Undercover im Fernsehen
Es war Samstag und ich hatte frei. Doch kein Grund, keine Recherchen anzustellen. Wem gehörte der Daimler? Ich versuchte es zuerst beim Zentralruf der Autoversicherer. Da gab ich mich als Mitarbeiterin des Polizeipräsidiums Düsseldorf aus und erzählte, dass wir Rechnerprobleme hätten und in einer Unfallfluchtsache ganz schnell den Halter eines Fahrzeugs ermitteln müssten. Das entlarvte mich.
»Netter Versuch«, sagte der freundliche Herr am anderen Ende der Leitung. »Aber Sie sind nicht die Polizei. Sonst wüssten Sie, dass wir gar keine Halterdaten haben. Wir haben nur die Versicherungsnummern.«
Ich merkte, wie ich rot wurde. Zum Glück konnte er mich nicht sehen.
»Tschüss«, sagte der Herr und legte auf.
Ich benutzte meinen Lippenstift, um mich in Stimmung zu bringen, legte eine Extraportion Charme in meine Stimme und rief Kleist an. Ob die Schminke half, weiß ich nicht, aber er ließ sich bezirzen. Das Auto war auf eine Firma zugelassen. Die Motte GmbH aus München.
Ich rief die Homepage der Firma auf und staunte nicht schlecht. Die Motte GmbH war eine große deutsche Waffenschmiede. Sie stellte gepanzerte Rad- und Kettenfahrzeuge, Minenräumsysteme, ABC-Schutzsysteme, Waffen und Munition für Panzer und Artillerie, Flugabwehrsysteme und Hochleistungsradare her und noch ein paar Dinge, deren Verwendung ich nicht wissen wollte.
Das nennt man volles Programm, dachte ich und klickte weiter. Die Firma war im Familienbesitz und gehörte zu den ganz großen Kriegswaffenhändlern in Europa. Achtzig Prozent des Gewinns fuhr das Unternehmen durch Waffenexporte ein. Natürlich alles legal.
Mich beschlich das Gefühl, etwas Wichtiges entdeckt zu haben, doch einordnen konnte ich es noch nicht. Die Motte GmbH war zu groß, um Bierstädter Neonazis mit Waffen auszustatten. Dass diese militanten Jungs Panzer oder Kampfjets in der Garage stehen hatten, mochte ich doch nicht glauben.
Mein Handy meldete sich: Pöppelbaum.
»Willst du immer noch mit Fabian Fellner reden?«, fragte er.
»Na, klar.«
»Der Publizist Holger Bruns tritt heute Abend in einer Fernsehdiskussion auf«, berichtete er. »In Köln. Livediskussion zum Thema Rechtsrock. Mit Publikum. Kannst du uns Karten besorgen?«
»Wayne, du bist genial!«, rief ich aus. »Ich kümmere mich drum.«
Eine Stunde später hatte ich über die Pressestelle des Senders erreicht, dass wir auf der Gästeliste standen.
Die Diskussion fand in einer ehemaligen Fabrik statt. Ein riesiger Monitor schwebte über der Gesprächsrunde. Der Moderator namens Hausberg galt als zupackend und kompetent. Die Gäste saßen auf roten Sesseln, Hausberg würde an einem Pult stehen – in seinem Rücken die Stuhlreihen mit dem Publikum.
Wir setzten uns auf die Presseplätze. Während der Sendung war Fotografieren untersagt. Doch daran hielt sich niemand. Zuschauer knipsten sich gegenseitig mit Handys fürs Familienalbum. Auch Wayne hatte natürlich eine kleine Kamera dabei, die auch ohne Blitz messerscharfe Bilder produzierte.
»Mich wundert echt, dass sich Fellner hier im Fernsehen zeigt«, sagte ich. »Der gefährdet doch seine Tarnung.«
»Noch dreißig Sekunden bis zur Sendung«, tönte es aus einem Lautsprecher. »Bitte Applaus, wenn Herr Hausberg erscheint.«
Die Erkennungsmelodie erklang und der Moderator trat hinter Stellwänden hervor, auf denen der Titel der Sendung zu lesen war: Klar und deutlich.
Braver Applaus. Die Gäste folgten Hausberg auf das Podium und wurden vorgestellt. Politiker der großen Parteien, eine Gewerkschafterin, ein Musikkritiker und schließlich der »Publizist Holger Bruns, der seit Jahren undercover in der Neonaziszene ermittelt.«
Ein Mann mit schwarzer Wollmütze, Sonnenbrille, Vollbart und buschigen Brauen kam auf die Bühne, grüßte in die Runde und setzte sich.
»Herr Bruns hat sein Äußeres verändert, weil er nicht erkannt werden will«, erklärte Hausberg. »Er arbeitet verdeckt und würde sich in tödliche Gefahr begeben, wenn man ihn identifiziert.«
»So geht es natürlich auch«, raunte ich Wayne zu.
Die Gäste gaben ihre ersten Statements ab. Natürlich waren alle gegen Rechtsextremismus und Rassismus.
Ich behielt Bruns im Auge. Wenn ich ihm so auf der Straße begegnet wäre, hätte ich Fellner nicht erkannt.
Er scheint geschrumpft und dicker geworden zu sein, dachte ich erstaunt.
»Die Konzerte der Neonazis finden im Geheimen statt«, erzählte Bruns gerade. »Vor mehr als zehn Jahren habe ich damit begonnen, solche Veranstaltungen mit versteckter Kamera zu filmen.«
»Und ein Video von Holger Bruns spielen wir jetzt ein, damit alle wissen, wovon wir überhaupt sprechen«, kündigte Hauberg an. »Film ab!«
»Der redet auch ganz anders als Fellner«, flüsterte ich verdattert.
Doch Wayne hörte mir nicht zu, sondern schaute zum Monitor.
Ein rauchgeschwängerter Raum. Publikum. Eine Gruppe Männer in Naziuniformen auf der Bühne. E-Gitarren, Schlagzeug, Verstärker.
Kommentar: Diese Band heißt Morbus Hohn. Sie spielt in einem Jugendzentrum im Osten Deutschlands. Heute Abend vor ausgewähltem Publikum.
Hardrockklänge zum Ohrenabfliegen.
Der Sänger beginnt: Adolf Hitler, steig hernieder und regiere Deutschland wieder. Zum Himmel heben wir die Hand, für Führer, Volk und Vaterland …
Mehrere Zuhörer heben die Hand zum Hitlergruß und grölen: Sieg-Heil!
Kommentar: Dies sind Funktionäre der NPD.
Ranfahrt auf zwei Männer in Anzügen.
Kommentar: Sie sitzen in Kommunalparlamenten und werden aus Steuergeldern finanziert.
O-Ton Song: Adolf Hitler, steig hernieder und regiere Deutschland wieder …
Das Publikum singt feixend mit.
Der Sänger geht zu einer neuen Melodie über: Eine U-Bahn, eine U-Bahn …
Das Publikum singt weiter: … nach Auschwitz bauen wir.
Kommentar: Auch die NPD-Politiker machen mit und erheben die Hand zum verbotenen Hitler-Gruß. Wenn Neonazis glauben, sie seien unter sich, fallen die Hemmungen. Dann zeigen sie offen ihre Gesinnung, verstecken sich nicht hinter Worthülsen oder bürgerlicher Fassade …
»Wie gefährlich ist es für Sie, in diesem Umfeld zu filmen?«, fragte Hausberg. »Was würde geschehen, wenn diese Leute Sie enttarnen würden?«
»Man würde mich erschlagen oder erschossen in einem Straßengraben finden«, antwortete Bruns. »In Internetforen der Rechtsextremen wird mir unverhohlen mit Mord gedroht. Das klingt dann so: Wenn wir dich erwischen, dann stellen wir dich auf die Bühne – der Rest ergibt sich von selbst.«
Bruns nahm die Sonnenbrille ab und rieb sich die Augen. Dann erschrak er und setzte Brille schnell wieder auf.
»Das ist nicht Fellner«, stellte ich fest.
»Wie?« Nun hatte ich Waynes Aufmerksamkeit.
»Der Mann da auf der Bühne ist vielleicht Holger Bruns, aber nicht Fabian Fellner.«
»Du meinst?« Wayne stockte.
Ich nickte. »Ich hab mich veräppeln lassen. Bruns ist älter, kleiner und dicker als der Mann, der sich Fellner nennt und behauptet, Holger Bruns zu sein. Auch seine Stimme ist ganz anders. Ich werde mir den Mann mal genauer ansehen.«
Doch es war unmöglich, nach der Sendung an Holger Bruns heranzukommen. Der Gastbetreuer des Senders sorgte dafür, dass der Undercovermann unbehelligt – von wem auch immer – verschwinden konnte.
»Und nun, Grappa-Baby?«, fragte Wayne auf der Rückfahrt.
»Frag mich was Leichteres«, seufzte ich. »Wenn ich diesen Fellner erwische! Falls er wirklich Fellner heißt.«
»Warum macht der Mann das? Irgendeinen Sinn muss das schließlich haben. Warum gibt er sich als Freund von David Cohn aus? Immerhin hat er dir Infos gegeben.«
»Oder ich ihm«, stellte ich fest. »Und als er feststellte, dass ich auch nicht mehr weiß als er, hat er sich verpisst. Deshalb konnte ich ihn nicht mehr erreichen. So einfach ist das.«
»Aber er hat dich doch auf das Massaker in Meina gestoßen.«
»Das wusste die Polizei damals auch schon, denn sie hatte ja den USB-Stick«, widersprach ich.
»Und woher wusste er davon, wenn das offiziell noch gar nicht bekannt war?«
»Vielleicht hat er David Cohn ausspioniert. Oder er ist wirklich ein Freund Cohns. In diesem verdammten Fall spielen so viele eine falsche Rolle. Was hat der Opa vom Lago mit allem zu tun? Warum wohnt der bei den Golombecks? Was spielt diese Münchner Waffenschmiede für eine Rolle? Warum wurde Mahlers Haus auseinandergenommen und von wem?«
»Ich kann jetzt nicht mehr denken, Grappa«, gestand der Bluthund. »Nehmen wir irgendwo noch einen Absacker? Morgen ist Sonntag und wir können ausschlafen.«
Wir landeten in einer Eckkneipe im Norden. Der Weißwein kam aus dem Tetrapack und war lauwarm, aber das Bier zischte. Wayne atmete zwei Frikadellen ein und spülte mit Korn nach, um die Bakterien abzutöten. Ich hielt mich an einer Weinschorle fest.
So ging der Tag zu Ende. Ein Tag, an dem ich wieder mal erfahren hatte, dass vieles nicht so ist, wie es sich darstellt.
Testament des Auftragskillers
Der Weg zu Fellner führte über sein Handy, der Weg zur Identität des Lago-Mannes über die Waffenfirma.
Nach dem Frühstück rief ich in der Münchner Zentrale der Motte GmbH an.
Obwohl Sonntag war, wurde der Anruf angenommen.
»Hier Schneider. Einer Ihrer Firmenwagen hat mein Auto beschädigt und der Fahrer hat sich davongemacht. Bevor ich die Polizei einschalte, möchte ich versuchen, die Sache gütlich zu regeln. Sagen Sie mir doch bitte, wer den Wagen zurzeit nutzt.«
Ich gab das Autokennzeichen durch.
»Das lässt sich sonntags nicht klären. Ich habe hier nur Telefondienst«, sagte die Frauenstimme. »Rufen Sie bitte morgen wieder an.«
»Ich glaube, ich melde die Fahrerflucht dann doch lieber der Polizei«, entgegnete ich. »Aber Ihr Mitarbeiter soll sich nicht beschweren, wenn er eine Strafanzeige bekommt. Ich wollte nur freundlich sein.«
»Moment. Hier liegt eine Liste der Fahrzeuge, die unterwegs sind.«
Prima, mein Bluff schien zu funktionieren.
»Das ist der Mercedes vom Seniorchef«, teilte die Dame mir Sekunden später mit. »Herrn Motte persönlich.«
»Sehen Sie!«, sagte ich triumphierend. »Was hätte der Chef wohl gesagt, wenn plötzlich die Polizei bei ihm auftaucht? Haben Sie eine Idee, wie ich Herrn Motte erreichen kann?«
»Seine Handynummer kann ich aber nun wirklich nicht rausgeben!« Die Stimme der Frau bekam eine leicht hysterische Note.
»Wie Sie meinen. Dann gehe ich wohl doch den offiziellen Weg. Vielen Dank jedenfalls.«
»Warten Sie. Hier habe ich ihn. Manfred Motte.« Sie gab mir die Nummer.
Na also, geht doch, dachte ich.
Ich rief Friedemann Kleist an. »Ich muss dich dringend sprechen. Hast du Lust auf ein Mittagessen?«
»Du hast doch gar nichts im Kühlschrank«, entgegnete er. »Ich bringe zwei Pizzen mit. Einverstanden?«
»Ja. Und ich hole die letzten Tomaten aus dem Garten und mache einen Salat.«
»In dieser Geschichte gibt es zu viele rätselhafte Leute. Da ist zuerst Fellner. Den müssen wir allmählich mal finden«, meinte Kleist, nachdem ich ihm alles erzählt hatte. »Und das mit Manfred Motte ist ja höchst undurchsichtig. Ich mag solche Zufälle nicht. Der taucht zuerst in Italien auf, im Hotel und dann auch noch am Tatort. Und dann wohnt er bei den rechtslastigen Nachbarn unserer lieben Frau Schmitz. Die hat aber mit den Mahlers bestimmt nichts zu tun. Oder hatte sie den als Steuerberater? Den Motte lass ich mal durchleuchten. Und was ist mit David Cohn? Auch höchst rätselhaft. Weißt du, was mich bei dem so unruhig macht?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Es ist so wenig über ihn zu erfahren. Angeblich hatte er außer den Mahlers keine nahen Verwandten. Und auch kaum Freunde.«
»Das kann doch gut sein«, sagte ich. »Sein Onkel ist samt Familie von den Nazis ermordet worden. Seine Eltern sind in Amerika gestorben, ganz normal.«
»Ich habe einige der Artikel übersetzen lassen, die er in israelischen Zeitungen veröffentlicht hat. Er stand politisch links und hatte häufig Ärger, weil er die Palästinenserpolitik der israelischen Regierung kritisierte. Er musste sich sogar mehrere Male vor Gericht verantworten, kam aber immer mit einem blauen Auge davon. Bestimmt sind einige Leute recht froh, dass er ihnen nun nicht mehr in die Suppe spuckt«, fuhr Kleist fort. »Ich hab Condi übrigens gefragt, ob sie in Davids Habseligkeiten den Originalbrief von Samuel Cohn gefunden haben. Oder andere schriftliche Aufzeichnungen. Sie hat es verneint.«
»Glaubst du ihr?«
»Ja. Er hatte doch den Stick. Darauf hätte er doch alles Wichtige gespeichert, wenn da noch mehr gewesen wäre als der Brief an seinen Vater.«
Das leuchtete mir ein. Warum sollte David Originalpapiere nach Italien mitnehmen, wenn er sie als Datei handlich dabeihaben konnte?
»Ich kann dir noch etwas erzählen: Schatto hat das Geld selbst eingezahlt«, erklärte Kleist. »In bar. Der Bankbeamte konnte sich genau erinnern und der Einzahlungsbeleg trägt seine Unterschrift. Ein Testament hat er auch gemacht – zugunsten seiner Freundin.«
»Wie putzig«, lachte ich. »Auftragskiller macht Testament und raucht am Tatort, sodass man an seinem genetischen Fingerabdruck nicht vorbeikommt. Wie blöd ist das denn?«
»Vielleicht hatte Schatto vor, die Kippen einzusammeln«, trug Kleist zur Ehrenrettung des Mörders vor und schob sich das letzte Stück seiner Pizza in den Mund. »Aber der andere Killer war schneller.« Er schaute auf die Uhr. »Dann wollen wir mal los.«
»Wohin?«, fragte ich verdattert.
»Zuerst zu Frau Schmitz und dann zu Manfred Motte. Ich will wissen, was dieser Mann mit dem Fall zu tun hat. Er ist mindestens ein Zeuge. Und du bist eine Zeugin dafür, dass er am Lago war.«
Mausefallen gegen Kater
Ich druckte die Fotos aus, die Wayne Pöppelbaum in Italien geschossen hatte: Manfred Motte, wie er im Hotel in den Aufzug stieg und wie er das Waldstück bei Pisano besichtigte – für den Fall, dass er leugnen sollte, jemals dort gewesen zu sein.
Kleist telefonierte mit einem Kollegen und ordnete an, dass uns zwei Polizisten in Zivil begleiteten. Währenddessen informierte ich Frau Schmitz über unseren bevorstehenden Besuch.
»Dann kommt ma wacka rüber«, meinte sie. »Und ich mach Kaffee.«
Der schwarze Mercedes mit dem Münchner Kennzeichen stand gegenüber von Frau Schmitzens Haus.
Die Bäckerin hatte verweinte Augen.
»Was ist denn los, Frau Schmitz?«, fragte ich erschrocken.
»Kommt erst ma rein«, schniefte sie. Sie führte uns ins Wohnzimmer. Auf dem Sofa rekelte sich ein grau getigerter Kater, der irgendwie lädiert wirkte.
»Das ist der Horsti«, erklärte die Bäckerin. »Der ist mir zugelaufen. Der hat keinen mehr und ich fütter ihn. Deshalb kommt er imma in den Garten.«
»Ja, und?«
»Der Golombeck hasst Katzen. Die Nachbarn sagen, dass er alle verjagt hat mit Gift und Fallen. Er soll sogar mal auf die armen Tiere geschossen haben, mit der Flitsche. Und jetzt hat er Mausefallen ausgelegt und Horsti ist mit dem Fuß da reingeraten.«
Horsti miaute, als wolle er die Aussage von Frau Schmitz bestätigen.
Kleist untersuchte die Pfote. Die war erheblich angeschwollen. »Da muss der Tierarzt ran.«
»Jetzt verletzt der widerliche Fascho schon unschuldige Tiere«, jammerte die Bäckerin. »Wär ich bloß nicht hierher gezogen. Wenn ich im Lotto gewinne, dann hau ich hier ab und schenke das Haus einer Türkenfamilie mit massenhaft Kindern. Dann kriegt der Golombeck ’ne schöne Zeit.«
»Gute Idee«, grinste ich. »Am besten an Türken mit Tourette-Syndrom.«
»Rachsüchtiges Weibsvolk«, sagte Kleist amüsiert. »Wo bleiben nur die Kollegen?«
Schon klingelte es. Frau Schmitz und Kleist gingen zur Tür. Horsti miaute und hob die rechte Pfote.
Deutschland lieben und schützen
Manfred Motte schien kaum überrascht zu sein, dass ihn die Polizei sprechen wollte.
»Ich habe damit gerechnet, dass Sie zu mir kommen«, gab er an. »Aber ich möchte meine Aussage auf dem Polizeipräsidium machen und nicht hier vor meinen Freunden.«
Herr und Frau Golombeck standen stumm dabei. Die Dame des Hauses, die ihren Gesichtszügen nach nicht viel Freude im Leben gehabt haben konnte, lächelte gequält.
Ich schaute mich um. Hier war alles geleckt sauber. Die Schrankwand und die Klubgarnitur stammten aus den Sechzigerjahren, an der Wand hingen gerahmte Bilder mit Bergmotiven. Sogar Bücher hatten sich in den Schrank verirrt. Die Erinnerungen von Albert Speer, dem Architekten des Führers, ein Bildband über die Deutschen Kolonien sowie Soldatenromane. Auf dem Esstisch lag die Preußische Allgemeine Zeitung mit dem Untertitel Das Ostpreußenblatt. Konservative Lektüre, aber nicht illegal.
Auf dem Nachtschrank wartet bestimmt Mein Kampf als Gutenachtlektüre, dachte ich.
»Sie sind Mitglieder der Autonomen Nationalisten?«, fragte Kleist das Ehepaar.
»Wir waren Mitglieder«, antwortete Golombeck. »Die Vereinigung ist ja leider verboten worden. Aber wir engagieren uns weiter in der Sozialen Alternative Dorstfeld. Weil wir unser Deutschland lieben und es schützen wollen.«
»Und deshalb bedrohen Sie Ihre Nachbarin und brechen unschuldigen Katzen die Pfoten?«, platzte es aus mir heraus.
»Das muss erst mal bewiesen werden«, grinste Golombeck. »Wer sind Sie überhaupt?«
»Das ist die Journalistin, die schon am Lago Maggiore recherchiert hat«, erklärte Motte seinem Freund. »Frau Grappa, richtig?«
»Verlassen Sie sofort das Haus!«, krähte Frau Golombeck. »Solche linken Bazillen haben hier nichts zu suchen!«
»Bleib ruhig, Gisela«, sagte Motte. »Ich begleite die Herren ins Präsidium. Am Abend bin ich wieder da. Können wir?«
Kleist, seine Kollegen und Manfred Motte verabschiedeten sich. Ich ging zurück zu Frau Schmitz. Sie hielt den verletzten Kater im Arm und bedauerte ihn. Er streckte ihr den Bauch entgegen und ließ sich ausgiebig kraulen.
»Ob die jetzt aufhören, mich zu mobben, weil der Herr Doktor Kleist mit denen gesprochen hat?«, fragte die Bäckerin.
»Wir werden sehen«, antwortete ich. »Ich würde allzu gern wissen, was diese Golombecks mit Motte zu tun haben. Komisch, dass der nicht in einem Viersternehotel wohnt, sondern in der miefigen Zechenhütte. Immerhin ist er Seniorchef eines Weltkonzerns. Am Geld kann es nicht liegen.«
Drei Stunden später unterrichtete mich Kleist über das Ergebnis des Verhörs. Er mailte mir sogar das Vernehmungsprotokoll.
Motte stritt nicht ab, David Cohn gekannt zu haben. Der Journalist habe ihn vor Monaten angerufen und um ein Gespräch gebeten.
Frage: Um was sollte es in dem Gespräch gehen?
Antwort: Um meine Geschäftsverbindungen zur israelischen Regierung. Ich informierte mich über David Cohn und erfuhr, dass er die Politik des Staates Israel kritisch begleitete. Ich wollte da einiges richtigstellen.
Frage: Wie sehen Ihre Geschäfte mit Israel aus?
Antwort: Die Motte GmbH verkauft Panzer und Waffen. Auch nach Israel. Alles legal und im Rahmen des Kriegswaffenkontrollgesetzes. Wir stehen ständig unter behördlicher Aufsicht.
Frage: Warum fand das Treffen mit Cohn in Italien statt?
Antwort: Er war auf Dienstreise – so sagte er mir. Und ich habe genug Zeit, seit mein Sohn die Firma leitet. Also verabredeten wir uns am Lago Maggiore. Doch leider meldete sich Herr Cohn nicht bei mir. Im Hotel erfuhr ich, dass er ermordet worden war. Ich blieb noch einige Tage und reiste dann ab.
Frage: Wo wollten Sie sich treffen?
Antwort: Das stand noch nicht fest. Herr Cohn wollte mich telefonisch kontaktieren.
Frage: Kannten Sie die Familie Mahler?
Antwort: Nein, die Leute sind mir völlig unbekannt. Ich war überrascht, als ich las, dass Cohn sich nicht allein am Lago aufgehalten hatte.
Frage: Warum waren Sie am Tatort?
Antwort: Was meinen Sie?
Frage: Streiten Sie ab, dort gewesen zu sein?
Der Zeuge schweigt.
Frage: Ich wiederhole: Was haben Sie im Wald von Pisano gesucht? Man hat Sie am Tatort beobachtet und fotografiert.
Dem Zeugen werden entsprechende Fotos gezeigt.
Antwort: Ich war dort, weil ich in der Zeitung gelesen hatte, dass es dort passiert war. Ich war neugierig.
Frage: Welche Verbindung besteht zwischen Ihnen und dem Ehepaar Golombeck?
Antwort: Ich kenne Heinz Golombeck seit meiner Jugend. Wir sind zusammen zur Schule gegangen.
Frage: Sie wissen, dass Golombeck ein bekannter Rechtsradikaler ist?
Antwort: Davon weiß ich nichts. Ich halte ihn lediglich für konservativ. Seine Familie kommt aus Ostpreußen und ist vertrieben worden. Da bleibt eine solche Haltung nicht aus.
Frage: Wo stehen Sie politisch?
Antwort: Ich halte mich aus der aktuellen Politik heraus.
Frage: Seit wann gibt es die Firma Motte?
Antwort: Wir haben uns nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet. Ich bin vor Kurzem aus der Geschäftsführung ausgestiegen. Mein Sohn Max führt jetzt das Unternehmen.
Frage: Und warum hat sich dann nicht Ihr Sohn mit David Cohn getroffen, sondern Sie?
Antwort: Cohn kannte die Firmeninterna nicht und hat sich direkt an mich persönlich gewandt. Ich wollte meinem Sohn einen Gefallen tun. Ich habe ja als Privatier Zeit genug. Und ich war neugierig, was der Mann von uns wollte. Leider habe ich das nicht mehr erfahren.
Frage: Cohn recherchierte das Schicksal seiner Familie in der Nazizeit. Seine Vorfahren wurden von den Nazis ausgeraubt und ermordet. Wissen Sie etwas darüber?
Antwort: Damals nicht. Inzwischen schon. Ich lese Zeitungen.
Frage: Waren Sie bereits in Italien, als David Cohn ermordet wurde?
Antwort: Nein, ich sagte ja bereits, dass ich von dem Mord erst in Stresa erfahren habe. Meine Familie kann meinen Reisebeginn bezeugen.
Motte hatte sich gut aus der Affäre gezogen. Natürlich werden wir alle Angaben überprüfen – so schrieb Kleist in der Mail.
Jemand will sich nicht finden lassen
Parallel zu den Morden an der Familie Mahler und David Cohn wurde bundesweit noch immer wegen der Terrormordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds ermittelt. Tag für Tag kamen neue Enthüllungen zutage. Meistens Fakten, welche die Unfähigkeit und die Rechtsblindheit der Ermittlungsbehörden und des Verfassungsschutzes aufdeckten.
Am Tag, an dem öffentlich bekannt wurde, dass der Altnazi Eddi Schaberl in derselben Straße wohnte wie ein Mordopfer der Zwickauer Terrorzelle, kam Bierstadt einmal mehr in den Fokus der internationalen Aufmerksamkeit. Hatte SS-Eddi seinen Kumpanen in Ostdeutschland einen Tipp gegeben, welchen Türken sie in Bierstadt hinrichten konnten? Spielte der Oldie eine bedeutendere Rolle im rechtsradikalen Milieu, als bisher angenommen?
Die Zeitungen überschlugen sich in Spekulationen. Schnack und Bärchen Biber übernahmen die Berichterstattung.
Schließlich hatte Biber einen Geistesblitz. Er schlug vor, sich doch einmal um die freien Mitarbeiter des Verfassungsschutzes zu kümmern. Diese Spitzel standen ob ihrer obskuren Rolle immer mehr im Mittelpunkt kritischer Diskussionen.
»Ich habe Kontakt zu einem früheren Soldaten«, erklärte Bärchen in der Redaktionskonferenz. »Der ist der Meinung, dass Adolf Hitler ein großartiger Mann gewesen sei. Und es seien keineswegs sechs Millionen Juden ermordet worden, sondern höchstens zwei. Und wisst ihr, was der heute macht?«
»Bundestagsabgeordneter?«, tippte ich.
»Noch schlimmer«, nahm Bärchen den Scherz auf. »Er arbeitet für den Verfassungsschutz. Er hat sozusagen sein Hobby zum Beruf gemacht. Der MAD – das ist der Militärische Abschirmdienst – hat ihn während seiner Bundeswehrzeit als rechtsextrem eingestuft und es weitergemeldet. Doch seine Vorgesetzten haben nichts unternommen. Er sei ein freundlicher junger Mann und man habe keinen Anlass gesehen, ihn vom Dienst zu suspendieren.«
»Und was soll die Stoßrichtung eines solchen Artikels sein?«, fragte Schnack.
»Dass die neuen Rechten überall ihre braunen Finger drin haben genau wie die alten Nazis kurz nach dem Krieg«, ereiferte sich Bärchen. »Es hat keine echte Entnazifizierung in Deutschland gegeben.«
»Ich finde Carstens Vorschlag gut«, meldete ich mich zu Wort. »Das ist mal eine Variante des Themas. In den aktuellen Fällen gibt es zurzeit ohnehin wenig zu berichten.«
Schnack akzeptierte schließlich.
Das gab mir Raum, die losen Fäden in meinem Ermittlungsteppich zu ordnen. Vor allen Dingen musste ich Fabian Fellner finden. Aber wie?
Die einzige Verbindung zu ihm war die Handynummer. Da er nicht an sein Telefon ging, schickte ich ihm eine SMS.
»Fellner will sich nicht finden lassen, Grappa«, demotivierte mich Pöppelbaum. »Weißt du, was das Blöde an diesem Fall ist?«
»Nee.«
»Ich finde, alles sieht so aus, als ob die Geheimdienste ihre Finger drin haben. Die wollen bestimmt nicht aufklären, sondern vertuschen. Sieht man doch an den Ermittlungen zur Zwickauer Zelle. Über zehn Jahre konnten die unbehelligt Ausländer abknallen. Dabei gab es jede Menge Anhaltspunkte und genug V-Leute, die in der Szene aktiv waren und das alles hätten verhindern können.«
»Ein V-Mann!«, rief ich. »Fellner könnte ein V-Mann des Verfassungsschutzes sein! Das würde sein Verschwinden erklären und seine Lügen.«
»Ja, könnte er. Er könnte aber auch tot sein. Schon mal daran gedacht?«
Mein Hauptkommissar hatte Fellners Handy noch nicht orten können. Vermutlich war es ausgeschaltet. Doch Kleist hatte mir die Liste der Einzelverbindungsnachweise über die Gespräche Fellners zugespielt. Für die Polizei waren sie wenig relevant, weil Fellner in den Ermittlungen kaum eine Rolle spielte. Ich ging die Liste durch.
Eine Nummer mit Bierstädter Vorwahl hatte Fellner mehrfach angerufen. Ich drückte die entsprechenden Tasten meines Telefons.
»Anwaltskanzlei Ghafouri und Partner. Mein Name ist Bolte, was kann ich für Sie tun?«, sprach eine gelangweilte Stimme.
Ich legte auf und warf die Suchmaschine an. Dr. Hassan Ghafouri war ein viel beschäftigter Strafverteidiger. Seine Fälle interessierten mich weniger, aber bei einem Foto merkte ich auf: Es zeigte Dr. Hassan Ghafouri und eine junge Frau beim Opernball im Bierstädter Konzerthaus.
Die Bildunterzeile lautete: Rechtsanwalt Dr. Hassan Ghafouri und seine Verlobte Melanie Mahler amüsieren sich köstlich beim diesjährigen Opernball.
Jetzt war ich baff.
Melanie Mahler war eine sehr schöne junge Frau gewesen. Sie hatte große, braune Rehaugen und dunkelblondes Haar. Ihr Kleid war tief dekolletiert, aber es wirkte nicht auf billige Art sexy, sondern sehr elegant. Nicht zu fassen, dass sie tot war und jetzt in der Erde vermoderte.
Warum hatte Fellner den Anwalt angerufen? Was wollte er von ihm?
Mandanten sind immer unschuldig
Ghafouri arbeitete an einem Fall, der zurzeit immer wieder durch die Presse ging. Er verteidigte eine Frau, die des Mordes an drei Kindern verdächtigt wurde. Die 29-jährige Bulgarin hatte in der Wohnung ihres türkischen Freundes Feuer gelegt. Bei den Löscharbeiten wurden in der Wohnung dessen drei kleine Kinder gefunden – tot! Die Frau stand im Verdacht, die Kinder mit einem Messer ermordet zu haben, bevor sie die Wohnung in Brand setzte. Der Vater der Kinder hatte geplant, ohne seine Freundin in die Türkei zu ziehen. Die Staatsanwaltschaft hatte gegen die Frau Anklage wegen Mordes und Brandstiftung erhoben.
Dieser Fall war meine Eintrittskarte in ein Gespräch mit dem Anwalt.
»Anwaltskanzlei Ghafouri und Partner. Mein Name ist Bolte, was kann ich für Sie tun?«, sprach die gelangweilte Stimme wieder.
Ich behauptete, mich für den Prozess zu interessieren und ein Feature über den Anwalt schreiben zu wollen. So bekam ich einen Termin in einer halben Stunde. Pöppelbaum begleitete mich. Bei einem solchen Porträt braucht man Bilder des Interviewten.
»Meine Mandantin ist unschuldig«, tönte der Anwalt. Er sah lebendiger aus als auf dem Foto in der Zeitung. Ein glatter, smarter Typ in feinem Zwirn, mit gelblicher Haut und gelacktem Haar. Der Bluthund turnte in dem Büro herum und lichtete den Anwalt aus verschiedenen Perspektiven ab.
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte ich.
»Sie hat nur das Feuer gelegt«, räumte der Anwalt ein.
»Unschuldig ist das aber nicht«, stellte ich fest.
»Sie hat die Kinder nicht getötet.«
»Hat sie Ihnen das so erzählt?«
Er räusperte sich. »Sie wollte mit dem Feuer auf ihre Situation aufmerksam machen. Und dann kam dieser Mann.«
»Welcher Mann?« Jetzt staunte ich.
»Der Mann, der die Kinder getötet und meine Mandantin angegriffen hat.«
»Verstehe. Der große Unbekannte. Warum hat er das denn getan?«
»Das müssen Sie den Mörder fragen. Vielleicht hat sich der Türke nicht so verhalten, wie es einem gläubigen Moslem angemessen ist. Er lebte mit einer ungläubigen Hure zusammen.«
»Für einen lockeren Lebenswandel werden doch immer nur die Frauen bestraft und nicht die Männer«, widersprach ich. »Die männlichen Moslems können doch leben, wie sie wollen.«
»Das sehen Sie falsch. Haben Sie etwas gegen Moslems?«
»Nein, nur gegen Islamisten und jede Art von Gotteskriegern.«
»Gegen die habe ich auch was«, meinte Ghafouri. »Aber ich kann auch nicht alles gutheißen, was in der angeblich so aufgeklärten und freiheitlichen deutschen Gesellschaft geschieht.«
»Sie waren mit Melanie Mahler verlobt. Wie haben Sie ihren Tod verkraftet?«, wechselte ich das Thema.
Ghafouri zuckte nicht mit der Wimper. »Ich bin sehr traurig und tief betroffen. Aber die Verlobung bestand nicht mehr.«
»Oh. Was war der Grund?«
Ghafouris Augen wurden schmal. »Es geht Sie zwar nichts an, aber da ich nichts zu verbergen habe, sage ich es Ihnen offen: Sie hatte mir eine wichtige Tatsache verschwiegen. Nämlich, dass sie aus einer jüdischen Familie stammt.«
»Sie haben sich aus religiösen Gründen von ihr getrennt?«, fragte ich ungläubig.
»Ich bin Moslem, meine Familie lebt im Iran und ist der Führung des Landes eng verbunden.«
»Verstehe. Da passt eine Jüdin nicht ins Bild. Wie hat Melanie das denn aufgenommen?«
»Das geht Sie nichts an«, meinte er unfreundlich.
»Und was haben Sie mit Herrn Fellner zu tun?«
»Mit wem?«
»Fabian Fellner.«
»Wer soll das denn nun wieder sein?«, fragte Ghafouri – sichtlich genervt. Er winkte Wayne ungeduldig zu, er solle das Fotografieren lassen.
»Ein Freund von David Cohn. Und David Cohn war Melanies Cousin. Fellner hat mehrfach bei Ihnen angerufen. Was wollte er von Ihnen?«
»Ich habe keine Ahnung, wen Sie meinen«, sagte er kühl. »Und jetzt habe ich zu tun. Guten Tag!«
Trenchcoats wie im Kino
Als Pöppelbaum und ich die Kanzlei verließen, bemerkte ich gegenüber auf dem Bürgersteig zwei Männer. Sie sahen zu unauffällig aus, um es wirklich zu sein. Und sie trugen Trenchcoats.
»Mach bitte ein Foto von den beiden Schnuckis«, forderte ich den Bluthund auf.
Er blickte zu den beiden hin, war aber nicht schnell genug. Als er die Kamera hob, drehten die Männer ab und tauchten ab im Gewühl.
»Wer waren die denn?«, fragte Wayne.
»Das ist doch ganz einfach«, antwortete ich. »Mossad, BKA, Verfassungsschutz, Neonazis, Islamisten. Such dir etwas aus!«
»Endlich kloppen sich die Männer mal um dich«, grinste Wayne. »Warum hat Melanie ihrem Verlobten verschwiegen, dass sie Jüdin ist?«
»Sie hat ihm nichts verschwiegen«, entgegnete ich. »Sie hat dem keine Bedeutung zugemessen. Würdest du einer Freundin zuerst erzählen, ob du katholisch oder evangelisch bist?«
»Nee. Ich würde zuallererst von meinen erotischen Qualitäten sprechen.«
»Na siehste! Der Verlobte kam erst drauf, als David Cohn aus Israel anreiste.«
»Dann kann die Liebe ja nicht groß gewesen sein. Und was schreibst du nun?«
»Die zutiefst tragische Geschichte einer Liebesbeziehung, die an Intoleranz und Rassismus eines der Partner gescheitert ist«, lächelte ich.
Wayne schaute ungläubig.
»Mach dir keine Sorgen«, grinste ich. »Unsere brave Familienzeitung ist doch kein Revolverblatt. Dieser Anwalt ist mir ausgesprochen unsympathisch und hat mir mal wieder klargemacht, dass jedes Volk Rassenhass in sich trägt. Wir Menschen sind schon eine furchtbare Erfindung.«
Datenschutz wird überbewertet
In der Redaktion überprüfte ich weitere Nummern, die Fellner mit seinem Handy angerufen hatte. Meine eigene Mobilnummer und die der Redaktion waren auch dabei. Ich sah mir die Zeitpunkte der Anrufe an. Fellner hatte vor zwei Tagen versucht, mich beim Tageblatt zu erreichen! Verdammt!
Ich stürzte ins Großraumbüro.
»Hat hier ein Herr Fellner angerufen und mich sprechen wollen?«, rief ich den beiden Sekretärinnen Sarah und Susi zu. »Vor zwei Tagen!«
Langsam löste Sarah ihren Blick von der Zalando-Seite auf dem Monitor. »Also, bei mir nicht! Und wenn, dann leg ich dir doch immer einen Zettel ins Fach.«
»Nicht immer!«, blaffte ich. »Sondern nur, wenn du grad Bock drauf hast. Und du, Susi?«
Die widmete sich per Kopfhörer ihrer Entspannungsmusik und hatte nichts mitbekommen. Ich nahm ihr die Muscheln von den Ohren und wiederholte meine Frage.
»Fellner?«, dehnte sie und dachte tatsächlich nach. »Ja, da war jemand mit dem Namen. Ist das nicht der, der dich auch in Italien angerufen hat?«
»Richtig! Warum hast du mir nicht gesagt, dass der Typ mich sprechen wollte?«
»Sollte ich das? Er sagte doch, dass er es auf dem Handy versucht.«
»Hat er aber nicht.«
»Dafür kann ich doch nichts, Grappa!«, meinte sie beleidigt und setzte sich die Kopfhörer wieder auf.
Simon Harras hatte meine Frage mitbekommen. »Lass doch das Phone von dem Burschen orten«, schlug er vor. »Dann weißt du, wo er steckt.«
»Das ist schon auf dem Weg«, entgegnete ich. »Aber er muss es einschalten, sonst funktioniert es nicht.«
Leicht frustriert ordnete ich meine Aufzeichnungen. Wie konnte ich in der Sache weiterkommen?
Im Netz surfte ich auf einschlägigen Neonaziseiten. Viele Gruppen waren auf den ersten Blick gar nicht als solche zu erkennen.
Susi legte mir einen Umschlag auf den Tisch. Er enthielt das Buch, das Bruns verfasst hatte. Im Vorwort standen einige Danksagungen; eine richtete sich an Luisa Licht von der Opferberatungsstelle. Sie hatte an der Arbeit mitgewirkt. Sie musste Bruns also persönlich kennen!
»An einen SS-Hauptsturmführer Steiger kann ich mich nicht erinnern«, sagte Licht durchs Telefon. »Aber ich habe mich hauptsächlich mit den Verbrechen der SS in Osteuropa befasst. Steiger war ja in Norditalien eingesetzt.«
»Ich muss Bruns sprechen«, erklärte ich. »Können Sie einen Kontakt herstellen?«
»Ich werde ihn anrufen und fragen, ob er mit Ihnen reden will«, versprach sie.
Noch am gleichen Abend meldete sie sich. Bruns war einverstanden, mich zu treffen, und er würde ein paar der Dokumente mitbringen, die er über die Judenverfolgung in Norditalien gesammelt hatte. Den Ort unserer Begegnung sollte ich kurzfristig erfahren.
Hauptsache gesprächswertig
In der Redaktionskonferenz diskutierten wir eine rührselige Story, die uns die Blöd-Zeitung vorgesetzt hatte. Ein zehnjähriger Junge war an einem Gehirntumor gestorben. Auf dem Sterbebett hatte er sich gewünscht, dass ein Fußball und das Logo des örtlichen Bundesligavereins auf dem Grabstein verewigt würden. Doch der katholische Pfarrer stellte sich quer.
Kirche verbietet BVB-Grabstein – Eltern entsetzt
so titelte das Blatt.
Jens Pascal war erst neun Jahre alt, als er an einem Hirntumor starb. Sein letzter Wunsch: Ein Grabstein mit dem Logo seines Lieblingsfußballvereins Schwarz-Gelb. Die Eltern ließen eine entsprechende Grabstele anfertigen, doch der Vorstand der zuständigen Kirchengemeinde Mariä Heimsuchung lehnte den Entwurf ab. Der Grund: Das Fehlen von eindeutig christlichen Symbolen wie Kreuz, betende Hände oder Marienfigur. Die Eltern sind betroffen, dass der letzte Wunsch ihres kleinen Jungen für die Kirche keine Bedeutung hat.
Ich hoffte inständig, dass diese Geschichte nicht mir zugeteilt wurde.
»Hat jemand eine Idee, wie wir die Story weiterdrehen können, ohne bei der Boulevard-Presse abzuschreiben?«, fragte Schnack in die Runde.
»Wir sollten die Eltern bitten, uns von Jens Pascal zu erzählen«, meinte Bärchen Biber. »Seine traurige Geschichte, sein Leid und wie dieser letzte Wunsch entstanden ist. Aber ich kann die Geschichte nicht machen, ich muss gleich in die Finanzausschusssitzung.«
»Ich finde diesen Grabstein ausgesprochen geschmacklos«, sagte Dr. Margarete Wurbel-Simonis und deutete auf das Foto in der Blöd-Zeitung. »Und wenn jeder Tote die eigenen Hobbys auf seinem Grab verewigt, dann mutieren unsere Friedhöfe in kürzester Zeit zu Vergnügungsparks und Jahrmärkten.«
»Es geht nicht um unsere privaten Befindlichkeiten«, wies Schnack die Kulturredakteurin zurecht. »Wir berichten über gesprächswertige Themen. Haben Sie auch etwas zu der Diskussion beizutragen, Frau Grappa?«
»Ich habe mich in den letzten Wochen mit Morden an Juden befasst, mit Rassenhass und Intoleranz«, entgegnete ich. »Mit fehlt zurzeit der Zugang zu so einem Thema. Die Gestaltung von Gräbern halte ich außerdem für reine Geschmacksache.«
»Was wünschst du dir denn für deinen Grabstein, Grappa?«, fragte Simon Harras grinsend.
»Das Logo des Tageblattes und ein eingemeißeltes Porträt von dir«, gab ich zurück.
Gelächter.
Schnack hüstelte. »Also? Wer kümmert sich?«
»Es geht doch letztendlich um Fußball«, fiel mir ein. »Und Fußball ist Sport. Und wer ist hier am Tisch der Sportreporter?«
Harras zog ein langes Gesicht und rührte sich nicht.
Bärchen Biber machte noch einen Themenvorschlag, der in Harras Ressort passte: Doping im örtlichen Radsport.
»Das ist ja mal was ganz Neues«, spottete ich.
»Hier, bei uns? Was sollen die denn genommen haben?«, fragte Harras. »Bier und Korn?«
»Das recherchiere ich doch gerade«, sagte Bärchen ernst. »Ich bin in Kontakt mit dem Dopingbeauftragten des Radsportvereins Zwanglos e. V. Er will mir gegenüber alles offenlegen. Vorbehaltlos.«
»Ist der Typ nicht der Onkel von Jan Ullrich?«, warf Simon ein.
Ich prustete los.
»Na, na, ich muss doch sehr bitten«, warf sich Schnack für seinen Liebling in die Bresche. »Immer diese unkollegialen Spitzen! Gegen eine Recherche spricht ja wohl nichts.«
»Wann fängt Doping eigentlich an?«, fragte Wurbel-Simonis. »Dope ich mich bereits, wenn ich jeden Morgen fünf Tassen Beruhigungstee trinken muss, um diese Konferenz hier zu überstehen?«
»Das ist kein Doping«, tröstete ich sie. »Sondern reine Rücksichtnahme uns gegenüber.«
»Und was werfen Sie jeden Morgen ein, Frau Kollegin?«, zischte sie zurück.
»Ich guck mir jeden Morgen Ihr Foto auf unserer Homepage an – das bringt mich blendend durch den Tag.«
»Zickenkrieg!«, rief Harras. »Ich nehme noch Wetten an, wer gewinnt. Ich tippe auf Grappa.«
»Schluss jetzt!«, brüllte Schnack.
Es klopfte und Susi trat ein.
»Es gibt gleich einen Pressetermin beim BVB. Die treffen sich mit den Eltern des toten Jungen«, teilte sie mit. »In einer halben Stunde.«
Alle Augen richteten sich auf Harras.
»Okay, ich mach’s«, seufzte er.
In meinem Mail-Account wartete eine Nachricht von Holger Bruns. Er wollte mich am Nachmittag in der Opferberatungsstelle treffen. Allein und ohne Fotografen – forderte er.
Journalisten und das Ego anderer
Die Büros der Beratungsstelle waren in einem unscheinbaren Haus untergebracht. Luisa Licht führte mich in einen Besprechungsraum.
»Kaffee?«
»Ja, gern. Wie geht es eigentlich der schwangeren Exfreundin von Schatto?«
»Chantal hat sich völlig aus der Szene zurückgezogen. Und sie freut sich auf das Baby«, berichtete Licht. »Ich glaube, sie ist auf einem guten Weg. Zum Glück hält sich die Polizei zurück. Die Kleine hatte ja wirklich keine Ahnung, dass ihr Freund ein Mörder ist.«
»Augen auf bei der Partnerwahl«, meinte ich.
»Jedenfalls wäre es für sie schwieriger, wenn Schatto noch leben würde«, urteilte Licht gnadenlos. »Ich hol den Kaffee. Holger müsste gleich da sein. Er ist immer sehr pünktlich.«
Damit hatte sie recht. Ja, dieser Holger passte zu dem Mann aus der Fernsehshow: Mitte vierzig und untersetzt. Freilich fehlten der Vollbart und die buschigen Augenbrauen.
Licht ließ uns allein.
»Warum machen Sie ein solches Geheimnis um Ihre Person?«
»Ich könnte nicht arbeiten, wenn ich in der Szene bekannt wäre«, antwortete er. »Klar, dass Ihnen das merkwürdig vorkommt in einer Welt, in der jeder sein Ego gegenüber Journalisten ausbreitet.«
»Ein Fabian Fellner hat sich mir gegenüber als Sie ausgegeben. Sagt Ihnen der Name Fellner was?«
»Nie gehört. Was hatte er denn für einen Grund?«
»Er wollte mich aushorchen, vermute ich. Und vielleicht war er ein Freund des ermordeten israelischen Journalisten.«
»Mit David Cohn hatte ich Kontakt«, erklärte Bruns. »Eigentlich wollten wir uns treffen, doch ich hörte dann nichts mehr von ihm. Später wusste ich, warum.«
»Was wollte er wissen?«
»Das Gleiche wie Sie. Er wollte Informationen über die Vierzigerjahre in Norditalien. Die Massaker an den jüdischen Flüchtlingen. Seine Vorfahren kamen dort um.«
»Was wissen Sie über SS-Hauptsturmführer Steiger?«
Bruns zog ein Papier aus der Tasche. »Lesen Sie. Ich habe Ihnen eine Zusammenfassung mitgebracht. Die Kopien der originalen Dokumente aus den Archiven können Sie bei mir einsehen, wenn Sie wünschen.«
SS-Hauptsturmführer Theodor Steiger wurde 1910 geboren. Sein Vater war Professor für Physik. Steiger studierte Jura und legte ein glänzendes Examen ab. Anfang 1936 trat er in die SS ein. In seinen Beurteilungen wurde er als tüchtig, fleißig, schnell und überaus intelligent bezeichnet. Reinhard Heydrich, der spätere Organisator der Judenvernichtung, berief Steiger sechs Wochen nach Kriegsausbruch zum Leiter der Einwandererzentrale. Baltendeutsche mussten heim ins Reich geholt, Juden und Polen ins Generalgouvernement abgeschoben werden. Danach wirkte Steiger an Judendeportationen in Straßburg mit. In den folgenden Jahren befahl er als SS-Kommandeur die Hinrichtung von Kommunisten und Massenerschießungen von Juden und Zigeunern. 1943 trat er in die ›1. SS-Panzer-Division Leibstandarte-SS Adolf Hitler‹ ein. 1944 war er als Hauptsturmführer der SS für die Massaker an jüdischen Flüchtlingen verantwortlich. Nach Kriegsende verlor sich die Spur von Theodor Steiger. Trotz umfangreicher Ermittlungen können über seinen Verbleib keine Angaben gemacht werden.
Ich legte das Papier auf den Tisch. »Hatte Steiger Frau und Kinder?«
»Ja, eine Frau und einen Sohn. Der wurde 1944 geboren.«
»Dann müsste er jetzt um die siebzig sein. Er könnte also noch leben – im Gegensatz zu seinen Eltern«, sagte ich. »Was ist aus Steigers Frau geworden?«
»Das hat mich David Cohn auch gefragt. In den Archiven habe ich dazu nur gefunden, dass sie Deutschland mit ihrem Sohn Richtung Paraguay verlassen hat.«
»Paraguay? Ein beliebtes Land für alte Nazis, die nach dem Krieg unterkriechen mussten. Vielleicht hat sie ihren Mann dort wiedergetroffen.«
»Das ist möglich. Das NS-Archiv und die Zentralstelle für die Verfolgung von nationalsozialistischen Verbrechen haben nachgeforscht – allerdings ohne Erfolg. Die Spur von Steigers Frau verliert sich in den frühen Sechzigerjahren. Sie wird wohl wieder geheiratet und ihren Namen geändert haben. Den könnte der Sohn dann angenommen haben. Außerdem war Theodor Steiger sehr gut vernetzt. Der wird früh geahnt haben, dass das sogenannte tausendjährige Reich nicht durchhält. Ich vermute, dass er seinen Ausstieg generalstabsmäßig vorbereitet, sich dann ins Ausland abgesetzt hat und mit neuer Identität wiedergekommen ist – mit den jüdischen Millionen auf einem Schweizer Nummernkonto.«
»Ist in Ihren Recherchen irgendwann mal der Name ›Motte‹ aufgetaucht?«, fragte ich.
»›Motte?‹ Das ist doch dieser Münchner Waffenfabrikant. Den Namen kennt fast jeder. Allerdings hat Cohn ihn auch genannt. Er glaubte, dass diese Waffenfirma mit den gestohlenen Millionen seines Großonkels aufgebaut wurde. Angeblich hatte er sogar Beweise dafür.«
»Diese Beweise würde ich zu gern sehen«, seufzte ich. »Motte war am Tatort in Italien und hat etwas gesucht. Mein Kollege und ich haben ihn dabei fotografiert. Motte behauptete bei seiner Vernehmung, dass Cohn ihn treffen wollte. Und dann kam der Mord dazwischen.«
»Wissen Sie … wenn Cohn recht hatte und die Firma Motte aus nationalsozialistischen Blutdiamanten entstanden ist, das wäre eine riesige Sensation.«
»Schon. Und das würde zu den Dingen passen, die Sie beschreiben. Aber es fehlen zwei entscheidende Brücken. Es gibt noch keinen Zusammenhang zwischen den Diamanten und dem Gründungskapital der Waffenschmiede. Und ob die Familie Motte und Steiger verbunden sind, wissen wir auch nicht.«
Bruns seufzte. »Schade. Ich hatte gehofft, Sie wären mit Ihren Recherchen schon weiter – gerade in Bezug auf die Vergangenheit der Familie Motte.«
Wir beschlossen, in Verbindung zu bleiben und uns gegenseitig mit Informationen zu versorgen. Er gab mir seine Handynummer und nannte mir sogar seinen Klarnamen Hein Behrens und seine Adresse.
Anschlag auf Frau Schmitz
Am frühen Morgen holte mich Pöppelbaum aus dem Schlaf. »Deine Frau Schmitz ist schwer verletzt. Sie muss notoperiert werden.«
Mir wurde kalt ums Herz. »Was ist passiert?«
»Ein Überfall in ihrem Haus. Mehr weiß ich nicht.«
»Ich fahre hin.«
»Das hat keinen Sinn«, meinte Wayne. »Sie wird im OP sein. Ruf lieber später bei den Bullen an.«
Trotzdem fuhr ich zur Unfallklinik. Frau Schmitz lag schon auf der Intensivstation. Ich gab mich als Verwandte aus und durfte einen Moment in ihr Zimmer.
Ein Bild des Jammers, das mich wütend machte. So hatte ich die Bäckerin noch nie gesehen. Ihr Kopf war verbunden und sie hing am Tropf. Eingefallene Wangen, grünliche Gesichtsfarbe. Die Augen fest geschlossen, die Lippen aufgesprungen. Beim Atmen ertönte ein rasselndes Geräusch. Ich nahm ihre Hand und streichelte sie.
»Was machst du bloß für Sachen, Frau Schmitz?«, fragte ich halblaut.
»Sie kann Sie nicht hören«, sagte die Krankenschwester. »Wir haben ihr ein Schmerzmittel gegeben. Sie schläft tief.«
»Wann wird sie aufwachen?«
»Da müssen Sie den Arzt fragen. Ich bringe Sie zu ihm.«
Ich drückte Frau Schmitz die Hand, verließ das Krankenzimmer und folgte der Schwester zum Arztzimmer.
»Sie ist geschlagen worden«, erläuterte der Mediziner. »Vermutlich mit einem Baseballschläger. Leider vor allem auf den Kopf. Innere Organe sind zum Glück nicht verletzt.«
»Werden Schäden zurückbleiben?«, fragte ich.
»Ihre Konstitution ist gut. Sie braucht jetzt viel Ruhe. Dann sehen wir weiter.«
»Können Sie mir Bescheid geben, wenn sie ansprechbar ist?«
Der Arzt nickte. »Hinterlassen Sie Ihre Telefonnummer bei der Schwester.«
Im Auto verdrückte ich einige Tränen. Wie roh muss man sein, eine hilflose alte Frau derart zusammenzuschlagen?
Das werden die Typen büßen, dachte ich wütend. Mir fiel die Webcam ein, die Pöppelbaum und ich im Küchenfenster von Frau Schmitz installiert hatten. Vielleicht gab es Bilder von den Angreifern.
Ich rief Kleist an. Er war über den Angriff auf Frau Schmitz bereits informiert.
»Ein Prospektverteiler hat sie hinter ihrer Haustür stöhnen gehört«, berichtete er. »Er rief die Polizei und die brach die Tür auf. Sie lag im Flur. Auf der Wand stand der Spruch: Hau ab, Sozi-Schlampe!«
Ich erzählte ihm von der Webcam.
»Wo ist der Rechner?«
»Im Wohnzimmer von Frau Schmitz. Ich hab einen Schlüssel zu dem Haus. Ich fahre noch schnell in die Redaktion und schaue, ob es da was Dringendes gibt. Dann sehe ich gleich nach. Ich rufe dich an.«
Der Fußballer und das Wäschemodel
Der Pförtner im Verlagshaus wünschte mir einen »guten Morgen« und einen »schönen Tag«. Dieser gut gemeinte Wunsch kam mir heute früh schal vor. Nicht nur, weil ich ständig an Frau Schmitz denken musste. Schließlich war Feiertag. Aber auch am Tag der Deutschen Einheit ging das Nachrichtengeschäft weiter.
Ich machte einen Umweg über die Teeküche und kochte Kaffee. Mit dem Becher in der Hand begab ich mich ins Großraumbüro. Dort herrschte gähnende Leere. Bis Pöppelbaum erschien.
»Wie geht es der Bäckerin?«, fragte er.
Ich gab ihm einen Kurzbericht. »Vielleicht hat die Webcam die Täter aufgenommen. Kommst du mit zu ihrem Haus?«
»Abmarsch, Grappa!«
Wenig später sahen wir es:
Drei Männer. Der mittlere hat einen Baseballschläger in der Hand, mit dem er Schlagbewegungen macht. Die Gesichter sind nicht zu erkennen. Sie tragen Skimützen, Sonnenbrillen und sind komplett schwarz gekleidet.
Sie schlendern über die Straße, tänzeln fast. Dann verschwinden sie aus dem Bild.
»Das reicht nicht für eine Fahndung«, sagte ich enttäuscht.
»Immerhin kann man ahnen, dass sie zu Frau Schmitz unterwegs sind«, stellte Wayne fest. »Der Film zeigt sie aus einer ungünstigen Perspektive. Aber die Uhrzeit stimmt.« Er deutete auf die eingeblendete Zeitangabe.
»Wir stellen den Film online auf die Startseite des Tageblatts«, entschied ich. »Diese Typen sollen wissen, dass sie beobachtet wurden.«
»Der Kleidung nach können sie zu den Autonomen Nationalisten gehören«, sagte Pöppelbaum.
»Meinetwegen können sie auch vom Mars kommen. Wer meiner Frau Schmitz was tut, kriegt es mit mir zu tun«, erwiderte ich grimmig.
»Die werden bestimmt vor Angst schlottern«, grinste Wayne. »Diese Burschen sind hart drauf. Mach bloß keine Alleingänge, Grappa-Baby!«
Ich zog den File auf einen Stick und wir kehrten in die Redaktion zurück. Von dort aus rief ich den Hauptkommissar an.
Kleist wollte den Film selbst sehen. Ich schickte ihm die Datei per Mail und wartete am Telefon auf seine Reaktion.
»Wir haben V-Leute in der Szene«, erklärte er. »Ich bin mir sicher, dass jemand die drei erkennt. Außerdem werden sich die Schläger mit der Tat vor ihresgleichen brüsten. Wir stufen den Angriff auf Frau Schmitz als versuchten Mord ein. Die Ermittlungen laufen. Die Pressemitteilung geht in einer halben Stunde raus. Und du? Gibt’s bei dir Neuigkeiten?«
»Ich hab noch mal nach der Firma Motte geschaut.«
»Hast du Hinweise gefunden, die uns weiterbringen?«, fragte er.
»Die Motte GmbH hat vor drei Jahren das sechzigjährige Bestehen gefeiert. Sie wurde 1950 von einem Laurenz Motte in München gegründet. Zuerst hat die Firma Teile für die Autoindustrie hergestellt, stieg aber dann ziemlich schnell in die Waffenproduktion ein – unterstützt von der Bundesregierung. Motte hatte viele Freunde in Regierungskreisen.«
»Kein Wunder, da saßen in den Fünfzigerjahren noch jede Menge Nazis«, sagte Kleist. »Weißt du auch etwas über die Jahre danach? Oder über die aktuelle Familie?«
»Laurenz Motte starb 1980 hoch angesehen und schwerreich. Manfred Motte, der Sohn, wurde 1944 geboren, er heiratete 1977 Irene Polanski, die Kinder Max und Miriam kamen 1979 und 1983 zur Welt. Max hat die Firma übernommen und Miriam studiert in den USA. Eine prächtige deutsche Vorzeigefamilie! Bis auf einen winzigen Schönheitsfehler.«
»Und der wäre?«
»Irene Motte, geborene Polanski, hat sich vor einem halben Jahr das Leben genommen. Sie war gerade mal sechzig Jahre alt.«
Noch eine Razzia
Die Pressemitteilung war mal wieder karg und sachlich. Immerhin wurde der dringende Tatverdacht gegen Mitglieder der Dorstfelder Neonaziszene unmissverständlich zum Ausdruck gebracht.
Und dann noch dies: Zurzeit findet eine Durchsuchung der einschlägig bekannten Treffpunkte statt.
Ich schloss mich mit Wayne kurz und wir trafen uns vor Ort.
Die Spezialkräfte hatten Dorstfeld zum Teil abgeriegelt. Ein Beamter, der uns kannte, wies uns zum Wilhelmplatz. Dort sollten wir das Ende der Razzia abwarten. Die mobile Pressestelle würde uns auf dem Laufenden halten. Das war nicht gut für eine exklusive Berichterstattung, denn außer uns warteten hier weitere Kollegen, die die gleichen Fragen stellen würden wie wir.
»High Noon«, meinte Wayne. Er hatte recht. Niemand befand sich auf den Straßen rund um den Platz. Es war still wie in einem Westernfilm, in dem sich ein Duell in der heißen Mittagssonne ankündigte und sich die Bewohner unsichtbar gemacht hatten.
Ein Taxi fuhr vor. Ihm entstieg Luisa Licht. Sie spazierte über den Platz. Sie war eine auffällige Erscheinung: ein zitronengelbes Kleid mit Pailletten und eine schwarze Bolerojacke.
Sie steuerte auf uns zu und entschuldigte sich gleich. »Ich war gerade bei der Hochzeit einer Freundin und konnte mich nicht mehr umziehen.«
»Kein Problem«, meinte ich und boxte Wayne, dem Mund und Nase offen standen, in die Rippen. »Komm mal wieder zu dir, Bruder!«
»Endlich ein lohnendes Fotomotiv«, frotzelte er und legte die Kamera auf Luisa Licht an.
Ich grinste und fragte: »Was machen Sie hier?«
»Wir haben eine Vereinbarung mit der Polizei, dass wir Aktionen gegen die Rechten beobachten dürfen«, erklärte sie. »Deshalb hat man mich informiert.«
»Was soll ich hier denn knipsen, Grappa, wenn die Bullen uns nicht vom Platz lassen?«, maulte Wayne.
»Die Gegend. Die zugezogenen Gardinen. Die Spezialkräfte … Ich töpfere dazu später die Bildunterzeile: Ein Stadtteil in Angst … oder so. Du kennst doch das Spiel.«
Aus einem Haus wurden zwei Männer abgeführt. »Da hast du dein erstes Motiv«, stellte ich fest. »Geh nah ran, ich will die Gesichter der beiden Typen.«
Pöppelbaum machte seinen Job. Ich begab mich zur mobilen Pressestelle, die in einem VW-Bus untergebracht war.
»Wir haben einige Festnahmen«, teilte der Pressepolizist mit. »Uns lagen Hinweise vor, dass sich in zwei Häusern Personen aufhalten, die im dringenden Verdacht stehen, an einem Überfall auf eine Frau beteiligt gewesen zu sein, beziehungsweise diese Tat in Auftrag gegeben zu haben. Nähere Angaben dazu am späten Nachmittag.«
»Wer ist denn überfallen worden?«, fragte Luisa Licht.
»Dazu kann ich Ihnen keine Angaben machen«, erklärte der Beamte.
»Ich aber. Eine Frau aus dem Negerdorf«, raunte ich der hübschen Sozialarbeiterin zu. »Eine alte Freundin von mir. Drei Typen haben sie vergangene Nacht fast totgeschlagen.«
Licht ging auf meinen Ton ein und fragte leise: »Darf ich zu Ihrer Freundin Kontakt aufnehmen? In Sachen Opferbetreuung haben wir vielfältige Angebote – auch psychologische Hilfen.«
»Ich werde ihr von Ihrem Angebot erzählen«, versprach ich. »Aber zuerst muss sie wieder einigermaßen fit sein.«
»Ja, natürlich«, sagte Licht. »Die Traumatisierung setzt nach solchen Angriffen oft erst später ein – wenn die physischen Wunden verheilt sind.«
Pöppelbaum stieß zu uns. »Guck mal, Grappa, die haben noch jemanden festgenommen.«
Er hielt mir die Kamera hin. Auf dem Display erkannte ich Heinz Golombeck, der in Polizeibegleitung einen Transporter bestieg.
»Das Foto muss ich Frau Schmitz zeigen«, jubelte ich. »Dann ist sie ganz schnell wieder auf den Beinen!«
»Ich muss dann wieder«, sagte Licht. »Hier gibt es nichts zu tun für mich.«
»Und wir fahren zurück in die Stadt«, kündigte ich an. »Können wir Sie mitnehmen? Wollen Sie weiter Hochzeit feiern?«
»Nein, ich will nach Hause. Ich muss aus diesen Klamotten raus und dann in die Beratungsstelle.«
Neonazischläger nach brutalem Überfall festgenommen
titelte ich für die Onlineausgabe.
65-jährige Frau fast
totgeschlagen –
War der Nachbar der Auftraggeber?
Sie kamen am frühen Morgen, klingelten und schlugen brutal zu, als Anneliese S. arglos die Tür öffnete. Anschließend ließen die Männer die schwer verletzte Frau liegen und flüchteten. Ein Prospektverteiler hörte zufällig das Stöhnen des Opfers und alarmierte Polizei und Rettungsdienst. Anneliese S. wurde notoperiert und befindet sich nach wie vor auf der Intensivstation.
Polizei und Staatsanwaltschaft gehen von versuchtem Mord aus. Vermutlich hat die Tat einen politischen Hintergrund, denn die Täter sprühten die Worte Hau ab, Sozi-Schlampe auf die Flurwand.
Die Kriminalpolizei reagierte umgehend und durchsuchte mehrere Wohnungen im Problemstadtteil Dorstfeld nach Tatverdächtigen. Hilfreich war den Ermittlern eine Videoaufnahme, die die drei Täter im Anmarsch auf das Haus ihres Opfers zeigt (siehe angehängtes Video). Die drei Schläger haben die Tat gestanden und einen 67-jährigen Mann, den Nachbarn des Opfers, als Auftraggeber genannt. Auch dieser wurde festgenommen. Er leugnet allerdings noch. Die Tatwaffe, ein Baseballschläger, wurde sichergestellt. Die vier Festgenommenen wurden dem Haftrichter vorgeführt, der Untersuchungshaft angeordnet hat.
Ich rief Kleist an. »Ich habe dich bei der Razzia in Dorstfeld vermisst.«
»Ich kann delegieren.«
»Danke jedenfalls, dass ihr so schnell reagiert und die Schläger aus dem Verkehr gezogen habt«, lobte ich.
»Eine starke Polizei ist leider das Einzige, was diese Verirrten verstehen«, seufzte er.
»Wie seid ihr auf die Typen gekommen?«, fragte ich.
»Unser V-Mann konnte uns einen Tipp geben. Er wusste sogar, wo wir die Täter finden würden«, erklärte er. »Die sind bei den ersten Verhören sofort eingeknickt und haben Golombeck belastet. Er habe ihnen tausend Euro für den Angriff gegeben, behaupten sie.«
Freundschaften ohne Sex
Am nächsten Morgen fuhr ich auf dem Weg in die Redaktion an der Bäckerei vorbei. Donka traute sich wohl nicht zu, die Geschäfte ganz allein zu führen. Der Laden war geschlossen. Trotzdem hatte ich plötzlich den Geruch von frischen Mandelhörnchen in der Nase. Jetzt hatte ich schon olfaktorische Halluzinationen!
Was sollte aus Frau Schmitz werden, falls diese verdammten Schläger ihr bleibende Schäden zugefügt hatten? Ihre Freude über das kleine Häuschen und auf einen harmonischen Lebensabend wäre dann von einem psychisch gestörten Nachbarn namens Golombeck und drei dumpfen Schlägern unwiderruflich zunichtegemacht worden. Tränen traten mir in die Augen, aber ich stand schon im Aufzug und riss mich zusammen.
Im Großraumbüro fand das übliche Spiel namens »Ich erkläre euch allen die Blöd-Zeitung« statt. Das würde mich ablenken.
Sarah trötete gerade »Eine Mallorca-Millionärin von siebzig hat den Küblböck adoptiert. Ob der wohl mit der ins Bett muss?«
»Nee, der ist doch schwul«, wusste Susi. »Die beiden sind nur seelenverwandt. Es gibt auch Freundschaften zwischen Männern und Frauen ohne Sex. Oder, Grappa?«
»Genau. Je älter ich werde, desto mehr stimmt das«, seufzte ich.
»Willst du darüber sprechen, Grappa?«
»Grad nicht, Mädels«, entgegnete ich. »Aber ich komme vielleicht später darauf zurück. Was ist sonst noch passiert in der Welt der Reichen und Schönen?«
»Da gibt es noch den General, der zurückgetreten ist, weil er mit seiner Biografin gebumst hat«, berichtete Sarah. »Dabei hat er so eine nette Frau, guck mal!«
Sie deutete auf ein Foto, auf dem ein grauhaariges Muttchen einem Uniformträger die Bibel hinhält, auf die er einen Eid leisten soll.
»Sieht nett aus, ja, aber eher wie seine Mutter«, meinte ich. »Der Kommentar dazu ist gut. Hört mal! Manche angetrauten Ladys sehen aus, dass du ihren Männern einen Gutschein für einen Seitensprung schenken möchtest. Fallende Mundwinkel, Betonfrisur, das Liebesleben nur als Erinnerung im Silberrahmen auf dem Couchtisch. Verlogene Umarmungen und ein blütenweißes Tischtuch über allen Lebenslügen. Ist doch schön formuliert, oder?«
»Das Leben wird im Alter nicht leichter«, sinnierte Susi.
»Stimmt, die Rolle vorwärts über die Spüle schaffe ich nicht mehr, ohne mir die Knochen zu brechen«, gab ich zu.
»Die hast du doch noch nie geschafft«, behauptete Sarah. »Da hat übrigens jemand für dich angerufen, Grappa. Heute Morgen ganz früh. Ich hatte gerade den Schlüssel in die Tür gesteckt.«
»Wer denn?«
»Ein Herr Motte. Er wird sich nachher noch mal melden.«
Ein elegantes Hintergrundgespräch
Ich war baff. Manfred Motte suchte Kontakt zu mir. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Am besten gar nichts.
Motte meldete sich tatsächlich. Seine Stimme klang überraschend jung.
Dann schaltete ich endlich. Es war nicht Manfred Motte, der mich sprechen wollte, sondern sein Sohn Max, der frischgebackene Geschäftsführer der Motte GmbH. Wir verabredeten uns für fünfzehn Uhr im Verlag.
Der junge Industrielle erschien pünktlich. Ich führte ihn in den Besprechungsraum, den ich reserviert hatte. Dort wartete Wayne auf uns. Ich hatte ihn gebeten, als Zeuge an dem Gespräch teilzunehmen. Er hatte seine Kamera dabei, um seine Anwesenheit zu begründen.
»Ich würde gern mit Ihnen unter vier Augen sprechen«, forderte der smarte Mittdreißiger sofort.
»Warum das, Herr Motte?«, fragte ich. »Ich weiß ja nicht, was Sie von mir wollen. Vielleicht werden Sie unangenehm und dann hätte ich einen Zeugen dafür.«
Pöppelbaum machte ein Pokerface.
»Ich werde nie unangenehm«, behauptete Motte. Er sah seinem massigen Vater nicht ähnlich, sondern war schlank und feingliedrig. Das mittelbraune Haar war gelockt und mit Gel in Form gebracht, die Hautfarbe leicht gebräunt und die Nägel poliert.
Er kommt wohl nach seiner Mutter, dachte ich.
»Es geht um ein Hintergrundgespräch«, erklärte Motte. »Ob über das, was wir besprechen, ein Artikel verfasst wird, darüber habe ich mir – ehrlich gesagt – noch keine Gedanken gemacht.«
»Sie wissen aber schon, dass ich Journalistin bin? Wir sind dazu da, Informationen zu veröffentlichen, und nicht dazu, sie unter den Tisch zu kehren.«
»Nur wir beide oder gar nicht.« Es klang endgültig.
Meine Neugier siegte. »Na gut! Lässt du uns bitte allein, Wayne?«
Der Bluthund zog einen Flunsch, drückte im Hinausgehen auf den Auslöser und trollte sich.
»Sie wissen schon, dass es das Recht am eigenen Bild gibt?«, fragte Motte.
»Dieses Recht wird überbewertet«, ließ ich meinen Standardspruch erklingen. »Fotografen haben nun mal den Reflex, abdrücken zu müssen.«
»Wie Sie meinen«, meinte Motte kühl. Er schlug die Beine übereinander und nahm eine lässige Haltung ein. »Ich fasse kurz die Vorgeschichte zusammen.«
Auch ich schlug die Beine übereinander. Imitation der Körpersprache des Gegenübers lässt Vertrauen entstehen – so hatte ich es mal auf einer Seite für neurolinguistisches Programmieren gelesen. Leider vergaß ich meistens, meine rudimentären Kenntnisse von Psychotechniken im Beruf anzuwenden.
»Vor etwa einem Jahr sind aus dem Tresor unserer Firma einige geschäftliche und private Unterlagen verschwunden. Der oder die Täter kannten offensichtlich die Zahlenkombination. Vor vier Monaten interessierte sich dann plötzlich ein israelischer Journalist namens Cohn für unsere Firma. Er behauptete, eine Reportage über unsere Waffenlieferungen an den Staat Israel schreiben zu wollen. Er wollte uns einige Fragen zum Ablauf des Geschäfts stellen. Da wir uns streng an die Vorgaben der Bundesregierung und das Kriegswaffenkontrollgesetz halten, haben wir uns keinerlei Sorgen gemacht. Also stimmte mein Vater zu, sich mit Cohn zu treffen – während dessen Deutschlandbesuchs, der einige Monate später stattfinden sollte.«
Es klopfte. Susi brachte mir ungefragt einen Kaffee und erkundigte sich nach Mottes Wünschen. Er bestellte ein stilles Wasser.
»David Cohn hat Ihren Vater dann aber gar nicht getroffen, jedenfalls nicht in Deutschland!«
»Stimmt. Das lag aber an Cohn. Er hat etwas von einer Dienstreise gesagt, in Wahrheit war er im Italien-Urlaub mit seinen deutschen Verwandten. Inzwischen weiß ich, dass er die Geschichte seiner Familie aufarbeiten wollte. Was die allerdings mit meiner Familie zu tun hat, war mir damals unklar.«
»Das geht mir leider immer noch so«, gestand ich.
»Jedenfalls meldete sich Cohn wieder und wollte wissen, ob mein Vater auch an den Lago Maggiore kommen könne«, fuhr Motte fort. »Mein Vater stimmte zu, aber Cohn war dann schon tot, als er eintraf. Wir wissen also bis heute nicht, was er von meinem Vater gewollt hat.«
»Cohn hatte einen Brief seines Großonkels dabei – geschrieben im Jahre 1944«, warf ich ein. »Darin schildert Samuel Cohn seinen Verwandten in den USA das Leben als Flüchtling. Dieser Brief ist niemals abgeschickt worden und die Familie wurde von den Nazis ermordet und im See …«
»Ich weiß, was in dem Brief steht«, unterbrach mich Motte.
»Ach, ja? Gehört das Dokument zu den gestohlenen Papieren aus dem Safe Ihrer Familie?«
»Nein. Einfacher. Ich habe den Text im Bierstädter Tageblatt gelesen. In einem Artikel – verfasst von Ihnen.«
»Ach so, ja.« Ich wurde rot.
Susi brachte eine Wasserflasche und ein Glas. Sie musterte Motte mit unverhohlenem Interesse. »Bitte schön, der Herr.«
Motte bedanke sich nicht, goss ein und trank das Glas in einem Zug leer. Er ist nervös, dachte ich und nahm meinerseits einen Schluck Kaffee. Susi verließ den Raum und warf dabei die Tür etwas zu heftig zu.
»Ich kann aber nicht ausschließen, dass der Brief tatsächlich in unserem Safe lag. Mein Vater reagierte panisch, als ich ihn dazu befragte. Er wollte mir weder dazu noch zu den anderen Unterlagen Genaueres sagen. Ich selbst habe die Sachen nie gesehen.«
»Cohn hat geäußert, sich das Vermögen seiner Vorfahren zurückzuholen. Fällt Ihnen dazu etwas ein?«
»Nicht viel. Dazu müsste ich die Dokumente kennen.«
»Ihr Großvater hieß Laurenz Motte. Was wissen Sie über ihn – außer, dass er die Firma gegründet hat?«, fragte ich.
»Er stammte aus Österreich und kam nach dem Krieg nach Deutschland. Mehr weiß ich nicht«, erzählte Motte. »Er starb, als ich elf war. In diesem Alter interessiert man sich noch nicht für Familiengeschichte.«
»Könnte Ihr Großvater mit dem SS-Hauptsturmführer Theodor Steiger identisch sein?«, spekulierte ich wild drauflos.
Motte erhob sich und lief durch den Raum. »Ich habe Nachforschungen angestellt. Es gibt kein Foto dieses Nazimörders, also konnte ich die Bilder nicht vergleichen. Mein Vater streitet alles ab und hält mich für verrückt. Aber meine Fragen beantwortet er nicht.«
»Und wie sind die Unterlagen in den Firmensafe gekommen? Warum mauert Ihr Vater?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Und Ihre Mutter? Was wusste sie?«
»Mutter war hochgradig depressiv und hat sich vor einem halben Jahr das Leben genommen. Sie hat sich leider nie für die Firma interessiert. Sie lebte in ihrer eigenen Welt und ließ nur selten jemand an sich heran. Am ehesten weiß vielleicht meine Schwester Miriam noch etwas über unsere Vorfahren. Allerdings hat sie der Familie nach Mutters Tod den Rücken gekehrt.«
»Warum das?« Dass Motte so redselig war, musste ich ausnutzen.
Er atmete tief durch. Das Thema schien ihn zu belasten. »Die Ehe meiner Eltern war schon länger zerrüttet. Aber eine Scheidung kam für beide nicht infrage. Also lebten sie nebeneinanderher. Mutter litt sehr darunter.«
Ich entschloss mich, die Frage aller Fragen zu stellen: »Warum sind Sie zu mir gekommen? Für einen Artikel taugt das nicht, was Sie mir erzählt haben.«
Motte räusperte sich. »Ich glaube, dass Sie im Besitz der gestohlenen Unterlagen sind oder zumindest wissen, wo sie sich befinden«, sagte er. »Und ich muss die Sachen wiederhaben. Hunderttausend Euro für Sie, wenn Sie mir die Dokumente beschaffen.«
Ich hustete los. So etwas war mir noch nie passiert.
»Ich weiß nicht, wo die Papiere sind«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Und selbst wenn – ich bin nicht bestechlich. Wenn sich der Erfolg Ihrer Firma auf Geld von getöteten Juden gründen sollte, muss das an die Öffentlichkeit!«
»Sie missverstehen mich, Frau Grappa!« Motte stützte sich mit beiden Armen auf dem Tisch ab und sah mich ernst an. »Ich will das alles aufdecken und den Schaden wiedergutmachen.«
»Wiedergutmachen? Wie soll das denn gehen?«, rief ich empört aus. »Mit Geld? Samuel Cohn und seine Familie sind tot. Und David auch.«
»Natürlich kann ich die Morde nicht rückgängig machen. Aber ich kann die Wahrheit ans Tageslicht bringen und wenigstens das gestohlene Geld zurückzahlen, falls die Millionen von Samuel Cohn nach dem Krieg wirklich in die Motte GmbH geflossen sind.«
»Eine herzzerreißende Geschichte«, spöttelte ich. »Hört sich gut an. Späte Sühne für ein unfassbares Verbrechen. Und Sie stehen prima da!«
»Was soll ich denn Ihrer Meinung nach tun?«, fragte er. »Alles so weiterlaufen lassen wie bisher?«
»Überlassen Sie die Sache den Ermittlungsbehörden«, riet ich. »Der Mord an den Mahlers und an Cohn war eine bezahlte Hinrichtung. Den Auftraggeber kennt noch niemand. Vielleicht stecken Sie oder Ihr Vater hinter den Morden.«
»Das sind unverschämte Vorwürfe«, sagte Motte mit harter Stimme. »Sie glauben gar nicht, wie sehr es mich belastet, dass mein Großvater womöglich ein Massenmörder war und mein Vater das vertuschen möchte.«
»Vertuschen – indem der Killer auch noch beseitigt wird!«, setzte ich einen drauf.
Motte knallte seine Visitenkarte auf den Tisch und erhob sich: »Überlegen Sie es sich. Die Belohnung steht für Sie bereit!«
Kaum war Motte weg, stürzte ich zu Pöppelbaum und erzählte ihm alles.
»Das ist ja der Hammer! Aber klingt doch eigentlich ganz positiv: Endlich mal jemand, der aufklären möchte.«
Wayne bemerkte meinen skeptischen Blick. »Oder traust du ihm nicht über den Weg?«
»Ich kann das nicht einschätzen.«
»Und? Verdienen wir uns die hunderttausend Euro?« Er grinste.
»Nein. Du weißt, dass das nicht geht. Außerdem haben wir keine Ahnung, wo die gestohlenen Sachen sind. Wie kommt er nur darauf, dass ich wissen könnte, wo die Papiere sind?«
»Du machst halt einen intelligenten Eindruck«, flachste Wayne. »Er hat dich überschätzt.«
»Das passiert mir oft«, stimmte ich zu. »Immerhin scheint Motte es aber gewöhnt zu sein, mit Bestechungsgeldern zu arbeiten. Ich hatte den Eindruck, es war für ihn ganz selbstverständlich, mir Kohle anzubieten.«
»Der arbeitet im Waffenhandel. Solche Geschäfte laufen gern mal über Korruption – besonders in Krisengebieten. Kannst du in jedem Krimi nachlesen. Geld macht solche Deals geschmeidiger«, stellte Wayne fest.
»Waffenhandel ist sowieso ekelhaft«, seufzte ich. »Ich muss raus aus diesem Laden hier. Ich fahre nach Hause und nehme ein langes Bad. Irgendwie fühle ich mich schmutzig.«
Zwei Stunden später recherchierte ich im Internet das Leben von Irene Motte, geborene Polanski. Sie führte das Leben einer typischen Unternehmergattin. Sie hatte keinen eigenen Beruf, war Chefin der Rotary-Damen, leitete die Tombola beim Jahresempfang der Industrie- und Handelskammer zu München und war ehrenamtliche Vorsitzende eines Projekts, das sozial benachteiligte Kinder bildungsmäßig unterstützte und ihnen einen Ferienaufenthalt bezahlte.
Ich glich die Daten ab. Noch vor einem Jahr hatte Irene Motte ihre Depressionen offenbar gut im Griff gehabt. Sie hatte aktiv am gesellschaftlichen Leben teilgenommen. Warum hatte sie sich ein halbes Jahr später umgebracht?
Ich kam nicht dazu, der Sache weiter nachzugehen. Das Krankenhaus meldete sich auf meinem Handy. Anneliese Schmitz wollte mich sprechen!
Donka hält die Stellung
Die Bäckerin war in ein normales Krankenzimmer verlegt worden. Doch immer noch war sie schwer verkabelt. Ihr Gesicht wirkte sehr klein unter dem Kopfverband, ihre Lippen waren aber durchblutet und die Haut hatte keinen Todesschimmer mehr. Ich atmete auf.
»Hallo, Frau Schmitz, wie isses dir?«
Ihre Augenlider zuckten und öffneten sich zu schmalen Schlitzen. »Muss«, krächzte sie. »Und selbst?«
Jaaaa! Kein Hirnschaden, denn sie hatte unser jahrelanges Begrüßungsritual nicht vergessen. Mein Herz hüpfte vor Freude und Erleichterung.
»Muss«, antwortete ich. »Ich bin froh, dass du wieder wach bist, Frau Schmitz. Hast du Schmerzen?«
»Nee. Müde. So müde.«
»Mach dir keine Sorgen, alles wird gut.« Ich nahm ihre Hand. Sie war so kraftlos wie ein toter Vogel.
»Die drei Typen, die dich verprügelt haben, sitzen im Knast. Und der Golombeck auch. Der hat denen den Auftrag gegeben. Ist das gut oder ist das gut?«
Ihre Lippen deuteten ein Lächeln an. »Der Sausack.« Sie drückte kurz meine Hand.
»Sie braucht wieder Ruhe«, meldete sich ein Pfleger zu Wort. »Prima, dass sie Sie erkannt hat. Das ist ein gutes Zeichen.«
»Kann ich irgendwas für sie tun?«
»Kommen Sie sie ab und zu besuchen. Auch wenn sie noch schwach ist. Es zeigt ihr, dass jemand da ist. Verwandte hat sie wohl keine, oder?«
»Jedenfalls keine, von denen ich weiß«, antwortete ich.
»Und was ist mit diesem Mädchen dort?« Er deutete mit dem Finger aus dem Fenster. Ich trat neben ihn und entdeckte Donka. Sie saß auf einer Bank in der Nähe des Krankenhauseingangs – umgeben von rauchenden Patienten in Bademänteln – und starrte vor sich hin.
»Das ist Frau Schmitz’ Lehrmädchen. Sie heißt Donka.«
»Wir haben sie nicht vorgelassen«, erklärte der Pfleger. »Sie war schon ein paarmal hier.«
»Warum lassen Sie sie nicht zu ihr?«
»Bisher durfte überhaupt niemand zu ihr. Sie sind die Erste.«
»Ich werde mit Donka reden und sie das nächste Mal einfach mitbringen. Wäre das okay?«
»Natürlich. Sie sieht so … ausländisch aus und wir wissen ja, dass die Patientin einem Überfall zum Opfer gefallen ist. Also waren wir vorsichtig.«
Ich sparte mir den Vortrag über unnötige Vorurteile. Der Typ hatte nur das Richtige tun wollen. Und wenn ich ehrlich war – ich hielt meine Handtasche auch fester, wenn mir eine Gruppe Jugendlicher mit sichtbarem Migrationshintergrund begegnete. Ich warf noch einen Blick auf Frau Schmitz. Ihr Atem ging ruhig und tief. Sie war auf dem Weg der Genesung.
Vor dem Krankenhaus saß Donka noch auf der Bank. Ich ließ mich neben sie fallen.
»Frau Schmitz geht es besser«, berichtete ich. »Sie ist aufgewacht und wird wieder ganz gesund. Bald kannst du sie sehen.«
Die junge Frau strahlte.
Kinder aus Afrika und Charity ohne Ende
Die tote Irene Motte ging mir nicht aus dem Kopf. Ich druckte mir im Büro alle Dokumente über sie aus, die das Internet hergab, um die Informationen noch einmal genauer durchzugehen. Ich suchte die Kontaktdaten des Rotary-Clubs heraus und fand eine Telefonnummer der aktuellen Vorsitzenden namens Valeria Ramsmeyer. Jetzt fehlte mir nur noch eine glaubhafte und möglichst emotionale Geschichte, die die Frau zum Plaudern brachte. Ich googelte Frau Ramsmeyer und erfuhr, dass sie auf bayerischen Turnieren als Dressurreiterin einige Schleifen geholt hatte, der Burn-out-Selbsthilfegruppe vorstand und Mutter von drei adoptierten Kindern aus Afrika war. Die letzte Neuanschaffung stammte aus Mali und hieß Bobo. Ich merkte mir den Namen des Kindes.
Ich holte mir Kaffee, um meinen Erfindergeist zu stimulieren. Nach drei Tassen der braunen Brühe und einiger Konzentration mutierte ich zu der Geschäftsführerin einer großen Gala namens Kinderlächeln, die einmal im Jahr veranstaltet wurde. Dabei wurden die Prominenten dieser Welt dazu geladen, gegen den Hunger der Kinder in der Welt anzuessen und anzutrinken. Einmal hatte ich an dieser Gala teilgenommen, um darüber zu berichten. Ich hatte rechts neben der Organisatorin gesessen, der geschiedenen Frau eines Aga Khan, die als Charity-Lady verzweifelt versuchte, ihrer Lebenszeit einen gewissen Sinn zu geben. Links von mir hatte die Silikone (hier fehlt das t nicht!) der Nation gethront. Sie hatte mit Schlauchbootlippen von St. Moritz und St. Tropez geplappert und später den Erlös der Gala und die Preisträger vor den internationalen Kameras bekannt gegeben.
Das Glück war mit mir. Frau Ramsmeyer war bei den Rotariern zu erreichen. Ich stellte mich wie geplant vor. »Wegen Ihres sozialen Engagements möchten wir Sie gern als Preisträgerin nominieren. Ihre Freundin Irene Motte hat Sie uns vor einigen Monaten ans Herz gelegt.«
»Irene? Die Gute!«, seufzte Ramsmeyer. »Es wäre schön, wenn sie das noch erleben könnte.«
»Ich verstehe nicht …«, stammelte ich.
»Irene weilt nicht mehr unter uns.« Ramsmeyer unterdrückte ein Schluchzen. »Sie ist vor einem halben Jahr von uns gegangen.«
»Was ist denn geschehen?«
Ramsmeyer schluchzte jetzt doch. »Sie hat sich das Leben genommen.«
»Um Himmels willen! Warum das denn?«
Die Freundin behauptete, nicht indiskret sein zu wollen, entschied sich aber nach fünfzehn Sekunden für das Gegenteil. In Wahrheit wisse sie es zwar nicht. Irene habe aber eine Auslandsreise gemacht und sei völlig verändert zurückgekehrt. Sie sei ganz still geworden, habe mit niemandem mehr gesprochen und sich dann umgebracht.
»Das ist ein großer Schock für mich«, entgegnete ich. »Sie hat so liebevoll und voller Hochachtung von Ihnen geredet. Was ist denn nur auf dieser Reise passiert? Wo ist sie denn hingereist?«
Ich tippte insgeheim auf Israel. Doch Valeria Ramsmeyer antwortete: »Sie war eine Woche am Lago Maggiore. Mit ihrer Tochter Miriam.«
Ja. So konnte es gelaufen sein: Irene Motte entdeckt im Tresor alte Papiere, darunter Samuel Cohns Brief an den Bruder. Dazu vielleicht Bankunterlagen und Dokumente oder Hinweise darauf, dass Theodor Steiger sich nach dem Zusammenbruch des Nazireiches eine neue Identität als Laurenz Motte zugelegt hatte. Sie ahnt, dass der eigene Reichtum und das gesellschaftliche Ansehen auf Mord und Raub aufgebaut sind. Ihr Mann weicht ihr aus, als sie ihn zur Rede stellt. Sie kennt seine politische Einstellung, die ihn Freundschaften zu rechtsradikalen Gruppen pflegen lässt, und erzählt ihrer Tochter Miriam, was sie herausgefunden hat. Die beiden fahren nach Italien. Dort hört Irene Motte von dem Massaker und sieht sich in ihren Befürchtungen bestätigt. Miriam weiß auch nicht, wie mit einer solchen Familiengeschichte umzugehen ist, und wandert in die USA aus. Irene zweifelt, ob es gut ist, die Wahrheit an die Öffentlichkeit zu bringen – das würde Verzicht auf Reichtum und Ansehen mit sich bringen. Sie recherchiert, ob Samuel Cohn noch Nachfahren hat, und gerät an David. Sie spielt ihm die Dokumente zu. Dann begeht sie Selbstmord.
Die Einzige, die mir erzählen konnte, ob meine Theorie stimmte, war Miriam Motte. Ich rief ihren Bruder auf dem Handy an, doch es war nur die Mailbox geschaltet. Wenn er wirklich an einer Aufklärung interessiert war, würde er mir den Kontakt zu seiner Schwester herstellen.
Jeder Mensch hat Freunde
Am Nachmittag gaben Polizei und Staatsanwaltschaft bekannt, dass die Männer, die meine Frau Schmitz zusammengeschlagen hatten, in Haft blieben. Auch Golombeck, der Auftraggeber, durfte seine Zelle im Lübecker Hof, dem gemütlichen Bierstädter Gefängnis, behalten.
Schnack gab mir vierzig Zeilen und ich schrieb sie gerne.
Anneliese S. aus Koma erwacht
Das 65-jährige Opfer des brutalen Neonaziüberfalls in Dorstfeld ist auf dem Weg der Besserung. Frau S. ist ansprechbar. Ob körperliche Schäden nach der Attacke von drei rechtsextremen Schlägern zurückbleiben, können die Ärzte noch nicht ganz ausschließen. Die geständigen Täter bleiben in Haft, ebenso ihr Auftraggeber Heinz G., der Nachbar des Opfers. Der Tat vorausgegangen war ein monatelanger Nachbarschaftsstreit zwischen Anneliese S. und Heinz G. und seiner Frau …
Nach der Freigabe durch Schnack speicherte ich den Artikel in der Onlineausgabe des Tageblattes und packte meine Sachen. Im Großraumbüro saß nur noch Bärchen Biber.
»Machst du Überstunden?«, frotzelte ich.
»So ähnlich«, antwortete er. »Ich hab kein Wasser zu Hause. Das Rohr ist gebrochen. Also übernachte ich hier im Sanitätsraum.«
»Hast du keine Freunde, bei denen du schlafen kannst?«
»Freunde? Nee! Hast du etwa welche?«
Ich überlegte. »Doch. Vielleicht einen.« Ich dachte an Kleist.
»Du meinst deinen Oberpolizisten.« Bärchen war mir gedanklich gefolgt. »Der kommt dir wohl bald abhanden.«
»Wieso das?«
»Hier. Lies.« Er reichte mir ein überregionales Blatt.
Bundesinnenminister Friedrich (CSU) eröffnet demnächst beim Verfassungsschutz in Köln ein neues Abwehrzentrum gegen Extremismus und Terrorismus. Experten von vierzig Behörden aus Bund und Ländern sollen dort ihre Erkenntnisse bündeln. Die Zusammenarbeit zielt auf die Bekämpfung aller Arten von Extremismus. Dazu gehören Terror von Rechts und Links sowie Spionage. Bundeskriminalamt und Bundesverfassungsschutz sollen die Arbeit in der neuen Einrichtung koordinieren. Mit dabei sind Bundespolizei, Bundesnachrichtendienst, Zollkriminalamt, Bundesanwaltschaft und der Militärische Abschirmdienst. Als Leiter der neuen Einrichtung ist Dr. Friedemann Kleist (52), Leitender Hauptkommissar der Polizei Bierstadt, im Gespräch. Kleist selbst wollte sich zu der Personalie nicht äußern.
Na toll, dachte ich grimmig, ich erfahre aus der Zeitung, dass sich mein gelegentlicher Liebhaber aus dem Staub machen will.
»Ach, das wusstest du gar nicht?«, lächelte Bärchen lauernd.
»Das ist noch nicht spruchreif«, lächelte ich zurück. »Presseleute lügen eh alle wie gedruckt.«
Meine Laune war im Keller. Zu Hause angekommen, stellte ich fest, dass sich der Weißburgunder leider nicht im Kühlschrank befand. Fluchend schob ich ihn ins Eisfach und stellte die Eieruhr auf zehn Minuten. Anschließend rief ich den Pizzaservice an. Einmal Lucifer doppelt scharf.
Kleist wollte weg. Und ich hatte keine Ahnung. Aber warum regte mich das eigentlich auf? Wir waren beide freie Menschen und wollten es auch bleiben. Dazu gehörte, dass ein jeder einen Ortswechsel vornehmen konnte, ohne den anderen zu fragen.
Es klingelte. Der Wein war jetzt kühl. Ich nahm die Flasche aus dem Eisfach und entkorkte sie.
Schon wieder schellte es – diesmal an der Haustür.
»Pizzaservice«, rief eine Stimme.
Ich öffnete und vor mir stand Kleist – eine Pappschachtel in der Hand.
»Ich hab den Pizzaboten abgefangen«, strahlte er. »Gibst du mir was ab?«
»Kein Problem.« Ich schloss die Tür.
In der Küche teilte er die Pizza in zwei Hälften. »Viel zu viel Peperoni«, stellte er fest.
»Es ist genug Löschwasser im Kühlschrank«, verkündete ich. »Und? Wie laufen die Ermittlungen? Oder laufen sie gar nicht mehr?«
»Natürlich. Aber es ist immer noch schwierig. Die Italiener sind jetzt raus. Condi und Co. sind abgereist. BKA und Interpol bekriegen sich und der Mossad kocht sein eigenes Süppchen. Jetzt mischt auch noch der Innenminister mit und will sein ramponiertes politisches Ansehen aufpolieren – nach den Ermittlungspannen gegen den Nationalsozialistischen Untergrund. Er will eine neue Behörde gründen.«
»Ich las davon«, sagte ich und schnitt ein Stück Pizza ab. »Das neue Abwehrzentrum gegen Extremismus und Terrorismus mit dir als Chef. Du machst Karriere.«
»Ich habe nicht zugesagt. Erst will ich die Morde aufklären. Leider habe ich Grund anzunehmen, dass der Mossad dahintersteckt.«
Ich horchte auf. »Der Mossad? Nicht Neonazis? Hab ich irgendwas nicht mitbekommen?«
»Ich glaube, wir haben bisher in die falsche Richtung ermittelt«, erklärte Kleist mit leichtem Zögern.
»Aha. Daniel Schatto ist also kein rechter Killer, oder was?«
»Doch. Er hat die Mahlers und Cohn liquidiert. Aber nicht aus Rassenhass.«
»Dann eben, weil er fünftausend Euro dafür bekommen hat«, sagte ich. »Das Ergebnis ist dasselbe.«
»Ja, aber wir sind bisher davon ausgegangen, dass Schattos Auftraggeber der rechtsextremen Szene angehört. Doch Cohn hatte sich den Mossad zum Feind gemacht. Ich glaube, dass er über den israelischen Waffendeal mit Motte schreiben wollte. Das hätte das Geschäft vermutlich zum Platzen gebracht. Der Mossad wollte das verhindern. Israelische Zeitungen, für die Cohn gearbeitet hat, deuten an, dass im Vorfeld Millionen an Bestechungsgeldern an israelische Politiker geflossen sind.«
»Und deshalb lässt der Mossad vier Leute abknallen? Das kann ich nicht glauben. Und warum Schatto dafür engagieren? Dieser Geheimdienst erledigt solche Sachen doch selbst, wie man überall nachlesen kann.«
»Ein Neonazikiller macht sich viel besser«, entgegnete Kleist. »Nachdem man den deutschen Behörden in der Öffentlichkeit Blindheit auf dem rechten Auge attestiert hat, wagen sie es nicht mehr, gegenüber Israel aufzumucken.«
»Und wie willst du das alles beweisen?«
Er schaute mich ernst an. »Du wirst es schreiben. Wenn meine Thesen erst mal von dir öffentlich gemacht sind, wissen die Verantwortlichen, dass sie unter Beobachtung stehen.«
»Und wenn du falsch liegst?«, fragte ich.
»Dann hat eine vorwitzige Journalistin des Tageblattes mal wieder übertrieben«, lächelte er.
»Na, klar«, sagte ich, hob das Weinglas, kicherte und prostete ihm zu. »Trinken wir auf gutgläubige Journalistinnen und die größte Zeitungsente des Jahrzehnts!«
Nach den Rechten sehen
Die Krankenschwester zog die Gardinen beiseite. »Sehen Sie mal, Frau Schmitz, wie schön die Sonne scheint! Und Besuch haben Sie auch.«
Die Kranke saß aufrecht im Bett. Der Verband um ihren Kopf war weniger dick als noch vor zwei Tagen. Donka und ich nahmen an dem Besuchertischchen Platz.
»Wie isses?«
»Muss, Frau Grappa«, blinzelte Frau Schmitz. »Und die Kleine ist auch da.«
»Donka war jeden Tag hier«, stellte ich fest. »Man hat sie nur nicht zu dir gelassen.«
»Was machst du jetzt, Mädchen? Steht mein Laden noch aufrecht?«
»Ich hab alles geputzt. Wirklich alles und aufgeräumt«, erzählte Donka. »Wenn du wiederkommst, du freuen.«
»Das dauert noch ’ne Weile«, seufzte die Bäckerin. »Die wollen mich zur Reha schicken, abba das können die sich abschminken.«
»Frau Schmitz, alles läuft prima«, warf ich ein. »Am Anfang dachten die Ärzte, du würdest nicht mehr aufwachen oder geistige Schäden zurückbehalten. Den Rest werden wir auch noch hinkriegen. Schwere Arbeiten kannst du erst mal nicht machen, denke ich.«
»Ich mache schwere Arbeit«, meinte Donka.
»Danke, Mädchen. Das Schlimmste sind die Kopfschmerzen. Aber der Arzt sagt, das gibt sich.« Die Bäckerin klopfte auf den Verband. »Toi, toi, toi!«
»Alles wird gut, Frau Schmitz. Ich muss los.«
»Ich bleibe bei Chefin«, erklärte Donka.
»Frau Grappa?«
»Ja?«
»Kannst du zu meinem Haus fahren? Blumen gießen und nach dem Rechten sehen?«
»Na klar«, nickte ich. »Und ich kann auch nach den Rechten sehen.«
»Den Schlüssel hast du ja. Und danke, Frau Grappa.«
»Ist mir ein Vergnügen.«
Ich verabschiedete mich.
Das Haus empfing mich ohne neue Auffälligkeiten. Ich ging in die Küche, suchte eine Gießkanne, erinnerte mich, dass ich sie neben den Pflanzen stehen gesehen hatte.
Zufällig fiel mein Blick aus dem Fenster in den kleinen Garten. Ich erstarrte. Frau Golombeck stand in Frau Schmitz’ Garten, hatte Kater Horsti am Kragen gepackt und schüttelte ihn heftig.
Zum Glück hatte die Küche ja eine Tür ins Freie. Ich holte meine kleine Kamera aus der Tasche, griff zu einer großen Pfanne und schon stand ich vor der Nachbarin, knipste und schrie, dass sie den Kater in Ruhe lassen sollte. Der Erfolg meiner Mission war durchschlagend: Frau Golombeck ließ das Tier fallen und rannte schreiend weg.
Ich goss die Blumen zu Ende, verriegelte das Haus und klingelte bei den Nachbarn.
»Rechtsradikal zu sein, reicht Ihnen wohl nicht«, blaffte ich die Frau an, als sie an der Tür erschien. »Das da eben gibt eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch und Tierquälerei. Da kommt langsam was zusammen, nicht wahr?«
Besuch von einem Verschwundenen
Am Nachmittag machte ich die Wochenendeinkäufe. Als ich nach Hause kam, dämmerte es bereits, die Tage wurden fühlbar kürzer. Ich parkte meinen Wagen, griff den Einkaufskorb und ging zur Haustür. Ein großer, schmaler Schatten trat hinter dem Ilex hervor. Der Schatten hob die Hand und winkte mir zu. Der Bewegungsmelder sprang an. Das Licht erhellte Fabian Fellners Gesicht.
»Wo kommen Sie denn plötzlich her?«, fragte ich verdattert. »Und vor allen Dingen – wo waren Sie die ganze Zeit?«
Ein Auto fuhr langsam am Haus vorbei. Fellner trat in den Schatten zurück und blickte dem Wagen nach. Er wirkte nervös.
»Kann ich reinkommen?«
Ich zögerte.
»Bitte! Herr Kleist hat mich hierher bestellt.«
Und wieder rollte ein Wagen langsam am Haus vorbei. Plötzlich erstarb das Motorengeräusch, der Fahrer hatte angehalten. Jetzt wurde mir auch mulmig.
»Kommen Sie!« Ich schloss auf und schob Fellner in den Flur. »Hat Sie jemand verfolgt?«
»Ich weiß es nicht«, krächzte Fellner.
»Sie sehen ziemlich fertig aus«, stellte ich fest und führte ihn in die Küche. »Und jetzt mal Butter bei die Fische! Wer sind Sie?«
»Fabian Fellner – der Name stimmt.«
»So so. Dann sind Sie nicht Holger Bruns, der intellektuelle Kopf der Antineonazibewegung? Der angebliche Freund von David Cohn?«
»Ich bin ja hier, um alles zu erklären«, stöhnte er.
Ich öffnete eine Flasche Bier und stellte sie ihm hin. Er griff danach und trank gierig.
»Haben Sie vielleicht auch was zu essen?« Sein Blick fiel schräg auf die Leckereien in meinem Korb. Ich schob ihn zur Seite und öffnete den Kühlschrank.
»Hier ist noch ein Rest kalter Ravioli. Wollen Sie die?«
Fellner nickte. »Vielleicht könnten Sie die kurz in die Mikrowelle schieben«, schlug er vor.
»Ich kann auch noch Petersilie drüberstreuen oder ein paar Trüffel«, lächelte ich zuckersüß. »Oder soll ich lieber den Partyservice kommen lassen?«
Er antwortete nicht. Ich schob den Teller für eine Minute in die Mikrowelle.
»Warum haben Sie sich als Holger Bruns ausgegeben?«
»Das war meine Legende. Als Holger Bruns kam ich besser an David Cohn heran. Und an Sie, Frau Grappa.«
»Legende?«
Die Pasta war heiß. Er zog den Teller zu sich heran und schaufelte die Teigwaren in den Mund.
»Was wollten Sie von Cohn und von mir?«
»Ich bin vom Mossad angeworben worden, David Cohn auszuspionieren.«
»Warum?«
»Cohn war schon immer ein Kritiker der Regierung. Und interessierte sich zuletzt auffällig für die Waffengeschäfte Israels …«
»Und was für eine Rolle spiele ich dabei?«
»Nun ja. Cohn war tot … – Sie haben gute Kontakte zur Polizei und sind als Wadenbeißerin bekannt.«
»Herzlichen Dank!«, blaffte ich. »Und weiter?«
»Das ist doch ein Kompliment«, kaute er. »Ich sollte Sie im Auge behalten, um eine Berichterstattung über die Waffengeschäfte zwischen Motte und Israel zu unterbinden. Die Israelis hatten Angst, dass Sie das veröffentlichen, was David Cohn recherchiert hatte und nicht mehr schreiben konnte.«
Das ist zu viel der Ehre, dachte ich.
Es klingelte. Der Hauptkommissar war endlich eingetroffen. »Deine Verabredung sitzt in der Küche.«
Kleist legte den Mantel ab. »Was weißt du alles schon?«, fragte er.
»Dass Fellner für den Mossad arbeitet. Wir sind aber noch am Anfang der Geschichte, er musste erst was essen.«
Als wir gemeinsam die Küche betraten, hatte Fellner die Ravioli verputzt.
»Was ist dann schiefgelaufen?«, knüpfte ich an unser Gespräch an, nachdem sich die Männer miteinander bekannt gemacht hatten.
»David war mir sympathisch und ich bekam Gewissensbisse. Ich wollte aussteigen und es war mir nicht recht, dass David noch tiefer in die Machenschaften des Geheimdienstes verwickelt werden sollte. Bis dahin hielt er mich für Holger Bruns und hatte volles Vertrauen zu mir. Aber nun war der Zeitpunkt gekommen, ihm die Wahrheit zu sagen, und das habe ich auch getan.«
»Und? Wie hat er reagiert?«
»Er war enttäuscht. Doch wir waren dann schnell wieder auf einer Linie. David wollte dem Mossad richtig schön einen reinwürgen. Das ging aber nur, wenn wir die Dokumente behielten. Ich versuchte, Zeit zu gewinnen, und spielte dem Mossad Schwierigkeiten bei der Beschaffung der Unterlagen vor. Ich verlangte außerdem mehr Geld.«
Kleist schaltete sich ein. »Das war bodenlos leichtsinnig. Wer seine Sinne beisammen hat, legt sich nicht mit dem Mossad an.«
»Wir dachten, wir hätten eine wasserdichte Story.«
»Das hab ich auch schon oft gedacht in meiner Karriere als Reporterin«, seufzte ich. »Am Ende reichte mir das Wasser dann meist bis Unterkante Oberlippe.«
»Frau Motte hat David die Dokumente zukommen lassen. Sie fand sie im Safe ihres Mannes und hat erkannt, wie der Reichtum ihrer Familie zustande gekommen ist. Ihr Mann schwieg zu allem und tat nichts. Da wurde sie selbst aktiv und hat die Familie Cohn über das Holocaustzentrum ausfindig gemacht und mit David Kontakt aufgenommen.«
Ich nahm die Flasche Wein aus dem Kühlschrank. Kleist goss mir ein. »Und wo sind die Papiere denn jetzt?«, wollte er wissen.
»David wollte Motte damit in Italien konfrontieren. Er muss sie also mitgenommen haben«, antwortete Fellner.
»In Italien wurde nichts gefunden«, erklärte Kleist. »Nur das Foto des Briefes – auf dem USB-Stick.«
»Was geschah, als der Mossad merkte, dass Sie die Unterlagen doch nicht liefern konnten?«
»Ich bin ausgestiegen«, erklärte Fellner. »Und untergetaucht.«
»Freuen Sie sich, dass Sie noch am Leben sind, junger Mann«, sagte Kleist.
»Ich weiß.« Fellner nickte. »Ich hab bisher wohl ganz schön Glück gehabt.«
»Jetzt kommen wir zu einem ganz wichtigen Punkt: Wer hat die Mahlers und David töten lassen?«, fragte ich.
Fellner nahm einen kräftigen Schluck aus der Bierflasche. »Der Mossad.«
»Dann ist ja alles paletti«, freute ich mich und wandte mich an meinen Hauptkommissar: »Wann verhaftet ihr den Mossad und werft ihn ins Gefängnis?«
»Sobald unser Herr Fellner hier Beweise geliefert hat.«
»Null Problemo«, grinste Fellner. »Ich kann bezeugen, dass zwei Agenten mit Schatto gesprochen haben.«
»Wo das?«
»Im Büro einer israelischen Fluggesellschaft in Düsseldorf. Das Büro war meine Kontaktadresse. Ich habe Schatto später auf dem Foto in der Zeitung wiedererkannt. Da war mir alles klar.«
»Ein einschlägig bekannter Neonazi arbeitet für den israelischen Geheimdienst. Das geht genauso gut zusammen wie ein Schweinebraten in eine Synagoge passt«, sagte ich. »Und zugeben werden die das nie.«
»Geheimdienste sind alle gleich«, bemerkte Kleist.
Zum Glück nahm er Fellner mit. Die Pension, in der die Kripo ihre gefährdeten Zeugen unterbrachte, war der richtige Aufenthaltsort für einen Mann, der mich hinters Licht geführt und sich mit einem der gefährlichsten Geheimdienste der Welt angelegt hatte.
Bevor ich schlafen ging, warf ich eine Internetsuchmaschine an und informierte mich ausführlicher über den Mossad. Er hatte den Ruf eines ebenso brillanten wie skrupellosen Geheimdienstes. Er führte weltweit generalstabsmäßig geplante Exekutionen unliebsamer Gegner durch, wann immer es das angebliche Interesse Israel erforderte – ganz im Sinne des Alten Testamentes: Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Den folgenden Sonntag verbrachte ich damit, mir alle Gehirnknoten wegzuarbeiten: Ich besuchte ein Fitnessstudio und danach das Solebad in unserem Revierpark. So konnte ich der kommenden Woche mit großem Seelenfrieden entgegenblicken.
Die Kassen sprengen
Am Montagmorgen hatte ich es eilig, in die Redaktion zu kommen. Im Verlag lud ich mich bei Schnack zu einer Audienz ein. Immerhin hatte ich vor, den israelischen Geheimdienst in aller Öffentlichkeit des Auftragsmordes zu beschuldigen. Solche Geschichten waren in unserer Familienzeitung nicht alle Tage zu lesen.
Ich berichtete.
»Eine gewagte Theorie«, meinte Schnack erstaunlich gelassen. »Und Sie sind sich sicher, dass der Zeuge bei seiner Aussage bleibt?«
»Davon gehe ich aus. Außerdem war der Chef der Kripo bei dem Gespräch mit dem ehemaligen Mossadagenten dabei und kann die Aussagen bestätigen.«
»Dessen Identität werden wir selbstverständlich nicht preisgeben«, stellte Schnack fest. »Sie können ihm vollen Informantenschutz zusichern, Frau Grappa.«
»Das hab ich schon.«
»Gut. Dann an die Arbeit!«
Schnack war ungewohnt pflegeleicht. Ich griff mir in der Kantine einen großen Pott Kaffee, ging in mein Büro, stellte das Telefon ab, fuhr den Rechner hoch und legte los.
Nach einer Stunde Konzentration hatte ich den Artikel fertig. Schnack las den Text gegen und schaltete die Rechtsabteilung des Verlages ein. Am frühen Nachmittag waren meine Zeilen juristisch abgeklopft.
Auf der Onlineseite des Bierstädter Tageblattes wurde der Artikel geheimnisvoll angekündigt – schließlich sollten die Leser die morgige Ausgabe des Bierstädter Tageblattes kaufen und die Kassen des Verlags sprengen.
Mossadagent packt aus: Israelischer Geheimdienst ist Auftraggeber der Morde am Lago Maggiore!
Das würde Theater geben. Nach einer knappen Stunde, nachdem der Artikel im Internet angekündigt worden war, meldete sich Kleist.
»Die Israelis fahren schwere Geschütze auf«, berichtete er. »Sie haben gegen deinen Artikel Protest beim Bundesinnenminister eingelegt. Dabei kennen sie die Details noch gar nicht. Wir müssen mit diplomatischen Verwicklungen rechnen.«
»Unsere Juristen haben alles überprüft. Die können uns gar nichts«, entgegnete ich. »Und der Innenminister weiß bestimmt auch, dass wir in einer Demokratie leben, in der Presse- und Meinungsfreiheit grundgesetzlich garantiert sind.«
»Ich glaube, er hat gerüchteweise davon gehört. Wo bist du gerade?«
»Auf dem Weg nach Hause. Ich wollte den Tag heute etwas früher ausklingen lassen und Mandelhörnchen backen. Ich bin auf Entzug.«
»Darf ich mitmachen?«
Er durfte.
»Lass mir einen Vorsprung von einer halben Stunde, ich muss die Zutaten noch besorgen.«
Als ich den Supermarkt betrat, um einzukaufen, freute ich mich über die Händlerschürze mit der Ankündigung meiner Enthüllungsstory. Der Verlag hatte schnelle Arbeit geleistet.
Kleist wartete bereits. Er hatte den Dreitagebart, den ich so an ihm mochte, abrasiert. Das machte ihn jünger und weniger verrucht.
Ich stellte den Korb auf den Küchentisch und kramte nach dem Rezeptbuch.
»Wie geht es Fellner?«, fragte ich.
»Er hat sich in der Pension verkrochen«, antwortete er. »Er rechnet damit, dass er liquidiert werden soll, und schlottert vor Angst. Für einen Geheimagenten hat er ziemlich schwache Nerven. Er sollte sich einen anderen Beruf aussuchen.«
»Er ist ja eher ein Gelegenheitsagent. Hoffentlich kriegt er keine kalten Füße. Einen Widerruf seiner Aussage können wir nicht brauchen.«
Das Telefon klingelte.
»Kannst du mal drangehen und jeden abwimmeln?«, bat ich.
»Ich bin nur der Gärtner«, hörte ich Kleist nach einer Minute sagen. »Frau Grappa ist gerade nicht zu sprechen. Kann ich etwas ausrichten?« – »Gut. Ich werde es bestellen.«
Er legte mir einen Zettel mit einer Telefonnummer hin.
»Ein Fernsehteam will Informationen von dir zu den Morden und deiner Theorie.«
»Die machen es sich einfach. Aber keine Chance! Ich brauche heute meine Ruhe. Ich will Mandelhörnchen backen.«
Ich legte aufgetaute Marzipanrohmasse in eine Schüssel, schüttete Zucker und etwas Mehl dazu. »Du wolltest doch mithelfen. Bitte durchkneten, bis alles schön glatt ist.«
»Und was machst du?«
»Ich schaue dir zu.«
Kleist knetete gewissenhaft und nach fünf Minuten war alles gut vermengt.
»Jetzt braucht der Teig mindestens zwei Stunden Ruhe. Ich decke ihn mit Klarsichtfolie ab, damit er nicht austrocknet.«
»Dann haben wir jetzt Pause?«
»So ist es. Du kannst schon mal das Bett anwärmen.«
Nach zweistündiger Unterbrechung übernahm ich das Zepter beim Backen. Ich füllte die Makronenmasse in einen Spritzbeutel und drückte Halbmonde aufs Blech. Die wurden mit Ei bepinselt, mit Mandelblättern bestreut und für dreißig Minuten in den Ofen geschoben. Nach dem Abkühlen tauchte ich die Spitzen in Schokoladenkuvertüre. Das gab den Hörnchen den letzten Schliff.
Aber das bekam Kleist nicht mehr mit. Ein Anruf hatte ihn ins Polizeipräsidium zurückbeordert.
Das Lächeln vor dem Sterben
Am späten Abend meldete sich Miriam Motte. Ihr Bruder hatte sie gebeten, sich bei mir zu melden.
»Das ist sehr nett, dass Sie sich melden«, sagte ich. »Was können Sie mir über die Dokumente sagen, die Ihre Mutter im Safe Ihrer Familie gefunden hat?«
»Ich habe die Unterlagen gesehen«, erklärte sie. »Es handelte sich um Briefe, Bankdokumente und Verkaufsquittungen für Diamanten. Und Fotos.«
»Fotos?«
»Ja. Mitglieder der ›Leibstandarte-SS Adolf Hitler‹ in jenem Hotel, das in den Briefen erwähnt wurde. Die Juden hatten darin auf ihrer Flucht oder Ausreise Station gemacht. Es gab auch Fotos von den Gästen. Es war …« Sie stockte.
»Ja?«
»Diese Menschen lächelten. Sie lächelten in die Kameras ihrer späteren Mörder. Auf einem Bild hielt ein SS-Mann ein jüdisches Kind im Arm. Andere Fotos zeigten schreckliche Szenen. SS-Leute warfen Leichen ins Wasser. Die Mörder grinsten dabei.«
»Haben Sie jemanden auf den Fotos erkannt? Ihren Großvater vielleicht?«
Miriam Motte zögerte. »Die Männer sahen so anders aus in den Uniformen. Ich habe meinen Opa als gütigen alten Mann in Erinnerung. Aber Mutter hat ihren Schwiegervater erkannt. Die Sache ließ sie nicht mehr los. Wir sind an den Lago Maggiore gereist. Wir haben das Hotel gesucht. Doch es ist abgerissen worden. Leider fanden wir auch niemanden, der über das Massaker reden wollte. Mein Vater ließ sich überhaupt nicht ein auf das Thema. Die Ehe meiner Eltern war schon seit Jahren nicht mehr intakt … an dieser Sache zerbrach sie ganz. Mutter war völlig verzweifelt und schickte alles, was sie an Papieren hatte, an David Cohn. Wenig später nahm sie sich das Leben. Damit war für mich endgültig klar: Ich musste möglichst viele Kilometer zwischen mich und meine Familie bringen.«
»Was ist mit Ihrem Bruder? Meint er es ehrlich? Will er wirklich die Wahrheit über Ihre Familie öffentlich machen?«
»Ja, das will er. Sobald er die originalen Dokumente hat. Aber die sind noch immer verschwunden, so erzählte er mir.«
»Das stimmt.«
»Er nimmt an, dass Sie die Sachen haben oder wissen, wo sie sind.«
»Ich hab sie leider nicht«, sagte ich mit Nachdruck. »Sonst wären sie schon längst bei den Ermittlungsbehörden.«
Mehr Mehl und Trockenfutter
Ich fuhr früh in die Redaktion, um die Reaktionen auf meinen Artikel abzufragen. Es gab zahlreiche zustimmende Mails, leider auch aus dem rechtsradikalen Lager. Die Neonazis waren sehr damit einverstanden, dass ausgerechnet der israelische Geheimdienst die Hinrichtung einer Familie jüdischer Abstammung in Auftrag gegeben haben sollte, und lobten die Recherchen des Tageblattes. Das war Applaus von der falschen Seite. Daniel Schatto, der aus ihren Reihen stammte, wurde von seinen Gesinnungsgenossen als heldenhaftes Opfer bezeichnet.
Eine offizielle Stellungnahme der Ermittlungsbehörden lag dagegen nicht vor.
Ich verließ das Verlagshaus wieder und machte mich auf den Weg zum Krankenhaus.
Frau Schmitz erholte sich von Tag zu Tag besser. Die Hämatome im Gesicht hatten die Farbe gewechselt und schimmerten jetzt violett mit gelben Umrandungen. Der Tropf war abgebaut und sie saß aufrecht.
Die Bäckerin war begeistert, als sie die Kopie meines Schreibens an die Staatsanwaltschaft und die beigelegten Fotos betrachtete.
Sie hatte mich ermächtigt, in ihrem Namen gegen Gisela Golombeck wegen der Attacke auf Kater Horsti und das Betreten ihres Grundstücks Anzeige zu erstatten.
»Das sitzt«, meinte sie. »Haste gut gemacht, Frau Grappa.«
»Gerne. Und jetzt sag, wie isses, Frau Schmitz? Wann kannst du hier raus?«
»Bald, sacht der Doktor. Die quengeln nur dauernd wegen der Reha. Abba das geht nicht. Was soll aus der Bäckerei werden? Und aus deinen Mandelhörnchen?«
»Mach dir deshalb keinen Kopf«, grinste ich und holte eine Tüte aus meiner Tasche. »Ich hab mir selbst welche gebacken.«
»Au weia!« Anneliese Schmitz öffnete die Tüte, holte ein Hörnchen raus und beäugte es kritisch.
»Bisschen zu weich«, meinte sie, nachdem sie eine Delle ins Gebäck gedrückt hatte. »Du hättest mehr Mehl nehmen sollen, Frau Grappa.«
»Das nächste Mal«, versprach ich.
»Und bräuner könnten die auch sein«, kritisierte sie. Sie biss ein Stück ab, bewegte die Zunge wie bei einer Weinprobe und meinte: »Abba schmecken tun sie!«
»Na, Gott sei Dank«, atmete ich auf. »Soll ich die Bäckerei weiterführen, während du dich hier ausruhst, Frau Schmitz?«
Endlich lächelte sie, wie ich es kannte: verschmitzt.
»Lass ma, Frau Grappa. Schreib lieber weiter so spannende Geschichten. Das Tageblatt krieg ich immer gegen Mittag, wenn die Schwestern es ausgelesen haben. Und im Radio bringen sie die Geschichte auch. Hast du keine Angst, dass die Mossadtypen dich als Nächste killen?«
»Nee, jetzt macht das keinen Sinn mehr«, entgegnete ich. »Jetzt sind die Informationen in der Welt. Kann ich noch was für dich tun, Frau Schmitz?«
»Nee. Du hast selbst genug am Hals, Frau Grappa. Die Kleine ist ja auch noch da. Die hat dem Horsti Trockenfutter in den Hauseingang gestellt, damit er nicht verhungert. Ist das nicht lieb?«
Im Krankenhauskiosk kaufte ich ein Politmagazin, dessen Titelbild mir aufgefallen war: ein Glatzenmann, auf dessen Kopfhaut SS-Runen tätowiert waren.
Entsteht Viertes Reich in Ossi-Land?, war unter der Glatze zu lesen. Eine politische Stiftung hatte eine umfangreiche Untersuchung zum Thema Rechtsradikalismus vorgelegt.
Das war interessant. Ich fuhr zurück zum Verlag und setzte mich in die Kantine – bei einer Kanne Kaffee und einem Brötchen.
Der Zusammenfassung der Studie entnahm ich, dass inzwischen neun Prozent der Deutschen ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild hatten. Besonders hoch war die Quote in Ostdeutschland.
Knapp vierundfünfzig Prozent der Ostdeutschen waren der Auffassung, Ausländer kämen nur nach Deutschland, um den Sozialstaat auszunutzen. In Westdeutschland waren es rund dreißig Prozent. Dramatische Ergebnisse auch beim Antisemitismus: Rund jeder fünfte Befragte gab an, dass auch der Einfluss der Juden schon wieder zu groß sei. Rund zehn Prozent waren zudem überzeugt, dass es wertvolles und unwertes Leben gibt.
Holger Bruns hatte die Studie für das Magazin kommentiert:
Als hätte Deutschland nichts dazugelernt: Fast jeder vierte Befragte wünscht sich eine starke Partei, jeder zehnte sehnt sich nach einem Führer, der Deutschland zum Wohle aller mit harter Hand regieren soll.
Was sind das für Menschen? Haben sie aus der Geschichte nichts gelernt?
Haben diese Menschen ein geringes Bildungsniveau? Haben sie persönlich versagt und suchen jetzt einen Schuldigen dafür?
Rechtsextremisten sind keine Schmuddelkinder am Rand der Gesellschaft mehr, sie kommen aus ihrer Mitte und sind dort fest verankert. Der Grund für die Ansichten dieser Menschen sind Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft. Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, soziale Ungerechtigkeit. Im Gegensatz dazu liest man jeden Tag von Millionenabfindungen für Bankmanager, die ihre Firmen ruiniert und das Geld ihrer Kunden vernichtet haben. Oder von dem Ruhegehalt aus Steuergeldern für einen ehemaligen Bundespräsidenten, der sich Hundertausende Euro von Freunden aus der Wirtschaft zustecken und jedes Unrechtsbewusstsein vermissen lässt. Die offizielle Politik geht auf diese und andere offensichtliche Fehlentwicklungen so ein, dass sie die Probleme negiert oder verniedlicht. So treibt man die Wähler in die rechtsextremen Gruppen.
Gut gebrüllt, Löwe, dachte ich. Allein – eine Lösung, wie man den Rechtsextremismus eindämmen konnte, wusste wohl auch Bruns nicht.
Ich hatte das Magazin gerade zusammengeklappt, als sich Pöppelbaum auf dem Handy meldete.
»Am Hauptbahnhof ist ein verdächtiger Koffer gefunden worden«, teilte er mir mit. »Man vermutet, dass es sich um eine Bombe handelt. Ich fahre schon mal vor.«
Ich legte mein Presseschild hinter die Windschutzscheibe und startete. Vor mir, den Wall entlang war eine Kolonne Polizeiwage unterwegs. Kurz vor dem Bahnhof wurde ich von Einsatzkräften gestoppt. Ich stellte den Wagen vor der Absperrung ab und versuchte, zu Fuß weiterzukommen, schaffte aber nur hundert Meter. Wayne war schon bei der Arbeit, kam aber ebenfalls nicht näher an den Bahnhof heran. Immerhin hatten wir das Gebäude im Blick.
Fernsehübertragungswagen mit aufgestellter Satellitenschüssel lauerten auf erste Bilder. Reisende, die den Bahnhof betreten wollten, wurden in ausreichender Entfernung zurückgehalten. Der Vorplatz war leer – bis auf einen schwarzen Hund, der vor dem Fast-Food-Restaurant nach Essbarem schnüffelte.
»Warum ist hier alles so ruhig?«, fragte ich Wayne.
»Man wartet auf Experten des Landeskriminalamtes«, berichtete er. »Doch das dauert. Die machen wohl gerade einen Spaziergang. Kein Wunder bei dem Wetter.«
Er hatte recht. Die Herbstsonne strahlte mit voller Kraft. Ein Tag für einen Ausflug ins Grüne.
»Ich wäre jetzt auch lieber auf einer Radtour.«
»Seit wann hast du ein Fahrrad, Grappa-Baby?«
»Ich hab keins. War reine Theorie.«
»Faule Socke. Guck mal, dein Kerl kommt.«
Tatsächlich erschien Hauptkommissar Kleist auf der Bildfläche und begab sich zu den Einsatzkräften der Bundespolizei.
»Übt er schon für seinen neuen Job als Chef des neuen Terrorismus-Abwehrzentrums?«, fragte der Bluthund.
»Frag ihn doch selbst«, muffelte ich. »Und nenn ihn nie wieder Kerl!«
»Bleib cool, Grappa. Ich hab’s nicht so gemeint.«
Ein Polizeikleintransporter mit Landeskennzeichen fuhr vor und spuckte vier Männer in schwarzen Schutzanzügen aus. Sie informierten sich bei ihren Kollegen, setzten gepanzerte Schutzhelme auf und verschwanden in der Bahnhofshalle. Wayne machte Fotos, die Kameraleute zoomten. Die Spannung stieg spürbar an – es war, als würden alle auf den großen Knall warten, der sich bei solchen Einsätzen zum Glück sehr selten ereignete.
Wir warteten eine gute halbe Stunde. Dann erschienen die Entschärfer wieder – in den Händen undurchsichtige Plastiktüten.
Wayne betätigte erneut den Auslöser. »Sie haben das Ding. Ging aber fix heute. Und gerumst hat es auch nicht. Waren wohl Dilettantis am Werk.«
Die Spannung auf dem Platz löste sich. Die Kamerateams suchten sich ihre Interviewopfer und auch ich steuerte den Einsatzleiter an.
»War die Bombe explosionsfähig?« Das war die Frage aller Fragen. Und: »Haben Sie einen Verdacht, wer dahinterstecken könnte?«
Natürlich hielten sich die Beamten bedeckt und verwiesen auf eine Presseerklärung, die in einer Stunde per E-Mail versendet werden sollte.
Es dauerte dann doch drei Stunden. Und noch mal eine, bis ich meinen Artikel für die Onlineausgabe und das Blatt am nächsten Morgen geschrieben hatte.
Bombe am Hauptbahnhof
Bierstadt? –
Polizei fahndet nach einem Verdächtigen
Ein verdächtiges Gepäckstück im Hauptbahnhof hat einen Bombenalarm und einen Großeinsatz der Polizei ausgelöst. In dem Koffer befanden sich nach Polizeiangaben mehrere mit einem explosionsfähigen Pulver gefüllte Metallbehälter. Gegen 17 Uhr wurden die Bahnmitarbeiter am Hauptbahnhof über ein herrenloses Gepäckstück an Gleis 2 informiert. Aus dem Koffer ragten Drähte heraus, die offenbar mit einer Uhr verbunden waren. Die Bundespolizei wurde alarmiert. Eine Stunde später war das gesamte Bahnhofsgebäude evakuiert und weiträumig abgesperrt. Mit technischem Gerät wurde der Koffer geöffnet.
Die Polizei fahndet nach einem verdächtigen Mann mit heller Hautfarbe. Er soll zwischen 20 und 30 Jahre alt sein, dunkle Kleidung getragen und einen Rucksack bei sich gehabt haben.
Der Bahnhof war mehrere Stunden komplett abgeriegelt. Einige Züge konnten zwar durchfahren, aber kein Zug durfte halten. Der Verkehr war massiv behindert. Die Untersuchungen durch Sprengstoffexperten des Landeskriminalamtes dauern an.
Eine Kriegserklärung
In der Redaktionskonferenz am nächsten Tag bekam Bärchen Biber vom Chef den Spezialauftrag, die Art der Bombe zu recherchieren, ich sollte mich um den oder die Täter kümmern. Gerüchte hatten sich verbreitet, dass nicht nur ein, sondern gleich mehrere Männer gesehen worden waren, wie sie den Koffer am Bahnsteig abgestellt hatten.
Am Mittag gab das Landeskriminalamt weitere Fakten bekannt: Es gab ein Bekennerschreiben, das mit Soziale Alternative Dorstfeld unterzeichnet worden war.
Das haute mich um! Dass die Bierstädter Vorort-Rechten gleich auf bin Laden machten, hätte ich ihnen nicht zugetraut. Der Text des Schreibens lautete so:
Wir wehren uns gegen Repression der Demokraten! Die Demokraten wollen das deutsche Volk vernichten: Sie überfluten den deutschen Arbeitsmarkt mit einem Millionenheer von Billiglohnarbeitern. Sie reden uns ein, dass Kinder unsere Selbstverwirklichung behindern, und lassen zu, dass jeden Tag Hunderte deutsche Kinder abgetrieben werden.
Demokraten sind stolz auf die multikulturelle Bevölkerung: Auf die hier lebende kriminelle Ausländerbrut kann man doch nicht stolz sein! Zu siebzig Prozent leben diese Schmarotzer vom Sozialsystem unseres Staates. Gegen Türken in der Türkei haben wir nichts. Aber wir wenden uns entschieden gegen Einwanderung, Überfremdung und Landraub in Deutschland. Dies ist unser Land.
Demokraten sind unterwürfige Büttel der Juden: Wir lassen uns von der Holocaustindustrie fast siebzig Jahre nach Kriegsende moralisch nicht unter Druck setzen, politisch nicht bevormunden und finanziell nicht auspressen. Den von jüdischer Seite betriebenen Schuldkult und die ewige jüdische Opfertümelei muss sich kein Deutscher gefallen lassen.
Die Demokraten bringen uns den Volkstod und wer sich nicht wehrt, macht mit. Wir wehren uns – auch mit Gewalt. Wir haben alle Mittel dazu! Wir erklären den Demokraten den totalen Krieg!
Eine Kriegserklärung! Das war starker brauner Tobak.
Schnack ordnete an, dass ich aus dem Bekennerschreiben nur kurze Zitate wiedergeben durfte.
»Warum das?«, fragte ich.
»Weil die Aussagen dieser Gruppe bei einigen Lesern auf fruchtbaren Boden fallen könnten«, antwortete er. »Das möchte ich vermeiden.«
»Unsere Leser können doch denken«, wandte ich ein. »Die wissen schon selbst, wie diese Aussagen zu bewerten sind.«
»Da bin ich anderer Auffassung, Frau Grappa. Erinnern Sie sich an die Untersuchung zum Rechtsradikalismus, über die Sie selbst geschrieben haben? Die Empfänglichkeit für rechtsradikale Thesen steigt an! Unsere Zeitung macht keine Propaganda für Nazis.«
»Aber wir sind der Wahrheit verpflichtet«, erinnerte ich ihn an das journalistische Berufsethos.
»Ich habe diesen Satz nie gemocht«, bekannte Schnack. »Es gibt keine Wahrheit, sondern nur Wirklichkeit. Wir haben politische Verantwortung unserem demokratischen System gegenüber. Gibt es schon Informationen über die Art der Bombe?«
Gab es. Bärchen Biber brachte uns auf den neuesten Erkenntnisstand: Es handelte sich um eine Anzahl selbst gebauter Rohrbomben.
»Diese Dinger sind piepeinfach zu basteln«, berichtete der Kollege. »Das würde sogar ich hinkriegen. Anleitungen dazu kann man im Internet runterladen.«
»Nicht zu fassen.«
»Doch. Du brauchst ein Rohr, Verschlusskappen, Schwarzpulver aus Böllern, Benzin, einen Wecker, Kabel und Zünder für Modellraketen. Kriegst du alles ohne Probleme im Baumarkt.«
»Und die Dinger gehen tatsächlich hoch?«
»Ja, und wie!«, antwortete er. »Solange man keine Fehler beim Basteln macht. Die Bombe am Hauptbahnhof war immerhin funktionsfähig. Ob die Nazis sie allerdings gezündet hätten, wissen wir ja nicht, weil sie vorher entdeckt wurde.«
Ein Bombenservice
Wenig später informierte der Bierstädter Rat darüber, dass die Mittel zur Fortführung der Opferberatungsstelle gegen Rechts gesichert seien.
Die Bundesregierung hatte bei Beratungen des Bundeshaushaltes eine nahtlose Anschlussfinanzierung für Projekte gegen Rechtsextremismus nach 2013 abgelehnt. Wochenlang hatte deshalb die Finanzierung der Einrichtung auf der Kippe gestanden. Alle Politiker riefen unisono zum Engagement gegen Neonazismus auf, doch wenn es darum ging, Geld für diese Arbeit zur Verfügung zu stellen, zögerte man. Der missglückte Bombenanschlag hatte den Entscheidungsprozess beschleunigt. Jeder gewählte Politdepp hatte jetzt erkannt, dass rechtsextremer Terrorismus nicht unterschätzt werden durfte.
Bärchen Biber erläuterte mir, wie er seinen Artikel zu schreiben gedachte.
»Methode Guttenberg. Ich stelle die Bauanleitung für eine Rohrbombe mit copy und paste ins Blatt. Ein Bombenservice für Terroristen oder die, die es werden wollen. Wie findest du die Idee?«
»Sehr lesernah«, griente ich. »Die drei schönsten Explosionen werden vom Tageblatt prämiert. Das stärkt die Leser-Blatt-Bindung.«
Auch ich musste mich langsam an die Arbeit machen. Ich zapfte meine Lieblingsquelle an.
Kleist war überraschend zugänglich. »Wir haben die üblichen Verdächtigen überprüft. Bei Eddi Schaberl sind wir fündig geworden. In seiner Wohnung wurde dasselbe Papier gefunden, auf dem der Bekennerbrief getippt worden ist. Der Mann wurde vorläufig festgenommen. Er bestreitet natürlich, mit der Bombe etwas zu tun zu haben.«
»Und was sagt er zu dem Papier?«
»Nichts. Er schweigt und macht damit das Schlaueste, was er tun kann. Denn solches Papier gibt es auch in einem Versammlungsraum, in dem Kameradschaftsabende stattfinden. Mal sehen, ob der Richter die Haftgründe ausreichend findet. Aber ich befürchte, dass wir Schaberl wieder laufen lassen müssen – früher oder später.«
»Darf ich das schreiben?«
»Ja. Schaberls Anwalt hat ohnehin angekündigt, die Medien über den brutalen Willkürakt der Polizei zu informieren.«
Ich bedankte mich und fing an zu tippen.
SS-Eddi festgenommen: Ist Schaberl der Bombenbastler vom Bahnhof?
Altnazi Eddi Schaberl (60) sitzt in Untersuchungshaft. Die Behörden prüfen, ob er mit dem missglückten Bombenanschlag am Bierstädter Hauptbahnhof zu tun hat. In Schaberls Wohnung wurden Hinweise auf eine Beteiligung oder Mitwisserschaft gefunden. Er selbst schweigt.
Damit ist der Nazi-Dinosaurier Schaberl wegen rechtsextremer Straftaten erneut in den Fokus der Ermittler geraten. Schaberl hat eine jahrzehntelange rechtsradikale »Karriere« hinter sich. Er wurde immer wieder wegen verschiedener Delikte verurteilt, unter anderem wegen schweren Landfriedensbruchs, gefährlicher Körperverletzung und Verwendung verfassungsfeindlicher Kennzeichen. Lange Zeit galt er als einer der Anführer der Bierstädter Neonaziszene. Immerhin konnte Schaberl nach Einschätzung von Extremismusforschern wegen der Vielzahl von Strafverfahren und Haftstrafen keinen nennenswerten Einfluss auf die Neonaziszene über Nordrhein-Westfalen hinaus entfalten.
Will Altnazi Schaberl durch die Rohrbombe am Bahnhof seinen braunen Kameraden zeigen, dass er noch nicht zum alten Eisen gehört? In dem Bekennerschreiben der Attentäter wird der Krieg gegen unsere Staatsform beschworen. »Die Demokraten bringen uns den Volkstod, und wer sich nicht wehrt, macht mit. Wir wehren uns – auch mit Gewalt. Wir erklären den Demokraten den totalen Krieg!«
Im Archiv des Tageblattes fand ich einen Artikel, den ich selbst vor Jahren geschrieben hatte. Damals war SS-Eddi fünfzig geworden und hatte mit seinen Kumpanen ausschweifend in seinem Partykeller gefeiert. Als nach »Sieg-Heil«-Rufen die Polizei kam, schlugen die Gäste mit Flaschen und Holzlatten auf die Beamten ein. Mehr als einhundert Neonazis hatte man damals festgenommen. Die Anklage warf Schaberl vor, seine Gäste angestachelt zu haben.
Im Gerichtsverfahren stellte sich Schaberl als Opfer eines ungerechtfertigten Polizeieinsatzes dar. Man habe ihn zu Boden geworfen und ins Gesicht getreten. Er habe nur mit Mühe den Kopf heben und so verhindern können, im Löschwasser der Feuerwehr, die die Party geflutet hatte, zu ertrinken. Als Spätfolge seiner Festnahme leide er noch immer unter einem Taubheitsgefühl – im rechten Daumen. Ausgerechnet.
Der Artikel war mit Fotos garniert, die uns damals ein freier Fotograf verkauft hatte. Sie dokumentierten das Chaos im Partykeller. Das gesamte Mobiliar war demoliert, zahlreiche Bierflaschen zertrümmert, ein Foto des Führers hing schief an der Wand. Ein anderer Schnappschuss zeigte die Nazis ziemlich derangiert: gefesselt mit Handschellen, im Schwitzkasten der Spezialeinsatzkräfte und festgeschnallt auf einer Trage. Ich schaute genauer hin. Einer der Rechten schleuderte den Nazigruß in die Kamera. Ich erkannte Daniel Schatto, zehn Jahre jünger, ein Glatzkopf mit Babyspeck im Gesicht und fettem Grinsen. Neben ihm SS-Eddi.
Dieses Bild passte gut zu dem Artikel. Ich wusste auch schon eine Unterzeile.
Braune Männerfreundschaft: SS-Eddi und der Auftragskiller vom Lago Maggiore.
Später schaute ich im Redaktionsordner nach, was Bärchen Biber zustande gebracht hatte. Laut Landeskriminalamt war die Rohrbombe tatsächlich extrem gefährlich gewesen:
Die Untersuchungen sind aber noch nicht abgeschlossen. Die Materialien hätten einen großen und gefährlichen Feuerball mit beachtlicher Sprengkraft und großer Splitterwirkung entfachen können. Die Polizei wertet nun Videoaufzeichnungen der Deutschen Bahn aus und fragt: Wer hat eine oder mehrere Personen beobachtet, die zur fraglichen Zeit mit einem schwarzen Koffer den Bierstädter Hauptbahnhof betreten und/oder den Koffer an Gleis 2 abgestellt haben? Die Bundesanwaltschaft hat für sachdienliche Hinweise eine Belohnung von 10.000 Euro ausgesetzt.
Hass macht einig
Der nächste Tag brachte eine echte Überraschung. Dr. Hassan Ghafouri lud die Medien zu einer Pressekonferenz ein. Thema: Polizeilicher Willkürakt gegen meinen Mandanten Edward Schaberl. Ausgerechnet Ghafouri wollte SS-Eddi verteidigen! Es widersprach allen gängigen Vorurteilen.
»Jetzt versteh ich gar nichts mehr«, meinte Pöppelbaum. »Ich dachte immer, die Neonazis sind gegen die Moslems und würden sie am liebsten aus Deutschland hinausjagen. Warum nimmt sich Eddi keinen guten deutschen Anwalt?«
»Richtig gute deutsche Anwälte drängeln sich nicht zur Verteidigung von Neonazis. Es gibt zwar Anwälte, die der Szene nahestehen, das sind aber eher Kameraden als Rechtsgelehrte«, stellte ich fest. »Islamisten und Nazis haben eins gemeinsam: den Hass auf die Juden! Vielleicht ist das der Nenner, auf dem Ghafouri und SS-Eddi zusammenkommen. Und natürlich das rassistische und menschenverachtende Weltbild.«
»Man sollte diese Typen alle in einen Sack stecken und im Meer versenken«, meinte Wayne. »Die Nazis meinetwegen in der deutschen Nordsee und die Islamisten im arabischen Meer. Dann wäre die Welt viele Probleme los.«
»Lass mal hören, wie Ghafouri SS-Eddi raushauen will. Kommst du?«
Der Anwalt hatte ins Deutsche Eck eingeladen. Wie passend. Diese Traditionskneipe bot jedes Wochenende die Bundesligaspiele des heimischen schwarz-gelben Vereins im Bezahl-TV an, richtete Hochzeiten, Taufen und Jubiläumsfeiern aus und zeigte in den Fenstern schwarz-rot-goldene Dauerbeflaggung.
Am Tresen hingen Stammkunden bei Bier, Schnaps und Zigaretten. Das gesetzliche Rauchverbot in Kneipen hatte dieses Etablissement noch nicht erreicht.
»Was trinken die eigentlich ab mittags?«, fragte ich.
»Ab mittags pennen sie und kommen dann abends wieder«, antwortete Pöppelbaum. »Diese Männer haben eben nichts anderes, Grappa. Noch nicht mal Arbeit. Und das Hartz IV reicht grad, um Bier, Zigaretten und mal ’ne Bulette oder Bratkartoffeln zu finanzieren.«
»Seit wann hast du so viel Verständnis fürs Prekariat? Hast du einen Schnupperkurs bei der Caritas gemacht?«, fragte ich.
»Ich bin ja schon still.«
Die Luft im Saal war feucht und kühl. Die Kamerateams hatten sich die besten Plätze gesichert und Stative und Leuchten aufgebaut.
Hassan Ghafouri erschien und war sichtlich zufrieden, dass so viele Medien seiner Einladung gefolgt waren. Als er mich erblickte, gefror sein trainiertes Lächeln für eine Sekunde.
»Der mag dich ja richtig, Grappa«, flüsterte Wayne.
»Das beruht auf Gegenseitigkeit«, entgegnete ich.
Ghafouri fing mit dem großen Lamento an. Die Aktion der Polizei war ein »menschenverachtender Übergriff«, setzte die »demokratischen Rechte seines Mandanten außer Kraft« und war der Beweis dafür, dass sich unsere Republik schnurstracks »auf dem Weg zu Polizeistaat« befand.
»Mir ist übel«, sagte ich halblaut.
»Haben Sie ein Problem, Frau Grappa?«, fragte der Anwalt.
»Allerdings«, gab ich zu. »Sogar ein großes Problem. Ihr Mandant hat ein ellenlanges Vorstrafenregister, ist als Schläger bekannt und ein rassistisches Nazischwein. Und er will alle Ausländer nach Hause schicken, und zwar am liebsten mit den Füßen voran. Kommen Sie uns jetzt nicht mit Menschenverachtung der Polizei und Einschränkung der demokratischen Rechte eines SS-Eddis! Warum vertreten ausgerechnet Sie diesen Mann? Sie haben doch selbst einen Migrationshintergrund.«
»Vielleicht, weil ich Strafverteidiger bin?«, entgegnete Hassan Ghafouri. »Auch Menschen mit einer anderen politischen oder religiösen Anschauung als ich haben das Recht auf die bestmögliche anwaltliche Vertretung. So sieht es unser Rechtssystem vor. Sie haben doch nicht etwa Vorurteile gegen Migranten oder wollen sich gegen dieses System aussprechen, Frau Grappa?«
»Nur wenn es von Leuten wie Schaberl missbraucht wird.«
»Wollen Sie eine mediale Hexenjagd gegen meinen Mandanten veranstalten?«, lächelte Ghafouri. »Ist die Presse nicht verpflichtet, ausgewogen und wahr zu berichten?«
»Ich werde sehr ausgewogen sein – und zwar in alle Richtungen«, blaffte ich.
Wayne stieß mir seinen Ellenbogen in die Seite. »Lass gut sein. Die anderen wollen auch mal.«
»Haben Sie Herrn Schaberl schon früher vertreten?«, fragte ein Kollege.
»Nein. Dies ist mein erstes Mandat.«
»Und wie läuft die Zusammenarbeit mit ihm?«
»Einwandfrei. Sehr zielorientiert. Ich bin sicher, dass er bald aus der Untersuchungshaft entlassen wird. Er hat mit dem missglückten Anschlag am Hauptbahnhof nichts zu tun. Die Beweise reichen nicht aus, ihn weiter in Haft zu halten.«
Der Name Bernd ist auch keine Lösung
»Dieser widerliche Wicht«, ereiferte ich mich auf der Rückfahrt. »Ich wünsche mir, dass der den SS-Eddi mal von der ganz unangenehmen Seite kennenlernt.«
»Bist du etwa ausländerfeindlich, Grappa-Baby?«, fragte Wayne.
»Nein, nur Ghafouri-feindlich. Wenn er Bernd statt Hassan heißen würde, fände ich ihn auch zum Kotzen.«
»Jetzt hab ich es verstanden«, grinste der Bluthund. »Du verteilst deine Sympathie unabhängig von Abstammung und Religion.«
In der Redaktion legte mir Susi ein Fax auf den Tisch.
»Das interessiert dich bestimmt«, meinte sie und traf damit voll ins Schwarze.
Neue Partei Die Rechte vom Bundeswahlleiter anerkannt – hieß es da.
Der Vorsitzende der ›neuen‹ Partei war ein bekannter Hamburger Neonazi, SS-Eddi wurde als Bierstädter Kreisvorsitzender benannt. Als Ziele gab die Partei die Wahrung der Deutschen Identität, ein Werbeverbot in ausländischen Sprachen, eine Volksabstimmung bei Rechtschreibreformen, das Zurückdrängen der Amerikanisierung sowie die Aufhebung der Duldung von Ausländern an.
Die Nazis, die den vom Innenminister verbotenen Gruppen und Kameradschaften angehörten, hatten eine Partei gegründet, um sich neu aufzustellen. Ein kluger Schachzug, dachte ich. Parteien zu verbieten ist ungleich schwieriger als neonazistische Singspielkreise aufzulösen.
Ich bekam in der Redaktionskonferenz vierzig Zeilen zugeteilt. Schnack bat mich um Zurückhaltung. »Wir wollen diesen Rechtsradikalen nicht zum Märtyrer machen.«
»Darauf wäre ich alleine nicht gekommen«, grummelte ich. »Ich hatte eigentlich vor, ein Kommando Befreit SS-Eddi zu gründen und ihn mit Waffengewalt aus der Isolationshaft zu holen.«
Einige Kollegen verstanden meinen Sarkasmus, sie erlaubten sich ein verhaltenes Lachen. Nur Margarete Wurbel-Simonis’ Gesicht zeigte Schockstarre.
»Alles ist gut«, winkte ich ihr zu. »War einer meiner misslungenen Scherze.«
»Ihnen ist alles zuzutrauen«, krächzte die Kulturredakteurin. »Auch Gefangenenbefreiung.«
»Stimmt. Grappa frisst kleine Kinder zum Frühstück«, beteiligte sich Harras an der anspruchsvollen Unterhaltung. »Und sie trennt ihren Müll nicht.«
Schnack schloss das Thema in barschem Ton: »Es reicht! Jeder von Ihnen weiß, was heute auf dem Programm steht. Also bitte an die Arbeit, meine Damen und Herren!« Er erhob sich. »Und nun entschuldigen Sie mich – ich habe einen Termin beim Polizeipräsidenten. Und danach schreibe ich einen Kommentar zur Gründung der neuen Partei.«
Harras, Wayne und ich zogen uns zu einem zweiten Frühstück in die Kantine zurück. Der Chef hatte sich aus dem Haus bewegt und wir hatten sturmfreie Bude. Doch eine ausgelassene Stimmung wollte nicht aufkommen.
»Weißt du, Grappa«, sinnierte Harras. »Als ich plante, mir einen Jeep zu kaufen, habe ich im Straßenverkehr einen Jeep nach dem anderen gesehen. Seitdem die Neonazis in Bierstadt so viel von sich reden machen, vermute ich überall ihre Unterwanderung. Auch im Sport. Die Sprüche, die gewöhnlich beim Fußball fallen, sind nicht ohne. Bisher wurde das immer verniedlicht. Letztens rief ein Zuschauer einem Schiri zu: Pfeif richtig, sonst ziehen wir dir die Vorhaut runter, du Jude! Und wenn ein schwarzer Spieler auftritt, werden Affenlaute nachgemacht.«
»Unternehmen denn die Vereinsvorstände nichts dagegen?«, fragte ich.
»Nicht wirklich. FIFA-Chef Blatter hat Rassismus im Fußball immer bestritten. Er schiebt alles auf die Hitze des Gefechts, der alte Depp.«
Ich hörte Stöckel auf den Kantinenfliesen. Sie gehörten zu Sarah.
»Ein Herr Motte bittet dringend um Rückruf«, berichtete sie und reichte mir einen Notizzettel mit einer Telefonnummer.
»Manfred oder Max Motte?«, fragte ich.
»Keine Ahnung, Grappa. Das musst du selbst rauskriegen. Recherche.« Mit diesen Worten stöckelte die Sekretärin davon.
»Mehr kannst du nicht verlangen«, grinste Wayne. »Immerhin hat sie die Nummer aufgeschrieben.«
»Ich bin ja schon glücklich«, seufzte ich. »Würden die Herren mich entschuldigen?«
Es war Max Motte, der mich sprechen wollte.
»Auch wenn Sie mir nicht glauben, dass ich die unrühmliche Vergangenheit unserer Familie aufdecken möchte, habe ich eine Information für Sie«, begann er.
»Eine Info zum Veröffentlichen oder zum Verschweigen?«, fragte ich.
»Mir sind die gestohlenen Dokumente angeboten worden«, blieb Max Motte unbeeindruckt. »Für eine Million Euro.«
Das war heftig. »Und wer ist der Anbieter?«
»Keine Ahnung. Er hält sich bedeckt.«
»Er?«
»Ich weiß nicht, ob es ein Mann ist. Der Kontakt läuft per E-Mail. Natürlich könnte es auch eine Frau sein. Vielleicht sind Sie es ja.«
Ich lachte. »Kommen Sie mir nicht so.«
»Warum? Vielleicht wollen Sie den Preis in die Höhe treiben.«
»Gehen Sie damit zur Polizei«, riet ich ihm. »Wer die Unterlagen hat, könnte auch mit den Morden zu tun haben.«
»Wenn ich zahle, bekomme ich die Dokumente. Hoffentlich.«
»Gibt es schon Details, wie der Deal ablaufen soll?«
»Nein. Der Anbieter will sich wieder melden, wenn ich dem Geschäft zustimme … und das habe ich noch nicht«, erklärte Motte.
Ich war noch immer misstrauisch. »Warum machen Sie das nicht einfach? Warum kommen Sie ausgerechnet zu mir?«, fragte ich.
»Ich brauche einen Zeugen, der bestätigen kann, dass ich alles dafür tue, die Entstehungsgeschichte unserer Firma ohne Wenn und Aber aufzuarbeiten. Und Sie halte ich für unbestechlich. Sobald ich die Sachen habe, können Sie loslegen.«
»Sie gewähren mir Einsicht in alle Unterlagen – egal, um was es sich handelt?« Ich traute meinen Ohren nicht.
Er versprach mir erneut die Exklusivrechte an der Geschichte – aber nur, wenn ich die Polizei nicht informieren würde. Da konnte ich nicht länger Nein sagen.
Meinen Artikel über Ghafouris Pressekonferenz hielt ich sachlich und kurz. Schnack war zufrieden. Er schraubte noch an seinem Kommentar, als ich das Haus verließ.
Ich haderte mit mir selbst. Sollte ich Kleist die neue Entwicklung mitteilen oder mit Max Motte die Nummer cool durchziehen?
Zu Hause kochte ich einen starken Kaffee, um mein Gehirn in Schwung zu bringen.
Wer zum Teufel bot Max Motte die gestohlenen Dokumente zum Rückkauf an? Im Geist ging ich die Möglichkeiten durch und mir fiel zuerst Fabian Fellner ein. Er hatte Kontakt zu David Cohn gehabt und war vom Mossad beauftragt worden, die Unterlagen zu beschaffen. Bei seiner Behauptung, erfolglos gewesen zu sein, konnte es sich auch um eine faustdicke Lüge handeln. Wollte er sich mit der Million absetzen und sich ein neues Leben abseits vom Geheimdienst finanzieren?
Wo und wann konnte der Unbekannte an die Unterlagen gekommen sein? Vor dem Mord in Italien oder beim Einbruch in die Mahler-Villa? Vielleicht hatte ja auch die italienische Polizei die Sachen im Hotelzimmer gefunden und Kleist nichts davon erzählt. Hatte Condi Maronetti die Beweismittel unterschlagen, um ein bisschen Kasse zu machen?
Meine Denkspiele brachten mich nicht weiter. Plötzlich gab es zu viele Personen im Spiel.
Fehler beim Bombenbasteln
Die Frühsendung im Radio wartete mit den neuesten Informationen auf: SS-Eddi wurde entgegen den Prognosen seines Verteidigers nicht aus der U-Haft entlassen. Ganz im Gegenteil. Der Generalbundesanwalt übernahm die Ermittlungen, denn die Bombe vom Hauptbahnhof wäre tatsächlich explosionsfähig gewesen – wenn die Neonazis die Bastelanleitung richtig gelesen hätten. Bierstadt war nur haarscharf einer Katastrophe entgangen.
Die Jagd auf weitere Mittäter wurde angeblasen. Eine zwanzigköpfige Sonderkommission wurde nach Bierstadt abgeordnet und arbeitete auf Hochtouren. Der Staat scheute plötzlich keine Kosten und Mühen, gegen rechtsradikalen Terror vorzugehen.
Gleich am Morgen rief ich Kleist an.
»Wird ja langsam eng bei euch«, stellte ich fest. »Reichen die Büros im Präsidium denn für alle?«
»Wir haben den Fitnessraum mit Schreibtischen und Computern ausgestattet«, entgegnete er. »Warum fragst du?«
»Das wäre doch ein nettes Foto«, meinte ich. »Zwanzig BKA-Beamte suchen rechtsradikale Bombenbastler. Sind das dieselben Leute, die schon bei den Döner-Morden geschwächelt haben?«
»Die Bezeichnung Döner-Morde ist inzwischen verpönt, liebe Maria«, wies er mich zurecht. »Ein überaus unglücklicher Begriff.«
»Den ich nicht erfunden habe. Was ist mit SS-Eddi? Redet er endlich?«
»Warum sollte er? Sein Anwalt wird ihm abraten. Merkst du eigentlich, dass du gerade dabei bist, mich auszufragen?«
»Nein, ich doch nicht!«, lachte ich. »Gleich hole ich Frau Schmitz aus der Klinik ab, sie wird heute entlassen. Das ist doch ein Grund zur Freude, oder?«
»Dann grüß sie von mir«, bat Kleist. »Mir fehlen die Frühstückchen im Bistro.«
»Und mir die Originalmandelhörnchen«, gestand ich. »Sag mal …« Jetzt kam ich zur Frage, die ich eigentlich stellen wollte.
»Ja?«
»Ist Fabian Fellner eigentlich noch in eurer Pension? Ich würde ihn gern noch mal sprechen.«
»Er ist ausgeflogen worden.«
»Was heißt das?«
»Das israelische Parlament hat einen Untersuchungsausschuss zu dem Waffendeal und den Mossadaktivitäten ins Leben gerufen. Fellner soll dort als Zeuge aussagen.«
»Er ist freiwillig nach Israel geflogen?« Ich konnte es kaum glauben.
»So ganz freiwillig war das wohl nicht«, räumte Kleist ein. »Immerhin hat die Regierung in Israel so etwas wie eine Garantie für seine körperliche Unversehrtheit gegeben.«
»Viel Glück, Herr Fellner«, meinte ich.
Frau Schmitz hatte ihre Reisetasche schon gepackt und saß vergnügt auf der Bettkante.
»Dann mal los, Frau Schmitz.« Ich nahm das Gepäck. »Dein Häuschen und dein Horsti warten auf dich.«
Im Schwesternzimmer gab es noch ein paar Abschiedstränen, die Pflegerinnen hatten meine Frau Schmitz ins Herz geschlossen.
Sie war abgemagert und blass, und als sie in den Wagen stieg, fiel mir auf, dass sie sich langsamer bewegte als sonst. Doch je näher wir Dorstfeld kamen, umso stärker färbten sich ihre Wangen rosa.
Am Haus rückte Horsti mit erhobenem Schwanz und einem Maunzen an. Er schmiegte sich an Frau Schmitzens Beine, schnurrte wie ein gedrosselter Flugzeugmotor, ließ sich auf den Rücken fallen und zeigte sein Bäuchlein.
»Kannst du den Kater mal für mich streicheln, Frau Grappa? Bücken kann ich mich noch nicht so doll.«
Ich nahm den Kater hoch und reichte ihn ihr. Horsti holte sich seine Liebkosungen ab, befreite sich wieder und verschwand im Garten.
Im Nachbarhaus schlug die Tür zu. Frau Golombeck verließ das Haus. Sie musterte uns mit einem hämischen Grinsen.
»Das sind Sie ja wieder«, sagte sie mit frechem Ton.
Frau Schmitzens Körper versteifte sich.
Mich packte die Wut. »Hör mal zu! Noch ein böses Wort gegen Frau Schmitz und ich schicke dir ein echtes Killerkommando ins Haus und nicht bloß so eine braune Gurkentruppe, kapiert?«, schrie ich.
Frau Golombeck drückte ihren Einkaufskorb an sich und stolzierte davon.
»Du solltest keine Angst vor denen haben, Frau Schmitz«, riet ich. »Ihr Mann sitzt im Knast und wird demnächst wegen Anstiftung zur gefährlichen Körperverletzung verknackt. Die beiden tun dir nichts mehr, denn jetzt sind ihre Taten aktenkundig.«
Frau Schmitz packte ihre Sachen aus und wir tranken noch gemeinsam Kaffee. Dann brachte ich sie zu ihrer Bäckerei. Donka wartete schon. Sie hatte den Laden betriebsfertig gemacht, alles gesäubert – sogar an frische Blumen auf den Bistrotischen hatte sie gedacht.
»Dann kann’s ja wieder losgehen«, lächelte Frau Schmitz.
»Lass langsam angehen«, bat ich. »Nicht, dass du mir umkippst.«
Die Polizei ist nicht erwünscht
Motte meldete sich am Mittag.
»Ich hatte wieder Kontakt zu dem Unbekannten«, berichtete er. »Ich soll das Geld besorgen, es in einem Schließfach deponieren und den Schlüssel dazu an die Adresse schicken, die ich im Schließfach finde. Ein Teil der Dokumente soll schon dort liegen – als Beweis, dass der Mann wirklich im Besitz der Sachen ist.«
»Der Mann?«
»Er hat diesmal angerufen; es war eine Männerstimme.«
»Wann soll die Sache über die Bühne gehen?«, fragte ich.
»Noch heute. Er gibt Bescheid.«
»Sie wollen das alles immer noch ohne Polizei durchziehen?«
»Es hat niemanden zu interessieren, welche Geschäfte ich mache«, meinte Motte. »Ich erwerbe Dokumente, die mir sowieso gehören. Ich informiere Sie, wenn es losgeht.«
»Ich bringe meinen Fotografen mit«, kündigte ich an. »Er wird Sie mit dem Geld ablichten und dann folgen wir Ihnen unauffällig – wohin auch immer.«
»Einverstanden.«
Pöppelbaum war Feuer und Flamme.
»Wie in einem Agentenfilm«, freute er sich. »Welchen Wagen nehmen wir? Und welche Waffe?«
»Hör auf«, bat ich. »Das ist kein Spiel. Es geht um eine seriöse Reportage. Mutiger Firmenchef bringt Licht ins Dunkel seiner üblen Familiengeschichte – oder so ähnlich. Wir haben die Story exklusiv.«
»Das Wort seriös in Zusammenhang mit dir hat was Originelles, Grappa«, unkte Wayne. »Weiß dein Kommissar Bescheid?«
»Nein.«
»Verstehe. Du hast Angst, dass er dir die Sache ausredet.«
»Ich mache meinen Job und er seinen.«
Am Nachmittag informierte mich Kleist, dass Golombeck gestanden hatte, die Attacke auf Frau Schmitz in Auftrag gegeben zu haben.
»Er habe sie allerdings nicht tot sehen wollen. Es sei nur um einen Denkzettel gegangen. Frau Schmitz habe ihn wegen Tierquälerei angezeigt. Und als der Strafbefehl der Staatsanwaltschaft gegen ihn verhängt wurde, sei er sehr wütend gewesen.«
»Dieser miese Drecksack!«, entfuhr es mir.
»So werden Menschen, wenn sie sich von der Gesellschaft benachteiligt fühlen«, dozierte Kleist. »Golombeck hält sich für einen Herrenmenschen, aber niemand erkennt das an. Bei den Nazis findet er so was wie Geborgenheit und Kameradschaft. Golombeck kennt SS-Eddi seit vierzig Jahren. Die beiden waren auf derselben Schule.«
»Aha.«
»Ja, das ist gut für uns. Wir werden Golombeck Straffreiheit in Sachen Schmitz zusichern, wenn er über die Bombe und Schaberl auspackt. Angeblich weiß er eine Menge.«
»Das kannst du nicht machen!«, regte ich mich auf. »Frau Schmitz wäre fast gestorben! Der Kerl gehört weggesperrt.«
»Ich weiß, Maria. Aber wenn die Bombe gezündet hätte, wären viele Menschen getötet und verletzt worden. Wir müssen Prioritäten setzen.«
»Wahrscheinlich kommt der Golombeck anschließend noch ins Zeugenschutzprogramm«, fauchte ich. »Kriegt auf Kosten des Steuerzahlers eine neue Identität und ein paar hunderttausend Euro als Startkapital …«
»Reg dich ab«, unterbrach Kleist. »So weit sind wir noch lange nicht.«
»Dann soll er seine Alte aber gefälligst mitnehmen«, fuhr ich fort. »Damit sein neues Leben nicht ganz so entspannt wird.«
»Nein. Eine seiner Bedingungen für die Kooperation ist, dass seine Frau nichts davon erfährt. Er will sich von altem Ballast befreien – so hat er es ausgedrückt.«
Alter Ballast. Ich musste grinsen. Ein hübsches Wort für die Ehe. Und für diese schreckliche Frau.
Die Mörder lächeln in die Kamera
Unser Ziel war der Hauptbahnhof. Ein Bote hatte Motte einen Schlüssel für ein Fach zugestellt. Pöppelbaum hatte Baseballkappe und Sonnenbrille angelegt und Motte in seinem Hotel mit dem geöffneten Geldkoffer fotografiert.
Der Waffenhändler saß nun im Taxi. Wir folgten. In der Stadt stießen wir auf den üblichen Stau vor den üblichen Baustellen und blieben stecken.
»Glaubst du, dass der Typ im Bahnhof wartet und alles beobachtet?«
»Nein. Motte hat keine Zeit vorgegeben bekommen. Der Erpresser bleibt zu Hause, bis er den Schlüssel zugeschickt kriegt, und kassiert in Ruhe die Kohle ab.«
»Dann kann ich ja in Ruhe fotografieren«, freute sich Wayne.
»Bleib lieber im Hintergrund«, meinte ich. »Vielleicht werden die Schließfächer doch beobachtet. Du hast doch ein Teleobjektiv dabei, oder?«
»Nein, Grappa. Was ist das?«
Ich grinste schief und gab Gas. Der Verkehr rollte wieder. Noch fünfhundert Meter bis zum Ziel. Auf dem Parkplatz waren zum Glück noch einige Buchten frei. Vor dem Haupteingang schoben Beamte der Bundespolizei Wache. Hoffentlich werden Max Motte und sein Koffer nicht untersucht, dachte ich. Wie sollte er denen die Million erklären?
»Da hinten ist er!«, rief Pöppelbaum.
Max Motte lief etwa fünfzig Meter von uns entfernt, passierte die beiden Polizisten, ohne sie anzusehen, und verschwand in der Vorhalle.
»Die Schließfächer befinden sich gleich rechts hinter dem Fahrstuhl«, wusste Wayne.
Er hatte die Fototasche im Auto gelassen und alles Notwendige in seiner Safarijacke verstaut. Auch ich hatte versucht, möglichst unauffällig zu erscheinen: die roten Haare unter einem Hut verborgen, Hose und Mantel in Rentnerbeige.
Wir postierten uns so, dass wir die Schließfächer im Blick hatten. Motte entdeckte uns und nickte leicht. Er hielt den Schlüssel in der Hand. Wayne knipste aus der hohlen Hand. Motte schloss auf, öffnete die metallene Tür und nahm etwas aus dem Fach: einen Umschlag. Er schlitzte ihn auf und prüfte den Inhalt.
Kurz darauf war die Aktion vorbei. Motte stellte den Aktenkoffer ins Fach, warf eine Münze ein, verriegelte den Schacht und ließ den Schlüssel in seiner Jackentasche verschwinden. Er sah sich ein letztes Mal um und schritt dann zügig zum Ausgang. Der erste Akt war gespielt.
Er wartete in der Hotelbar auf uns. Motte saß an einem abgelegenen Tisch und hatte ein Glas Whisky vor sich stehen.
»Und? Was haben Sie nun für einen Beweis, dass der Typ die gestohlenen Dokumente hat?«, platzte ich heraus.
Er schaute mich an und ich erkannte, dass die Sache ihn mitgenommen hatte. Sein Blick war fiebrig und Schweiß stand ihm auf der gepflegten Stirn. Er gab mir den Umschlag.
Ich griff hinein und zog zwei Schwarz-Weiß-Fotos heraus.
Das erste zeigte zwei Männer in SS-Uniformen. Sie standen hinter zwei sitzenden Menschen in Zivil. Die schwarzen Hüte und die Schläfenlocken wiesen sie als Juden aus.
»Der mit der Peitsche in der Hand und dem charmanten Lächeln – das ist er«, erklärte Max Motte. »Mein lieber Opa Laurenz Motte, der mir Märchen vorgelesen hat. Hier ist er aber noch der SS-Hauptsturmführer Theodor Steiger. Die Uniform bestätigt den Rang. Der Mann daneben ist ein SS-Scharführer und die beiden Männer auf den Stühlen sind ihre Opfer.«
Ich drehte das Bild um. Dort stand: September 1943, Meina/Lago Maggiore, Vernehmung der Volksschädlinge.
Ich sah mir das zweite Foto an. Wieder Theodor Steiger – diesmal in einem hellen Hemd. Die Dienstgradabzeichen, zwei Eichenzweige mit Eicheln und Blättern und einem Balken, waren am Oberarm aufgenäht. Neben Steiger weitere Männer – ebenfalls ohne Uniformjacken und Kappen. SS-Leute mal locker. Sie befanden sich im Garten des Hotel Victoria, lachten in die Kamera und prosteten dem Fotografen zu. Im Hintergrund erkannte ich das schmiedeeiserne Geländer und die Uferlinie des Lago Maggiore. September 1943, Meina, Fröhlicher Umtrunk nach getaner Arbeit – so war auf der Rückseite zu lesen.
Was das wohl für eine Arbeit gewesen ist, fragte ich mich.
Wayne fotografierte die Bilder und die Aufschriften.
»Sie sind sich sicher, dass dieser Mann Ihr Großvater ist?«, vergewisserte ich mich.
Motte trank das Glas leer. »Ja, hundertprozentig. Und hier habe ich noch etwas.« Er reichte mir ein einzelnes Blatt. »Dies ist der Teil eines weiteren Briefes von Samuel Cohn. Lesen Sie!«
Ich rückte näher zum Licht.
Während der gesamten Nacht und während des darauffolgenden Tages verschmolz das Dröhnen der Pritschenwagen der SS, die immer zwei von uns abholten, mit dem Lärm im Erdgeschoss. Die Soldaten schrien, sangen und betranken sich. Die Gäste des Hotels saßen an ihren Tischen wie jeden Tag. Als würde nichts geschehen. Doch nach und nach verließen die Leute den Saal und alles kam zur Ruhe: In der Herberge wurde es still, das Grammophon schwieg, das Radio verstummte, das Zimmer oben im vierten Stock leerte sich. Ein Küchenmädchen erzählte mir im Geheimen, dass bei Pontecchio, vor dem Straßenwärterhäuschen, weiße und aufgedunsene Körper angeschwemmt worden waren. Die Menschen seien erschossen oder mit Eisendraht erdrosselt worden.
Gott hat uns für immer verlassen und keine Rettung für uns vorgesehen. Habe dennoch Gefallen, Herr unser Gott, an deinem Volk Israel und seinem Gebet. Bring den Gottesdienst zurück zu dem Heiligtum deines Hauses, und die Opfer Israels und ihr Gebet empfange in Liebe und Wohlgefallen, dass unsre Augen schauen mögen, wie du nach Zion zurückkehrst in Erbarmen. Denk an uns in unserer letzten Stunde.
Dein Samuel
Ich versuchte, gegen Tränen anzukämpfen, doch es gelang mir nicht.
Wayne reichte mir ein Papiertaschentuch und nahm mir den Brief aus der Hand. Auch ihn ließ die Lektüre nicht unbeeindruckt. »Ich weiß nicht. Unter einem Massaker habe ich mir immer Leute vorgestellt, die hasserfüllt und in einer Art Blutrausch die anderen … eben massakrieren, also irgendwie kleinschnetzeln mit viel Blut und abgehackten Gliedmaßen. Wie Samuel Cohn das Geschehen beschreibt in dem Brief, das klingt ganz anders, viel zu ruhig: Die Täter holen die nächsten zwei rein, geben ihnen die Gelegenheit, mit ihren versteckten Vermögen die Freiheit zu kaufen – oder wenigstens ein Stück Hoffnung. Dann sacken sie die Kohle ein und erledigen sie. Ohne Emotionen. Ganz kühl und berechnet. Geschäftsmäßig. Wie am Fließband.«
Ich musste würgen, konnte nur stammeln: »Du hast recht. Es war wie in den Vernichtungslagern. Massenmord in der Form bürokratischer Effizienz. Grauenhaft und unvorstellbar. Die menschliche Empfindung weigert sich, dies als reale Möglichkeit anzunehmen.«
Pöppelbaum lief zur Bar. Er kehrte mit einem großen Glas zurück, in das was auch immer gefüllt worden war. Ich nahm einen kräftigen Schluck – das Zeug schmeckte nach Medizin. Hauptsache Alkohol, dachte ich und schüttelte mich.
»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte ich, nachdem ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte.
Motte schreckte aus seinen Gedanken hoch. »Ich soll mich morgen um punkt fünfzehn Uhr in die neue Einkaufsgalerie begeben und auf einen Anruf warten. Dann erhalte ich weitere Anweisungen. Wissen Sie, wo dieses Shoppingcenter ist?«
»Klar. Der neue Konsumtempel auf dem Brauereigelände. Dort ist es immer rappelvoll und es gibt mehrere Ausgänge. Aber es ist so gebaut, dass man jemanden gut beobachten kann. Sie werden kaum die Möglichkeit haben, uns auf dem Laufenden zu halten. Der Typ wird Sie vermutlich nicht aus dem Auge lassen.«
Bruno Zitroni und eine Misswahl
Die Einkaufsgalerie hatten private Investoren einrichten lassen. Die alte Brauerei war in jahrelanger Arbeit entkernt und wieder hergerichtet worden. So war eine hohe Kathedrale entstanden, von deren oberer Etage man den Blick auf die Rolltreppen bis ins Erdgeschoss hatte – es war also ein perfekter Ort für die Übergabe. Der derzeitige Besitzer der Dokumente würde Motte im Blick haben, sobald der das Center betrat. Die Shops bildeten ein buntes Gemisch aus Kleider-Boutiquen, Schuhläden, Gastroangeboten und angesagten Spezialgeschäften. Obwohl in Bierstadt der Anteil der Hartz-IVer fast achtzehn Prozent betrug, war die Galerie fast immer rappelvoll. Heute fiel besonders die Männerdichte ins Auge. Der Grund war auf einem Plakat zu lesen: Um fünfzehn Uhr sollte die Wahl zur Miss Gallery stattfinden. Vor dem Laden des Labels Bruno Zitroni überprüfte eine Band ihre Beschallungsanlage. Junge Männer rangelten sich um die besten Plätze.
Motte wollte die Galerie pünktlich um fünfzehn Uhr betreten. Er hatte angekündigt, durch den Haupteingang zu kommen. Die Unterlagen, die er zu finden hoffte, wollte er in einer grellroten Plastiktüte verstauen, die er mitführen würde.
Wayne und ich hatten noch eine Viertelstunde Zeit, um eine für uns günstige Position zu finden.
Im Erdgeschoss knubbelten sich die Kiddies. Sie standen Schlange vor einem Laden, der wie ein chinesischer Tempel gestaltet war und in dem es Markenklamotten zu kaufen gab. Vor dem Eingang führten muskulöse Wachhunde Gesichtskontrollen durch.
Jede Zeit hat ihre Geißeln, dachte ich. Gut, dass es in diesem Fall nur markenbekloppte Kids waren, die sich von cleveren Kapitalisten ausbeuten ließen. Das war wenigstens nicht tödlich – zumindest nicht sofort.
»Wir gehen eine Etage höher«, schlug ich vor. »Von dort haben wir eine gute Übersicht. In drei Minuten müsste Motte eintreffen. Außerdem ist hier unten gleich die Hölle los wegen der Misswahl.«
Wir waren kaum oben, als Motte die Galerie betrat. Er spazierte langsam an den Schaufenstern entlang, blieb einige Male stehen und musterte die Auslagen. Der rote Plastikbeutel war gut zu sehen. Wayne knipste.
Die Band spielte das erste Stück, Scheinwerfer erhellten die Szenerie, ein Moderator kündigte zwanzig junge Damen an, die es ins Finale der Misswahl geschafft hatten. Und schon waren die Mädels da – unter Applaus, Pfiffen und Gejohle präsentierten sie ihre unzureichend bekleideten Körper.
Kurzzeitig war der Blick auf Motte versperrt. Als ich ihn wieder im Auge hatte, telefonierte er.
»Es geht los«, stellte Wayne fest.
Motte steckte das Handy zurück in seine Manteltasche und änderte die Richtung.
»Er geht zu den Aufzügen«, rief Wayne. »Was machen wir jetzt?«
»Wir teilen uns auf. Du fährst nach oben und ich lauf ins Erdgeschoss. Die Aufzüge sind aus Glas, vielleicht siehst du ja was.«
»Okidok.« Der Bluthund machte sich davon.
Ich nahm die Rolltreppe nach unten und beobachtete den Lift, in den Motte gestiegen war. Im Inneren waren mehrere Personen zu erkennen. In der dritten Etage stoppte der Aufzug, einige Kunden stiegen aus – Motte blieb in der Kabine.
Zwei Mädels rempelten mich an und ich musste aufpassen, auf der Rolltreppe nicht zu stürzen. Als ich wieder nach oben blickte, bewegte sich der Aufzug schon wieder nach unten. Motte war irgendwo ausgestiegen und ich hatte keine Ahnung, wo.
Die Musik war schrecklich und laut. Die Möchtegernmissen tanzten im Discomove.
Mein Handy klingelte. Ich konnte Wayne kaum verstehen.
»Motte verloren!«, schrie er.
»Mist!«, brüllte ich zurück.
»Wo ist er ausgestiegen?«, fragte ich, als Wayne wieder neben mir stand.
»Ich konnte es nicht sehen«, erklärte er. »Ich habe alles abgesucht – auch das Treppenhaus mit den Notausgängen. Motte ist wie vom Erdboden verschluckt.«
»Und was machen wir jetzt?«
»Lass uns zum Bahnhof fahren. Wenn alles gut gegangen ist, ist das Schließfach leer. – Uns fehlt der Rest der Story«, meinte ich.
»Was ist, wenn dem Motte was passiert ist?«, murmelte Wayne.
»Der kann schon auf sich aufpassen«, beschwichtigte ich halbherzig.
Wir erreichten den Hauptbahnhof in Rekordzeit, doch es gab keine Spur von Motte und dem Unbekannten. Dafür war das Schließfach leer.
Ich versuchte, Motte auf dem Handy zu erreichen, hatte aber kein Glück. Noch nicht einmal die Mailbox war eingeschaltet.
Rhythmisches Schütteln
In meinem Hirn spukten die schrecklichsten Gedanken. Hatte der Unbekannte Max Motte gekidnappt, um noch mehr Geld zu erpressen? Vielleicht von dessen Vater? Hatten die beiden Männer einen Streit, in dessen Verlauf Motte getötet worden war?
In der Redaktion sichteten wir Waynes Fotos. Eigentlich hatten wir alles – außer dem Wichtigsten, und das waren Bilder von dem Unbekannten inklusive Schlüssel- und Dokumentenübergabe.
»Wir sind echte Dilettanten«, stellte ich mürrisch fest. »Soll ich jetzt eine Zeichnung mit dem Untertitel So wär’s gewesen anfertigen, oder was?«
Wayne zuckte mit den Schultern. »Guck mich nicht so an, Grappa! Ich kann nichts dafür.«
»Lass uns den Rest der Fotos anschauen«, schlug ich vor. »Vielleicht ist auf einem was drauf, was uns weiterbringt.«
»Nein, da ist nichts mehr.«
»Wieso? Da sind noch mindestens sechzig Fotos auf dem Stick.«
»Das ist privat.«
Ich nahm ihm die Maus weg, klickte weiter und traute meinen Augen nicht.
»Da ist nichts mehr?«, höhnte ich. »Hier kommen doch die wirklich relevanten Tatsachen. Rhythmisches Tittenschütteln bei der Misswahl. Sogar mit Tele. Von oben in die Bikinis. Kompliment, mein Freund! So was nenne ich vollen Einsatz.«
Der Bluthund wurde tomatenrot im Gesicht. »Hör auf, Grappa! Das war doch erst, nachdem ich Motte schon verloren hatte.«
»Und dann knipst du diese Tussen? Könnt ihr Kerle eigentlich immer nur mit dem Schniedel denken?«, schimpfte ich. »Du hast uns diese Hammerstory versaut, weil du lieber halb nackte Mäuse ablichtest, statt deinen Job zu machen!«
»Dann hast du ja jetzt einen Schuldigen gefunden«, polterte er, zog den Stick aus dem PC und erhob sich. »Du bist manchmal echt zum Kotzen, Grappa!«, rief er noch, bevor die Tür ins Schloss fiel.
Am frühen Abend hielt ich es nicht mehr aus und rief Kleist an. Ich beichtete ihm unser misslungenes Husarenstück. Wenigstens er reagierte professionell und schickte einige Beamte in die Galerie, um das riesige Gebäude, das erst um zehn Uhr abends die Pforten schloss, durchsuchen zu lassen.
»Wir haben in dem Einkaufscenter nichts Verdächtiges gefunden, was auf ein Verbrechen hindeuten könnte«, teilte er mir später mit. »In Mottes Hotel Fehlanzeige. Keine Hinweise im Schließfach. Wir sehen uns jetzt die Videoaufzeichnungen der Galerie an, aber das kann dauern. Mehr kann ich nicht tun. Motte ist weder ein Beschuldigter noch ein Verdächtiger. Er kann mit seinem Geld kaufen, was er will. Und von wem er will.«
Wirre Träume und Vorschau auf Halloween
Meine Nacht war kurz und voller Albträume. Ich sah Motte in seinem Blut liegen und dann wieder mit den Mädchen tanzen.
Nach der ersten Tasse Kaffee klingelte mein Handy: Wayne. Ich drückte ihn weg und schaltete das Telefon aus. Es war Sonntag und ich hatte die Nase voll von missglückten Verfolgungsjagden, langwierigen Begleitreportagen, halb nackten Tanzeinlagen und spitzen Fotografen.
Doch mein Vorsatz, den Vormittag nur mit mir allein zu verbringen, wurde eine halbe Stunde später durch ein heftiges Türgeläute zunichtegemacht. Ich hatte gerade eine selbst angerührte Kräutermaske im Gesicht. Der Paketbote kennt mich schon so, jeder andere ist selbst schuld, wenn er bei meinem Anblick kollabiert, dachte ich. Grimmig öffnete ich.
»Wie siehst du denn aus, Grappa?«, erschrak Wayne. »Halloween kommt doch erst noch.«
»Ich trainiere für die nächste Konferenz«, blaffte ich. »Auf der ich beichten muss, dass wir die Sensationsgeschichte des Jahres versaut haben, weil der Knipser seine Hormone nicht im Griff hatte.«
»Ist ja gut«, grinste Pöppelbaum. »Ich hab was für dich, was dich freuen wird.«
»Ach ja?«
»Schmier dir das Zeugs runter und mach dich fertig. Kochst du gerade? Es riecht hier verdammt gut nach italienischem Essen.«
»Das bin ich«, offenbarte ich. »Die Maske besteht aus Basilikum, Pfefferminz und Thymian. Willst du ein Löffelchen probieren?«
»Lass mal. Ich verzieh mich so lange in die Küche, bis du wieder wie meine Grappa aussiehst und nicht wie ein grünes Marsfrauchen.«
»Okay. Nimm dir Kaffee. Ich beeile mich.«
Ich verschwand im Bad und schälte mir die Maske ab. Sie war zu lange drauf geblieben und etwas zäh geworden. Mit feuchtwarmen Waschlappen weichte ich die Pampe auf, ein paar Momente später hätte ich Hammer und Meißel gebraucht.
Mit rosiger Haut und mindestens zehn Minuten jünger betrat ich die Küche. Wayne hatte das Tonicwater im Kühlschrank entdeckt. Vor ihm auf dem Tisch lagen Fotos.
»Erst Marsmensch, jetzt Rothaut«, frotzelte er. »Was kommt denn noch?«
Ich haute ihm eins hinter die Löffel.
»Autsch«, quietschte er.
»Jetzt sag, warum du hier bist«, forderte ich. »Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.«
»Guck dir die Fotos an, dann weißt du es.«
»Das ist ja ein Ding!«, rief ich aus. »Wieso sehe ich das erst jetzt?«
»Ich hab halt oben in der Galerie einfach drauflos geknipst – ein Foto nach dem anderen – ohne auf die Motive zu achten. Eigentlich wollte ich die Fotos löschen – bis mir dieser rote Fleck hier auffiel. Ich hab den Ausschnitt dann vergrößert.«
Er deutete auf ein grellrotes Viereck – die Tüte von Max Motte. Die Hand, die die Tüte hielt, gehörte ihm. Allerdings war Motte nur von der Seite und leicht unscharf zu sehen. Neben ihm stand ein großer Mann, der auf ihn einzureden schien.
»Das ist das zweite Bild aus der Serie«, sagte Wayne und schob mir das nächste hin.
Die Szene hatte sich verändert. Motte steckte einen Umschlag in die rote Tüte. Ich sah mir den fremden Mann genauer an. Er trug eine schwarze Wollmütze, eine große Sonnenbrille und einen Vollbart.
»Das ist Holger Bruns!«, staunte ich. »Das ist ja der Hammer.«
»Was tun wir denn jetzt?«, fragte Wayne.
»Ich muss das erst mal verdauen«, sagte ich. »Damit hätte ich zuallerletzt gerechnet. Bruns hat mir versichert, dass er David Cohn nicht persönlich gekannt hat. Wie kommt er an die Unterlagen aus dem Safe der Firma Motte?«
»Vielleicht hat er Cohn doch getroffen oder er war der Einbrecher und hat die Dokumente beim Einbruch in die Mahler-Villa gefunden.«
»Keine schlechte Idee«, kommentierte ich. »Obwohl es mir gegen den Strich geht, zu glauben, dass Bruns jetzt auch noch ein Einbrecher sein soll. Denk an die Naziparolen im Mahler-Haus. Nein, so was bringt keiner fertig, der sein Leben dem Kampf gegen Rechts gewidmet hat.«
»Heldenverehrung ist immer falsch, Grappa«, widersprach Wayne. »Wie oft haben wir schon mit Leuten zu tun gehabt, die nicht das waren, was sie behauptet hatten. Wenn es um Geld geht, hat die Moral Pause.«
»Lass uns zu Mottes Hotel fahren«, schlug ich vor. »Er muss doch irgendwann dort auftauchen. Ich will endlich wissen, was da abgeht.«
Motte macht sich davon
»Herr Motte hat ausgecheckt«, teilte uns das Mädel an der Rezeption mit. »Aber er hat eine Nachricht hinterlassen – für den Fall, dass Sie Frau Grappa sind.«
»Bin ich.«
Sie musterte mich, entschied sich trotzdem, mir zu glauben, und nahm einen Zettel aus dem Fach.
Auf Hotelpapier ohne Umschlag stand geschrieben: Habe Sie nicht erreicht. Deal gelaufen. Muss dringend weg. Melde mich. Motte
»Na, toll«, meinte ich, als wir wieder im Auto saßen. »Der verarscht uns doch!«
»Klingt gar nicht so schlecht«, fand Wayne. »Immerhin lebt Motte noch und scheint um eine Million ärmer.«
»Ich bin immer noch nicht darüber weg, dass Bruns der Erpresser sein soll. Warum hat er die Unterlagen nicht den Behörden übergeben, sondern Geld verlangt?«
»Ich hab Hunger«, stellte Pöppelbaum fest.
»Ich auch.«
»Pizza holen und essen?«
»Wo essen?«
»Bei dir. Hast du Wein oder Bier im Haus?«
»Niemals!«
»Alles klar«, grinste er.
Wir knusperten die Pizzen und überlegten, wie wir unsere Geschichte noch retten konnten. Leider gefiel uns keine der Lösungen.
Wayne trank jetzt schon das dritte Bier und ich befand mich im Landeanflug auf eine Depression.
»Ich kann nicht mehr fahren«, stellte Wayne fest.
»Du darfst das Gästezimmer oder ein Taxi nehmen.«
»Prima. Hast du noch Wein da?«
»Aber immer. Auf der Terrasse. Dürfte kühl genug sein.«
Er schleppte sich zur Tür. »Auch wenn er warm wäre, ich spür sowieso nix mehr.«
»Schade. Der Chardonnay ist wirklich gut.«
Er öffnete die Flasche. »Sag mal, steigt denn dein Bulle die Karriereleiter nun hoch und wird Terroristenjäger? Oder hat er sich noch nicht entschieden?«
»Ach, Wayne, frag mich mal was Einfaches. Nach dem Sinn des Lebens vielleicht, dem Satz des Pythagoras oder dem Rezept für eine Peking-Ente.«
»Aber leid tät es dir schon, oder, Grappa?«
Er nervte.
»Ach was, wenn es so kommt, dann kommt es so. Wir sind alle nur Gäste auf dieser Erde«, schwadronierte ich. »Und in hundert Jahren kennt uns keiner mehr und unsere Schmerzen sind verflogen.«
»Genau! Das hast du mal wieder sooo schön gesagt.« Er lächelte, wie es nur Beschwipste fertigbringen. »In hundert Jahren hat sich der Staub der Geschichte über unsere Skelette gelegt.«
Ich nahm einen kräftigen Schluck Chardonnay und spülte nach – mit einem kräftigen Schluck Chardonnay.
Nebenbei sendete ich eine SMS an Kleist: Holger Bruns ist unser Mann! Er hat die Dokumente.
Prompt klingelte mein Handy.
»Ich würde gern wissen, welche Hinweise du darauf hast, dass Bruns der Dokumentendealer ist«, bellte Kleist in mein Ohr.
»Ein Foto«, murmelte ich nicht ganz deutlich. »Wir haben es gerade erst entdeckt.«
»Das will ich sehen. Ich komme vorbei«, kündigte Kleist an. »Seht zu, dass ihr in fünfzehn Minuten noch ansprechbar seid. Soll ich Aspirin mitbringen?«
»Lass mal. Alles im Haus.«
Er legte auf.
Schon zehn Minuten später stand er in meiner Küche.
»Guten Abend.« Kleist wirkte unverschämt wach. »Ist was mit deinen Augen? Du blinzelst so.« Es klang besorgt.
»Ja, deine Ausstrahlung blendet mich«, behauptete ich.
»So bin ich das gewöhnt«, grinste er.
Wayne kam – sein Hose zuknöpfend – aus dem Bad zurück und seufzte, als er Kleist sah. »Könnt ihr nicht ein bisschen leiser sprechen?«
Ich schob ihm noch ein Glas Wein hin.
»Darf ich jetzt bitte das Foto sehen, das Bruns zeigt?«
»Zwei Fotos.« Wayne schob sie über den Tisch.
Kleist betrachtete sie. »Max Motte erkenne ich. Und der zweite Mann soll Holger Bruns sein?«
»Ja, genau«, versicherte ich. »Er hat sein Äußeres verändert – so wie damals in der Fernsehshow.«
Kleist legte die Fotos zurück. »Das reicht nicht. Die Fotos zeigen einen Mann, dessen Haare man nicht sieht, der seine Augen unter einer Sonnenbrille verborgen hat und dessen halbes Gesicht von einem Bart verdeckt wird. Unscharf ist es außerdem. Diese angeblichen Beweise rechtfertigen noch nicht mal eine Vernehmung.«
»Wir erkennen Bruns aber! Und du schaffst es immer wieder, unsere blendenden Einfälle mit ein paar Worten in die Tonne zu treten«, muffelte ich. Ich war enttäuscht. Kleist verließ uns mit undurchschaubarer Miene. Spielverderber!
»Ich habe eine Idee«, sagte Wayne nach einer Schweigerunde. »Es gibt noch mehr Bilder von Holger Bruns – ich habe sie während der Fernsehshow gemacht. Hast du ein Fotobearbeitungsprogramm auf deinem PC?«
»Nein.«
»Dann fahr ich jetzt nach Hause und bastle ein neues Foto, auf dem Bruns besser zu erkennen ist«, kündigte er an. »Nichts geht über einen guten Bluff.«
»Du kannst so was?«, fragte ich ungläubig.
»Klar, Grappa«, grinste er. »Ich maile dir das Bild in einer Stunde. Du wirst dich wundern. Und jetzt bestell mir ein Taxi.«
Es dauerte nur fünfundvierzig Minuten. Wayne hatte Bruns ein erkennbares Gesicht verpasst. Der Teint war aufgehellt, die Mütze war nach oben geschoben und gab die Stirn frei. Sogar die Sonnenbrille war verschwunden. Der Kopf erschien im Ganzen viel schärfer.
»Du bist ja ein echter Künstler«, lobte ich am Telefon.
»Nix Kunst. Photoshop. Ausschneiden, Einfügen, Radieren, Stempeln, Beleuchtung hochschrauben und nachschärfen. Klar, Experten erkennen die Manipulation sofort, aber für einen Besuch bei Bruns wird es reichen.«
»Der weiß doch, dass er die Brille nicht abgenommen hat«, widersprach ich. »Und dann fliegt alles auf.«
»Weißt du immer, wann du deine Brille abnimmst und aufsetzt? Wir überrumpeln ihn. Das klappt schon.«
»Schön, versuchen wir’s. Morgen kaufen wir uns den frischgebackenen Millionär. Wir treffen uns um neun in der Bäckerei Schmitz. Und jetzt schlaf deinen Rausch aus.«
Ruhe im Karton und die Nummer mit der Eisscholle
»Ach, nee, Frau Grappa«, stöhnte Anneliese Schmitz. »Ich kann nicht mehr so wie früher. Heben und tragen und bücken sind der Horror. Ich spür jeden Knochen und das ist nicht schön.«
»Du musst dich doch auch noch erholen. Lass doch Donka mal ran.«
»Mach ich ja schon. Die Kleine ist echt ’ne Liebe. Aber heute isse nicht da, Berufsschule.«
»Kannst du nicht eine Aushilfe einstellen?«
»Nee, Frau Grappa, das kann ich nicht löhnen. Der Verdienstausfall war schon deftig.«
»Die Bank soll dir was vorschießen. Du kriegst bestimmt Schmerzensgeld von dem Golombeck und den drei Nazischlägern.«
»Nee, ich mach keine Schulden«, sagte sie energisch. »Und bis die vor Gericht stehen, kann es sowieso dauern.«
»Belästigen dich die Leute von der Sozialen Alternative eigentlich noch weiter?«, fragte ich.
»Da ist Ruhe im Karton«, antwortete die Bäckerin. »Die alte Golombeck lässt sich auch nicht mehr blicken. Angeblich wollen die ihr Haus verkaufen und wegziehen, wenn der Alte den Prozess hinter sich hat.«
»Gute Idee. Und jetzt zeig mir, wo der Käse liegt, damit ich mir ein Brötchen schmieren kann.«
»Frau Grappa!«, empörte sie sich. »Das krieg ich noch hin. Setz dich schomma.«
Das Bierstädter Tageblatt lag im Bistro bereit. Die Kollegen, die gestern im Sonntagsdienst waren, hatten zwei Seiten Lokales zusammengetragen. Neben zahlreichen Erntefesten in Kleingartenvereinen, einer Jubilarehrung der SPD und einem Tierschutz-Gottesdienst wurde in einer kurzen Nachricht angekündigt, dass die neue Partei Die Rechte eine Kundgebung vor dem Bierstädter Gefängnis angemeldet hatte, um die sofortige Haftverschonung ihres Kreisvorsitzenden SS-Eddi zu fordern, und zwar aufgrund seines geschwächten gesundheitlichen Zustandes.
Der braune Bombenleger jammerte! Die Demo sollte am Nachmittag stattfinden. Spontane Gegendemos wurden erwartet.
Frau Schmitz brachte Brötchen und Kaffee. Sie stöhnte leise, als sie sich neben mich setzte.
»Ich hab ja mit den Eskimos nix am Hut«, bekannte sie. »Aber eine gute Sache machen die: Sie setzen ihre Alten und Schwachen auf eine Eisscholle im Meer und geben der ’nen kräftigen Schubs. Die brauchen keine Pflegeheime.«
»Wir haben hier kein Meer und keine Eisschollen«, griente ich. »Außerdem ist das ein dummes Märchen, das irgendwelche Rassisten erfunden haben, um die Eskimos als brutale Wilde abzustempeln.«
»Ich find’s aber besser, als sich im Heim zwanzig Jahre wund zu liegen und gequält zu werden. Hier – ich hab den Artikel extra aufgehoben. Stand in deinem Blatt.« Sie las vor: »Wehe, du wirst alt und schwach! – Schock-Video zeigt Gewalt im Pflegeheim …«
»Das sind doch nur Einzelfälle, Frau Schmitz.«
»Auf der Scholle im Eismeer hast du es schneller hinter dir, Frau Grappa«, schniefte sie.
»Du wirst noch viele schöne Jahre in deinem Häuschen im Negerdorf verbringen, zufrieden und glücklich sein«, prophezeite ich. »Ach, da kommt endlich mein Fotograf.«
»Der Herr Pöppelbaum«, begrüßte die Bäckerin den neuen Gast. »Wie isses?«
»Muss, Frau Schmitz. Und selbst?«
»Muss.«
»Krieg ich einen Kaffee?«, fragte er.
»Na, sicha.«
Er schaute der Bäckerin nach.
»So richtig fit ist sie ja noch nicht«, bemerkte er.
»Sag ihr das bloß nicht«, meinte ich, »Sie hadert schon genug mit ihrem Schicksal. Die Kameraden von SS-Eddi machen übrigens Stunk.«
Ich legte ihm die Zeitung hin. »Ein Termin für uns. Aber erst fahren wir zu Holger Bruns beziehungsweise Hein Behrens.«
Beweissicherung im Badezimmer
Das Haus befand sich im Osten der Stadt und hatte vierundzwanzig Klingeln. Eine ruhige Wohngegend war das nicht, direkt gegenüber befand sich ein S-Bahnhof, daneben eine Tankstelle und ein Fast-Food-Restaurant, das bis Mitternacht geöffnet hatte. Hier also lebte der Oberguru des demokratischen Widerstandes gegen Rechtsextremismus.
Wayne dachte wohl Ähnliches, denn er meinte: »Wenn er die Million hat, kann er jetzt umziehen.«
»Wenn er uns reinlässt – kannst du gleich mal auf sein Klo gehen?«, fragte ich.
»Warum? Ich muss nicht.«
»Dann tu eben so – zieh ein paar Haare aus der Bürste und steck sie ein.«
»Ach so!« Wayne kapierte. »Du willst einen genetischen Fingerabdruck machen lassen. Warum?«
»Vielleicht kann ich Kleist überreden, dass er sie mit den Proben aus Italien vergleicht. Ich habe hin und her überlegt: Bruns kann die Papiere nur in Italien bekommen haben. Vielleicht gibt es Vergleichsmaterial aus Cohns Hotelzimmer. Oder von den Sachen der Toten.«
»Gut, dann geh ich also pinkeln für die gute Sache.«
Ich klingelte bei Behrens.
»Ja, bitte?«, fragte eine Männerstimme.
Ich atmete auf. Immerhin war der Journalist schon mal zu Hause. »Grappa vom Tageblatt. Herr Bruns? Ich muss Sie dringend sprechen.«
»Kommen Sie rein. Der sechste Stock. Aber der Aufzug ist kaputt.«
Auch das noch. Treppen erinnerten mich immer an die Endlichkeit des irdischen Lebens.
Ich war kurz vor dem Herzinfarkt, als wir die Wohnungstür erreichten.
Bruns stand schon in der Tür. »Sie haben Glück, dass Sie mich antreffen. Ich halte heute Abend einen Vortrag in Hamburg und danach geht es weiter nach Flensburg. Was kann ich für Sie tun?«
»Wir haben nur ein paar Fragen.«
Wir folgten ihm in eine Art Arbeitszimmer mit Doppelbett. Wenigstens gab es genug Sitzgelegenheiten. Ich musterte möglichst unauffällig die Bücherwand und die Papiere auf dem Schreibtisch. Mir fiel ein Reiseführer auf. Lago Maggiore. Nur keine schnellen Schlüsse ziehen, dachte ich.
»Ihre Fragen?«
»Haben Sie sich am Samstag um fünfzehn Uhr in der Einkaufsgalerie mit Max Motte getroffen?«
Bruns starrte mich an – wie vom Donner gerührt. »Warum wollen Sie das wissen?«
»Sie haben recht«, sagte ich. »Ich hätte die Frage nicht zu stellen brauchen, weil ich es weiß. Wir waren nämlich auch da.«
Ich gab ihm das nachgebesserte Foto.
»Mein Gott«, murmelte er. »Wie ist das möglich?«
»Max Motte hatte uns eingeweiht«, erklärte ich. »Wir haben das Treffen fotografisch dokumentiert. Warum verkaufen Sie Dinge, die Ihnen nicht gehören?«
Bruns schwieg.
»Wie sind Sie an die Dokumente aus dem Safe gekommen?«
Bruns setzte sich und atmete schwer.
»Ich wollte verhindern, dass die Firma Motte ungeschoren aus der Sache rauskommt«, krächzte er.
»Aber Motte will doch alles aufklären und wiedergutmachen – soweit das möglich ist«, widersprach ich.
Jetzt lachte Bruns bitter. »Das hat er Ihnen weisgemacht?«
»Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln. Sie wollen nur von Ihrer Rolle in dem Drama ablenken. Was machen Sie mit der Million?«
»Welche Million?« Bruns kicherte. »Ich habe keine Million und ich habe auch keine Unterlagen mehr. Motte hat mich ausgetrickst.«
»Erzählen Sie!«
Die Geschichte war allzu abenteuerlich. Nachdem sie in der Galerie zusammengekommen waren, liefen Motte und Bruns gemeinsam zum Hauptbahnhof. Bruns hatte dort ein zweites Schließfach gemietet und die Unterlagen darin deponiert.
»Ich wollte zuerst das Geld sehen«, berichtete er. »Motte schien damit einverstanden. Er öffnete Schließfach und Koffer, ich prüfte das Geld und dann öffnete ich das andere Schließfach. Motte vergewisserte sich, dass es die Dokumente enthielt. Und dann …«
»Dann?«
»Dann spürte ich plötzlich einen Pistolenlauf im Rücken. Motte hatte einen zweiten Mann mitgebracht. Der drohte, mich abzuknallen. Motte nahm mir den Koffer mit dem Geld aus der Hand, schnappte sich die Unterlagen und beide verschwanden. Ich stand da wie ein Depp.«
»Da kann ich nicht widersprechen. Wissen Sie, wer der andere Mann war?«
»Allerdings. Manfred Motte, der Senior. Bestens bekannt im rechten Milieu.«
»Dumm gelaufen«, resümierte ich. »Sie können noch nicht mal zur Polizei gehen. Sie haben sich selbst ausgetrickst.«
Wayne erhob sich. »Ich muss mal pinkeln, darf ich Ihr Bad benutzen?«
»Ja, aus der Tür und geradeaus.«
Der Bluthund trollte sich.
»Moralische Skrupel hatten Sie wohl nicht?«, fragte ich.
»Nein. Warum sollte ich? Ich wollte das Geld nicht für mich. Ich habe vor, eine Stiftung für Gewaltforschung zu gründen und einige Initiativen gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu unterstützen, die auf Spenden und öffentliche Gelder angewiesen sind. Die Bundesregierung will die Mittel ja einfrieren.«
»Wie löblich«, meinte ich mit leiser Ironie. »Kommen wir zur wichtigsten Frage: Woher hatten Sie die Dokumente überhaupt? Sie haben behauptet, David Cohn nie persönlich getroffen zu haben.«
»Habe ich auch nicht«, sagte er. »Cohn hat mir die Unterlagen zugeschickt mit der Bitte, sie an einem sicheren Ort aufzubewahren. Er fühlte sich bedroht. Das war kurz vor seiner Reise nach Italien.«
»Und Sie waren nicht in Italien und haben ihn dort auch nicht getroffen?« Ich fixierte ihn scharf.
»Nein, das sagte ich doch schon!«
Ich hörte die Wasserspülung im Bad. Wayne erschien wieder und kniff mir verstohlen ein Auge zu.
»Haben Sie die Sachen wenigstens kopiert, bevor Sie sie Motte übergeben haben?«
»Nein, leider nicht.«
»Die Geschichte stinkt«, meinte ich, als wir im Auto saßen. »Eine Million Euro zu erpressen, zeugt nicht gerade von einem moralisch einwandfreien Charakter. Und dass Bruns die Sachen nicht kopiert hat, glaube ich auch nicht.«
»Erpressung ist das nicht, Grappa«, widersprach Wayne. »Er hat Motte ja nicht mit irgendwas gedroht, sondern ihm nur etwas verkauft. Und er hat noch nicht einmal Geld dafür bekommen, wenn das stimmt, was er sagt.«
»Ich trau Bruns genauso wenig wie Motte. Hast du die Haare aus dem Bad?«
»Klaro, Grappa. Haare und ein Papiertaschentuch mit Blut. War zwar ein bisschen eklig, das aufzupicken, aber ich hab eine Pinzette genommen, die da rumlag.«
Der Willkürstaat wehrt sich
In den Straßen rund um das Gefängnis war kein Durchkommen mehr. Die Gegendemonstranten der Initiative Gesicht zeigen gegen Rechts waren zahlreich erschienen. Auch die Jungs und Mädels von der Antifa waren aufgetaucht, um ordentlich mitzumischen.
Die Staatsmacht hatte alles aufgefahren, was für Stimmung sorgte: Wasserwerfer, die Einsatzhundertschaft der Spezialkräfte, berittene Polizisten und Scharfschützen auf dem Dach der Justizvollzugsanstalt. Es konnte losgehen.
Drei Rechte entrollten ein Transparent: Freiheit für Eddi – gegen den Willkürstaat!
Die Antifas stießen ein infernalisches Geheul aus, einige der Vermummten wollten den Rechten das Transparent entreißen, doch die Polizisten hinderten sie daran.
Nationaler Sozialismus jetzt! Direkt vor meiner Nase hielt eine Glatze das Plakat in die Kameras der Fernsehteams. Prompt wurde ihm ein Mikrofon unter die Nase gehalten.
Ich ging zur Seite, bekam aber noch folgenden Satz mit: »Die Rechte ist die Partei des Volkes. Wir vertreten keine Konzerne, fremde Minderheiten oder Interessengruppen, sondern einzig und allein die Menschen in unserer Stadt.«
Das war nicht ungeschickt und schlichte Gemüter dürften für diese Aussagen anfällig sein. Leider hatten die etablierten Parteien ja in den letzten Jahrzehnten an Volksnähe eingebüßt. Ich versuchte, den eben gehörten Satz einer der demokratischen Parteien zuzuordnen. Das misslang. War zum Beispiel die SPD noch die Partei des Volkes, wenn ihr Kanzlerkandidat 25.000 Euro für einen Vortrag erhielt und das in Ordnung fand, während Sozialhilfeempfänger sich und ihre Familien mit ein paar hundert Euro ernähren mussten? War die CDU noch eine Partei des Volkes, wenn der aus ihren Reihen stammende Exbundespräsident sich jahrelang von Industrie und Wirtschaft »verwöhnen« ließ und nach seinem Rücktritt lebenslang mehr als zweihunderttausend Euro im Jahr aus Steuergeldern bekommt?
Mir fielen die Lobbyisten ein, die ihr Quartier im Berliner Bundestag bezogen hatten. Hunderte Mitarbeiter, bezahlt von privaten Unternehmen, waren in Ministerien beschäftigt und arbeiteten sogar an Gesetzentwürfen mit. So nahmen Unternehmen und Verbänden erheblichen Einfluss auf die Politik in unserem Land.
»Guten Tag, Frau Grappa«, unterbrach eine Frauenstimme meine Gedanken. Sie gehörte Luisa Licht von der Opferberatungsstelle.
Wayne zog den Bauch ein und lächelte debil.
»Was halten Sie von der neuen Partei, Frau Licht?«, versuchte er ein Gespräch.
»Ein neues Sammelbecken für die Anhänger der verbotenen Gruppierungen«, antwortete sie. »Leider wird man es nicht verbieten können. Die Rechte genießt das Parteienprivileg.«
Das Spezialkommando drängte die Gegendemonstranten zurück. Das war ein hartes Stück Arbeit und prompt flogen Steine. Die Polizisten schützten sich mit Schilden, die Wasserwerfer richteten ihre Läufe auf die Menschen. Nazis-raus-Rufe konkurrierten mit vereinzelten Sieg-Heil-Rufen. Per Megafon erklärte die Polizei die Demo für beendet und forderte die Demonstranten auf, den Ort zügig zu verlassen. Doch niemand folgte dem Befehl.
»Die kesseln gleich ein«, wusste Wayne aufgrund langjähriger Erfahrung. »Haut besser ab, sonst seid ihr mitten im Kessel. Da hilft dann auch kein Presseausweis.«
Licht und ich drückten uns in einen Hauseingang. Wayne stürzte sich ins Gewühl und ward nicht mehr gesehen.
Zehn Minuten später war der Spuk vorbei. Die Polizei hatte die Gegendemonstranten, die zahlreicher waren als die Rechten, auf einen Platz geführt. Die Neonazis wurden in zwei Polizeibussen festgehalten – zur Überprüfung der Personalien.
Wayne stieß wieder zu uns. »Das war’s wohl«, meinte er. »SS-Eddi sitzt noch immer im Knast und Die Rechte hat ein bisschen auf sich aufmerksam gemacht. Darf ich die Damen auf einen schnellen Kaffee einladen?« Er zeigte auf eine Bäckerei mit Stehtischen im Inneren.
»Aber gerne«, meinte ich. »Aber nur zehn Minuten. Ich muss meinen Artikel noch schreiben.«
»Ich hab auch nicht viel Zeit, aber für einen Kaffee reicht es«, lächelte Luisa Licht.
»Ich hatte kürzlich wieder mit Holger Bruns zu tun«, erzählte ich kurz darauf, als wir alle einen Pappbecher vor uns stehen hatten. »Er sagte mir, dass die Bundesregierung die öffentlichen Gelder für Opferberatungsstellen eingefroren hat. Sind Sie auch davon betroffen?«
»Das mit dem Einfrieren ist doch vom Tisch«, erwiderte Licht. »Trotzdem reichen die Mittel vorne und hinten nicht. Uns fehlen sechzigtausend Euro für das nächste Jahr. Wenn wir die nicht zusammenbekommen, können wir die Einrichtung schließen. Aber Holger will uns helfen.«
»Inwiefern?« Ich war hellhörig.
»Er plant eine Stiftung, aus der Projekte wie unseres finanziert werden sollen.«
»Wie kommt er denn an Geld für eine Stiftung?«, fragte Wayne. Er biss sich auf die Lippen, als er meinen erschrockenen Gesichtsausdruck sah.
»Das weiß ich nicht genau«, antwortete Luisa Licht. »Ich vermute, dass er eine Erbschaft gemacht hat. Er hat mal so was angedeutet.«
»Schön, wenn man Verwandte hat, die einem was vererben«, lächelte ich maliziös.
Große Bilder sind schnell geschrieben – so lautet eine Devise der Zeitungsjournalisten. Ich brauchte keine Stunde für den Artikel, setzte drei Fotos ein und fertig.
Es war schon fast dunkel. Auf meinem Schreibtisch lag die Plastiktüte mit Bruns’ Haaren und dem blutigen Taschentuch. Ich schloss sie in die Schublade, damit sie keiner eifrigen Putzfrau zum Opfer fielen.
Anschließend schrieb ich eine E-Mail an Kleist, in der ich ihm gestand, dass wir uns Bruns vorgeknöpft hatten.
Er rief mich umgehend an.
»Er hat sich auf dem Bild wiedererkannt?«, fragte er zweifelnd, nachdem ich ihm einen knappen Bericht gegeben hatte.
»Wir haben das Foto etwas glaubhafter gemacht«, bekannte ich. »Mit Photoshop. Da hat es geklappt.«
»Du schreckst wirklich vor nichts zurück«, seufzte Kleist. »Hoffentlich färbt dein Drang zur Illegalität nicht auf mich ab.«
»Nein, dazu bist du viel zu korrekt«, beruhigte ich ihn und kam zum Thema zurück: »Ich traue Bruns nicht. Ich habe Haare und Blut von ihm. Könntest du einen genetischen Fingerabdruck erstellen lassen?«
»Warum?«
»Er war im Besitz der gestohlenen Dokumente. Angeblich kannten Cohn und er sich aber nicht. Das kommt mir unglaubwürdig vor. Cohn hätte die Beweise für seine mühsam recherchierte Familiengeschichte doch nicht an einen Mann geschickt, den er nicht persönlich kannte. Und schon gar nicht mit der Post. Das passt nicht.«
»Und was soll eine genetischer Fingerabdruck beweisen? Mit was sollen wir ihn vergleichen?«
»Mit der Kleidung der Toten. Oder sogar mit dem Müll aus dem Wald von Pisano«, schlug ich vor.
»Dann wäre Bruns ja am Tatort gewesen!«
»Genau. Vielleicht hatte David ihn dorthin bestellt. Ich habe in seiner Wohnung einen Reiseführer vom Lago Maggiore bemerkt. Vielleicht nur ein Zufall, aber wer weiß?«
Eine Story ohne Pointe
Max Motte sorgte am nächsten Tag für eine Überraschung. Ich hatte ihn endlich ans Telefon bekommen.
»Sie schulden mir noch den Rest der Geschichte«, sagte ich. »Und den Einblick in die Dokumente.«
»Unser Deal ist hinfällig, Frau Grappa«, sagte er. »Sie haben die Polizei eingeschaltet, sie war im Hotel. Das war gegen unsere Absprache.«
»Wir haben uns Sorgen um Sie gemacht!«, rechtfertigte ich mich. »Wenn Sie sich gleich bei mir gemeldet hätten, wäre das nicht passiert.«
»Wie denn? Ich bin mit dem Mann zum Bahnhof zu den Schließfächern gefahren und wir haben das Geschäft abgewickelt. Das dauerte eben seine Zeit.«
»Sie haben das Geschäft abgewickelt, wie es geplant war?« Ich traute meinen Ohren nicht.
»Ja, was glauben Sie denn? Eine Million für diese verdammten Dokumente.«
Ich schluckte. Fast hätte ich ihm Bruns’ Version der Ereignisse an den Kopf geworfen, aber ich beherrschte mich.
»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte ich. »Wann starten Sie Ihre Aufklärungs- und Wiedergutmachungsaktion?«
»Ich übereigne die Unterlagen dem NS-Archiv«, sagte Motte. »Vermutlich wird es dann irgendwann eine Dokumentation geben, in der das Leben des Massenmörders Theodor Steiger beleuchtet wird, der nach dem Krieg eine neue Identität angenommen und es zum millionenschweren Unternehmer gebracht hat. Vielleicht werde ich diese Studie sogar finanzieren. Die Million, die ich gezahlt habe, setze ich von der Steuer ab. Im Übrigen wird die Firma Motte verkauft. Ich sage es Ihnen ganz offen: Das Zollkriminalamt ermittelt gegen uns. Wir sollen gegen das Iran-Embargo verstoßen haben.«
»Und? Haben Sie?«
»Wir haben über die Schweiz Aluminiumstangen und Stahlplatten an ein iranisches Unternehmen geliefert. Diese Firma soll ein getarnter Einkäufer für das iranische Nuklearwaffenprogramm sein. Ich möchte mit dem ganzen Kram jedenfalls nichts mehr zu tun haben. Die Verkaufsverhandlungen laufen bereits. Meine Schwester, mein Vater und ich bekommen je ein Drittel. Ist doch ein fairer Deal, oder? Da spielt die eine Million für diesen Erpresser auch keine Rolle mehr.«
»Ihr Geschäftspartner hat das Geld aber nicht bekommen«, platzte ich nun doch heraus.
»Wie bitte?«
»Sie haben ihm den Koffer nur gezeigt, aber nicht gegeben«, sagte ich. »Wir sind Ihnen zum Bahnhof gefolgt und haben Fotos gemacht. Auch von Ihrem Vater, wie er den Mann mit einer Waffe bedrohte.«
Schweigen.
»Sind Sie noch da?«, fragte ich.
»Und selbst wenn …« Motte hatte sich wieder im Griff. »Wir haben uns nur zurückgeholt, was uns gehört. Mit ein wenig Nachdruck. Welche Straftat wollen Sie daraus konstruieren?«
»Dem Staatsanwalt wird schon was einfallen. Ich tippe auf Bedrohung mit einer Waffe, Nötigung, Erpressung und so weiter. Aber das ist ja gar nicht das Thema. Ein Artikel über den großen Wiedergutmacher Max Motte, der angeblich eine Million opfert, um die Menschheit über die braune Familiengeschichte aufzuklären, und sich dann als mieser Betrüger entpuppt, könnte Ihre Verkaufsverhandlungen stören und Ihrem Saubermann-Image schaden.«
»Sie überschätzen die Moral meiner Verhandlungspartner. Die haben mit Kriegswaffen zu tun – da ist man einiges gewöhnt«, entgegnete er. »Und mir ist mein Ruf herzlich egal. Schreiben Sie Ihre Geschichte über den bösen Max Motte und seinen noch böseren Großvater. In ein paar Monaten ist Gras über die Sache gewachsen.«
Leider hatte er nicht ganz unrecht. Nichts ist älter als die Zeitung von gestern. Und ich musste Schnack beibringen, dass die Reportage von der Geldübergabe anders enden würde, als ich es vorgehabt hatte. Am besten noch vor der Redaktionskonferenz.
»Was sagen Sie da?«, fragte er nach meinem Kurzbericht.
»Es ist eben einiges schiefgegangen – was aber nicht unsere Schuld war. Motte hat falsch gespielt. Er hat die Million nicht übergeben. Die Story hat keine Pointe mehr und ist damit tot.«
Am Nachmittag informierte mich Kleist über die Ergebnisse des DNA-Schnelltests: Bruns war tatsächlich am Tatort gewesen. Speichelspuren auf einem Kaugummi, das man in der Nähe der Leiche von Daniel Schatto gefunden hatte, passten zu den Spuren, die Wayne im Bad von Bruns gesichert hatte.
»Bruns war also in Italien und hat dreist gelogen«, stellte ich überflüssigerweise fest. »Vielleicht hat er die Morde beobachtet. Ich wage gar nicht, weiter zu denken.«
»Wir werden ihn besuchen«, kündigte Kleist an. »Und du hältst die nächsten Stunden die Füße still. Abgemacht?«
Eine Stunde später wurde folgende Pressemitteilung verbreitet:
Im Mordfall der fünf Toten vom Lago Maggiore ist heute der deutsche Staatsangehörige Hein B. (48) vorläufig festgenommen worden. Es verdichten sich Anhaltspunkte, dass B. sich in Pisano/Italien am Tatort befunden hat. Der Festgenommene ist unter dem Pseudonym Holger Bruns als Autor politischer Texte gegen rechtsextreme Entwicklungen in unserer Gesellschaft in Erscheinung getreten.
Die Medien stürzten sich auf die neue Entwicklung. Besonders die rechtskonservativen Blätter konnten sich eine gewisse Häme nicht verkneifen. Ein linker Autor, der in politische Morde verwickelt war – ein gefundenes Fressen für die rechte Hetzpresse.
Der verfolgte Nazikiller
Am Abend klingelte es an der Haustür. Ich tippte auf Kleist, doch es war Luisa Licht, die mich besuchte.
»Sie?«
»Entschuldigen Sie bitte, dass ich nicht vorher angerufen habe«, sagte sie. »Aber der Herr Kleist schickt mich.«
Ich ließ sie herein. Licht wirkte leicht derangiert und außer Atem.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Herr Kleist meinte, ich könnte etwas für Sie tun.«
»Da bin ich aber gespannt.« Ich bat sie in die Küche und bot ihr einen Stuhl an.
»Holger Bruns sitzt im Gefängnis«, japste sie.
»Das weiß ich schon. Beruhigen Sie sich. Wollen Sie etwas trinken?«
Sie antwortete nicht, ließ sich auf den Küchenstuhl fallen, atmete tief durch die Nase ein und durch den Mund aus. Eine Entspannungsübung, die schnell half.
»Warum glaubt Herr Kleist, dass Sie mir helfen können?«
»Ich weiß Dinge über Holger Bruns.«
»Ach?«, dehnte ich.
»Ja. Er war in Italien. Am Tatort. Und er hatte die gestohlenen Unterlagen.«
»Das weiß ich schon. Aber woher wissen Sie das?«
»Er hat es mir vor ein paar Tagen gesagt«, berichtete sie. »Er wollte die Papiere an Motte verkaufen. Ich hab ihn davor gewarnt. Mit solchen Leuten macht man keine Geschäfte.«
»Er hat es trotzdem versucht«, stellte ich fest. »Erzählen Sie mir etwas, was neu für mich ist. Warum war er am Tatort? Warum hat er immer vehement abgestritten, David Cohn persönlich zu kennen?«
»Vielleicht weil es ihm nicht um Cohn ging, sondern um Schatto.«
»Schatto?« Darauf wäre ich nicht gekommen. Das war neu.
»Er wollte wissen, was Schatto vorhatte und …«
»Moment«, unterbrach ich sie. »Was hat Bruns mit Schatto zu tun?«
»Chantal. Sie ist Bruns’ Tochter.«
Das haute mich um. Im Nebel der Verwirrung tauchte plötzlich ein ganz neues Motiv für den Mord an Schatto auf!
Luisa Licht machte weiter. »Holger war Chantals Freundschaft zu Schatto schon lange ein Dorn im Auge. Und dann hat der Typ sie auch noch geschwängert. Stellen Sie sich das vor: Holgers Tochter bekommt ein Kind von einem bekannten Nazischläger! Doch je mehr Holger Chantal unter Druck setzte, desto stärker hielt sie an Schatto fest.«
»Das war bestimmt hart für Bruns.«
»Ja, aber dann kippte die Sache. Chantal bekam Angst. Sie erzählte ihrem Vater, dass Daniel einen Spezialauftrag in Italien hatte. Einen lukrativen Auftrag. Schatto hatte Chantal schon Geld gezeigt, das er als Anzahlung bekommen hatte. Darum ist Holger ihm dann nach Italien gefolgt.«
»Warum haben Sie nicht gleich gesagt, dass Chantal und Bruns Tochter und Vater sind?«, fragte ich.
»Auch ich unterliege der Schweigepflicht«, antwortete sie. »Chantal ist meine Klientin und kann sich auf meine Loyalität verlassen. Außerdem bin ich mit Holger befreundet und wollte ihn nicht reinreißen.«
»Und warum reden Sie nun doch über diese Dinge?«
»Das alles belastet mich. Ich kann an nichts anderes mehr denken. Die Vorstellung, dass Bruns etwas mit den Morden zu tun haben könnte, lässt mich keine Nacht mehr schlafen.«
»Weiß Chantal Bescheid?«
»Nein. Holger und sie haben sich wieder angenähert – das wollte ich nicht kaputt machen.«
Nachdem Lisa Licht gegangen war, rief ich Kleist an.
»Maria, ich hab wenig Zeit. Wir vernehmen den Bruns gerade.«
»Und?«
»Wir haben ein Geständnis. Er hat Schatto erschossen.«
Der Staatsschutz schlief
Am frühen Morgen tauchte der Hauptkommissar bei mir auf – übernächtigt und mit grauem Teint, aber immerhin mit Brötchen.
»Ich koche Kaffee und dann erzählst du«, schlug ich vor.
Er verschwand im Bad und ich hörte die Dusche rauschen. Nach zehn Minuten saß er mit nassem Haar am Tisch und griff nach der Kaffeekanne.
»Wie ist es gelaufen?«
»Das war eine harte Nacht«, erklärte Kleist. »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«
»Am besten mit Bruns’ Festnahme«, schlug ich vor.
»Ich sagte ihm auf den Kopf zu, dass er in Italien war. Zuerst wollte er leugnen. Den DNA-Vergleich konnte ich ja leider nicht verwenden, weil die Proben auf illegalem Weg in meine Hände gelangt sind. Ich erzählte ihm von dem Kaugummi und fragte, was passieren würde, wenn wir einen Gentest durchführen ließen. Daraufhin gab er zu, in Italien gewesen zu sein. Ich hatte das Gefühl, dass er froh war, endlich alles erzählen zu können. David Cohn habe ihm den Ort zeigen wollen, an dem die Nazis seine Familie getötet hatten.«
»Also war der Kontakt doch enger zwischen den beiden, als Bruns behauptet hat. Hatte er die Unterlagen aus dem Safe damals schon?«, fragte ich.
»Er bleibt dabei, dass Cohn ihm die Sachen vorher geschickt hat«, berichtete Kleist. »Dann kam er damit heraus, dass Schattos Freundin seine Tochter ist, und wir konnten noch mal von vorne anfangen.«
»Was ist denn nun genau passiert?«
»Chantal hat zufällig mitbekommen, dass Schatto einen Tötungsauftrag in Italien erhalten hatte. Sie wusste sogar, dass es sich bei dem Opfer um einen Israeli handeln sollte. Also schloss Bruns auf Cohn.«
»Und auf die Idee, die Polizei zu informieren, kam er nicht?«
»Doch. Angeblich hat er eine E-Mail an den Staatsschutz geschickt – doch der reagierte nicht. Wir klären gerade, ob jemand sie geöffnet und unbearbeitet beiseitegelegt hat. Schatto benutzte einen VW-Transporter für die Reise – inklusive Fahrradständer und Rad. Bruns mietete sich in einer Pension ein und beobachtete Schatto. Der fuhr am Tattag mit dem Rad in den Wald von Pisano. Bruns verlor seine Spur, weil ein Forstfahrzeug auf der Straße rangierte und Bruns mit dem Auto nicht vorbeikam. Als Bruns Schatto schließlich wiederfand, war alles schon passiert. Schatto hatte nicht nur Cohn, sondern auch die Mahlers ermordet und war gerade dabei, den Wagen seiner Opfer zu durchsuchen. Die P8 lag neben dem Fahrrad. Schatto bemerkte Bruns und dem war klar, dass einer von beiden die Begegnung nicht überleben würde. Schatto spurtete zu der Waffe, doch Bruns war schneller. Er hob die Pistole und erschoss Schatto. Dann flüchtete er in Panik.«
»Dann war es kein Mord«, rief ich aus, »sondern Notwehr.«
»Das wird das Gericht entscheiden. Die Pressemitteilung werden wir heute Nachmittag herausgeben.«
Notwehr im Wald von Pisano
Das Geflecht aus Lügen hatte sich gelichtet. Die Morde waren aufgeklärt. Aber die Rolle von Schattos Mörder ausgerechnet mit Holger Bruns zu besetzen, war kein gutes Casting des Schicksals.
Am Nachmittag teilten Polizei und Staatsanwaltschaft die Neuigkeiten offiziell mit. Ich hatte Schnack schon vorher informiert und bekam die komplette erste Lokalseite. Bereits am frühen Nachmittag konnte der Artikel online gestellt werden:
Mord an Nazikiller aufgeklärt: »Es war Notwehr«
Der Tod des rechtsradikalen Daniel S., der seinerseits drei Menschen ermordet hat, scheint aufgeklärt. Hein B. alias Holger Bruns hat gestanden, den 28-jährigen S. erschossen zu haben – um sich selbst zu schützen. Die Tat fand unmittelbar nach dem Auftragsmord in einem Wald in Norditalien statt.
Hein B. schreibt unter dem Namen Holger Bruns über Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und ist ein anerkannter Experte der rechten Szene. Seit Jahren wird er von Neonazis verfolgt und mit Gewalt bedroht. Als ausgerechnet seine Tochter C. (18) ins rechte Lager abdriftet, ist Bruns hilflos und enttäuscht.
Der Gewaltforscher hat die Gründe, warum gerade junge Menschen für rechtes Gedankengut anfällig sind, in vielen Büchern analysiert. Umso härter trifft es ihn, dass seine eigene Tochter eine Beziehung mit dem berüchtigten Rechtsradikalen Daniel S. eingeht und von ihm schwanger wird.
Als Daniel S. den Auftrag erhält, den israelischen Journalisten David C. (29) zu töten, folgt ihm Bruns. Doch er kommt zu spät. Daniel S. hat David C. und die dreiköpfige Familie M. in einem Wald in Italien bereits hingerichtet. Als Daniel S. den Wagen der Familie durchsucht, bringt Bruns die Waffe an sich und tötet den Neonazi – aus Angst, ebenfalls Opfer des kaltblütigen Killers zu werden. Gegen Hein B. alias Bruns wurde Haftbefehl wegen Totschlags erlassen.
Ich fügte noch einen Kasten mit Hintergrundinformationen über die Waffengeschäfte der Firma Motte und ihre Verstrickung in das Massaker am Lago Maggiore vor siebzig Jahren hinzu. Das war zwar alles nicht neu, aber wie sagte Schnack immer? »Der Leser ist kein lebendes Archiv.«
Kopfgeld für den Täter
Holger Bruns wurde in den nächsten Tagen der Liebling der linksgerichteten Medien und das Hassobjekt der rechtsradikalen Presse. Die Soziale Alternative Dorstfeld setzte ein Kopfgeld auf ihn aus.
Tod für Holger Bruns! Wer diese Zecke zur Rechenschaft zieht, macht sich um Deutschland verdient. Rache für Schatto! Tod der Demokratie! Tod den linken Zecken! – so stand es auf einem Flugblatt, das an Bäumen, Hauswänden, Brief- und Telefonkästen plakatiert war.
Drei Stunden später waren diese Flyer allerdings wieder verschwunden: Schulklassen waren losgezogen und hatten sie abgeknibbelt und entsorgt. Die Aktion Knibbeln gegen Rechts wurde in der Presse groß gefeiert.
»Haben wir doch gut hingekriegt, Grappa-Baby«, sagte Wayne. »Bruns wird mit einem blauen Auge davonkommen, Chantal ist aus dem braunen Sumpf gerettet, SS-Eddi schmort im Knast und die Neonazis kriegen kaum noch ein Bein auf die Erde. Was wollen wir mehr?«
»Ich hätte noch ein paar Ideen«, entgegnete ich. »Zum Beispiel, wenn die Verantwortlichen für den Mord an Cohn und die Mahlers bestraft würden. Dass ein Geheimdienst solche Verbrechen ungestraft begehen kann, will nicht in meinen Kopf. Und Motte ist auch ungeschoren geblieben. Der hat uns alle ausgetrickst!«
Ausklang
Ich nahm ein paar Tage Urlaub, half Frau Schmitz in der Bäckerei, brachte mein Haus in einen sauberen Zustand, hörte Musik, probierte Rezepte aus und schlief mindestens zehn Stunden am Tag.
Doch trotz aller guten Vorsätze, mich auf andere Gedanken zu bringen, war ich nicht in der Lage, mich daran zu halten.
Kleist hatte sich angekündigt. Er wolle mir etwas Wichtiges mitteilen. Wahrscheinlich geht es um die neue Stelle, dachte ich. Er will mir beibringen, dass er Bierstadt verlässt.
Es kam anders.
»Du hattest recht. Bruns hat doch Kopien von den Dokumenten aus dem Safe gemacht«, berichtete Kleist. »Er würde sie dir zur Verfügung stellen, wenn du sie noch haben willst.«
»Ja, klar. Ich würde sie gern lesen.«
Er zog einen dicken Umschlag aus der Aktentasche und legte sie auf den Tisch.
»Er schlägt vor, dass ihr zusammen ein Buch schreibt. Was Max Motte nicht tut, könnt ihr jetzt machen. Bruns wird einige Zeit im Gefängnis zubringen und hätte die Muße dazu. Du könntest dich um Informationen kümmern, die er aus dem Knast nicht recherchieren kann. Ich finde, dass das eine gute Idee ist.«
Ich nahm den Umschlag und zog die Blätter heraus. Kopien von Briefen, Fotos, Bescheinigungen. Ich blätterte die Papiere durch.
»Das ist ja ein Kriegstagebuch von Theodor Steiger!«, rief ich aus. »Sein Wehrpass und …«, ich wühlte weiter, »… noch andere Briefe von Samuel Cohn. Bankbescheinigungen … unfassbar!«
»Schau dir die Sachen in Ruhe an«, sagte Kleist. »In dem Tagebuch hat Steiger ganz ausführlich über die Morde berichtet und mit ihnen geprahlt. Es ist schwer erträglich, das zu lesen.«
»Sag Bruns, dass ich mitmache«, erklärte ich.
Holger Bruns wurde zu drei Jahren Haft wegen Totschlags im Affekt verurteilt. Ich besuche ihn regelmäßig und unsere Zusammenarbeit läuft gut.
Was gibt es noch zu berichten?
SS-Eddi wartet noch immer auf seinen Prozess wegen Beteiligung an einem Terroranschlag.
Die Soziale Alternative Dorstfeld hat sich aufgelöst und ihre Anhänger sind von der Partei Die Rechte und der NPD mit offenen Armen aufgenommen worden. Wenigstens ist im Negerdorf wieder Ruhe eingekehrt.
Heinz Golombeck wurde wegen Anstiftung zur schweren Körperverletzung zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Die Golombecks haben ihr Haus verkauft und sind weggezogen. Frau Schmitz kann sich endlich über friedliche Nachbarn freuen.
Friedemann Kleist hat sich noch nicht entschieden, ob er die Karriereleiter hochklettern will und das Abwehrzentrum gegen Extremismus und Terrorismus übernimmt. Vielleicht wartet er darauf, dass ich ihn bitte zu bleiben. Aber dazu kann ich mich nicht aufraffen.
Wirklich Freude macht mir die kleine Palme aus dem Garten des Hotels Victoria in Meina. Sie kümmerte zunächst vor sich hin und schien sich in Deutschland nicht wohl zu fühlen. Doch seit der Klärung der Mordfälle bildet sich ein neues Blatt, das sich jeden Tag um einen halben Zentimeter weiter aus der Erde schiebt. Ich werde die Palme im Sommer in den Garten stellen und an die toten Juden von Meina denken.
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