Kapitel 20
In nervöser Erwartung stieg ich in den Jetta. Was konnte sie mir nur zeigen wollen, das mich vielleicht davon abschreckte, ein Vampir zu werden? Ich machte mich schon auf ein schreckliches Monster oder ein geheimes Versteck menschlicher Leichen oder etwas ähnlich Grauenvolles gefasst. Was könnte es sonst geben, das meinen Entschluss, mich in einen Vampir verwandeln zu lassen, ändern könnte?
Selbst die sanften Klänge von Nina Simone, die aus dem Autoradio schallten, konnten mich nur wenig beruhigen, und ich sah besorgt zu Mae hinüber, die ihren leidvollen Blick strikt geradeaus hielt.
»Ich wurde 1928 in Reading, England geboren«, erklärte Mae mit einer so traurigen Stimme, dass ich sie kaum wiedererkannte. »Ich war noch sehr jung, als der Zweite Weltkrieg ausbrach, an dessen Ende in England amerikanische Soldaten stationiert waren. Philip war der charmanteste junge Mann, der mir jemals begegnet war.« Ihr Mund verzog sich zu einem leichten Lächeln, das jedoch nicht ihre Augen erreichte. »Trotz aller Bemühungen, tugendhaft zu sein, wurde ich mit sechzehn schwanger. Und da Philip ein rechtschaffener Mann war, haben wir geheiratet. Mein erstes Kind, ein Sohn namens Samuel, wurde geboren, als Philip noch im Krieg war. Samuel war fünf Monate alt, als Philip seinen Kriegsdienst beendet hatte und wir in die USA zogen, in eine kleine Wohnung in St. Paul, Philips Heimatstadt«, fuhr Mae fort. »Die ersten paar Monate dort waren wundervoll. Doch dann, eines Nachts, drei Wochen vor Samuels erstem Geburtstag, ging ich in sein Zimmer, um nach ihm zu sehen, und er atmete nicht mehr.« Eine einsame Träne rollte über ihre Wange, doch Mae sprach weiter, ohne sie wegzuwischen.
»Der Schmerz wird nie geringer. Glaube niemandem, der das behauptet. Ein Kind zu verlieren, ist … ein unerträglicher Schmerz.«
»Es tut mir leid«, sagte ich, weil ich keine anderen Worte fand.
»Alle sagten mir ›wenigstens bist du jung genug, um es noch einmal zu probieren‹.« Mae warf mir beim Gedanken daran ein bitteres Lächeln zu. »Aber ich wollte es nicht noch einmal probieren. Nach Samuels Tod habe ich mich monatelang im Bett verkrochen. Meine Familie, alles, was mir vertraut war und was ich liebte, war Tausende Kilometer weit weg. Und mein Mann, so sehr er mich liebte, war selbst sehr jung und damit beschäftigt, zu arbeiten und uns ein Leben aufzubauen …« Sie war einen Augenblick in Gedanken weit weg, doch dann schien sie sich plötzlich wieder daran zu erinnern, dass ich neben ihr saß, und fuhr fort.
»Ich war damals kaum älter als du, also kannst du dir gut vorstellen, wie es gewesen sein muss.« Mae sah mich liebevoll an, doch ich glaubte, auch eine unterschwellige Warnung in ihrem Blick zu erkennen. »Ich verstehe, dass es aufregend sein kann, ein völlig neues Leben mit einem attraktiven Fremden angeboten zu bekommen. Aber du trennst dich damit von allem, was dir vertraut ist.«
»Ich habe nicht das Gefühl, mich von etwas zu trennen«, antwortete ich lahm.
Ich versuchte zu verstehen, warum sie mir das alles erzählte, und meine Vermutungen gingen in Richtung Samuels Grabstein. Wahrscheinlich wollte sie mir erklären, wie unerträglich schmerzvoll es für einen Menschen ist, wenn er alles um sich herum überlebt.
Aber sie hatte ihr Baby auch als Mensch überlebt. Das hatte nichts mit der Entscheidung zu tun, zum Vampir zu werden.
»Nichtsdestotrotz.« Mae starrte geradeaus und umklammerte das Steuerrad so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. »Philip – Gott hab ihn selig! – blieb an meiner Seite, wo ein anderer Mann mich auf ein Schiff gesetzt und zu meinen Eltern zurückgeschickt hätte.
»Schließlich schaffte ich es, meine Depressionen zu überwinden und mein Leben wiederaufzunehmen. Ich arbeitete in einem Lebensmittelladen, um mich beschäftigt zu halten, und fand einige Freunde. Und eines Tages entschloss ich, dass es an der Zeit sei, es noch einmal zu versuchen.
»Schwanger zu sein, war das Wunderbarste, was mir je passiert war. Dieses kleine Leben zu spüren, das in mir heranwuchs …« Ihr Blick war selig, als sie davon sprach, wurde dann aber ernst, als sie sich zu mir wandte. »Das ist etwas, was du aufgeben wirst, dessen musst du dir im Klaren sein. Vampire können nicht schwanger werden und Kinder bekommen. Du wirst niemals eine Familie haben, wenn du dich für dieses Leben entscheidest.«
»Ich glaube sowieso nicht, dass ich einmal Kinder haben möchte.« In Wahrheit hatte ich darüber noch nicht wirklich nachgedacht, aber die Vorstellung, ein Kind zu haben, war mir nie sehr erstrebenswert erschienen.
»Nun, vielleicht änderst du deine Meinung, sobald du die Möglichkeit dazu nicht mehr hast«, antwortete Mae. »Du solltest gut darüber nachdenken.«
»Das werde ich«, versprach ich ihr, obwohl ich nicht glaubte, dass es mich in meiner Entscheidung beeinflussen würde.
Selbst wenn sie recht hatte und ich es eines Tages bedauern sollte, keine Kinder bekommen zu können, konnte ich meine Entscheidung dennoch nur jetzt treffen, auf der Basis meiner jetzigen Gefühle. Und momentan schien es für mich nicht wichtig, Kinder zu haben.
»Der Tag, an dem meine Tochter zur Welt kam, war der glücklichste meines Lebens«, sagte Mae mit einem breiten Lächeln und Freudentränen in den Augen. »Sie war so wunderschön. Sie hatte große blaue Augen, genau wie Philip, weiche, flaumige Löckchen, wie auch ich sie hatte, als ich geboren wurde. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich sie zum ersten Mal im Arm hielt, an das sanfte, warme Gewicht ihres kleinen Körpers … Ich versprach ihr, dass ich sie immer beschützen würde.« Sie seufzte schwer, und in ihre Augen kehrte die Traurigkeit zurück.
»Ich habe sie Sarah genannt, nach meiner Mutter.« Sie wischte sich eine Träne von der Wange. »Jeder Tag mit ihr war wie im Paradies. Ich bin sicher, jede Mutter hält ihr Kind für perfekt, aber sie war es wirklich. Sie weinte kaum und erwachte mit jenem wunderschönen Lächeln auf ihren pausbäckigen Wangen. Ich gab meinen Job in dem Lebensmittelladen auf, um möglichst viel Zeit mit ihr verbringen zu können. Jeder Augenblick mit ihr war so unendlich kostbar. Als ich eines Abends das Abendessen vorbereitete, merkte ich, dass wir keine Milch mehr hatten«, fuhr Mae fort. »Wir ließen uns die Milch von einem Mann ins Haus liefern, doch mit dem Baby ging die Milch schneller aus als normal. Sarah war fast zwei, und ich hatte noch nicht lange aufgehört, sie zu stillen. Philip war gerade erst von der Arbeit nach Hause gekommen, sodass ich ihn nicht gleich wieder fortschicken wollte. Außerdem war der Laden ganz in der Nähe, und es war ein schöner Abend. Ich erinnere mich daran, jenes schöne Frühlingskleid mit dem blauen Blumenmuster getragen zu haben, das ich selbst genäht hatte. Es war eines meiner Lieblingskleider, und ich hatte vorgehabt, mehr Stoff zu kaufen und für Sarah das gleiche Kleid zu machen.«
Sie schwieg eine Weile, und ich dachte schon, sie würde nicht weitersprechen, weil es zu schmerzvoll für sie war, doch schließlich fuhr sie fort.
»Er war so attraktiv, dass ich ihm überallhin gefolgt wäre«, sagte Mae bitter, wobei sie mit sich selbst verärgerter schien als mit ihm. »Ich war kaum einen Block weit gekommen, als er plötzlich wie aus dem Nichts heraus vor mir stand. Im Nachhinein betrachtet, war er nicht halb so gut aussehend wie Ezra, aber für mein menschliches Empfinden war er ein Adonis. Ich leistete nicht einmal Widerstand. Als er mich ins Gebüsch führte, war ich viel zu sehr von ihm berauscht, um an Sarah zu denken. Als er seine Zähne in meinen Hals versenkte, glaubte ich, ich müsse sterben, doch es war ein so herrliches Gefühl, dass mich nicht einmal der Tod erschreckte. Ich hätte ihn um mein Leben anflehen sollen, für Sarah, doch ich …«
»Du konntest nichts dafür«, versuchte ich, sie zu trösten. Obwohl ich noch nie in genau derselben Situation gewesen war, wusste ich dennoch, wie schwer es war, einem Vampir zu widerstehen. »Es war nicht deine Schuld.«
»Aber ich habe sie geliebt!«, beharrte Mae heftig. »Sie war mein Ein und Alles, und ich wollte den Rest meines Lebens damit verbringen, sie aufwachsen zu sehen! Stattdessen folgte ich einem Vampir ins Gebüsch und ließ mich von ihm beißen. Er hat mich ausgesaugt, und anstatt mich liegen zu lassen, bis ich mich erholen und zu meiner Familie zurückkehren konnte, bot er mir sein Blut an. Er sagte, ich schmecke zu gut, um mich für ein menschliches Leben zu verschwenden. Ich verstand nicht, was er meinte, und war noch völlig unter seinem Bann, also tat ich, was er von mir verlangte.« Sie lächelte gequält und verdrehte die Augen angesichts ihrer eigenen Unwissenheit.
»Ich hatte die Wahl!« Ihre Stimme versagte. »Ich bin die Einzige, die eine Wahl hatte. Ezra wurde dazu gezwungen, und Peter und Jack wurden verwandelt, um ihr Leben zu retten. Aber ich, ich wurde gefragt. Und ich habe eingewilligt, ohne zu verstehen, was es bedeutete. Freiwillig.«
»Aber du konntest nicht wissen, auf was du dich einlassen würdest.« Ich fragte mich, ob ich die Hand nach ihr ausstrecken sollte, doch ich wagte es nicht, weil sie zu verärgert schien.
»Ich lag danach zwei Tage lang in den Büschen, ohne mich herauszutrauen«, fuhr Mae fort. »Der Virus ergriff meinen Körper, und alles veränderte sich und starb. Ich war schwach und hatte schreckliche Schmerzen und keine Ahnung, was mit mir vor sich ging. Dann kehrten meine Kräfte allmählich wieder zurück und waren plötzlich viel größer als zuvor. Und dann kam dieser unstillbare Durst. Die ganze Zeit über hatte ich mich im Schmerz gewunden und an nichts anderes denken können als an Sarah und daran, dass ich zu ihr zurückkehren wollte. Doch als ich diesen Durst spürte, wusste ich, dass ich nie wieder zu ihr zurückkehren konnte. Es war zu riskant. Ich hatte keine Kontrolle über mich. In meinen ersten Stunden als Vampir hätte ich beinahe unseren Nachbarn getötet, so durstig war ich. Nachdem sich meine Blutlust etwas gelegt hatte, fühlte ich mich sicher genug, um nach Sarah zu sehen. Ich versteckte mich im Garten hinter dem Haus und schaute heimlich durchs Fenster.
Schon von Weitem hatte ich Sarah weinen gehört. Philip trug sie auf dem Arm, um sie zu beruhigen und sagte ›wir finden deine Mama, sie wird zu dir zurückkommen‹.« Wieder rollten Tränen über ihre Wangen.
Dann fuhr sie langsamer und parkte schließlich unter einem Baum am Straßenrand. Wir befanden uns in einem Außenbezirk, in dem ich noch nie zuvor gewesen war.
»Tagsüber schlief ich in den Wäldern und nachts saß ich vor dem Fenster und beobachtete Sarah. Sie schrie einen Monat lang jede Nacht nach mir. Philip ließ die Polizei nach mir suchen, sodass ich sehr vorsichtig sein musste, um nicht entdeckt zu werden.« Sie seufzte schwer. »Über sechs Monate lang habe ich so gelebt. Ich trug immer dasselbe Kleid und ernährte mich von unserem Nachbarn, weil er in der Nähe war. Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn mich Ezra nicht gefunden hätte. Vielleicht würde ich immer noch da draußen hinter dem Haus leben.«
»Was ist mit deiner Familie passiert?«, fragte ich.
»Philip hat schließlich ein Mädchen geheiratet, das ich aus dem Lebensmittelladen kannte. Sie war sehr nett und ich glaube, dass sie gut zu ihm war. Sie hatten zwei Kinder miteinander, und Sarah nannte sie schließlich Mom. Ich weiß nicht, ob sie sich überhaupt noch an mich erinnert. Wahrscheinlich ist es besser, wenn sie es nicht tut.«
Mae nickte zu einem Haus vor uns, in dessen Fenster ich die Silhouette einer älteren Frau erkennen konnte. Sie hatte einen kleinen Jungen auf dem Arm und lachte. Etwas an ihr wirkte auf mich sehr vertraut, ich konnte jedoch nicht genau sagen, was es war.
Dann dämmerte es mir: Ihr gewelltes, gräuliches Haar, die blasse Haut und sogar ihr Lächeln – all das war Mae.
»Das ist deine Tochter?« Ich schnappte nach Luft und sah sie ungläubig an.
»Ja.« Es schien sie zu freuen, dass mir die Ähnlichkeit aufgefallen war. »Sie ist Lehrerin. Sie war verheiratet, doch ihr Mann hat sie vor Jahren verlassen. Ezra wollte ihm einen Denkzettel verpassen, doch ich sagte ihm, er solle es nicht tun. Sarah muss ihr eigenes Leben leben. Sie ist jetzt fünfundfünfzig. Sie hat eine Tochter, Elizabeth, und der kleine Junge auf ihrem Arm ist ihr Enkelsohn Riley. Mein Urgroßenkel.« Sie lächelte traurig. »Unter der Woche, wenn Elizabeth arbeiten geht, passt sie auf ihre Enkelkinder auf. Riley ist drei, und Daisy ist vor Kurzem fünf geworden.«
»Dann kommst du regelmäßig hierher und beobachtest sie?«, fragte ich.
»Das war die einzige Möglichkeit, sie aufwachsen zu sehen«, erklärte Mae traurig. »Als sie klein war, ging ich nachts in ihr Zimmer und sah ihr beim Schlafen zu. Ich tat das sogar eine Weile bei Elizabeth, aber Ezra sagte, ich müsse anfangen sie loszulassen. Sarah hat ein schönes Leben, und darüber sollte ich einfach glücklich sein. Ich weiß, Ezra hat recht«, sagte Mae. »Es wird schwer sein mit anzusehen, wie sie alt und gebrechlich wird – sie sterben zu sehen.« Sie schluckte schwer. »Ich möchte meine Tochter nicht überleben. Ich habe schon eines meiner Kinder überlebt und mir geschworen, dass ich das nie wieder durchmachen würde.«
Sie sah mich an und flüsterte: »Es ist so viel schlimmer, jemanden sterben zu sehen, den du liebst, als einfach selbst zu sterben. Unsterblichkeit ist viel mehr ein Fluch als ein Segen.«
»Aber du hast Ezra, und Peter und Jack«, versuchte ich, sie zu trösten. »Ich weiß, das ist nicht dasselbe wie ein Kind, das du geboren hast, aber du liebst sie auch, und du wirst in alle Ewigkeit mit ihnen leben.«
»Ich weiß, und ich bin dankbar dafür, sie zu haben. Ohne Ezra hätte ich es niemals so lange ausgehalten.« Mae sah wieder zu ihrer Tochter hinüber. Durch den offenen Vorhang hindurch sahen wir Sarah einem kleinen Mädchen mit seidenen blonden Locken hinterherlaufen.
»Vor drei Jahren starb Philip. Ich weinte viel mehr, als ich es nach all den Jahren für möglich gehalten hätte. Er war immer gut zu mir gewesen und unserer Tochter ein wundervoller Vater. Damals hat Ezra unser Haus gebaut und gesagt, das würde unser letztes Zuhause sein in Minneapolis«, seufzte Mae. »Er mag es nicht, so lange in derselben Stadt zu wohnen, schon gar nicht in einer Stadt, in der Familienangehörige wohnen. Jacks Mutter hat eine Vermisstenanzeige aufgegeben, nachdem er zum Vampir geworden war, doch sie brachen die Suche schließlich wegen eines anderen Jugendlichen ab, der betrunken in einen gefrorenen See gefallen war.«
»Leidet Jack sehr darunter, dass er seine Mutter und seine Familie zurücklassen musste?«, fragte ich.
Er hatte mir nie von seiner Familie erzählt. Doch das hatte auch Mae bisher nicht getan, der ihre Familie so viel bedeutete.
»Er hat nach seiner Verwandlung jeglichen Kontakt zu seiner Mutter abgebrochen«, sagte Mae. »Er war nie sehr vertraut mit ihr gewesen. Sie hatte ihn verlassen, als er noch klein war, und nur seine Schwester mitgenommen, sodass er bei seinem Vater aufwuchs. Soweit ich es verstanden habe, war auch sein Vater kein besonders netter Mensch. Dann ist sein Vater an Krebs erkrankt, und seine Mutter war gezwungen, sich wieder um ihn zu kümmern. Um ehrlich zu sein, glaube ich, er ist froh darüber, dass er eine Entschuldigung hat, sie nicht mehr sehen zu müssen.«
»Warum seid ihr dann so lange hiergeblieben?«, fragte ich, obwohl ich mir die Antwort schon beinahe denken konnte.
»Weil ich mich geweigert habe fortzugehen«, sagte Mae schlicht. »Aber die Jungs werden langsam unruhig. Jack hat noch nie woanders gelebt, und auch Peter wird wohl zu anderen Ufern aufbrechen. Doch er war schon immer ein Ruheloser, den es nie lange am gleichen Ort hielt. In ein paar Jahren werde ich keine andere Wahl haben und umziehen müssen, ob ich will oder nicht. Und vielleicht ist es auch besser für mich, meine Tochter so dynamisch und rüstig in Erinnerung zu behalten, wie sie jetzt noch ist.«
»Wo werdet ihr hinziehen?«, fragte ich.
»Das wissen wir noch nicht genau. Ezra hat eine Liste von Orten, an die er gerne gehen würde. Wir haben an England gedacht, da wir beide, Ezra und ich, dort geboren sind und ich seit meinem sechzehnten Lebensjahr nicht mehr dort gewesen bin.« Sie sah mich ernst an. »In zwei oder drei Jahren werden wir von hier wegziehen und nie wieder nach Minnesota zurückkehren. Vielleicht werden wir viele Jahre lang überhaupt nicht nach Amerika zurückkommen.«
»Was sollte daran schlecht sein?«, fragte ich.
In ein anderes Land zu ziehen, klang absolut aufregend. Ich verstand deshalb nicht, warum sie das wie eine Warnung sagte.
»Du würdest deinen Bruder nicht wiedersehen können«, erklärte Mae sanft. »Selbst wenn wir hierblieben, könntest du höchstens von Weitem dabei zusehen, wie er älter wird. Ich habe das Leben meiner Familie immer nur als Zaungast mit verfolgt, ohne je Kontakt mit ihr aufzunehmen. Du wirst nie wieder mit Milo sprechen können, nachdem du verwandelt wurdest.«
»Aber …« Ich verstummte und suchte nach einem überzeugenden Argument, mit dem ich ihr widersprechen konnte. »Aber er hat euch doch alle kennengelernt! Warum sollte ich ihm nicht einfach erzählen können, was ihr seid – was ich sein werde? Er würde es verstehen. Und er würde keinem davon erzählen.«
»Einem Menschen davon zu erzählen, hieße nur, ihm das Leben schwerer zu machen«, sagte Mae ernst. »Wenn du dich gegen das Leben als Vampir entscheiden würdest, oder wenn wir es dir nie angeboten hätten, kannst du dir vorstellen, wie du dich dann fühlen würdest? In ein oder zwei Jahren würden wir aufbrechen und dich zurücklassen. Und du würdest wissen, was wir sind und dass wir existieren. Jedes Mal, wenn du dich in einen Jungen verliebst, wirst du dich fragen, ob du es nur tust, weil er ein Vampir ist. Du wirst älter werden und dich fragen, wie es wohl gewesen wäre, für immer jung zu bleiben. Und du wirst dich fragen, ob du dir das alles nur ausgedacht hast und an deinem Verstand zweifeln.«
»Aber glaubst du denn, es wäre besser für Milo, wenn er glauben würde, ich sei ermordet oder entführt worden?«, fragte ich ungläubig. »Wäre das wirklich die bessere Alternative?«
»Du willst ihn nicht sterben sehen, Alice!«, beharrte Mae mit Tränen in den Augen. »Ich weiß, dass du deinen Bruder nicht auf exakt dieselbe Weise liebst, wie ich meine Tochter liebe, doch schon Philips Tod war für mich unerträglich. Es ist schwer, sie zurückzulassen, es ist so unglaublich schwer, und dich wird immer die Frage quälen, ob es richtig war. Doch du hast keine andere Wahl. Die Unsterblichkeit verlangt von dir, dass du alles zurücklässt.«
»Erwartest du also von mir, dass ich auf alles, was ihr mir anbietet, verzichte, weil Milo sterben wird? Er wird auch so sterben! Selbst wenn ich ein Mensch bleibe, wird er nicht ewig leben!«, konterte ich. »Aber du und Jack und Peter werdet ewig leben. Ich wüsste nicht, wie ich zu meinem alten Leben zurückkehren könnte, wenn ich doch weiß, dass es euch gibt und ich nicht bei euch bin.«
»Ich wollte nur, dass du es dir bewusst machst«, sagte Mae und sah mich dabei ernst an. »Es ist notwendig, dass du genau weißt, worauf du dich einlässt. Es ist nicht fair, dir etwas anzubieten, das du nicht verstehst. Ich wollte dir die Möglichkeit geben, nicht denselben Fehler zu begehen, den ich begangen habe.«
»Soll das heißen, du willst nicht, dass ich zum Vampir werde?«, fragte ich erschrocken.
»Nein, nein, natürlich nicht, Liebes.« Sie streckte die Hand aus und streichelte mir sanft über die Wange. »Ich würde mir nichts mehr wünschen, als dir bis in alle Ewigkeit dabei zuzusehen, wie du dich in die bezaubernde Frau verwandelst, die du gewiss sein wirst. Doch ich kenne besser als jeder andere den Preis für das Leben als Vampir. Und ich möchte verhindern, dass du leidest.«
»Aber auch als Mensch werde ich Leute sterben sehen«, argumentierte ich. Sie nahm ihre Hand von meiner Wange, ließ jedoch ihre traurigen Augen auf mir ruhen. »Ich würde als Mensch sogar noch häufiger mit dem Tod konfrontiert sein, als ich es als Vampir wäre. Zumindest werdet ihr nicht sterben.«
»Das stimmt. Aber das macht es nicht leichter, deinen Bruder zu verlassen.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. Dann startete sie den Motor, wendete und fuhr weg vom Haus ihrer Tochter. »Ich dachte nur, du solltest es wissen und darüber nachdenken.«
»Danke.« Ich sank tiefer in den Sitz und starrte in die Dunkelheit hinaus, wo Häuser und Bäume an uns vorüberzogen. Mae sang leise die Lieder mit, die aus der Stereoanlage drangen, und versuchte so, ihre Traurigkeit zu vertreiben, bevor wir nach Hause kamen. Sie hatte mich vor eine unmögliche Wahl gestellt. Meinen Bruder aufzugeben oder sie alle.