenn ich beim anderen Geschlecht punkten will.
Unsere „neue“ Clique überhäuft uns anfänglich
nicht gerade mit Gesprächsstoff. Die Jungs darten und Louisa hockt
gelangweilt auf ihrem Barhocker. Lediglich Laura ist bemüht ein
Gespräch in Gang zu setzen. Sie plaudert über die letzte
Deutscharbeit und dass sie von ihren Eltern Nachhilfe in Englisch
und Mathe aufgebrummt bekommen hat. „Zwei mal in der Woche muss ich
jetzt zur Lernhilfe, in den Ferien und vor Klassenarbeiten sogar
öfter. Ich kann mir eine zweite Ehrenrunde nicht erlauben, meine
Alten machen mir sonst die Hölle heiß.“ Ihre Nettigkeit kommt
aufrichtig rüber. „Eigentlich könntest du mir ja Nachhilfe geben.
Dein Englisch ist richtig taff“, sagt sie zu mir gewandt.
„Wenn du mehr lernen würdest, statt auf Partys zu gehen, wärst du
auch besser. Man kann nicht beides haben“, grinst Louisa.
Ich musste nie viel für die Schule tun. Trotzdem bin ich keine
Streberin. Dieses Image will ich einfach nicht haben. Streberinnen
sind langweilig, altklug und tragen eine hässliche Hornbrille.
Streberinnen kriegen nie einen coolen Freund. Sie absolvieren ein
tolles Studium, laufen mit ihrem Laptop unter dem Arm herum und
enden als alte Jungfer in der Chefetage einer großen Firma. Diese
Karriere schwebt mir nicht vor. „Ach, so toll bin ich auch wieder
nicht“, winke ich daher ab. „Englisch liegt mir einfach.“
„Paula schaut sich oft DVDs in Englisch an“. Es ist mir unangenehm,
dass Paula mein Sprachtalent propagiert. „Sie liest auch englische
Bücher.“
Laura ist beeindruckt. „Krass, ich würde da nicht ein Wort
verstehen.“
Es wird ein absolut genialer Vormittag. Wir bestellen Schorle und Baguettes, quatschen über die Schule und Leute aus der Klasse. Nach einer Stunde fühle ich mich dazugehörend. Ich weiß jetzt, dass der Besitzer des Ladens Cornelius heißt und sich dumm und dusselig an Käse- und Salamibaguettes verdienen muss. Die Teile schmecken wirklich super und gehen wie warme Semmeln über die Theke. Die Jungs gehen alle auf die Gesamtschule hier im Bermuda Dreieck, neunte Klasse, versteht sich.
Levin ist eine richtige Sahneschnitte. Groß, schlaksig, dunkelhaarig, stechend blaue Augen und wenn er lacht, zeigen sich nette Grübchen, was nicht nur mir aufzufallen scheint. Ida steht verdächtig oft neben ihn, während Louisa sie abschätzend mustert. Das Objekt der Begierde scheint nicht zu checken, dass um ihn gebuhlt wird oder lässt es sich zumindest nicht anmerken. Ich wette, Louisa ist angepisst, dass Laura uns angeschleppt hat. Wer kann schon unaufgeforderte Konkurrenz gebrauchen? Der dritte Junge ist Nils, Typ Unauffällig, sportlicher Körperbau, aber viel zu klein. Dafür kommt er ganz sympathisch rüber. Lediglich Alex hat ein wenig was von übertriebender Aufreißercoolness, aber Laura braucht sowas.
Unsere Runde löst sich gegen Mittag auf, gemeinsam verlassen wir den Laden. „Gehen wir noch zu mir?“ Alex legt seinen Arm um Lauras Schulter. Sie schmiegt sich an ihn und nickt. Wie sich das wohl anfühlt? Die Vorstellung Tim würde auf diese Art und Weise seinen Arm um mich legen versetzt mir einen Stich. Ob ich das jemals erleben werde? Was würde meine Mutter sagen, wenn ich Arm in Arm mit einem Jungen die Tür hereinspaziert komme „Tach, Mama. Ach, übrigens, das ist mein Freund. Wir gehen in mein Zimmer. Stör uns da doch bitte nicht.“
Als die anderen außer Hörweite sind, flippt
Ida förmlich aus. „Oh Mann, dieser Levin sieht ja mal verschärft
gut aus. Hast du gesehen, wie blau seine Augen sind? Sieht er nicht
ein bisschen aus wie Zac Efron? Total süß.“
„Zac Efron? Findest du? Na ja, aber gut sieht er schon
aus.“
„Er hat mich ein paarmal ganz süß von der Seite angeschaut. Hast du
das gesehen? Total süß!“
Ich murmele etwas Unverständliches. Tatsächlich kann ich nicht
wirklich bestätigen, dass er ihr sonderlich viel Aufmerksamkeit
geschenkt hat. Stattdessen ist er immer mal wieder einen Schritt
zurück oder zur Seite getreten, weil sie ihm näher und näher kam.
Der Gute hatte aber keine Chance den Balzversuchen zu entkommen.
Ständig krallte auch Louisa ihre lackierten Fingernägel in sein
Shirt, textete ihn augenaufschlagend zu und verlieh dabei ihren
Worten mit Körpereinsatz Ausdruck. Dabei ging sie um einiges
geschickter vor als Ida. Würde man sein Sweatshirt nach DNA Spuren
untersuchen, bekäme man folgendes Ergebnis. Intensiver Kontakt mit blondgefärbter Dunkelhaarigen,
bevorzugte Nagellackfarbe Babyrosa, Abdeckpuder mittelbeige,
vermutlich Chiccogo, starke Duftspuren von Puma Women.
„Diese Louisa war total eifersüchtig, aber den kann sie sich abschminken. Den angel ich mir“, kichert sie.