Kapitel 10

»Was heißt das?« Ich wusste, dass ich meinen Schrecken nicht völlig verbergen konnte, doch er lächelte mich nur an.

»Ich habe deine Frage beantwortet.« Er nickte zu unserem Haus hinüber. »Schlaf jetzt besser. Wir reden morgen weiter.«

»Ja, klar, weil ich nach alledem schlafen kann«, brummte ich und öffnete die Tür. »Wann bist du nur so verdammt mysteriös geworden? Hast du gestern Nacht einen Vincent-Price-Film angeschaut oder so?«

Jack lachte nur, und ich stieg aus. Als er losfuhr, blieb ich einen Augenblick draußen stehen und spürte die kühle Luft auf meiner Haut. Mein ganzes Leben war im Begriff, sich zu ändern. Das spürte ich. Alles an mir würde anders sein, und ich hatte keine Ahnung, was aus mir werden würde.

Zum ersten Mal in meinem Leben wachte ich früher auf als Milo, allerdings nicht ganz freiwillig. Ich hatte von Peter geträumt, seinen smaragdgrünen Augen und von knirschenden Zähnen, doch als ich in kalten Schweiß gebadet erwachte, konnte ich mich an die Handlung des Traums nicht mehr erinnern. Mein Herz raste, und mir schwirrte der Kopf. Ich hatte letzte Nacht lange wach gelegen, weil ich das Gefühl nicht loswurde, dass mir etwas Unheilvolles bevorstand.

Sie wollten, dass ich eine von ihnen wurde? Was für ein Horrorfilmblödsinn sollte das sein? Sollte ich etwa in die Familie einheiraten? Und wenn ja, sollte ich dann Jack heiraten … oder Peter? Oder war es etwas Gruseligeres? Vielleicht gehörten sie ja einer Sekte an, und ich war eine Art Jungfrauenopfer oder so.

Ich ging unter die Dusche und hoffte, das Wasser würde meine Ängste wegwaschen. Trotz all der merkwürdigen und zum Teil unheimlichen Vorkommnisse, konnte ich mir nicht vorstellen, dass Jack mir je etwas zuleide tun könnte. Mae und Ezra schienen es ernst zu meinen mit ihrer unerklärlichen Zuneigung zu mir, und sogar Peter hatte behauptet, er wolle mir nichts Böses.

Doch wie sollte ich eine von ihnen werden? Und warum wollten sie das überhaupt? Was zum Teufel hatte Jack nur gemeint mit »eine von ihnen«? Was konnte das bedeuten.

Bis ich aus der Dusche kam, hatte ich das ganze Warmwasser verbraucht. Ich entschuldigte mich kleinlaut bei Milo, doch der zuckte nur mit den Schultern und behauptete, es mache ihm nichts aus, kalt zu duschen.

Noch nie war es mir so schwergefallen, in die Schule zu gehen, doch wenigstens war Freitag. Heute Abend konnte ich ausgehen, so lange ich wollte, und ich würde Jack, falls nötig, die ganze Nacht hindurch mit Fragen löchern und nicht lockerlassen, bis er mir alles gesagt hatte.

Der Tag verging überraschend schnell, was hauptsächlich daran lag, dass ich die ersten drei Schulstunden verschlief. In der Mittagspause schrieb ich Jack eine SMS und fragte ihn, wann wir uns treffen sollten.

Während er mir sonst in Sekundenschnelle zurückschrieb, antwortete er diesmal nicht. Ich hatte das eigentlich schon beinahe erwartet, schließlich blieb er die ganze Nacht wach. Trotzdem schaute ich alle zehn Minuten auf mein Handy und war jedes Mal enttäuscht, dass er noch nicht geantwortet hatte.

Als ich nach Hause kam, schaltete ich den Fernseher ein und schaute eine Wiederholung der alten Zeichentrickserie Speed Racer, ohne jedoch wirklich der Handlung zu folgen. Mein Handy, das ich auf volle Lautstärke eingestellt hatte, lag auf meinem Schoß, während ich ungeduldig mit dem Fuß auf und ab wippte und krampfhaft die Arme vor der Brust verschränkt hielt, um nicht auf den Fingernägeln zu kauen.

»Gehst du heute Abend wieder zu Jack?« Milo saß neben mir auf der Couch und sah sich den Film offenbar ebenso abwesend an wie ich. Er blickte zu mir herüber, und trotz meines eigenen desolaten Gemütszustandes bemerkte ich den gequälten Ausdruck auf seinem Gesicht.

»Wahrscheinlich.« Dann schaute ich auf mein Handy und seufzte. »Vielleicht auch nicht.«

»Ich könnte für uns ein Abendessen kochen, wenn du hierbleiben würdest«, bot Milo hoffnungsvoll an.

Obgleich sich seine Stimme bereits verändert hatte, sah er durch den Babyspeck in seinem Gesicht immer noch wie ein kleiner Junge aus, und ich konnte es kaum erwarten, bis er aus dieser Phase endlich herausgewachsen war. Dann würde es mir nämlich endlich nicht mehr so schwerfallen, ihn zu enttäuschen.

Ich hatte ihn in letzter Zeit wirklich sträflich vernachlässigt, und es musste schrecklich für ihn sein, Abend für Abend allein in dieser kleinen Wohnung zu sitzen. Doch ich musste den Dingen mit Jack auf den Grund gehen.

»Das ist eine gute Idee, aber nicht heute Abend.« Obwohl ich seine Einladung so behutsam wie möglich abgelehnt hatte, machte er dennoch ein langes Gesicht und wandte sich von mir ab. »Vielleicht klappt es ja an einem anderen Tag dieses Wochenende.«

»Du wirst dich jeden Abend mit Jack treffen.« Obwohl sich Milo um einen sachlichen Ton bemühte, klang er dennoch verbittert. »Es ist Wochenende, und du bist siebzehn. Ich sollte wirklich nichts anderes erwarten. Und bald wirst du ganz ausziehen und dein eigenes Leben haben und all das. Ich sollte mich besser schon jetzt daran gewöhnen.«

»Komm schon, Milo. Du weißt genau, dass du immer ein Teil meines Lebens bleiben wirst.« Noch vor einigen Wochen hätte ich das mit voller Überzeugung gesagt. Milo war mein Bruder und damit ein wichtiger Teil meines Lebens, daran konnte niemand etwas ändern.

Das hatte ich zumindest geglaubt, bis Jack mir prophezeit hatte, dass sich mein Leben von Grund auf verändern würde – dass ich mich ändern würde. Vielleicht würde ich an einen Ort gehen, an den mir Milo nicht würde folgen können. So leid es mir täte, ihn zurückzulassen, der Gedanke an ein Leben ohne Jack und Peter erschien mir noch unerträglicher.

»Wenn du das sagst«, antwortete Milo wenig überzeugt. Vielleicht stand es mir mittlerweile schon ins Gesicht geschrieben, dass ich bereits mit einem Fuß vor der Tür stand.

Als mein Handy schließlich Jacks Klingelton von sich gab, setzte mein Herzschlag einen Moment aus und ich griff hastig danach, was Milo mit einem genervten Augenverdrehen quittierte.

Wann treffen wir uns?, fragte Jack.

So bald wie möglich.

Weißt du, was cool wäre? Warum bringst du Milo nicht mit?, schrieb Jack zurück, womit er in mir eine Flut widersprüchlicher Gefühle provozierte.

Ihn mitzunehmen, würde sicherlich mein Gewissen erleichtern, doch es hieße auch weniger Zeit allein mit Jack, in der ich ihn mit Fragen löchern konnte. Außerdem hatte ich noch nicht herausgefunden, was sie von mir, geschweige denn von Milo wollten. Aber er würde sie mögen, vor allem Mae.

Ich entschied schließlich, dass es nur einen Weg gab, eine Entscheidung zu treffen.

»Milo, willst du heute Abend zu Jack mitkommen?« Ich bemühte mich, nicht den Eindruck zu erwecken, ich frage ihn gegen meinen Willen, und schenkte ihm sogar ein Lächeln, um ihm das Angebot schmackhaft zu machen.

»Wie meinst du das?« Seine Augen begannen bereits zu glänzen, und seine Stimme stieg eine Oktave höher, doch er wollte sichergehen, dass er mich richtig verstanden hatte, bevor er zustimmte.

»Einfach zu Jack nach Hause gehen und dort rumhängen. Er hat Guitar Hero und so Zeug.« Das war ein weiterer Bonus für Jack. Er würde jemanden haben, der gerne mit ihm Videospiele spielte und obendrein auch noch ziemlich gut darin war.

»Möchtest du wirklich, dass ich mitkomme?«, fragte Milo zögernd, und ich lächelte ihn aufmunternd an.

»Natürlich möchte ich das.« Ich wollte mehr Zeit mit ihm verbringen, wusste aber nicht, ob das die beste Lösung dafür war.

Andererseits fiel mir aber auch keine bessere ein, und mir war schließlich noch nichts Schlimmes passiert, seit ich Jack kannte. Im Gegenteil: Er hatte mir bereits zweimal das Leben gerettet. Eigentlich hatte ich keinen Grund, mir Sorgen zu machen. Warum tat ich es also trotzdem?

»Wenn das so ist. Ja, das wäre cool.« Milo sprang auf und rannte in sein Zimmer, um sich umzuziehen. Er war immer noch verknallt in Jack, doch ich war sicher, das würde sich ändern, sobald er Peter und Ezra kennenlernte.

Er ist dabei. Wann holst du uns ab?, antwortete ich Jack.

In fünf Minuten. Bin schon unterwegs. Und da sollte noch einer sagen, Jack habe keine übernatürlichen Fähigkeiten.

»Du beeilst dich besser!«, rief ich Milo zu und ging ins Bad, um mein Make-up aufzufrischen. Die Klamotten, die ich anhatte, würden genügen müssen, doch zumindest wollte ich dort nicht mit verschmiertem Eyeliner auftauchen.

»Er wird in fünf Minuten hier sein!«

»Fertig!«, antwortete Milo kurz darauf. Ich warf einen Blick zur Badezimmertür hinaus und stellte fest, dass er sein Outfit kaum verändert hatte: ein weißes Langarmshirt mit einem grünen Polohemd darüber und ein Paar Jeans.

»Bist du sicher, dass du mitkommen willst?«, fragte ich ihn, als ich im Bad fertig war.

Beim Hinausgehen kontrollierte Milo zweimal, ob die Tür auch wirklich geschlossen war und er die Hausschlüssel eingesteckt hatte – etwas, das ich nie tat.

»Ja, warum auch nicht?« Dann warf er mir einen nervösen Blick zu. »Willst du mich etwa doch nicht dabeihaben?«

»Nein, so meinte ich es nicht!«, sagte ich schnell und lächelte ihn an. »Natürlich möchte ich, dass du mitkommst.« Ich drückte auf den Fahrstuhlknopf und wandte mich dann wieder zu ihm. »Es gibt da nur ein paar Dinge, die du wissen solltest, bevor wir gehen.«

»Und die wären?« Milo sah mich stirnrunzelnd an. Die Fahrstuhltür öffnete sich, und wir stiegen ein. Glücklicherweise waren wir allein, denn ich hätte ungern vor Fremden mit ihm über diese Dinge gesprochen.

»Erstens: Seine Brüder sind echt scharf. Ich meine, wie Filmstars, nur viel schärfer. Ich weiß, dass du von Jack begeistert bist, aber verglichen mit seinen Brüdern, sieht er blass aus. Ich sah ihn an, um seine Reaktion abzuschätzen, doch er schaute vor allem skeptisch.

»Zweitens: Seine Familie ist megareich. Eines ihrer Autos kostet locker das Doppelte von Moms Jahresgehalt, und sie haben fünf davon und dazu noch ein Wahnsinnshaus. Es ist echt einschüchternd.«

»Wie reich ist das?« Milo fing langsam an nervös zu werden, was hieß, dass er mich verstanden hatte. »So reich wie Bill Gates?«

»Ich weiß nicht. Ich habe nicht gefragt«, antwortete ich. »Ihr Reichtum interessiert mich nicht.

»Woher haben sie denn so viel Geld?« Natürlich wollte Milo für alles den Grund erfahren. Ich hatte Jack immer schon fragen wollen, womit Ezra und Peter ihr Geld verdienten, doch immer hatten mich andere Dinge wieder davon abgebracht.

»Das habe ich auch nicht gefragt«, stöhnte ich, und die Aufzugtüren öffneten sich zur Eingangshalle.

»Gibt es noch etwas, das ich über sie wissen sollte?«, fragte Milo, als wir zum Ausgang liefen.

»Jack fährt verflucht schnell, aber es ist trotzdem absolut sicher.« Ich drückte die Glastüren auf, und wir traten ins Freie.

»Echt?« Milo rümpfte die Nase. »Wie schnell?«

»Das wirst du gleich selbst erleben«, antwortete ich knapp, eilte zu Jacks Jeep und stieg ein, bevor mich Milo noch weiter löchern konnte.

Und da begriff ich plötzlich, warum Jack Milo eingeladen hatte: Er wusste, ich würde vor Milo keine heiklen Fragen mehr stellen, was die letzte Nacht anging.

Irgendwann würde ich Milo wahrscheinlich alles erzählen müssen, jedoch bestimmt nicht heute. Vielleicht dann, wenn ich selbst die Antworten auf meine Fragen kannte und alles erklären konnte. Bis dahin wollte ich die Sache noch für mich behalten.

»Hi.« Jack lächelte mich an und drehte sich dann zu Milo um. »Hi, Milo. Schön, dich wiederzusehen.«

»Ja, ebenfalls«, antwortete Milo. Er starrte Jack zwar einen Moment fasziniert an, hatte sich aber viel besser unter Kontrolle als andere, und ich fragte mich, ob das daran lag, dass er schwul war. Vielleicht hatte er aber auch einfach eine erstaunlich gute Selbstbeherrschung.

»Was hast du für heute Abend geplant?«, fragte ich, während Jack den Highway entlangraste.

»Keine Ahnung.« Jack zuckte mit den Schultern. »Ich dachte einfach, es wird Zeit, dass sich deine und meine Familie kennenlernen.«

»Warum?«, fragte ich.

»Warum nicht?«, konterte Jack.

»Ich weiß nicht. Wir kennen uns schließlich noch gar nicht so lange und haben auch nicht vor zu heiraten oder so.«

Das wäre normalerweise der richtige Zeitpunkt, die Familien zusammenzuführen, und nicht, wenn man sich erst ein paar Wochen lang kennt und nur miteinander befreundet ist.

»Nein, so ist es bestimmt nicht.« Jack nahm einen tiefen Atemzug und drehte die Stereoanlage auf, sodass die Violent Femmes aus den Lautsprechern dröhnten.

Wir schwiegen für den Rest der Fahrt, doch als wir die Einfahrt zu seinem Haus entlangfuhren, hörte ich, wie Milo auf dem Rücksitz nach Luft schnappte und flüsterte: »Das ist ja ein richtiges Schloss.«

Obwohl ich schon zweimal hier gewesen war, verschlug es mir immer noch den Atem, wenn ich das Haus sah. Vor allem der Turm hob es von anderen Häusern ab und passte so gut zu seinen Bewohnern. Und nachdem ich Ezra kennengelernt hatte und wusste, dass er das Haus entworfen hatte, schien mir alles nur noch perfekter.

»Ist Mae ausgegangen?«, fragte ich.

Als wir in die Garage fuhren, war mir aufgefallen, dass ihr schwarzer Jetta fehlte. Die letzten Male, als ich hier war, war die Garage immer voll gewesen, weshalb mir der leere Parkplatz umso mehr ins Auge fiel.

»Ja, aber ich dachte, sie würde inzwischen wieder zurück sein.«

Über Jacks Gesicht huschte ein nervöses Zucken, das Besorgnis verriet, doch er überspielte es sofort mit einem breiten Grinsen. »Sie wird bald hier sein. Und Ezra und Peter sind im Haus.« Dann stieg er aus, und wir folgten ihm.

»Hey, warte«, sagte ich mit gedämpfter Stimme und hielt Jack am Arm fest. Milo war einige Schritte hinter uns und bewunderte den Lamborghini. Er hatte sich nie besonders für Autos interessiert, doch der Lamborghini beeindruckte jeden. »Wird Peter nett zu Milo sein?«

»Oh ja, das wird er«, sagte Jack nickend.

»Dann hat er also nur mit mir ein Problem?« Mein Herz krampfte sich zusammen.

Ich hatte insgeheim gehofft, Peter würde sich mir gegenüber deshalb so kühl verhalten, weil ich eine Fremde war. Doch wenn er mit Milo kein Problem hatte, dann musste es wohl an mir persönlich liegen.

»Du bist ein wesentlich komplizierterer Fall«, flüsterte Jack.

»Ist kompliziert eigentlich dein Lieblingswort oder so?«, murmelte ich, und er lachte.

»Warum stehen wir hier in der Garage herum?«, piepste Milo dazwischen.

Der Lamborghini hatte Milos Aufmerksamkeit nicht allzu lange fesseln können, sodass er nun hinter uns stand und uns verwundert ansah.

»Das tun wir nicht.« Jack ging schnellen Schrittes weiter, und Milo und ich folgten etwas langsamer.

Jack stieß die Tür auf und wurde sofort von Matilda begrüßt, die freudig an ihm hochsprang. Ohne Mae, die sie festhielt oder ihrer Euphorie Einhalt gebot, konnte sie an Jack hochspringen und ihn vollsabbern, so viel sie wollte.

»Ach ja, und sie haben auch einen Hund«, sagte ich zu Milo und wies auf das große weiße Pelzknäuel auf Jacks Arm. Offenbar wurde sich Jack plötzlich wieder der Gegenwart Milos bewusst, denn er setzte Matilda viel früher ab als sonst.

»Ja, das sehe ich«, sagte Milo trocken.

»Das ist Mattie!« Jack kraulte die Hündin am Kopf. »Sie ist ein gutes Mädchen. Sie ist nur ein kleines Riesenbaby.«

»Das kann ich mir vorstellen.« Milo stand etwas abseits und sah Jack dabei zu, wie er mit Matilda raufte.

Plötzlich erschien Ezra in der Türöffnung, und nachdem ich ihn selbst einen Moment bewundert hatte, schaute ich mich um, weil ich sehen wollte, wie Milo auf ihn reagierte. Er hatte die Augen weit aufgerissen und sogar sein Kiefer hing etwas schlaff herunter, und ich fragte mich, ob ich genauso verblüfft ausgesehen hatte, als ich Ezra zum ersten Mal sah.

»Ach, ihr seid es nur«, sagte Ezra.

»Danke schön«, erwiderte Jack sarkastisch, beendete sein Raufen mit Matilda und stand auf.

»Oh, tut mir leid, so meinte ich das nicht.« Über Ezras Gesicht breitete sich ein Lächeln, das mir den Atem raubte. »Ich dachte, es sei vielleicht Mae.« Als er ihren Namen aussprach, wechselten er und Jack einen besorgten Blick. »Aber sie ist noch nicht zurück.«

»Ich kann mir nicht denken, was sie so lange aufhält«, sagte Jack zunehmend nervös.

Ezra wandte sich Milo zu.

»Du musst Alice’ Bruder sein.« Ezras Lächeln kehrte zurück, und er ging zu Milo, um ihm die Hand zu schütteln. Ich beobachtete Milo, um herauszufinden, ob er bemerkte, wie seltsam – und dennoch angenehm – sich seine Hand anfühlte. Doch nichts an seinem Gesichtsausdruck deutete darauf hin. Er lächelte Ezra nur stumm an. »Es ist mir ein Vergnügen, dich kennenzulernen. Ich bin Ezra.«

»Milo«, sagte er atemlos, als fiele ihm das Sprechen schwer. Endlich war ich nicht mehr die einzige, die jeden angaffte.

»Weißt du was, Jack«, sagte ich, um von Milos peinlichem Starren abzulenken. »Milo ist ein echter Fan von Videospielen.«

»Ehrlich?« Jacks Gesicht hellte sich auf, und ich dachte schon, er würde Milo den Arm um die Schulter werfen und mit ihm im Wohnzimmer verschwinden. »Na dann mal los. Ich habe alles, ohne Witz, wirklich alles. Von Grand Theft Auto bis Pong hast du die freie Wahl.« Dann flitzte Jack ins Wohnzimmer davon und Milo hinterher, nicht aber, ohne Ezra vorher noch einen letzten sehnsüchtigen Blick zugeworfen zu haben.

»Echt? Du hast Pong? Warum denn das?«

»Weil es fantastisch ist!«, erklärte Jack und klang aufgrund der Frage leicht beleidigt.

»Endlich hat er jemanden gefunden, der mit ihm spielt.« Ezra schenkte mir ein dankbares Lächeln, und ich musste wegsehen, um nicht rot zu werden. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel Zeit er mit diesen verdammten Spielen verbringt. Mae versucht ihn immer dazu zu bewegen, auszugehen und sich eine sinnvolle Beschäftigung zu suchen, aber bisher fast ohne Erfolg. Sie war deshalb so froh, als er dich kennengelernt und endlich das Haus verlassen hat.«

»Nun, ich bin froh, dass ich helfen konnte«, antwortete ich verlegen. »Wo ist Mae?«

»Ähm, sie ist ausgegangen.« Ezras üblicherweise offenes Gesicht wirkte plötzlich verschlossen. Es war derselbe Ausdruck, den Jacks Gesicht annahm, wenn ich ihm eine Frage stellte, auf die er mir keine Antwort geben wollte. »Sie müsste wirklich bald zurück sein.«

»Ich wollte ihr nur gerne Milo vorstellen.« Ich rieb verlegen meinen Arm und fürchtete, ich könnte mich mit meiner Frage auf verbotenes Terrain begeben haben. »Ich bin sicher, er würde sie sehr mögen.«

»Jeder mag Mae«, Ezra lächelte, und ich kam mir plötzlich dumm vor. Tatsächlich mochte sie jeder, weshalb es überflüssig schien, das zu betonen.

»Ja, sicher«, stotterte ich. Er lachte, und es war ein fantastisches Lachen, jedoch nicht ganz so eindrucksvoll wie Jacks. Ich bezweifelte, dass je irgendjemand Jacks Lachen übertreffen konnte, nicht einmal jemand, der so perfekt war wie Ezra.

»Ich bin ein echter Glückspilz«, schwärmte er beim Gedanken an seine Frau, und ich wünschte, ich hätte auch jemanden, der mich so innig liebte und verehrte. Dann schien Ezra ein anderer Gedanke durch den Kopf zu gehen, denn sein Gesichtsausdruck veränderte sich. »Peter ist oben, wenn du mit ihm sprechen willst.«

»Oh.« Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, mit Peter zu sprechen, denn ich fürchtete mich vor jenen zwiespältigen Gefühlen, die er in mir auslöste. Einerseits fühlte ich mich von ihm magisch angezogen, andererseits könnte ich heulend vor ihm davonlaufen. Doch Ezra hatte es so gesagt, dass ich nicht zu widersprechen wagte.

Außerdem sehnte sich mein Körper nach den Gefühlen, die Peter in mir hervorrief, auch wenn sie von Schmerz und Verwirrung begleitet wurden. »Dann werde ich mal zu ihm hochgehen.«

»Ich bleibe hier und warte auf Mae.« Ezra blieb an der Tür stehen und erinnerte mich, als ich mich nochmals nach ihm umsah, ein wenig an einen verloren gegangenen Welpen.

Ich kam am Wohnzimmer vorbei, doch Jack und Milo waren so gebannt von irgendeinem Kriegsvideospiel, dass sie mich nicht bemerkten. Als ich die Treppe hinaufging, dachte ich an meine erste Begegnung mit Peter und daran, wie er mich über den Rand seines Buches hinweg angeschaut hatte. Ich hoffte inständig, dass sich dieser Moment heute Abend nicht wiederholte. Doch wenn mich Ezra zu ihm hochschickte, konnte ich wohl darauf vertrauen, dass es dazu nicht kommen würde.

Die Tür zu Peters Zimmer stand offen, und ich spähte vom Gang aus hinein. Als ich Peter sah, stockte mir der Atem, und ein heißes Kribbeln durchfuhr mich.

Er trug nur eine Jeans und rubbelte sich gerade mit einem weißen Handtuch das Haar trocken. Er war nicht übermäßig muskulös, doch die Konturen seines wohlgeformten Oberkörpers waren ausgeprägt und fest. Unter seinem Bauchnabel führte ein dünner Streifen dunklen Flaums nach unten und machte mich neugierig auf das, was sich unterhalb des Bundes seiner Jeans versteckte.

Als er mich bemerkte, ließ er das Handtuch aufs Bett fallen und sah mich mit seinen grünen Augen durchdringend an. Ich begehrte ihn, wie ich noch nie zuvor jemanden begehrt hatte.

»Ich komme gerade aus der Dusche«, sagte Peter.

Ich war wie in Trance, sodass seine sanfte Stimme wie aus weiter Ferne an mein Ohr drang. Er wandte den Blick von mir ab, nahm ein weißes T-Shirt vom Stuhl und streifte es sich zu meinem großen Bedauern über.

»Ich … wollte dich nicht stören«, stotterte ich.

»Du störst nicht.« Er setzte sich aufs Bett und schüttelte sein feuchtes Haar.

Ich blieb im Türrahmen stehen und wartete ungeduldig darauf, dass er etwas sagte. Tief in mir drin spürte ich, wie sich mein Herz zu ihm hingezogen fühlte, als würde er wie mit einem unsichtbaren Band behutsam daran ziehen. Er sah mich mit einem seltsam schmerzvollen Ausdruck an, den ich nicht deuten konnte.

»Du kannst reinkommen, wenn du willst«, sagte er schließlich.

Als ich eintrat, hatte ich nicht das Gefühl zu gehen, sondern vielmehr zu ihm gezogen zu werden, bis ich plötzlich gefährlich nah neben ihm auf dem Bett saß.

Er duftete herrlich nach Apfel, und ich sog den betörenden Duft tief in mich ein. Wahrscheinlich war es der Duft seines Duschgels, doch darunter lag eine wunderbar herbe Note, die allein von ihm stammen musste.

»Du riechst gut«, sagte ich und schämte mich sofort für diese dumme Bemerkung.

Er lächelte. Es war das erste wirkliche Lächeln, das ich an ihm sah, und es überwältigte mich, so vollkommen war es. Dann lachte er, und mich durchströmte ein wohliges Kribbeln, das mir Gänsehaut verursachte.

»Wonach rieche ich denn?« Peter lehnte sich näher zu mir, als vertraue er mir ein Geheimnis an.

Sein Gesicht war so nah vor meinem, dass sein Atem eine feuchte Locke, die ihm in die Stirn gefallen war, gegen meine Wange blies. Und meine Haut bebte erwartungsvoll und sehnte sich nach mehr.

»Nach Apfel?« Ich wunderte mich, woher ich die Kraft nahm zu sprechen.

Ich wusste, dass unsere Unterhaltung völlig lächerlich war, doch ich hatte nur ihn im Kopf. Und damit meine ich nicht die Gedanken an ihn, ich meine ihn selbst. Es war, als wäre er in mich hineingeschlüpft und zu einem Teil von mir geworden, doch das genügte mir nicht. Ich sehnte mich nach mehr.

»Ja.« Er lächelte schief und lehnte sich wieder etwas zurück.

Ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, glich ich den Abstand wieder aus, um ihm so nah zu sein wie zuvor.

»Warum hasst du mich?« Die Worte kamen wie von selbst aus meinem Mund, und ich traute meinen Ohren kaum, als ich mich das sagen hörte.

Innerlich rief ich: Sei still! Sei still! Das kannst du ihn unmöglich fragen! Doch offensichtlich hatte er den Blutstrom zu dem Teil meines Gehirns blockiert, der für meine Hemmungen zuständig war. Wenn ich nicht aufpasste, verriet ich ihm womöglich gleich meine intimsten Geheimnisse.

»Ich hasse dich nicht«, antwortete er und senkte beschämt den Blick.

Es quälte mich, ihm nicht mehr in die Augen schauen zu können, doch gleichzeitig empfand ich auch eine gewisse Erleichterung, weil ich nun etwas klarer denken konnte.

»Warum verhältst du dich dann so?«, beharrte ich.

Was zum Teufel tat ich da nur? Ich war sonst absolut schüchtern, und jetzt plötzlich, im denkbar ungünstigsten Moment, verlor ich jegliche Hemmungen.

»Ich weiß es nicht.« Er hob den Blick und starrte geradeaus ins Leere. Seine schönen Züge gefroren zu einer gequälten Maske.

»Du willst mich aber hassen«, sagte ich beinahe lautlos, doch er hatte mich verstanden.

»Das stimmt nicht ganz.« Seine Züge wurden weicher, und er sah mich an.

Ich spürte, wie mich sein Blick durchdrang, und das Herz schlug mir bis zum Hals. Er legte sanft seine Hand auf meine, und ich fühlte dieselbe elektrische Spannung, die ich bereits gestern gespürt hatte, nur noch viel intensiver. Ein Gefühl des Wohlbehagens rieselte durch meinen Körper, und ich schloss die Augen.

Dann zog Peter seine Hand plötzlich zurück, und ich riss die Augen auf. Sein Gesicht war unmittelbar vor meinem, und sein Blick war voller Gier. Er blieb regungslos, doch als er sprach, klang es wie ein leises Fauchen.

»Geh, bevor ich etwas sehr Schlimmes mit dir tue.«