Dienstreise zu einem Mord im sonnigen Süden

»Ich muss unser gemeinsames Kochen leider absagen«, informierte mich Hauptkommissar Friedemann Kleist am Nachmittag telefonisch. »Eine Familie aus Bierstadt ist getötet worden. Eine Art Hinrichtung. Vater, Mutter, Tochter und deren Freund. Und es gibt noch ein fünftes Opfer. Ein Mann, der zufällig am falschen Platz war. Ich fliege morgen nach Italien.«

»Das ist ja schrecklich. Was ist das denn für eine Familie?«

»Lies die Pressemitteilung, die gleich an die Medien rausgeht. Da steht alles drin, was wir bisher wissen.«

»Alles?«

Er lachte. »Na ja, das, was ihr Presseleute wissen dürft. Aber wir haben wirklich noch nicht viel Interessantes. Deshalb muss ich ja nach Locarno.«

»Nach Locarno? Hast du nicht gesagt: Italien?«

»Ja. Ich nehme mir dann ein Auto. Die Familie hat an der italienischen Seite des Lago Maggiore Urlaub gemacht. In Stresa. Locarno ist der nächstgelegene Flugplatz. Bis später.« Er legte auf.

Ich stürzte zu meinem Rechner. Tatsächlich war gerade eine gemeinsame Presseerklärung der Mordkommission und der Staatsanwaltschaft eingegangen.

Mord an fünf Personen in Norditalien

In einem Wald bei Pisano wurden gestern die Leichen von vier Menschen in einem Personenwagen mit Bierstädter Kennzeichen gefunden. Den Ausweispapieren zufolge handelt es sich um das Bierstädter Ehepaar Elise und Norbert M., 50 und 56 Jahre alt, ihre Tochter Melanie M. (23) und den 29-jährigen israelischen Staatsangehörigen David C. Am Tatort wurde außerdem die Leiche eines noch nicht identifizierten Mannes gefunden, der mit dem Fahrrad in dem Waldstück unterwegs war. Er könnte ein Zufallsopfer sein. Nach ersten Erkenntnissen sind die fünf Personen erschossen worden. Die Umstände des Auffindens lassen vermuten, dass die Familie gezielt getötet wurde. Eine Waffe wurde noch nicht gefunden. Ein Raubmord wird ausgeschlossen. Die Mordkommission Bierstadt unterstützt die italienische Polizei. Ein leitender Beamter wurde nach Italien abgeordnet. Die israelische Polizei wurde ebenfalls informiert.

Italien, das Land der Cosa Nostra. Eine ganze Familie ausgelöscht. So fingen Filme an, die von den mächtigen Paten erzählten. Natürlich wurden auch in Italien zuweilen Touristen überfallen, das war nichts Neues. Doch meist wegen Geldes und anderer Wertsachen. Eins der Opfer war Israeli – hatte das etwas zu bedeuten?

Wayne Pöppelbaum hastete ins Großraumbüro und steuerte auf mich zu. »Hast du schon gelesen, Grappa?«

Ich nickte. »Mysteriöse Geschichte. Wir sollten nach Italien fahren.«

»Eine Dienstreise? Das kriegst du bei Schnack nie durch!«, prophezeite der Bluthund. Pöppelbaum war der feste freie Fotograf des Bierstädter Tageblatts und hauptsächlich für die sogenannten Blaulicht-Themen zuständig. Wayne hörte regelmäßig den Polizeifunk ab, um frühzeitig an den Szenen schrecklicher Ereignisse zu erscheinen, die er dann für die blutrünstige Leserschaft unseres Blattes im Bild dokumentierte. Als Reporterin war ich für die Texte zuständig.

»Abwarten«, meinte ich zuversichtlich. »Der Leiter der Bierstädter Mordkommission macht sich auf den Weg nach Bella Italia. Unser Chef ist doch immer so für Begleitreportagen. Nun können wir den Oberpolizisten doch mal bei seiner schwierigen Arbeit begleiten.«

»Weiß Kleist das denn schon?«, fragte Wayne verblüfft.

»Ist alles mit ihm abgesprochen«, log ich, ohne rot zu werden, und griff noch einmal nach der Pressemitteilung. »Hier stehen die Namen nur mit der üblichen verschleierten Abkürzung. Darum kümmern wir uns zuerst. Ich will wissen, wer diese Opfer genau sind.«

»Das kann ich dir sagen«, grinste er stolz. Er reichte mir einen Zettel: Elise, Norbert und Melanie Mahler.

»Den Nachnamen dieses David C. hab ich allerdings noch nicht rausbekommen. Dafür hab ich aber die Adresse der Mahlers.«

»Sauber! Dann machen wir jetzt Arbeitsteilung«, schlug ich vor. »Ich kümmere mich um die Genehmigung der Dienstreise und du schüttelst die Nachbarn. Vielleicht erfährst du von denen noch was Interessantes.«

Wayne nickte und trollte sich.

Ich hatte den Mund ziemlich voll genommen. Nun überlegte ich angestrengt, wie ich unseren Chef Dr. Berthold Schnack von der Notwendigkeit einer Reise nach Italien überzeugen konnte. Leider fiel mir nicht viel ein. Plan B war angesagt: improvisieren. Am besten sofort.

»Ist Schnack schon da?«, fragte ich Susi.

Die Sekretärin reagierte nicht, denn sie war in die Blöd-Zeitung vertieft und knabberte an einem Brötchen. Ich wollte ihrer Weiterbildung nicht im Weg stehen und lief einfach an ihr vorbei. Die Tür zum Chefbüro stand offen.

Schnack war nicht allein. Bärchen Biber, sein Lieblingsredakteur, saß vor dem Schreibtisch und nippte an einem Kaffee.

»Guten Morgen, die Herren«, strahlte ich. »Ich hoffe, ich störe nicht.«

»Nicht mehr als sonst«, grinste der Kronprinz.

Ich zeigte ihm beim Lächeln kurz die Zähne.

»Was führt Sie zu mir, Frau Grappa?«, fragte Schnack. »Gleich ist doch sowieso Redaktionskonferenz.«

Ich gab ihm eine kurze Zusammenfassung der Geschehnisse.

»Wir sollten die offiziellen Ergebnisse abwarten. Das ist doch bisher eine ganz dünne Suppe«, stellte Schnack fest.

»Der Meinung bin ich nicht. Als Polizeireporterin unseres Blattes würde ich gern nach Norditalien reisen. Eine emotionale Nah-dran-Reportage kommt viel besser als ein nüchterner Faktenbericht. Und es ist doch einfach eine Riesengeschichte: eine vierköpfige Familie aus Bierstadt einfach so niedergemetzelt!«

»Genau, Grappa«, stimmte mir Bärchen zu. »Und das Wetter in Italien ist gerade sehr gut. Blaues Wasser, Palmen, Vino und dolce far niente.«

»Ans Nichtstun hatte ich eigentlich nicht gedacht, du kleiner Schleimer«, gab ich ihm eins drüber.

»Ich muss doch sehr bitten«, blaffte Schnack. »Und damit meine ich alle beide.«

Bärchen zog einen Flunsch.

»Wie stellen Sie sich die Nah-dran-Reportage denn genau vor?«, fragte der Chef. »Glauben Sie wirklich, dass die Polizei Sie nah dran lässt?«

»Zuerst einmal werde ich das Umfeld der Toten hier in Bierstadt untersuchen«, erklärte ich. »Die Mahlers wohnten im Süden der Stadt.«

»Mahler?« Schnack war aufmerksam geworden. »Norbert Mahler?«

»Ja. Kennen Sie den Mann etwa?«

»Und seine Frau heißt Elise?«

»Stimmt.«

Schnack wischte sich die Stirn. Er war bleich geworden. Bärchen Biber und ich schauten uns an.

»Norbert Mahler ist seit Jahren mein Steuerberater«, gestand Schnack. »Und ich bin sogar Melanies Patenonkel. Das ist ja eine grauenhafte Nachricht. Sie bekommen Ihre Dienstreise, Frau Grappa!«

»Mit Sex kannst du Schnack nicht bestochen haben. Wie hast du es also geschafft?«, fragte Wayne zwei Stunden später, als wir in der Kantine beim Kaffee saßen.

»Meine legendäre Überzeugungskraft«, behauptete ich. »Und jetzt erzähl mir, was du von den Nachbarn der Mahlers erfahren hast.«

»Nicht viel.«

»Was heißt das?«

»Natürlich sind die Bullen schon vor mir da gewesen«, erzählte der Bluthund. »Die Nachbarn schildern die Mahlers als unauffällige, angenehme Menschen. Aber das sind in diesem Viertel alle. Gepflegte Villengegend mit Flair. Chefärzte, Unternehmer, leitende Angestellte, Manager und Lokalpolitiker. Mahler war Steuerberater. Ihm gehörte eine Steuerberatungsgesellschaft.«

»Ich weiß. Schnack ist einer seiner Mandanten.«

»Schnack?« Jetzt begriff Wayne. »Deshalb hat er die Dienstreise genehmigt!«

Ich lächelte schief. »Hast du was über den Israeli erfahren? Wie stand er zu den Mahlers?«

»David C. war seit einer Woche zu Besuch. Mit der Tochter war er jedoch wohl nicht liiert. Er war eher ein Verwandter oder Bekannter.«

»Und was wollten die Mahlers in Italien?«

»Urlaub machen, was sonst«, antwortete Wayne. »Im sonnigen Süden. Sie hatten in Stresa ein Hotel gebucht, direkt am See. Ich hab sogar den Namen. Der Tatort liegt nur ein paar Kilometer von Stresa entfernt.«

»Wow!«

»Ja, ich sprach mit einer Nachbarin, die Frau Mahler das Hotel empfohlen hatte. Hotel Milan du Lac.«

»Da mieten wir uns auch ein!«

Den Rest des Tages verbrachte ich mit Reisevorbereitungen. Wagen auftanken, Route berechnen, Proviant zusammenstellen und die neuesten Karten beschaffen. Ich schaute mir den Lago Maggiore im Internet an: Er war sehr länglich geformt. Urlaubsorte reihten sich wie Perlen aneinander. Ein Touristengebiet mit Tradition. Seit einhundertfünfzig Jahren tummelten sich dort Besucher aus aller Herren Länder und genossen die Annehmlichkeiten der Gegend: mildes Klima, Palmen, Oleander und Wellness- und Medizinangebote, die Leute über fünfzig zu schätzen wissen.

Mit Brot wirft man nicht

Hart gekochte Eier sind die beste Nahrung für lange Autofahrten. Sie sättigen, sind einfach zu bedienen und ihre Verdauung macht nicht schläfrig. Ein Klecks Senf oben drauf gibt ihnen eine angenehme Würze. Das galt freilich nicht für Pöppelbaum. Er jammerte nach Schnitzel und Pommes, wann immer eine Autobahnraststätte angezeigt wurde.

Kurz vor Darmstadt signalisierte die Benzinuhr Alarm und ich ließ mich breitschlagen. Die Sonne schien. Die Raststätte verfügte sogar über eine Außenterrasse, die einen aufregenden Blick auf Parkplatz, Tanke und die sechsspurige Fahrbahn zuließ.

Selbstbedienung. Wir schnappten uns jeweils ein schmieriges Tablett und begaben uns zur Essenstheke. Als die Mitarbeiterin des Gourmettempels uns kommen sah, zerstörte sie mit einer Kelle den Trockenfilm auf einer rotbraunen Soße und holte die darin befindlichen Dinge an die Oberfläche. Roulade vom Biorind – war auf einer Schiefertafel zu lesen. Mit Kartoffeln oder Pommes: 11,99 Euro.

Bevor er bestellen konnte, entdeckte Wayne den Preis. Stumm zogen wir an dem Tresen vorbei. Die Thekenkraft drückte die daumengroßen Fleischrollen in die Soße zurück.

Ich begnügte mich mit einem Kännchen Kaffee zu acht Euro, Wayne holte sich ein Baguettebrötchen zum Dumpingpreis von sieben Euro, musste dafür aber in Kauf nehmen, dass die Käseränder hochgebogen waren und das Salatblatt eine braune Färbung angenommen hatte. Er aß seine Mahlzeit nicht auf.

»Heute Abend gibt es was Gutes«, versprach ich. »Dann haben wir die Hälfte der Strecke geschafft. Wir suchen uns einen kleinen Gasthof zum Übernachten. Am besten kurz vor der Schweiz. Möchtest du nicht doch ein hart gekochtes Ei?«

Ein paar Stunden später verließen wir die Autobahn. Mein Kopf brummte von den Fahrgeräuschen und in meinem Magen lärmten die harten Eier nun doch.

»Soll ich nicht mal fahren?«, fragte Wayne.

»Nee, lass mal. Die letzte halbe Stunde schaffe ich noch.«

»Ich hätte dich ja schon längst abgelöst«, sagte Wayne, »aber du bist ja ziemlich komisch mit deinem Wagen.«

»Der Golf ist alt und hat Macken. Und die kenne nur ich.«

»Schlimmer als deine können die nicht sein.«

»Mit denen kommst du ja auch nicht klar.«

Je weiter wir nach Süden kamen, desto schöner wurde die Landschaft. Alles wirkte extrem sauber. Nirgends eine alte Zeitung oder eine Plastiktüte – wie staubgesaugt. Weinberge wechselten sich mit tiefgrünen Wäldern ab. Auf den Feldern wuchsen Mais, Hirse, Tabak und Obst. An fast jeder Straßenkreuzung deutete eine Tafel den Weg zu einer Herzklinik oder einem Reha-Zentrum. Es war Nachsaison und viele Gasthäuser hatten ihre Zimmer-frei-Schilder nach draußen gestellt. Trotzdem erwies es sich als schwierig, zwei Einzelzimmer zu bekommen. Die Hotellerie schien Paare als Gäste zu bevorzugen.

Als es dunkelte, gaben wir auf und nahmen ein Doppelzimmer mit zwei einzelnen Betten.

»Schnarchst du?«, hoffte ich.

»Nein. Du?«

»Ja.«

Wayne schüttelte ungläubig den Kopf.

Wir trugen unser weniges Gepäck nach oben und statteten der Gaststube einen Besuch ab. Es gab nur noch Semmelknödel mit frisch gepflückten Pfifferlingen aus dem Schwarzwald.

Doch das Essen war üppig und lecker. »Es geht nichts über Pilze, die direkt aus dem Wald kommen«, schwärmte ich. Der Hauswein passte gut dazu: unauffällig, aber angenehm.

Am Nebentisch saß eine einheimische Familie mit einem kleinen Mädchen im Prinzessinnenlook. Das Kind bewarf die Gäste mit Brotstücken und die Getroffenen mussten das niedlich finden. Lilli – so der Name der Kleinen – stand schließlich mit wurfbereitem Arm auch vor mir.

»Bleib cool, Grappa«, raunte Wayne. »Die will nur spielen.«

Ich griff ebenfalls nach einem Stück Brot und hob die Hand. Lilli schaute mich empört an, drehte sich zu ihren Eltern um und schrie wütend los.

So wurde ich zwar nicht zur Zielscheibe für eine Brotattacke, musste mir aber die bösen Blicke der übrigen Gäste gefallen lassen.

»Lass uns noch einen Schoppen Wein bestellen«, schlug ich vor. »Und den trinken wir im Garten.«

Draußen legte Wayne seinen Tablet-PC auf den Tisch. »Der Gotthardpass ist frei«, stellte er fest. »Wir fahren über die Berge. Das wird klasse! Bis Stresa sind es nur noch so vierhundert Kilometer.«

Die Bedienung brachte den Wein. Das Licht der Lampen, die in den Kastanien hingen, spiegelte sich milchig in den beschlagenen Gläsern.

»Grappa, du bist so still! Was ist los?«

»Ich überlege gerade, wie wir vorgehen sollen«, sagte ich. »Wir mieten uns im Hotel Milan du Lac ein. Und dann?«

»Erst mal zum Tatort, ist doch klar. Ich brauch doch etwas zum Fotografieren.« Wayne tippte auf sein Tablet. »Guck mal.« Er schob mir den PC hin.

»Hier ist Stresa. Diese Straße da führt am See entlang und bei Meina – das liegt hier – geht es rechts nach Pisano. Also muss es in dem Wald hier passiert sein. Von Stresa aus gibt es keine andere Piste nach Pisano. Zumindest nicht für Touristen, die die Gegend nicht kennen.«

Wir bestellten noch einen Krug Wein, betrachteten die beleuchtete Burgruine der Burg Staufen und beschlossen schließlich, ins Bett zu gehen.

Auf dem Weg zum Zimmer stieß Pöppelbaum mit einer Küchenhilfe zusammen, die den Abfall wegbrachte. Leere Konservendosen kullerten auf den Boden. Auf dem Etikett war zu lesen: Waldkauz-Pfifferlinge, unsortiert, Herkunftsland: Tschechien.

»Es geht doch nichts über Pilze, die direkt aus dem Wald kommen«, grinste Wayne.

Hirn in der Leberwurst und Oldtimer in den Bergen

Natürlich schnarchte der Bluthund doch. Mal hörte er sich an wie eine gequälte Katze, dann wieder wie ein grunzendes Wildschwein, um schließlich – im Morgengrauen – das Pfeifen eines lungenkranken Esels zu imitieren. Es geht doch nichts über Brehms Tierleben im Nachbarbett!

Der Handy-Alarm signalisierte, dass die Nacht vorbei war. Ich duschte als Erste und vermied es, vorher in den Spiegel zu schauen. Der örtliche Weißwein war arg süffig gewesen – und ich hatte wohl mindestens einen Liter davon vernichtet.

Murrend torkelte anschließend Wayne ins Bad. Er hielt sich den Schädel, warf mir einen bösen Blick zu und murmelte Unverständliches. Der Tag begann sehr vielversprechend.

Im rustikalen Frühstücksraum erwartete uns eine mitteilsame Kellnerin. Bevor der erste Kaffee kam, kannte ich ihr halbes Leben. Ich hasste es, vor dem Frühstück zugetextet zu werden. Doch Wayne hatte anscheinend Interesse an der Geschichte. Die ging so: Die Frau hatte studiert und war Inhaberin einer eigenen Firma gewesen, dann wurde sie ganz bös krank, verlor alles und jobbte jetzt als Frühstückskraft. Immerhin hatte ihr neuer Freund einen »großen Laden« in Hamburg und wollte sie bald heiraten.

»Ich kann mir denken, was der Kerl für einen Laden hat«, flüsterte ich.

»Sei nicht so böse, Grappa«, nörgelte Wayne.

»Ich bin wie immer«, muffelte ich.

»Eben.«

Ich griff zu einer liegen gelassenen Blöd-Zeitung. Schimpansen erkennen sich am Hintern – titelte das Blatt. Das Wort Arschgesicht bekam schlagartig eine neue Bedeutung.

Die Frühstückskraft brachte den Teller mit den Delikatessen, die als Brotbelag im Angebot waren: Marmeladetöpfchen, Schmelzkäseecken und Feine Delikatess-Leberwurst. Beherzt griff ich nach Letzterer und verteilte die cremige Pampe auf der Schnittfläche des Brötchens.

»Weißt du eigentlich, was in Leberwurst so alles drin ist?«, fragte Wayne.

»Leber?«, mutmaßte ich.

»Kaum. Muskelfleisch, Speck, Innereien, ein bisschen Leber und die Dinge, die keiner will: Lunge, Herz, Hirn – vor allem Hirn!«

Ich schob ihm meinen Teller hin. »Hirn? Iss!«

Die Fahrt über den Gotthardpass bot atemberaubende Ausblicke. Ich mochte die Berge sehr – selbstverständlich nur zum Angucken und wenn ich sie mit dem Cabrio befahren konnte. In der ersten Haarnadelkurve würgte ich den Motor des alten Golf ab, doch bald hatte ich den Bogen raus. Störend waren allerdings die vielen Radfahrer, die sich die Berge hochmühten.

»Ist dir schon mal aufgefallen, dass auf den schönsten Straßen dieser Welt immer Rudel von Radlern unterwegs sind? Du denkst an nichts Böses, und schon kommen sie dir in einer Kurve entgegen und meckern auch noch, wenn sie geschnitten werden. Und meist sind es ältere Kerle mit verbissenen Gesichtern und Klobrillenbart.«

»Sei nicht so hart, Grappa! Die haben alle den Herzinfarkt überlebt und befinden sich im Aufbautraining«, erklärte Pöppelbaum.

»Da finde ich diese Art, die Alpen zu bereisen, schon cooler«, meinte ich und deutete auf einen Konvoi von Oldtimern. »Hätte ich nicht gedacht, dass diese alten Möhrchen noch solche Steigungen schaffen.«

»Die Autos oder die Männer?«

»In dem Fall die Autos.«

Nachdem wir den Gotthardpass überwunden hatten, änderte sich das Klima. Es wurde noch milder und bald entdeckten wir auf einem Dorfplatz die ersten Palmen.

Am Nachmittag erreichten wir die italienische Grenze. Zollbeamte standen in der Sonne und winkten uns lächelnd durch.

Kurz vor Stresa tankte ich den Wagen auf. Es ist immer gut, in fremder Umgebung über reichlich Benzin zu verfügen. Beim Bezahlen versorgte ich mich mit den Straßenkarten der Gegend.

Erntedankfest am Lago Maggiore

Das Hotel Milan du Lac thronte nah am See, nur durch die Hauptstraße und einen Parkplatz vom Wasser getrennt. Es handelte sich um einen großen Kasten mit über dreihundert Betten auf mehreren Etagen. Von Stegen am Ufer hinter dem Parkplatz fuhren Ausflugsboote zur Isola Bella und zu weiteren kleinen Inseln. Touristenbusse spuckten ihre Fracht auf dem Parkplatz aus. Rollatoren wurden aufgeklappt und Gehstöcke hervorgezerrt. Wayne und ich senkten das Durchschnittsalter signifikant.

An der Rezeption fragten wir nach unseren Einzelzimmern. Sie lagen in der dritten Etage. Leider ohne Ausblick auf See oder Berge. Stattdessen wiesen die Fenster in einen engen, schmutzigen Innenhof mit verrosteter Feuerleiter. Egal, wir waren ja schließlich zum Arbeiten hier.

Ich machte mich frisch, griff zum Handy und wählte. Kleist meldete sich sofort.

»Hier ist Maria. Rate mal, wo ich bin?«

»Du, ich habe gerade gar keine Zeit.«

»Warst du schon am Tatort? Gibt es Spuren, die auf einen Täter hinweisen?«

»Ich kann jetzt wirklich nicht mit dir sprechen.«

»Ich bin am Lago Maggiore.«

»Wie bitte?« Jetzt hatte ich seine Aufmerksamkeit.

»Du hast schon richtig verstanden«, erklärte ich. »Ich arbeite an einer Reportage über die Morde in Pisano. Pöppelbaum logiert im Zimmer nebenan. Kannst du uns helfen?«

Der Hauptkommissar seufzte tief. Das war ein gutes Zeichen, denn sein Seufzen erfolgte meist unmittelbar vor der Kapitulation.

»Wo seid ihr untergekommen?«

Ich sagte es ihm.

»In einer Stunde bin ich bei euch. Vielleicht ist es umgekehrt und ihr könnt mir helfen.«

»Wie meinst du das?«

»Abwarten.« Er beendete das Gespräch.

Das ist doch ein guter Einstieg, dachte ich zufrieden.

Wayne wartete im Foyer. Er hatte seine kleine Kamera in der Hand und knipste die Anwesenden unauffällig und aufs Geratewohl.

»In einer Stunde ist Kleist da.«

»Echt? Der frisst dir ja regelrecht aus der Hand!«, rief er aus.

»Das täuscht«, entgegnete ich. »Er deutete an, dass er unsere Hilfe braucht. Hast du dein Tablet dabei?«

»Klar.« Er zog es aus der Fototasche.

»Danke, ich muss mich mal aktualisieren.«

Das Web verriet mir, dass es noch keine neue offizielle Stellungnahme zu den Morden in Pisano gab. Allerdings ergingen sich die Boulevardblätter und Privatsender in originellen Spekulationen. Hatte Steuerberater Mahler Geld seiner Mandanten veruntreut? Waren die Mandanten Mafiabosse, die sich gerächt hatten? War Mahler in den Ankauf von Steuer-CDs aus der Schweiz verwickelt? Oder war gar nicht Mahler, sondern der junge Israeli das Ziel der Mörder gewesen? Al Kaida oder Hamas?

Ich war gespannt, was Kleist uns zu erzählen hatte.

Ich gab Wayne sein Tablet zurück und ging zum Tresen, hinter dem zwei Empfangsdamen residierten. Ich suchte mir die mit der schöneren Frisur aus, sie erinnerte an ein Erntedankgesteck der letzten Saison.

»Do you speak German?«, fragte ich in geschliffenem Englisch.

»Wie kann ich Ihnen helfen?« Die andere Dame erstickte meinen Versuch, polyglott zu scheinen, im Keim.

»Ich suche meine Freunde. Familie Mahler. Vier Personen. Wir wollten uns hier in diesem Hotel treffen, aber ich kann sie auf dem Handy nicht erreichen.«

»Mahler?« Die Mädels schauten sich vielsagend an und tuschelten auf Italienisch. Ich verstand nur die Worte polizia und assassino.

»Sie müssen die Polizei fragen.«

»Polizei?«, fragte ich, die Verwirrte spielend.

»Ja, die Polizei. Die Familie ist nicht mehr in Stresa.«

»Sind sie schon abgereist? Und was hat die Polizei damit zu tun?«

»Das müssen Sie die Polizei fragen.«

Ich kehrte zu Pöppelbaum zurück. »Die netten Damen sagen nichts«, berichtete ich.

»Das war nicht zu überhören«, meinte er. »Guck mal!« Er reichte mir seine Kamera. »Dieser Herr hier hat sich sehr dafür interessiert, was du zu fragen hattest.«

Im Display erschien ein älterer Mann mit weißem, halblangem Haar, zerfurchtem Gesicht, kantigem Kinn und Sonnenbrille.

»Wer ist das?«

»Ein Hotelgast – vermute ich. Er blieb stehen und bekam große Ohren, als du den Namen Mahler nanntest.«

»Hm. Vielleicht ist er ein Bulle, der hier im Hotel nach Hinweisen sucht.«

»Oder er ist der Mörder!«

»Bestimmt!«, lachte ich. »Wir sind gerade mal drei Stunden in Italien und der Mörder läuft uns gleich über den Weg. Und wir haben sogar sein Foto.«

»Er sieht jedenfalls nicht aus wie ein harmloser Tourist«, beharrte Wayne. »Eher wie ein amerikanischer Geheimagent oder Auftragskiller.«

»Das ist ein neugieriger Opa aus Deutschland, der auf seine alten Tage Anschluss sucht«, meinte ich.

»Das könnte sein! Als du dich umgedreht hast, ist er ganz schnell im Fahrstuhl verschwunden.«

»Vermutlich bin ich nicht sein Typ«, grinste ich. »Wir werden ihn morgen bestimmt beim Frühstück sehen. Lass uns an die Bar gehen. Wir sind in Italien und haben noch keinen Wein getrunken.«

»Ein Skandal«, nickte Pöppelbaum. »Wenn dein Kerl anrückt, bist du wenigstens in guter Stimmung.«

»Er ist nicht mein Kerl«, widersprach ich. »Wir sind nur gute Freunde.«

»Ja, und die Erde ist eine Scheibe.«

Wir platzierten uns so, dass wir den Eingang im Blick hatten. Der Verkehr auf der Straße ließ nach, die letzten Touristenbusse luden ihre Gäste aus und die Schiffe lagen leer im Wasser.

»Ich hab einen Riesenhunger«, stellte Wayne fest.

»Ich auch.«

»Nebenan ist ein schönes Restaurant.«

»Kleist müsste jeden Augenblick hier sein.«

Ich hatte recht. Im nächsten Moment stoppte ein Polizeiwagen direkt vor dem Hoteleingang. Kleist entstieg ihm, redete noch ein paar Worte mit dem Fahrer und trat durch die Tür ins Foyer. Das Mädel an der Rezeption fiel aus seinem Phlegma und reichte Kleist einen Schlüssel.

»Der wohnt ja auch hier«, wunderte sich Wayne.

»Warum soll er nicht so schlau sein wie wir«, gab ich zurück und rutschte vom Barhocker.

»Maria!« Kleist hatte mich entdeckt.

Ich spürte eine jähe Freude. Er küsste mich auf die Wange und begrüßte Pöppelbaum.

Italienisches Essen und Hunger am langen Arm

Auf unserem kleinen Erkundungsgang durch die Straßen musterte ich die Speisekarten diverser Restaurants und Trattorien. Hoffentlich kannten sich die Betreiber mit dem Würzen ihrer Speisen so gut aus wie mit dem Pfeffern der Preise. Eine halbe Stunde später saßen wir vor einem Restaurant auf harten Stühlen und studierten die mehrsprachig angebotenen Gerichte. Eine Liveband machte sich spielbereit. Auf Plakaten war zu lesen, dass in Stresa gerade ein Musikfestival stattfand. Die ersten Klänge irischer Volksmusik waren zu hören.

Kleist wirkte heiter und entspannt. Panamahut und Leinenhemd standen ihm gut und manch wohlwollender weiblicher Blick blieb an ihm haften.

Wir bestellten Pasta-Variationen, Salat und Vino de la Casa. Eine Unterhaltung war nicht möglich. Die Musik übertönte jeden Satz. Kleist und ich kommunizierten mit Blicken, Wayne verdrehte die Augen, widmete sich dem Rotwein und der Begutachtung der weiblichen Touristenschaft. Endlich packte die Band ihre Instrumente wieder ein.

»Ich möchte gern etwas mit euch besprechen«, kam Kleist schnell zum Punkt. »Hört mir einfach zu und sagt dann eure Meinung.«

Das ist ja eine ganz neue Taktik, dachte ich und nahm einen Schluck Wein.

»Ich bin nach Italien abgeordnet worden, um die hiesigen Kollegen zu unterstützen. Ich informiere sie über die Ermittlungen in Deutschland. Umgekehrt sollen mir die Italiener Einblick geben in das, was sie herausfinden, damit wir in Deutschland weiterkommen. Ich habe allerdings den Eindruck, dass die mich am langen Arm verhungern lassen.«

»Wie kommst du darauf?«

»Sie haben mir eine Dolmetscherin zur Verfügung gestellt, die gleichzeitig Polizistin ist. Zuerst klappte es ganz gut mit uns. Ich war dabei, als die Hotelzimmer der Opfer untersucht wurden, man stellte mir die Unterlagen der Spurensicherung zur Verfügung und zeigte mir den Tatort. Alle waren freundlich und zuvorkommend. Seit heute Morgen ist das anders.«

»Wie meinst du das?«

»Die Dolmetscherin übersetzt nicht mehr korrekt. Man hat mir ein sehr wichtiges Detail vorenthalten, das für die Aufklärung des Falles von erheblicher Bedeutung sein könnte.«

»Wie kannst du beurteilen, dass die Übersetzerin schlampt?«, wollte ich wissen.

»Ich kann Italienisch.«

»Das hast du nicht gesagt?«

»Wenn man der Wahrheit auf der Spur ist, sollte man nicht zu viel von sich selbst preisgeben«, grinste der Hauptkommissar. »So kann man seine Gegner in Sicherheit wiegen.«

»Du siehst die italienischen Kollegen als Gegner?«

»Anfangs nicht, jetzt schon. Bei David Cohn, einem der Opfer, wurde bei der Obduktion ein USB-Stick gefunden. Er hat ihn kurz vor seiner Ermordung verschluckt. Ich bekam mit, wie die Dolmetscherin angewiesen wurde, mir davon nichts zu sagen.«

»Das ist ja ein Ding!«

»David Cohn war Journalist. Er wollte sich hier in Italien mit jemandem treffen. Er erkundigte sich an der Rezeption nach einem bestimmten Hotel in Meina. Doch man konnte ihm nicht helfen, denn er geriet an einen Hotelangestellten, der aus dem Kosovo stammt.«

»Wo ist Meina?«

»Das ist ein kleiner Ort ein paar Kilometer von hier entfernt.«

»Was weißt du noch über David Cohn?«

»Nicht viel. Er war der Neffe von Frau Mahler und zu Besuch bei seinen Verwandten. Im Netz findest du einige Artikel, die er geschrieben hat. Meist historische Sachen, Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit, Probleme des Zionismus …«

»Er ist Israeli. Vielleicht ist die Tat politisch motiviert«, sinnierte ich. »Kaltblütige Hinrichtung im Wald, ein Journalist, der an einer Geschichte arbeitet, die ihm so wichtig ist, dass er im Angesicht des Todes seine Informationen verschluckt, weil er sie weitergeben oder sogar retten will …«

»Bisschen theatralisch, Grappa-Baby!«, mischte sich Wayne ein.

»Der ganze Fall ist hochtheatralisch. Genau so eine Geschichte habe ich mir mal wieder gewünscht.« Ich nahm noch einen Schluck Wein. »Was ist eigentlich mit dem toten Radfahrer?«

»Es ist immer noch nicht bekannt, wer er ist. Die Kollegen arbeiten die Vermisstenfälle ab. Der Mann hatte keinerlei Papiere bei sich. Sein Fahrrad ist von deutscher Herkunft. Vielleicht war er einfach ein Tourist. Wenn er allein reiste, können Wochen vergehen, bis sein Verschwinden auffällt.«

»Und wie können wir dir nun helfen?«

Kleist überlegte kurz und sagte dann: »Schreib einen Artikel und stell ihn online.«

»Das hab ich sowieso vor.«

»Diese Provinzkollegen hier sind überfordert. Außerdem traue ich ihnen nicht. Die Ermittlungen sollten von Interpol oder dem Bundeskriminalamt geführt werden.«

»Und wie kriegen wir das hin? Was müsste in dem Artikel stehen?«

»Du hast aus einer sicheren Quelle von dem USB-Stick erfahren und stellst den Behörden unbequeme Fragen, wie es sich für eine brave investigative Journalistin gehört.«

Gegen Mitternacht war der Artikel fertig.

Fünffachmord am Lago Maggiore –
Was verschweigen die Behörden?

Aus Italien berichtet unsere Reporterin Maria Grappa

Blutbad in Italien: Fünf Menschen wurden in einem Wald brutal hingerichtet. Vier von ihnen sind identifiziert: Norbert und Elise M., 56 und 50 Jahre alt, ihre Tochter Melanie (23) und David C., ein 29-jähriger Verwandter der Familie aus Israel. Der ebenfalls ermordete Radfahrer konnte noch nicht identifiziert werden. Die Ermittler gehen davon aus, dass es sich um ein Zufallsopfer handelt; dass er getötet wurde, um ihn als Zeugen des Massakers auszuschalten.

Erste Recherchen unserer Zeitung in Italien ergaben: David C., von Beruf politischer Journalist, arbeitete an einem brisanten Enthüllungsbericht. Galt der Anschlag nicht der Familie, sondern ihm? Wurden seine Verwandten und der Radfahrer nur hingerichtet, um das wahre Motiv der schrecklichen Tat zu vertuschen?

Informationen aus dem internen Kreis der Ermittler nähren diese Spekulation: Bei der Obduktion wurde ein USB-Stick mit Daten entdeckt, den David C. unmittelbar vor seinem Tod verschluckt hat. Die italienischen Behörden haben eine Nachrichtensperre verhängt.

Ich versandte den Artikel und schrieb noch ein paar Zeilen dazu, die an Schnack gerichtet waren:

Lieber Kollege, alles läuft wie vorgesehen. Haben Kontakt zu italienischen Behörden. Weiterer Bericht folgt.

Grüße aus Italien,

Grappa

Eine italienische Versuchung taucht auf

Am nächsten Morgen legte ich Kleist den Artikel vor. Er las gründlich und runzelte einige Male die Stirn.

»Was ist?«, fragte ich.

»Die werden natürlich ahnen, dass du die Informationen von mir hast. Aber egal. Vielleicht kommen dafür die Profis zum Zuge.«

»Und du? Bist du dann bei den Ermittlungen nicht außen vor?«

»Nein. Ich habe gute Verbindungen zum BKA. Die Kollegen warten darauf, dass sie sich offiziell einschalten können.«

»Wirst du keinen Ärger kriegen?«

»Das stehe ich durch. Die Polizei in Italien ist leicht chaotisch organisiert. Im Moment ist die zivile Staatspolizei zuständig, die Polizia di Stato

»Ich dachte immer, die heißen Carabinieri

»Die gibt es auch, ja. Sie unterstehen allerdings dem Verteidigungsministerium und versehen nach Weisung des Innenministeriums Polizeidienst. Die dritte Polizei ist die Guardia di Finanza, eine militärisch organisierte Finanz- und Zollpolizei.«

»Hauptsache, die Mafia behält den Überblick und weiß, wen sie wann bestechen muss«, grinste ich und breitete meine Straßenkarten aus. »Zeigst du mir, wo der Tatort ist?«

Kleist wählte eine Karte mit detaillierter Darstellung der Gegend und machte ein Kreuz neben einer als Weg gekennzeichneten Linie. »Da hast du die Stelle. Diese Seitenstraße führt zu einer Baumschule.«

Es klopfte an der Zimmertür. Pöppelbaum wollte mich zum Frühstück abholen und machte große Augen, als er Kleist auf meinem Bett sitzen sah.

»Störe ich?«

»Nicht mehr als sonst.«

»Guck nicht so«, fuhr ich den Bluthund an. »Herr Dr. Kleist ist dienstlich hier. Außerdem ist er vollständig bekleidet – wie du unschwer erkennen kannst.«

»Stimmt«, grinste er. »Und du auch.«

»Eben.«

»Nach dem Frühstück muss ich Schnack kontaktieren. Ich brauche die Fotos vom Hotel und eins vom See.«

»Kein Problem. Ich würde allerdings gern auch eins der Hotelzimmer ablichten, in denen die Mahlers logiert haben.« Der Bluthund blickte Hilfe suchend zu Kleist.

»Die Etage ist noch nicht freigegeben«, erklärte der. »Und die drei Zimmer sind versiegelt.«

»Fürs Erste reichen die Bilder, die du schon gemacht hast«, entschied ich. »Nachher fahren wir zum Tatort. Oder haben die Italiener den kompletten Wald abgesperrt?«

»So viel Absperrband besitzen die Kollegen nicht«, lächelte Kleist.

Im Frühstücksraum plünderte eine Touristenhorde das Buffet. Die älteren Herrschaften hatten wohl eine Ausflugstour vor sich, denn sie schmierten sich Berge von Butterbroten und nahmen jedes Stückchen Obst und alle gekochten Eier an sich.

Das Hotelpersonal schaute leicht düpiert.

»Das ist hier jeden Morgen so«, kommentierte Kleist amüsiert. »Das Imperium schlägt zurück.«

»Bei den Tarifen in den Gaststätten kein Wunder«, entgegnete ich. »Eine echte Hochpreisgegend.«

»Der Lago ist ein uraltes Touristengebiet. Man hat hier jahrzehntelange Erfahrung mit der Ausbeutung von Gästen. Da hinten können wir uns niederlassen.« Kleist deutete auf einen Tisch, der schon halb vom schmutzigen Geschirr befreit worden war.

Wir setzten uns. Durch das Glasfenster waren Straße, Schiffsanlegestelle und See zu beobachten.

»Wow!«, rief Wayne. Er hatten den Platz mir gegenüber und etwas entdeckt, was sich in meinem Rücken abspielte.

Ich drehte mich um. Ein Polizeiwagen hatte am Straßenrand gestoppt und zwei lange weibliche Beine in hochhackigen Pumps schwangen sich vom Beifahrersitz aufs Straßenpflaster. Es folgten ein enger, kurzer Rock, eine weiße Bluse und eine Uniformjacke.

»O nein!«, stöhnte Kleist. »Da ist sie schon. Und ich hab noch nicht mal das erste Kännchen Kaffee genossen.«

Jetzt stand die Frau auf der Straße, strich sich den Rock glatt, knöpfte die Uniformjacke zu – so gut es über der üppigen Oberweite ging. Auf eine Uniformmütze hatte sie verzichtet. Wahrscheinlich wollte sie ihre schwarze Lockenpracht nicht verdecken.

»Wer ist das?«, fragte ich, eine Spur zu scharf.

»Meine Dolmetscherin. Ich hab dir doch von ihr erzählt.«

»Das ist ja ein Hammergeschoss!«, begeisterte sich Wayne. »Bei uns in Bierstadt sehen die Polizistinnen irgendwie anders aus.«

Er hob die Kamera, schnalzte mit der Zunge und drückte auf den Auslöser.

»Was will diese Frau hier?«

»Sie holt mich ab – eine halbe Stunde zu früh. Ich werde euch als Freunde aus Deutschland vorstellen. Dass ihr Journalisten seid, muss sie nicht wissen.«

»Hat sie einen Namen?«

»Auch das. Sie heißt Maronetti. Giaconda Maronetti«, sagte Kleist. »Aber ich darf Condi zu ihr sagen.«

Die Männer grinsten sich eins. Ich kam nicht dazu zurückzuballern, denn die Dolmetscherin hatte uns entdeckt und steuerte bereits den Tisch an.

»Buon giorno, Signore Kleist«, flötete sie. »Haben Sie gut geschlafen?«

»Alles ist wunderbar, Condi«, gab er zuckersüß zurück, sprang auf, gab ihr die Hand und zog einen vierten Stuhl heran. Sie setzte sich und beäugte uns neugierig.

»Frau Maronetti ist eine Kollegin von der Polizia«, begann Kleist. »Im Moment ist sie gleichzeitig meine Dolmetscherin. Mein Italienisch ist leider ungenügend.«

»Und wir sind Freunde von Herrn Kleist«, kam ich ihm zuvor. »Gute Freunde. Maria und Wayne. Wir haben uns gerade über den Mordfall unterhalten. Das ist ja eine entsetzliche Geschichte. Dass so etwas in dieser himmlischen Landschaft geschehen kann. Eigentlich undenkbar.«

Ich schwatzte weiter, um Condi von meiner Harmlosigkeit zu überzeugen. Doch das war nicht nötig. Sie hatte sowieso nur Augen für meinen Hauptkommissar. Auch Waynes Dackelblick schien sie nicht zu bemerken.

Ach was, dachte ich, du bist zu alt, um eifersüchtig zu sein. Kümmere dich um deine Arbeit, kläre den Fall und fahr wieder nach Hause.

Condi hielt die Tasse mit abgewinkeltem kleinem Finger. Ihre Nägel hatten betonte weiße Schaufelspitzen. French Manicure hieß diese Art des Nageldesigns. Tussenlook.

»Wir müssen dann los.« Kleist rückte seinen Stuhl zurecht und stand auf. »Termin in der Kriminaltechnik. Die Untersuchung des Wagens, in dem die Familie gefunden wurde, dürfte abgeschlossen sein.«

Die Tusse nickte bestätigend.

Sekunden später marschierten die beiden aus dem Frühstücksraum.

Wayne schaute ihnen nach. »Guck mal, Grappa, sie trägt einen Stringtanga! Mag dein Freund so was?«

Tatsächlich zeichnete sich unter dem engen Rock alles ab.

»Meine Unterbekleidung war noch nicht Thema in unseren Gesprächen«, antwortete ich. »Solche Hosen sind übrigens absolut unbequem.«

Wandern im Wald und weinen bei Walen

In der nächsten halben Stunde sichteten wir in meinem Zimmer Waynes Fotos.

»Hier ist noch ein nettes Bild von deinem Kleist mit dieser Condi. Unterzeile: Der Leitende Hauptkommissar der Kripo mit seiner ständigen Begleitung Condi Sarotti.«

»Maronetti. Und dieses Foto schickst du nicht an die Redaktion.«

Er prustete los und ich warf ihm einen warnenden Blick zu. »Übertreib’s nicht mit der Häme, mein Freund!«

»Aye, aye, Madam. Und nun ab in den Wald.«

Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben – hatte Joseph von Eichendorff gedichtet. Nicht, dass ich angesichts tiefer Wälder romantisch werde, doch dieser hier hatte einen besonderen Charme. Eichen, Buchen, Fichten und andere Laubbäume, Farne, Moose und Ilex. Sie hatten sich im Laufe der Jahrzehnte miteinander arrangiert und ausreichend Lücken gelassen, sodass auch die Nachwuchslaubbäume Licht bekamen. Die Straße war neu geteert und wir kamen gut voran.

Wayne hielt die Straßenkarte, aber er war hoffnungslos überfordert.

»Wayne – du warst wohl nie ein Pfadfinder.«

»Gib doch einfach den Begriff Tatort ins Navi ein«, scherzte Wayne.

»Du bist mal wieder ungeheuer witzig. Schau lieber nach Reifenspuren. Die Bullen waren sicher nicht nur mit einem Fahrzeug hier. Ich muss mich auf die Straße konzentrieren.«

Im Rückspiegel erschien ein großer weißer Transporter, auf dem eine große Sonnenblume prangte. Er fuhr dicht auf und ließ das Fernlicht aufblitzen.

»Verdammter Rüpel«, schimpfte ich. »Mich scheuchst du nicht!«

Wayne hielt den Arm aus dem Cabrio und zeigte seinen Stinkefinger. Wütendes Hupen war die Quittung.

Um des lieben Friedens willen stoppte ich dann doch in einer Bucht und der Transporter zog an uns vorbei. Auf der Seite sah man noch mehr bunte Blümchen, und auf der Rückseite groß den Schriftzug Vivaio.

»Das ist bestimmt ein Ü-Wagen«, meinte Wayne. »Vivaio klingt wie Liveübertragung.«

»Gib mal die Karte«, verlangte ich.

Wayne war in seinem Männerstolz verletzt, rückte sie trotzdem heraus. Ich grübelte über dem Straßenverlauf, konnte jedoch nicht rekonstruieren, wo wir waren.

»Du hättest den Verlauf der Straße mit den Kurven auf der Karte vergleichen können, dann wüsstest du, wo wir sind. Jetzt müssen wir zurück runter an den See und das noch mal richtig machen.«

Wayne lenkte ab: »Warum ist es so ruhig hier? Und so schön?« Er atmete tief und betrachtete verzückt die Baumkronen.

»Weil wir im Wald sind. Und der hat die Menschen schon immer fasziniert. Diese Faszination findet übrigens in Geschichten und Gedichten ihren Niederschlag.«

»Das erklärt aber nicht, warum der Wald uns Menschen so fasziniert.«

»Weil der Mensch trotz der Zivilisation ein Naturwesen ist. Ich mag Wälder auch, aber in Tränen ausbrechen muss ich bei etwas anderem.«

»Du?«

»Ja, ich.«

»Erzähl!«

Sollte ich mich so entblößen? Ja. Und der Tatort würde nicht weglaufen.

»Ich hab mal Urlaub in Madagaskar gemacht. Und plötzlich tauchte im Meer ein Rudel Wale auf. Ich war wie vom Donner gerührt. Sie spielten miteinander, umkreisten sich, tauchten auf und ab – ein unglaubliches Schauspiel. Und das war kein Fernsehen, sondern echtes Leben. Dann kam der Augenblick, als die Schwanzflosse sich aus dem Wasser erhob und wieder im Meer verschwand – mit unfassbarer Eleganz! Ich war so gebannt, dass ich zu weinen begann.«

»Ich hab so was bisher leider nur in der Glotze gesehen. Aber ich kann mir vorstellen, wie schön das ist.«

»Und was ist der Moment, der dich zu Tränen rührt?«, fragte ich.

»Der Zug der Kraniche im Herbst«, antwortete Wayne versonnen. »Sie schreien im Flug und bilden ein nach unten offenes Dreieck. Der Führungsvogel an der Spitze lässt sich, wenn er erschöpft ist, nach hinten fallen, und ein anderer übernimmt seinen Job. Dieses Bild am Himmel und diese archaischen Schreie – da läuft es mir kalt den Rücken hinunter. Und ich weine.«

Ein Eichelhäher landete über uns in einer Buche. Er hüpfte auf dem Zweig hin und her, als wollte er auf sich aufmerksam machen.

In diesem Augenblick klingelte mein Handy. Der Ton wirkte total deplatziert. Der Eichelhäher ließ einen Klecks auf den Kühler meines Wagens fallen und flüchtete keckernd.

»Hallo?«

»Hier Susi. Grappa?«

»Ja, klar.«

»Da hat jemand für dich angerufen. Ein Herr Fellner. Er will dich dringend sprechen wegen dieser Morde in Italien. Darf ich ihm deine Handynummer geben?«

»Was will er denn genau?«

»Keine Ahnung. Er hat deinen Artikel in der Onlineausgabe gelesen und sagt, es sei wichtig.«

»Gib ihm meine Nummer! Hast du seine notiert?«

»Nö. Sollte ich?«

Ich raufte mir in Gedanken die Haare.

»Er will wieder anrufen«, behauptete sie, »in fünf Minuten.«

»Dann gib ihm meine Nummer und schreib seine auf!«

»Susi glänzt mal wieder vor Intelligenz«, muffelte ich, während ich sie wegdrückte, doch Pöppelbaum reagierte nicht. Er war im Naturrausch und knipste ein Bild nach dem anderen.

»Ich glaub’s nicht, Grappa«, flüsterte er plötzlich. »Dreh dich mal langsam um.«

Ich tat es und blickte in die Augen eines Wildschweins. Schnell betätigte ich die elektrischen Fensterheber.

»Ich versuch, näher ranzukommen.«

»Das lässt du sein!«, befahl ich. »Diese Viecher können saugefährlich werden!«

Zum Glück verschwand das Schwein in dem Moment wieder im Wald.

»Wenn du die Tierwelt entdecken willst, mach einen Vorbereitungskurs im Zoo«, riet ich.

»Ist ja gut. Was ist denn nun?«

»Ich warte auf einen Anruf.«

Der erfolgte ein paar Sekunden später. Der Mann stellte sich als Fabian Fellner vor und behauptete, mit David Cohn befreundet gewesen zu sein.

»Ich habe Ihren Artikel gesehen, Frau Grappa«, erklärte er.

»Mein Beileid. Was Ihrem Freund passiert ist, ist schrecklich. Was möchten Sie von mir, Herr Fellner?«

»Ich glaube, ich kann Ihnen helfen.«

»Und wie?«

»Ich weiß, warum David in Italien war.«

»Oh. Das klingt wirklich interessant. Ich höre.«

»Er hat Material über das Hotel Meina gesammelt.«

»Mh. Ein Hotel?« Ich verstand nur Bahnhof.

»Haben Sie jemals vom Massaker am Lago Maggiore gehört? Im September 1943.«

»Leider nein.«

»Mitglieder der ›Leibstandarte-SS Adolf Hitler‹ haben damals insgesamt fast sechzig jüdische Flüchtlinge ermordet und sie im See versenkt. Auch Verwandte von David Cohn waren darunter. Zuvor hielten sie sich in einem Hotel in Meina auf, das einem türkischen Juden gehörte. Von dort wollten sie in die Schweiz reisen oder vielmehr flüchten. An dieser Story war David dran.«

»Und darum sollen die Mahlers umgebracht worden sein? Wer sollte jemanden wegen einer so alten Sache töten? Das ist doch siebzig Jahre her. Selbst wenn Cohn etwas herausbekommen hat, was noch nicht bekannt war … die Täter von damals leben doch bestimmt nicht mehr oder sind inzwischen uralt.«

»David hat etwas herausbekommen, was auch heute wichtig ist. Die Juden hatten damals ihren ganzen Besitz bei sich. Bevor sie Italien in Richtung Schweiz verlassen konnten beziehungsweise ermordet wurden, haben die SS-Leute sie ausgeraubt. Diese Tatsache ist nie wirklich erforscht worden.«

»David Cohns Vorfahren wurden erst bestohlen und dann getötet?«

»Ja. Das hat er mir zumindest erzählt und er war ganz aufgeregt. Er wollte sich alles zurückholen. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Und es ging nicht um eine kleine Geldsumme, sondern um ein Vermögen, das sich inzwischen vervielfacht habe – so seine Worte.«

»Waren die Cohns denn so reich?«

»Ja, das waren sie. Samuel Cohn war Diamantenhändler in Saloniki. Die Diamanten, die er mit auf die Flucht genommen hatte, sind nie gefunden worden.«

»Dann hatte David also eine Spur?«

»So hab ich ihn verstanden.«

»Eine Spur, die nach Italien führte?«

Fabian Fellner verneinte. »Nach Italien ist er gefahren, weil er an den Anfang der Geschichte zurückwollte, und die beginnt in jenem Hotel.«

»Wir sollten uns treffen«, schlug ich vor. »Und Sie sollten eine Aussage machen – bei der Polizei. Die sucht nach Motiven für den Mord. Diese Geschichte, die Sie mir da erzählen, könnte doch sehr hilfreich sein.«

Er versprach, darüber nachzudenken. Wir verabredeten, dass ich mich melden würde, sobald ich zurück in Bierstadt war. Ich speicherte Fellners Telefonnummer.

Pöppelbaum hatte mir gespannt zugehört. Ich erzählte ihm, was ich erfahren hatte.

»Grappa, die Story ist der Burner. Mein Rücken ist nur noch Gänsehaut.«

»Und ich hab weiche Knie«, gestand ich. »Da will jemand verhindern, dass rauskommt, dass sein Vermögen aus der Ermordung unschuldiger Menschen stammt. Cohn wollte sich die Diamanten zurückholen!«

»Aber seitdem sind siebzig Jahre vergangen!«

»Auch Mörder haben Nachkommen und Erben«, sagte ich. »An die müssen wir uns halten.«

Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander. Der Wald erschien mir plötzlich dunkler, das Vogelzwitschern matter und der Wind schärfer.

»Ich hab Angst, Grappa.«

»Ich auch. Aber da müssen wir durch.«

Ein Wildschwein auf zwei Beinen

Wir kehrten nicht um, sondern fuhren langsam weiter. An einer Abzweigung stand ein Schild mit der Aufschrift Vivaio.

»Wayne?« Ich hielt an und zeigte auf das Schild.

»Ja?«

»Hast du schon mal einen Wegweiser mit der Aufschrift Liveübertragung gesehen?«

»Moment, ich habe auf dem iPhone ein Wörterbuch … O je, das heißt Baumschule.«

Mit einem gemurmelten »Bingo« bog ich in die Straße ein.

Bald verwandelte sich die Straße in einen unbefestigten Waldweg mit vielen Reifenspuren. Der Transporter war nirgends zu sehen.

»Hier beginnt die Absperrung.«

Ich parkte mein Auto so, dass ein normales Fahrzeug noch vorbeifahren konnte.

»Wie hat es der Mörder bloß geschafft, die Mahlers zu dieser gottverlassenen Stelle zu locken?«, wunderte ich mich.

»Vielleicht hat er sie entführt und gezwungen, hierher zu fahren«, entgegnete Wayne. »Mit einer Waffe an der Schläfe hast du keine Wahl.«

Wenig später standen wir vor einem zusammengesteckten Baustellenzaun aus Drahtgeflecht.

»Das ist ja ziemlich öde hier«, maulte Wayne, nachdem er das Gelände geprüft hatte. »Nur ein Stück Waldlichtung mit Büschen.«

»Hattest du erwartet, dass die Toten hier noch rumliegen?«

»Das nicht, aber …«

Ein Rascheln in unseren Rücken ließ uns verstummen. Da war jemand!

»Die Wildsau ist zurück«, raunte Wayne und stellte sich hinter mich.

»Los! Mach den Zaun auf, wir müssen uns schützen.«

»Aber …«

»Nichts aber! Denkst du, ich hab Lust, von einem Wildschwein erlegt zu werden?«

Der Bluthund rüttelte am Zaun, entriegelte ihn ohne Mühe und schob ihn so weit zur Seite, dass wir in die abgesperrte Zone gelangen konnten. Wir versteckten uns hinter einem breit gewachsenen Ilex und starrten in die Richtung, aus der die Geräusche gekommen waren. Waynes Kamera war schussbereit.

»Das ist kein Wildschwein«, flüsterte ich. »Es sei denn, es läuft auf zwei Beinen.«

Ein Mann kam in Sicht. Er suchte den Boden ab und war so konzentriert bei der Sache, dass er uns nicht bemerkte.

»Das ist der Typ aus dem Hotel«, zischte Wayne und betätigte seinen Knipsapparat.

»Welcher Typ?«, fragte ich.

»Na, der im Aufzug verschwunden ist, als du dich an der Rezeption nach den Mahlers erkundigt hast.«

»Bist du sicher?«

Der Kerl hatte eine Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen.

Klick, Klick. Die Kamera machte Bilder.

Plötzlich hielt der Mann inne und streckte seine Nase in die Luft wie ein Hund, der Witterung aufnimmt. Dann verschwand er aus unserem Blickfeld. Kurz darauf ertönte das wütende Knattern eines Mopeds oder Motorrads durch die Bäume.

»Mach noch ein paar Fotos und dann lass uns verschwinden«, schlug ich vor. »Mir ist unheimlich zumute.«

Pöppelbaum nickte.

Ich deutete auf eine eingedrückte Stelle im Boden.

»Hier muss der Wagen gestanden haben, in dem die Leichen gefunden wurden. Schau mal!« Ich hob eine gummiartige Masse vom Boden auf. »Das ist Silikonmasse, die die Bullen bei der Spurensicherung verwenden.«

Wayne fotografierte die Stelle aus verschiedenen Perspektiven.

Ich suchte derweil das Gelände nach weiteren Fotomotiven ab. Neben einer Eiche entdeckte ich einen großen, schwarzen Fleck. Etwas war in den Boden eingesickert. Wayne stand schon neben mir.

»Blut«, meinte er und betätigte den Auslöser. »Hier haben die Mörder den Radfahrer erledigt. Arme Socke! Da fährst du mit dem Mountainbike durch einen Wald, denkst an nichts Böses und plötzlich wirst du einfach so abgeknallt.«

»Lass uns abhauen«, flüsterte ich. »Wir stehen hier wie auf dem Präsentierteller.«

Zurück im Hotel schauten wir auf die Homepage des Bierstädter Tageblattes. Mein Artikel prangte auf der ersten Seite. Einige Leserinnen und Leser hatten Kommentare hinterlassen. Von tiefer Betroffenheit bis zu hanebüchenen Mutmaßungen – alles war dabei. Der Mord an fünf Menschen ließ die Fantasie der Leser aprilfrische Farben spucken.

Chefredakteur Schnack erfreute mich mit einer Mail: Gut gemacht, Frau Kollegin. Erwarte weiteren Bericht in Bälde.

Den sollte er bekommen.

Ich brannte darauf, mit Kleist zu reden. Doch er hatte sein Handy abgestellt. Wahrscheinlich war er noch in Begleitung der italienischen Kollegen und konnte sowieso nicht offen sprechen.

»Ich hab Hunger«, klagte Wayne. Wir saßen in der Bar des Hotels, die nachmittags Kaffee und Kuchen anbot.

»Nimm dir doch ein Stück Streuselkuchen«, riet ich. »Der sieht so schön deutsch aus.«

»Nein danke. Ich will keine Staublunge bekommen.«

Ein Mann trat zum Kuchenbuffet. Jetzt erkannte ich ihn auch. Die Schirmmütze baumelte an seinem Gürtel.

Pöppelbaum sah mich vielsagend an. Ich stand auf und trat neben den Unbekannten. Der versuchte gerade, ein Stück von dem Streusel auf seinen Teller zu bugsieren. Ich griff an ihm vorbei zu dem Behälter mit den Kuchengabeln und rempelte ihn leicht an.

»Scusa!«, lächelte ich.

»Non fa niente«, murmelte er.

»Lecker!«, strahlte ich. »Mögen Sie den auch so gern?«

Erst jetzt nahm er mich wahr. Seine wässrigen blauen Augen scannten mein Gesicht. Hatte er uns im Wald bemerkt? Nein, das konnte nicht sein. Er erinnerte sich aber bestimmt, mich an der Rezeption gesehen zu haben, als ich mich nach den Mahlers erkundigte.

»Ich bin kein Kuchenfreund«, antwortete er. »Aber die Restaurants haben noch alle zu.«

»Wohnen Sie auch in diesem Hotel?«

Sein Blick wurde wachsam. »Man kann Kuchen essen, ohne hier zu wohnen«, antwortete er kühl.

»Aber Sie machen hier Urlaub?«

Nun hatte er die Nase voll. Abrupt drehte er ab – den Kuchenteller in der Hand.

Wayne hatte mit langen Ohren zugehört.

»Der hält dich für eine mittelalterliche Touristin auf Männerfang«, griente er.

»Das macht nichts.«

Der Mann drehte uns den Rücken zu. Mit einer Hand führte er den knochentrockenen Streusel zum Mund, mit der anderen blätterte er in der Blöd-Zeitung.

»Komischer Typ«, murmelte ich. »Mit dem stimmt was nicht. Ich hätte nicht übel Lust, ihn nach den Mahlers zu fragen und ihm zu sagen, dass wir Journalisten sind. Aber irgendwas warnt mich.«

»Wir brauchen mehr Informationen«, meinte Wayne. »Solange wir nicht wissen, wen David Cohn gejagt hat, sollten wir vorsichtig sein.«

»Du hast recht«, seufzte ich. »Lass uns eine Runde durchs Dorf drehen und etwas Herzhaftes essen. Und morgen fahren wir nach Meina.«

Ein verschwundenes Hotel

Bis nach Meina waren es knapp siebzehn Kilometer. Die Straße führte direkt am Ufer des Lago Maggiore entlang. Heute hatte ich Pöppelbaum ans Steuer gelassen. Ich hatte schlecht geschlafen, weil ich gestern nichts mehr von Kleist gehört hatte. Sein Handy war abgeschaltet und er hatte sein Zimmer nicht benutzt, wie ich heute Morgen erfahren hatte. Musste ich mir Sorgen machen? Nein. Kleist war ein erfahrener Polizist und mit allen Wassern gewaschen.

Vor uns quälten sich kleinere Lkw über die Straße. Anhalten war nicht möglich, denn die Fahrbahn war schmal. Rechts ragten die Berge hoch, links glänzte das Wasser. In den Fels hatten Bewohner Unterstände gesprengt, in denen sie Fahrzeuge unterbrachten.

Mein Handy gab einen Ton von sich. Eine SMS: Bin in Mailand, alles gut. Melde mich. F.

Ich atmete auf. »Kleist ist in Mailand«, erklärte ich Wayne. »Er wird sich melden.«

»Dann kannst du ja jetzt deine Leichenbittermiene fallen lassen, Grappa«, meinte er. »In drei Kilometern sind wir da. Wo fangen wir mit der Suche an?«

»Der Ort ist nicht groß und das Hotel liegt oder lag direkt am See. Ich habe ein altes Foto im Netz gefunden. Notfalls fragen wir bei der Touristeninformation.«

Auf einem großen Parkplatz vor einer Bootsanlegestelle hielten wir. Hier war der Blick auf den See besonders schön. Das gegenüberliegende Ufer bildete eine sanfte, leicht verschwommene Linie, ferne Gebäude schmiegten sich ans blaue Wasser oder ins Grün der Berge.

Alte Bäume, Bänke am Ufer, eine Art Kiosk mit kleiner Gartenrestauration.

Ein Polizeiwagen stoppte und ein uniformierter Gesetzeshüter stieg aus.

»Komm, den fragen wir!«

Pöppelbaum folgte mir. Ich sprach den Polizisten auf Englisch an, doch diese Sprache beherrschte er noch weniger als ich. Ich grub in meiner sprachlichen Fantasie und konstruierte drei Begriffe, von denen ich glaubte, sie würden einem Italiener verständlich sein. Hotel, Nazismo, Assassinio. Das reichte. Seine Miene wurde sehr freundlich und er sprach mit großen Gesten in einem sehr melodischen Italienisch auf uns ein. Die einzelnen Wörter konnten wir nicht verstehen, aber aus dem Zusammenhang zwischen Gestus und Suada wurde dennoch eine Menge klar. Das Hotel hatte genau an dieser Stelle gestanden und er wusste, dass darin Juden gelebt hatten, die später ermordet worden waren. Am Ende wies er auf ein großes Bauschild am Straßenrand.

Ich las Hotel Victoria und der Rest erschloss sich mir irgendwie. Beim Wort demolizione wurde mir alles klar: Das Grand Hotel Victoria gab es nicht mehr. Demolizione – demoliert, und zwar schon vor einigen Jahren.

Immerhin hatten wir die Stelle gefunden, an der das Massaker stattgefunden hatte. Wir standen auf historischem Boden.

Doch der Ort hatte sich in den siebzig Jahren verändert. Es gab eine Tankstelle, den Parkplatz, ein Computergeschäft, dann diese kleine Bar. Auf der anderen Straßenseite – genau gegenüber dem ehemaligen Hotel – befand sich eine Villa namens Eden mit einem verborgenen Garten, aus dem verwitterte Steinfiguren auf den See blickten. 1943 – schon da hatte diese Villa dort gestanden. Hatten deren damalige Bewohner mitbekommen, was sich schräg gegenüber abspielte?

Das Grundstück, auf dem sich das Grand Hotel Victoria erhoben hatte, war eingeebnet worden. Aber nun bemerkten wir einige wenige Überbleibsel der Bausubstanz und der Garteneinrichtung: mehrere Tonscherben von Blumenkübeln, ein Stück Geländer, neben dem ein Weg zu einem Bootssteg führte. Es war aus Metall, mit Jugendstilornamentik geschmückt und rostete vor sich hin. Die kleinen Steinsäulen, die von den Abrissbaggern nicht zerstört worden waren, trugen merkwürdige Verzierungen. Verwittert und kaum noch zu identifizieren, aber ich erkannte eine speiende Teufelsfratze, wie ich sie häufig als Schmuck an gotischen Kathedralen gesehen hatte, einen Bacchus, der weinselig die Augen verdrehte, und eine schöne, sanfte Frau mit geschlossenen Lidern.

Ich legte meine Hand auf das Geländer und schauderte. Vielleicht hatte auch ein todgeweihter jüdischer Flüchtling genau diese Stelle berührt.

Im ehemaligen Garten waren die großen, fächerigen Palmen, die überall in dieser Gegend wuchsen, abgehackt worden. Doch rund um die Stümpfe entstand neues Leben. Viele Minipalmen gaben sich Mühe, an Höhe zu gewinnen. Ich holte mein Schweizer Messer aus der Tasche und grub eine der Pflanzen aus.

Wayne beobachtete mich. Er ahnte, was in mir vorging, und sparte sich eine spöttische Bemerkung.

»Guck mal, das Kellergewölbe existiert noch.« Er winkte mich zu einer Stelle, die mit einem festen Zaun besonders gut gesichert war.

Ja, da ging es in die Tiefe. Die Kellerdecke war großflächig eingebrochen und wir blickten auf ein aus Ziegelsteinen gemauertes Kreuzgewölbe, leer geräumt und dem Verfall ausgesetzt. Getränkedosen und Plastiktüten lagen auf dem Boden.

Ich blickte zum See. Das leicht plätschernde Wasser, die sich spiegelnde Sonne auf der blanken Fläche und der sanfte Wind. Hatten die Opfer von vor siebzig Jahren gespürt, dass sie ein grausames Ende finden würden, wenn sie von hier aus auf den See blickten? Oder beherrschte sie die Hoffnung, dass doch noch alles gut werden würde?

»Ich hab alles im Kasten«, teilte mir Wayne mit. »Wir könnten eine Reportage mit dem Titel Der Ort des Grauens heute komplett bebildern. Ein Wohlfühlausflug ist das nicht heute. Ich hab verdammt schreckliche Bilder im Kopf.«

»Nicht nur du. Die Nazis haben hier unfassbar gewütet, ich habe mich gestern im Netz noch ein wenig schlaugemacht. Nicht nur in Meina, sondern in vielen Dörfern am Lago. Der Begriff Massaker am Lago Maggiore ist den geschichtlich Interessierten durchaus bekannt.«

»Das steht aber in keinem Reiseführer«, stellte Wayne fest.

»Nee. Wieso auch? Es passt nicht in die Sommerfrische. Die Deutschen, die hier Urlaub machen, haben vielleicht Väter, die hier gemordet haben. Auch die Einheimischen waren damals nicht alle unschuldig. Die haben die Juden an die Nazis verraten.«

»Nach dem Krieg fanden doch jede Menge Prozesse statt«, sagte Wayne. »Wurden die Offiziere nicht zur Rechenschaft gezogen?«

»Doch, es gab einen Mordprozess. 1968 gegen fünf Offiziere der ›Leibstandarte-SS Adolf Hitler‹. Die Anklage lautete auf Mord, begangen in grausamer Weise und aus niedrigen Beweggründen sowie Rassenhass. Nach sechzig Verhandlungstagen fiel das Urteil: drei Mal lebenslange Haft für die Hauptschuldigen.«

»Wenigstens etwas.«

»Falsch. Der Bundesgerichtshof hob die Urteile zwei Jahre später auf. Wegen Verjährung. Die Angeklagten wurden freigelassen.«

Unterwegs zurück nach Stresa kehrten wir in einer Trattoria ein. Während wir auf die Pasta warteten, sichteten wir Waynes Fotos.

»Sehr gut«, lobte ich. »Du hast den richtigen Blick auf den See erwischt. Das marode Geländer, dahinter der See mit dem Ausflugsdampfer. Gestern und heute. Tod und Leben. Und diese hellgrünen Babypalmen zwischen Scherben und Steinschutt – sehr aussagekräftig.«

Mein Handy meldete sich.

»Wo seid ihr?«, fragte Kleist.

Ich erklärte es ihm.

»Du weißt also davon?«, sagte er.

»Vom Massaker am Lago Maggiore? Ja! Und woher weißt du davon? Wo bist du überhaupt? Was hast du gemacht?«

»Das ist eine längere Geschichte«, antwortete er. »In etwa drei Stunden könnte ich im Hotel sein.«

»Mit oder ohne weiblichen Wachhund?«

»Das Herz brach mir fast und ich schämte mich …«

»Dein Artikel hat seinen Zweck erfüllt«, berichtete Kleist zufrieden. Wir saßen auf der Terrasse unseres Hotels bei Milchkaffee und italienischen Dolci. »Die anderen Blätter und die Agenturen haben die Sache aufgegriffen und das Bundeskriminalamt hat daraufhin die Ermittlungen auf deutscher Seite an sich gezogen – Interpol koordiniert. Auch die Israelis werden mitmischen. Dass die Italiener die Existenz des USB-Sticks verschwiegen haben, schadet ihnen jetzt. Deshalb war ich in Mailand. Ich habe mich mit den Kollegen vom BKA und von Interpol besprochen.«

»Hat man eigentlich am Tatort keine Spuren sichern können, die auf den Täter zeigen?«

»Zigarettenkippen. Jemand hat da reichlich geraucht. Da ist DNA drauf, klar, aber womit sollen wir die vergleichen?«

»Und die Tatwaffen?«

»Es gibt nur eine. Alle fünf Opfer sind mit derselben Waffe erschossen worden. Aber auch das zeigt bisher ins Leere. Darum liegt der Schwerpunkt der Ermittlungen immer noch auf der Motivseite. Und deshalb ist der USB-Stick wohl sehr wichtig. Der einzige Anhaltspunkt ist die alte Massakergeschichte.«

»Weißt du inzwischen, was auf dem Stick ist?«

»Ja, alles, was Cohn über die Vorkommnisse im Jahr 1943 recherchiert hat. Besonders, was das Hotel in Meina betrifft. Er ist ein Nachfahre einiger der Opfer.«

»Ja, das hat Fabian Fellner mir auch erzählt.«

»Fellner? Wer ist denn das?«

Ich setzte Kleist ins Bild. »Wahrscheinlich geht es gar nicht um das Massaker allein, sondern auch um Geld. Viel Geld. Vermutlich Diamanten. Die Nazis haben die Juden ausgeraubt, bevor sie sie ermordet haben.«

»Ja«, nickte Kleist. »Cohn besaß einen Brief von seinem Großonkel Samuel Cohn. Er muss ihn kurz vor seiner Ermordung geschrieben haben. Dieser Brief war an seinen Bruder Leon in den USA gerichtet, Davids Großvater. Doch die Post ist nie abgeschickt worden, so hat es Cohn in seinen Aufzeichnungen notiert.«

»Woher hatte Cohn den Brief, wenn er nicht abgeschickt wurde?«, fragte Wayne.

»Das weiß ich noch nicht.«

»Hast du den Brief? Darf ich ihn lesen?«

»Ja. Auf dem Stick ist eine Fotodatei. Ich maile sie dir nachher. In dem Brief wird ein Name genannt. Steiger. Er war 1943 SS-Hauptsturmführer der ›Leibstandarte Adolf Hitler‹. Er hat den Cohns das Vermögen abgenommen, mit dem Versprechen, sie dafür in die neutrale Schweiz ausreisen zu lassen. Wenig später wurden dann Samuel Cohn, seine Frau, der Sohn und andere Gäste des Hotels am Ufer des Sees angespült. Man hatte sie mit Draht gefesselt, erschossen und im See versenkt – mit ziemlicher Sicherheit auf Anordnung Steigers.«

»Was ist aus dem SS-Mann geworden, diesem Steiger?«

»Er ist nie zur Rechenschaft gezogen worden, sondern einfach verschwunden. Das Simon Wiesenthal Center vermutet, dass er entweder rechtzeitig untertauchen konnte oder in den letzten Kriegstagen getötet wurde.«

Kleist schickte mir die Datei. Spät am Abend las ich den Brief, den Samuel Cohn kurz vor seinem Tod an seinen Bruder Leon geschrieben hatte:

Wir sind voller Sorge, denn wir wissen nicht, was passieren wird. Werden wir ausreisen können? Werden wir unsere Lieben je wiedersehen? Meine liebe Frau Miriam ist krank vor Sorgen und Angst und ich kann ihr keinen Trost geben, denn auch ich bin hilflos. Man hat uns in diesem Hotel in einem Zimmer eingesperrt, zusammen mit dreizehn anderen Glaubensbrüdern. Ich habe verlangt, den kommandierenden Offizier Steiger zu sprechen. Als Antwort schlug mich ein Soldat ins Gesicht – und das im Beisein von Benjamin. Mein Herz brach und ich schämte mich.

Gestern wurde ich dann zum Verhör geholt. Ich war mit dem SS-Hauptsturmführer Steiger allein. Er versprach, uns in die Schweiz zu helfen – wir müssten aber dafür bezahlen. Ich war verzweifelt und verriet ihm, wo die Diamanten und die Kontonummern versteckt sind. Jetzt weiß ich, dass es ein Fehler war. Niemals wird uns dieser Steiger helfen. Wir sind verloren. Gott schütze dich, mein lieber Bruder.

Persilscheine und Zigarettenkippen

Als ich mich zum Frühstück begab, fühlte ich mich wie zerschlagen. Cohns verzweifelte Worte hatten mich kaum schlafen lassen. Ich habe ein solches Glück, dachte ich, nicht in diese schreckliche Zeit geboren worden zu sein.

Friedemann Kleist löffelte einen Obstsalat, Wayne gabelte den Speck vom Spiegelei.

»Wie siehst du denn aus, Grappa?«, rief er. »Warst du gestern Nacht noch ohne uns an der Bar?«

Ich setzte die Sonnenbrille auf. »Mir ist ganz elend zumute. Die Erde hier ist mit Blut getränkt und alle denken nur an Sonne, Ausflüge, Fressen und Saufen. Und als ob die Geschichte von damals nicht schon schlimm genug wäre – das Morden geht weiter und schon wieder sind Menschen jüdischer Abstammung betroffen – die Mahlers und David Cohn.«

»Trink erst mal einen Kaffee«, lächelte Kleist. »Du kannst das alles nicht ungeschehen machen.«

»Ich weiß. Aber ich kann darunter leiden. Und ich will darunter leiden. Vielleicht waren meine Vorfahren auch an solchen Taten beteiligt! Ich hab mich nie damit beschäftigt und weiß es deshalb nicht. Was war denn mit deinen Leuten vor siebzig Jahren, Wayne? Was haben die gemacht während des sogenannten Dritten Reiches?«

Der Bluthund guckte verblüfft. Ich ging zum Buffet und pickte zwei kleine Brötchen.

»Mein Opa war in Russland«, gestand Wayne, als ich wieder am Tisch saß. »Er hat oft nach ein paar Bier davon geredet. Dass alles gar nicht so schlimm gewesen sei, wie es heute dargestellt wird. Und wenn er noch mehr Schnäpse intus hatte, brüstete er sich damit, wie er’s den Russen gezeigt hat.«

»Na, siehst du.« Ich löffelte den Honig auf mein Brötchen. »Hat er dir auch erzählt, wie viele Feinde er erledigt hat?«

»Nein. Als Junge interessierte mich das nicht. Das waren für mich eher langweilige Geschichten.«

»Und wie war das in deiner erlauchten Familie, Herr Hauptkommissar?«

»Führst du gerade ein Entnazifizierungsverhör durch?«, kam es zurück.

»Nein, ich verteile keine Persilscheine, müsste diese Fragen aber dringend mal für meine eigene Familie klären. Also – wie haben sich die von Kleists während der Naziherrschaft verhalten?«

»Da wir eine große Sippe sind, haben sich manche schuldig gemacht, wieder andere haben ihr Fähnchen nach dem Wind gehängt und vom Regime profitiert. Aber es gab auch Kleists, die im Widerstand aktiv waren und hingerichtet wurden.«

»Wichtig ist für mich nur, dass ich niemandem etwas Böses antue«, meinte Wayne. »Ich bin nur für mich und meine Moral verantwortlich.«

»Es gibt nur individuelle und keine kollektive Schuld«, nickte ich. »Der Meinung bin ich ja auch. Aber man sollte sich bewusst machen, wie schnell die äußeren Umstände jemanden schuldig machen können. Schau dir die Leute hier an: Auch einige ihrer Vorfahren sind Täter, haben den Nazis verraten, wo sich Juden versteckt hatten. Siebentausend Juden wurden von Norditalien aus ins KZ gebracht, etwa achthundert haben überlebt.«

»Nicht so laut, Grappa!«, zischte Wayne. An den Nebentischen waren die Gespräche verstummt. Peinlich berührte Blicke trafen mich.

»Du hast vollkommen recht, Maria«, sprang mir Kleist zur Seite. »Doch das Leben ist weder schwarz noch weiß, sondern hat eine Menge Zwischentöne.« Sein Handy klingelte. »Moment! Ja. Ich verstehe. Einen Augenblick bitte, ich muss den Standort wechseln.«

Er erhob sich und verließ den Raum.

Wayne und ich schauten uns an. Irgendetwas sagte uns, dass etwas Entscheidendes geschehen war. Einfach abhauen konnte Kleist zum Glück nicht, sein Sakko hing noch über dem Stuhl.

»Ich muss noch mal nach Milano und dann zurück nach Deutschland«, teilte er uns mit und griff nach dem Jackett.

»Was ist passiert?«

»Der Radfahrer. Er war kein Zufallsopfer. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass er der Täter ist.«

»Wie kann er der Täter sein? Er ist doch tot wie die anderen. Das verstehe ich nicht. Kannst du mir das erklären?«

Er zögerte. »Geh bitte mit dem, was ich dir jetzt sage, verantwortlich um.«

»Das mache ich doch immer.«

Ich hörte ein Hüsteln. Dann: »Die Kippen. Es gibt ja diese eine Stelle im Wald, an der zahlreiche Zigarettenkippen gefunden wurden. Die DNA-Analyse hat ergeben, dass der Radfahrer sie geraucht hat, während er auf jemanden wartete. Vermutlich auf Cohn und die Mahlers. An der Hand des Mannes wurden außerdem Schmauchspuren entdeckt, er hat also geschossen.«

»Dann war da aber noch jemand«, schloss ich messerscharf. »Und zwar der, der den Radfahrer umgenietet hat.«

»Oder der Radfahrer war harmlos und wurde gezwungen zu schießen. Würdest du Zigarettenkippen mit deiner DNA an einem Tatort zurücklassen, wenn du vorhast, einen Mord zu begehen?«, mischte Wayne sich ein.

Kleist zog das Jackett an. »Da ist noch viel zu klären. Darum muss ich nach Mailand. Wir sehen uns in Bierstadt. Euch noch ein paar erfolgreiche Tage.« Er drückte mir einen Kuss auf die Wange und verschwand.

Abschied und Pärchenanalyse

Ich nahm mein Netbook und setzte mich in eine ruhige Ecke des Hotelgartens. Schnack wartete auf einen neuen Artikel.

Fünf Tote am Lago Maggiore –
Spuren führen in Nazivergangenheit

Aus Italien berichtet unsere Reporterin Maria Grappa

In dem Fall der fünf am Lago Maggiore erschossenen Menschen gibt es immer noch keine heiße Spur. Immerhin lichtet sich langsam das Dunkel über der Frage nach den Motiven für die Bluttat. Die Hinweise führen tief in die Vergangenheit, in das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte.

Vor siebzig Jahren schrieb Samuel C. einen Brief an seinen Bruder Leon in den USA. Samuel C., Diamantenhändler aus Saloniki, gehörte zu den siebentausend Juden, die vor den Nationalsozialisten in die Schweiz flüchten wollten und in Norditalien gefangen, ausgeraubt, gequält, deportiert und ermordet wurden. Die Leichen Samuel Cohns, seiner Frau Miriam und seines Sohnes Benjamin wurden am Ufer des Lago Maggiore angespült – wie die vieler jüdischer Flüchtlinge.

Ein Nachkomme der Familie, der Journalist David C., hatte begonnen, die Geschichte seiner Vorfahren zu dokumentieren. Er glaubte, eine Spur zu den Tätern von damals und zu ihren späteren Nutznießern gefunden zu haben. Denn: SS-Hauptsturmführer Steiger raubte Samuel C. ein Millionenvermögen in Diamanten. Steiger wurde für seine Taten nie zur Rechenschaft gezogen. Seit Kriegsende fehlt von ihm jede Spur.

David C. konnte seine Nachforschungen nicht mehr beenden: Er und drei Verwandte fielen unbekannten Mördern zum Opfer.

Das sollte zunächst reichen. Ich hängte die Ablichtung des Briefes, einige Fotos des alten Hotels Victoria und Pöppelbaums Bilder an: das Gelände am See mit dem alten, maroden Zaun, das Kellergewölbe, der ehemalige Garten mit den Palmschösslingen, zerbrochenen Tonscherben und Glassplittern.

Nachdem ich auf Senden geklickt hatte, rief ich Schnack an. Er überflog den Text und war zufrieden.

»Verfolgen die Behörden irgendeine heiße Spur?«

Sollte ich ihm erzählen, dass der Radfahrer kein Zufallsopfer, sondern vielleicht sogar der Mörder war? Nein, exklusive Informationen mussten richtig dosiert werden.

»Ich weiß nur, dass der aus Bierstadt entsandte Hauptkommissar Kleist sich in Mailand noch einmal mit den internationalen Polizeibehörden abstimmt und dann zurückkehrt nach Bierstadt.«

»Wäre es dann nicht sinnvoll, Frau Grappa, Sie würden das Spesenkonto der Zeitung nicht länger belasten?«

Das musste ja kommen. Ich spürte die Sonne auf meinen Wangen, beobachtete, wie sich das Wasser auf dem See kräuselte und schmeckte den italienischen Speisen nach.

»Nun gut, Kollege Pöppelbaum und ich werden noch eine Sache abklären. Morgen früh klemmen wir uns dann wieder hinters Steuer und fahren zurück.«

Den Rest des Tages überprüften der Bluthund und ich, ob das Wetter stabil blieb, ob der Blick auf den See von überall gleich schön war und ob die Baristi unterschiedliche Ausbildungsstandards absolviert hatten.

Am Abend feierten wir dann mit einem mehrgängigen Abendessen Abschied vom Lago Maggiore. Das Restaurant, das wir uns ausgesucht hatten, schien auf den ersten Blick keine Touristenneppbude zu sein, doch die Stühle wurden nach drei Minuten unbequem. Die Kellner ließen uns keine Minute Zeit, die Speisekarte zu studieren.

»Die haben es aber eilig«, wunderte sich Wayne.

»Ja, sie wollen uns schnell wieder loswerden«, bestätigte ich. »Die Geschäftsphilosophie geht so: Platz nehmen, aussuchen, bestellen, essen, trinken, bezahlen und ganz schnell Platz machen für die nächsten Gäste. Aber den Gefallen werden wir ihnen nicht tun. Wir haben heute Abend sehr viel Zeit.«

Langsam füllte sich der Laden. Wir schickten die Kellnerin zwei Mal weg, weil wir uns noch nicht für ein Essen entscheiden konnten, und wandten uns zunächst dem Brot zu.

Ich betrachtete die Gäste. Es war alles vertreten, was sich in den Touristenregionen der Welt herumtrieb. Die Proll-Pärchen: er mit offenem Hemd und Flokati, einer fetten Sonnenbrille, die nach Ray-Ban aussieht, aber nur von Bruno Zitroni ist. Sie Kaugummi kauend, Stilettos mit Strohblumen und dunkel geschminkte Augen, auf die man die Faust nicht mehr zu setzen braucht.

Die alten Ehepaare: Sie teilen sich eine Lesebrille. Er trägt rentnerbeige, sie altrosa. Sie schweigen viel und irgendwann kramt sie seine Herztabletten aus der Handtasche.

Die frischen Liebespaare: Sie bestellen viermal Brot, literweise Leitungswasser und einen Salat für zwei. Er hält die Hände unterm Tisch und sie kichert.

Ältere Damen auf der Suche: Sie sind betont gut drauf, wippen zur Musik, glotzen dem Kellner auf den Hintern, tragen Wickelkleider mit tiefem Ausschnitt. Altersflecken und Sommersprossen sind nicht voneinander zu unterscheiden.

Bleiben noch die suchenden älteren Herren: Sie haben überschminkte Säufernasen, schlecht sitzende Toupets und die Rolex-Uhr stammt vom Parkplatz. Kreuzt eine mutmaßliche Beute ihren Weg, zeigen sie unaufgefordert den BMW-Autoschlüssel.

»Dica, signora?« Die Kellnerin zückte erneut den Block.

Wir bestellten zwei Vorspeisen, Pasta und Lamm mit Rosmarin. Dazu Wein des Hauses und Mineralwasser.

Das Essen war viel besser als der Service, wir genossen es mit Muße. Von der gegenüberliegenden Bar klang Livemusik mit Sänger herüber. Die rote Sonne versank bei Capri im Meer, Santa Lucia und Zwei kleine Italiener – fein abgestimmt auf den Geschmack der Touristen, die in den Fünfzigerjahren jung gewesen waren.

»Wenn ich einmal reich wär, o je wi di wi di wi di wi di wi di wi di bum …«

Bei den ersten Tönen lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Auch Wayne zuckte.

»Ich hätte Zeit und könnte endlich zum Beten oft in die Synagoge gehn. Ein Ehrenplatz dort wäre mein schönster Lohn… Wenn ich einmal reich wär, o je wi di wi di wi di wi di wi di wi di bum …«

»Ein Musical über das Leben eines jüdischen Milchmanns. Wie passend«, meinte Wayne sarkastisch. »Ob der Sänger weiß, was hier vor siebzig Jahren passiert ist?«

»Ich glaube nicht«, entgegnete ich. »Und die Zuhörer auch nicht. Die würden sonst nicht mitsingen. So pervers ist keiner.«

Ordnung im Kopf, Blut im Boden

Wayne übernahm die geraden Strecken am Steuer, ich lenkte den Wagen über den Gotthardpass, der uns mit weiter Sicht und klarer Luft erfreute. Es war Sonntag und wir kamen gut voran. Nördlich des Schwarzwaldes verschwand die Sonne und hinter Frankfurt begann es zu regnen.

So ein Reisetag kann Ordnung schaffen im Kopf. Es gab einfach zu viel, das ich nicht wusste über die Zeit der Nazischreckensherrschaft.

»Würde so ein Typ wie Hitler heute noch eine politische Karriere machen?«, fragte Wayne. »Mit diesem dumpfen, abgrundtiefen Hass?«

»Das würde er sicher. Er hat doch immer noch genug Anhänger«, antwortete ich. »Denk mal an die Neonazis. Oder die Diktaturen in der arabischen Welt. Faschismus verschwindet nicht, er kommt dem Menschen und seinem Egoismus entgegen. Es ist doch schön, wenn man jemanden hat, dem man die Schuld für alles geben kann. Damals waren es in Deutschland vor allem die Juden, heute sind es für die Neu-Faschos einfach alle Ausländer.«

Am späten Nachmittag gossen wir uns in einer Raststätte mit Kaffee voll. Noch hundert Kilometer und Bierstadt würde uns wiederhaben.

»Du hast ganz müde Augen, Grappa«, sagte Wayne. »Lass mich die letzte Runde übernehmen. Das war schon ganz schön anstrengend da unten.«

»Ach, was«, wehrte ich ab. »War doch klasse, in so einer schönen Landschaft arbeiten zu dürfen.«

Frau Schmitz hat Probleme und wird gewarnt

Als ich den Laden betrat, räumte Anneliese Schmitz gerade die warmen Brötchen vom Blech in den Korb. Donka, die angehende Bäckereifachverkäuferin mit bulgarischem Migrationshintergrund, schaute interessiert zu.

»Da bin ich wieder«, strahlte ich.

Die Bäckerin putzte die Mehlhände am Kittel ab. »Frau Grappa! Wie isses?«

»Muss.«

»Und sonst?«

»Ich brauch ein deutsches Frühstück.«

»Dann geh mal durch, ich komm gleich. Donka, mach ma fettich.«

Im Bistro lag das Tageblatt von heute. Mein Artikel prangte im überregionalen Teil. Auch der Brief von Samuel Cohn wurde gezeigt. Berthold Schnack war sogar selbst noch aktiv geworden. Er hatte einige geschichtliche Zusammenhänge zusammengetragen und sie in einem Infokasten auf die Seite gesetzt.

Ich las:

Politische Lage in Italien vor siebzig Jahren

1940 tritt das faschistische Italien unter Mussolini an der Seite Nazideutschlands in den Zweiten Weltkrieg ein. Als Italien 1941 Deutschland bei seinem Angriffskrieg gegen die UdSSR unterstützt, ist die Stimmung in den italienischen Truppen gespalten. Auch in der Zivilbevölkerung wächst der Unmut gegen den Krieg. Italien wird durch die Alliierten bombardiert. Im Mai 1943 kapitulieren die deutsch-italienischen Truppen in Afrika, im Juni landen die Alliierten auf Sizilien und setzen auf das italienische Festland über. Die Macht Mussolinis schwindet, er wird abgesetzt und gefangen genommen. Die Resistenza, der Widerstand gegen den Faschismus in Italien, beginnt am 8. September 1943. Doch die Nazis schlagen zurück und besetzen Italien. Wenig später beginnt die Verfolgung der jüdischen Flüchtlinge mit dem Massaker am Lago Maggiore durch Soldaten der ›Leibstandarte-SS Adolf Hitler‹.

Frau Schmitz brachte Kaffee, Rührei, Käse, Gürkchen und zwei Brötchen.

»Traurige Geschichte«, sagte sie mit Blick auf die Zeitung. »Was die Menschen sich alles so antun. Und wie hängt das alles mit den Morden an dieser Familie zusammen?«

»Die Juden wurden ausgeraubt, bevor sie ermordet wurden. Und David Cohn, eins der aktuellen Mordopfer, hatte eine Spur, wo das Vermögen seiner Vorfahren geblieben sein könnte. Mehr weiß ich leider noch nicht.«

»Ist er auch wieder zurück?«, lächelte die Bäckersfrau.

»Wen meinst du denn, Frau Schmitz?«, fragte ich pro forma zurück.

»Na, den Herrn Kleist!«

»Oh, der kommt heute oder morgen. Mit dem Flieger«, antwortete ich.

»Ich würde den Herr Kleist gern mal um Rat fragen. Ich hab da inzwischen echte Probleme, da, wo ich jetzt wohne.«

»Wieder deine Nachbarn?«

»Ja. Das geht nicht so weiter.«

Die Ladentür bimmelte.

»Moment, Kundschaft! Bin gleich wieder bei dir.«

Einige Monate zuvor hatte Anneliese Schmitz mich mit der Nachricht überrascht, dass sie sich ein kleines Haus im Negerdorf gekauft hatte. Die Gegend war mir bekannt, sie hatte Bergbau-Tradition und ich hatte häufig über die Siedlung berichtet. Dort reihten sich Zechenhäuser aneinander, voneinander geteilt durch Gärten, Zäune und Schuppen. Kumpel lebten in dem Viertel schon lange nicht mehr, denn alle Zechen waren dicht. Der Name Negerdorf aber hatte sich gehalten. Er spielte auf die Hautfarbe der Bergleute an, wenn sie nach Schichtende wieder ans Tageslicht kamen. Die nächstgelegene Zeche verfügte nicht über Waschkauen und die Arbeiter mussten ihren Heimweg ungewaschen – also schwarz – antreten.

Frau Schmitz’ Häuschen war klein, aber fein. Der Vorbesitzer hatte es immer wieder renoviert. Es gab ein Bad, eine Ölheizung und Fenster, die alle Anforderungen an moderne Wärmedämmung erfüllten. Der Garten war verwinkelt mit mannshohen Büschen, Gemüsebeeten, Kräuterschnecke und einer Terrasse aus Naturholz. Eine prima Sache für den letzten Lebensabschnitt.

Wenn da nicht die Nachbarn wären. Ein Ehepaar mittleren Alters, allein lebend, mit viel Zeit, sich um das Leben von Anneliese Schmitz zu kümmern und es ihr möglichst schwer zu machen.

Die Geschichte begann mit zwei Ginstern, die den Nachbarn zu nah an ihrem Grundstück standen. Die Sache war nur, dass die Grundstücksgrenze schwer festzustellen war, weil es keinen Zaun gab. Also ließ Frau Schmitz einen errichten, um Klarheit zu schaffen. Nach dem Gesetz muss der Nachbar mitwirken und die Hälfte bezahlen. Die Nachbarn wollten das nicht – Frau Schmitz klagte und bekam Recht.

Der Sieg vor dem Amtsgericht war die Initialzündung für weitere Attacken: Die Nachbarn warfen die Exkremente der Katzen, die sich in den Gärten herumtrieben, auf Frau Schmitz’ Terrasse, Gartenabfall landete vor der Haustür und tote Mäuse und Vögel im Briefkasten – natürlich nur, wenn die Bäckerin nicht zu Hause war.

Anneliese Schmitz hatte die Kundschaft zu Ende bedient und setzte sich zu mir.

»Was ist los?«, fragte ich. »Piesacken sie dich wieder?«

»Ja, aber sie tun es nicht selbst. Die schicken jetzt andere.«

»Andere?«

Sie zog einen Umschlag aus ihrem Kittel, öffnete ihn und gab mir ein Foto. Es zeigte die Fassade des schmitzschen Hauses. Unter den beiden Fenstern im Erdgeschoss befanden sich Graffiti. Schlampe – war in großen roten Buchstaben zu lesen und darunter: Rotfront verrecke.

»Ich hab das inzwischen wegmachen lassen«, berichtete sie. »Aber das tut ja was kosten. Frau Grappa, wenn das weiter so geht, dann kann ich da nicht wohnen bleiben.«

»Bis du dir sicher, dass es deine Nachbarn waren? Rotfront verrecke – das ist ein Neonazispruch.«

»Wer soll es denn sonst sein?«

»Frau Schmitz, ich weiß es nicht und ich versteh es nicht«, antwortete ich. »Der Spruch mit der Rotfront hat Tradition und ist sogar verboten, soviel ich weiß. Politisch aktiv bist du nicht, oder?«

»Nein, ich bin nur bei der Bürgerinitiative dabei. Gesicht zeigen gegen Rechts. Ich hab da so ein Papier unterschrieben, das dem Oberbürgermeister überreicht werden soll.«

»Aha. Da kommen wir der Sache schon näher, Frau Schmitz. Du lebst in einem Stadtteil, in dem ein paar Rechtsradikale die Leute terrorisieren. SS-Zeichen auf Häusern und Autos, eingeschlagene Fenster bei Antifa-Leuten – darüber wird ja nun seit Monaten berichtet.«

»Und warum macht die Polizei nichts?«

»Sie fahren häufiger Streife«, sagte ich. »Auch das stand in der Zeitung.«

Ich dachte an die Naziverbrechen der Vergangenheit. Frau Schmitz’ Sorgen knüpften genau dort an – an den Anfängen. Noch immer gab es Typen, die aus der Geschichte nichts gelernt hatten. Zum Glück duldete unser Staat rechtsradikale Verbrechen nicht – zumindest sah das Gesetz es so vor. Dass Verfassungsschützer das Killerkommando Nationalsozialistischer Untergrund jahrelang »geschützt« hatten, stand allerdings noch auf einem anderen Blatt.

»Ich war auf der Wache und hab ’ne Anzeige gemacht«, berichtete die Bäckerin weiter. »Gegen unbekannt. Der Polizist hat die auch entgegengenommen. Und dann hab ich ihm noch von dem Ärger mit den Nachbarn erzählt. Und dann passierte etwas ganz Komisches.«

»Was Komisches?«

»Nachdem er den Namen dieser Stinkstiefel gehört hatte, sagte der Wachtmeister, dass ich vorsichtig sein soll. Aber warum, das sagte er nicht. Kannst du dir einen Reim darauf machen, Frau Grappa?«

Ich verneinte.

»Na siehste. Deshalb will ich den Herrn Kleist sprechen. Dass er mal nachguckt in den Akten, ob die Leute schon bekannt sind.«

Brauner Terror und Zahnpflege für Hunde

Ich hatte wenig Lust, mich mit Frau Schmitz’ Sorgen zu befassen, doch ich wollte sie auch nicht im Stich lassen. Fabian Fellner hatte aber Vorrang auf meiner To-do-Liste, er war der Einzige, der Kontakt zu David Cohn gehabt hatte und mir bekannt war. Außerdem musste ich dringend das Umfeld der Mahlers abklopfen. Waren sie in die Recherchen des israelischen Neffen eingeweiht?

Vor dem Verlagshaus tummelten sich die Kollegen, die vor der Redaktionskonferenz noch schnell eine Zigarette rauchen mussten. Traditionsgemäß kniff ich meine Nasenflügel zusammen, hielt die Luft an und ging schnell an ihnen vorbei.

»Unsere Grappa ist wieder da«, rief mir Simon Harras hinterher. »Aus dem Urlaub in Italien. Du bist ja gar nicht braun!«

Ich ließ meine Nase los. »Da unten war es braun genug«, entgegnete ich und verschwand im Fahrstuhl.

Auch in der Redaktionskonferenz waren die Neonaziumtriebe im Stadtteil Dorstfeld Thema. Die Lage dort hatte sich während meiner Abwesenheit verschärft.

Bärchen Biber, der sich allmählich von einem karrieresüchtigen Chefliebling zu einem ernsthaften Journalisten zu entwickeln schien, hatte von einer Bürgerinitiative Wind bekommen – es ging aber nicht um Gesicht zeigen gegen Rechts, sondern um die Soziale Alternative Dorstfeld.

»Klingt gut – aber nur auf den ersten Blick«, erläuterte Bärchen. »Auch die Ziele sind gar nicht so übel.«

Er griff zu einem Flugblatt und las vor: »Abschaffung des Mietwuchers für Studenten, Rentner und Sozialschwache, Stärkung der Polizei im Kampf gegen den steigenden Drogenhandel und die organisierte Kriminalität, Neuregelung der Asylpolitik im Regierungsbezirk Arnsberg. Da kann doch fast jeder zustimmen. Doch es gibt noch andere Ziele. Die zeigen sich in dem Blog und dem Gästebuch und in den Leseempfehlungen der Alternative. Die Themen sind hier: Überfremdung der Schulen, Forderung nach einer volksfreundlichen Politik – mit Volk sind natürlich nur die Deutschen gemeint. Volksfreundlich bedeutet: Abschiebung krimineller Ausländer, kurzer Prozess mit Kinderschändern und Ausweisung von Islamisten. Als bevorzugte Redner treten übrigens Parteifunktionäre der NPD auf.«

»Dann haben sich diese Leute jetzt organisiert«, stellte Simon Harras fest. »Bisher waren es ja nur Einzelne, die mit Sprühdosen und Flyern unterwegs waren und Ausländerjungs klatschten.«

Ich berichtete von dem Angriff auf Frau Schmitz und der Warnung des Polizisten.

»Ich fahr bei der Frau mal vorbei, Grappa«, kündigte Bärchen an. »Vielleicht ergibt sich daraus eine Story.«

»Sie glaubt, dass ihre direkten Nachbarn dahinterstecken. Mach ihr bitte keine Angst«, bat ich.

»Unsere Staatsmacht lässt sich ganz schön auf der Nase herumtanzen«, meinte Wayne Pöppelbaum. »Warum werden solche Gruppen nicht einfach verboten?«

»Weil wir in einem Rechtsstaat leben«, referierte Schnack. »Und das ist gut so. Und zu den Bürgerrechten gehört auch das Recht zur Gründung von Parteien und Vereinen, die Demonstrationsfreiheit, die Pressefreiheit und vieles mehr. Die parlamentarische Demokratie ist die beste Staatsform, die ich mir denken kann. Und davon dürfen auch die profitieren, die sie am liebsten abschaffen würden.«

»Ich finde die politische Anarchie besser«, krähte Bärchen Biber in Schnacks Vortrag hinein. »Keine Könige, keine Herrscher, auch keine vom Volk gewählten, jeder lebt mit jedem in Frieden und Freundschaft. Was kann es Schöneres geben?«

»Deine originelle Analyse der Anarchie ist wohl deiner Jugend und deiner Unwissenheit geschuldet«, blaffte Schnack ungehalten. »Anarchie führt zu Bombenlegerei und Unruhe. Lies die Beispiele im Geschichtsbuch nach, Carsten!«

»Wie auch immer«, mischte ich mich ein. »Die Geschichte hat Luft nach oben. Und der Mord an den Mahlers erst recht.«

»Richtig. Darüber reden wir gleich unter vier Augen.« Schnack verteilte die Tagesarbeit.

Dr. Margarete Wurbel-Simonis hatte vor einiger Zeit in die Pressestelle der Kölner Philharmonie wechseln wollen, doch die Sache kam anders: Die abendlichen Arbeitszeiten gefielen ihr nicht. Anderswo kam sie nicht unter, denn Journalistinnen über fünfzig mit dem Arbeitsschwerpunkt Kultur wurden nicht gerade gesucht. So hatten wir sie immer noch am Hals.

Heute wurde Wurbelchen anlässlich der Messe Hund und Pferd mit einem Bericht über die Zahnpflege bei Hunden betraut. Sie zuckte nicht mit der Wimper. Simon Harras sollte sich den BVB-Fan-Automaten am Flughafen anschauen, an dem sich die Fußballbegeisterten kurz vor Abflug mit lebenswichtigen Borussia-Devotionalien eindecken konnten. Die Volontäre hatten am Vorabend die Gastro-Safari rund um den Borsigplatz mitgemacht und bekamen den Auftrag, eine Reportage über die Fressorgie für die bunte Seite zu gestalten.

Nach der Konferenz folgte ich Schnack in sein Zimmer und bat ihn, mir mehr über die Familie Mahler zu erzählen.

»Mahler hatte sehr solvente Kunden. Er war nicht nur Steuerberater, sondern auch Wirtschaftsprüfer und in einigen Organisationen ehrenamtlich tätig.«

»Zu welcher Art Klientel gehören die Leute, die er beraten hat?«, fragte ich.

»Nun ja, ich bin einer davon, aber das sagt gar nichts. Er hat über seine Kunden nie gesprochen«, antwortete Schnack. »Durfte er ja auch nicht.«

»Keine kriminellen Geschäfte?«

Schnack verneinte sofort. »Mahler war seriös – da bin ich mir sicher.«

»Warum haben die Mahlers David Cohn nach Italien begleitet?«

»Norbert interessierte sich schon immer für die Geschichte seiner Familie. Wahrscheinlich wollte er dabei sein, wenn David die Orte besucht, an denen die gemeinsamen Vorfahren gestorben waren. In den letzten Monaten war er allerdings nachdenklicher als sonst. Ich kannte ihn und auch seine Frau als sehr gesellige Menschen, aber sie hatten sich etwas zurückgezogen. Eigentlich dachte ich, dass sie sich um Melanie sorgten. Sie hatte bisher wenig Glück mit Männern und steckte ständig in irgendwelchen Beziehungskatastrophen.«

»Hatten die Mahlers Probleme mit antisemitischen Anfeindungen?«

»Das weiß ich nicht. Davon haben weder Norbert noch Elise etwas gesagt oder angedeutet. Allerdings …«

»Ja?«

»Es kam mir seltsam vor, dass Norbert einmal davon sprach, dass er nur nach jüdischer Definition Jude sei. Sie kennen das ja sicher. Für die Orthodoxen ist es ganz klar: Wer aus dem Leib einer jüdischen Mutter kommt, ist Jude. Er selbst fühlte sich aber nicht als Jude, sondern als deutscher Atheist.«

»Ich verstehe. Gab es denn einen Grund, dieses Thema anzusprechen?«

»Nein. Darum hat mich die Bemerkung ja so verwundert. Es kam in Zusammenhang damit zur Sprache, dass der Neffe aus Israel erwartet wurde.«

Ich dachte nach. »Der Neffe. David Cohn. Machten Melanies Eltern sich vielleicht Sorgen, dass sich zwischen ihr und dem Neffen etwas entwickeln könnte?«

»Ich weiß nicht. Aber irgendetwas war nicht so, wie es sein sollte. Sie wirkten einfach nervös. Ich wollte Melanie noch anrufen und fragen, wie es ihr geht, hab es dann aber leider vergessen.«

»Hatten Sie ein gutes Verhältnis zu Ihrem Patenkind?«, fragte ich.

»Früher schon. In letzter Zeit war es etwas schwieriger. Der Kontakt zu ihr verflachte. Vor einem halben Jahr rief sie mich an, weil sie Hilfe erhoffte – sie wollte auch Journalistin werden. Ich konnte ihr ein Volontariat besorgen, aber dann trat sie die Stelle nicht an – was mich wiederum sehr enttäuschte.«

»Wussten Sie von der Reise an den Lago Maggiore?«

Schnack verneinte. »Norbert und Elise hatten sonst immer andere Urlaubsziele. Karibik, Kalifornien, Ibiza. Aber ein langweiliger See mit Kurkliniken und geriatrischen Einrichtungen? Sie machten sich regelmäßig lustig über mich, wenn ich mal in einem Wellnesshotel im Schwarzwald ausspannte. Und dass Melanie mitgefahren ist, hat mich noch mehr verwundert. Sie hat schon viele Jahre keinen Urlaub mehr mit ihren Eltern gemacht.«

»Ich würde gern ein paar Zeilen über den toten Radfahrer schreiben«, kündigte ich an. »Vierzig Zeilen reichen aus.«

Mein Chef nickte abwesend. »Norbert wollte in zwei Jahren kürzertreten. Er suchte bereits ein Haus in Frankreich. Und jetzt ist er tot. Immer noch unfassbar.«

Schnack schien der Tod der Mahlers wirklich an die Nieren zu gehen. Er tat mir fast leid.

Begegnung der dritten Art beim Italiener

Fabian Fellner meldete sich nicht auf dem Handy. Ich hinterließ eine Nachricht auf der Mailbox. Auch Kleist war nicht zu erreichen. Also machte ich mich an den Artikel. Ich zog mich in meine Einzelzelle zurück und sortierte meine Aufzeichnungen.

War der tote Radfahrer kein Opfer, sondern der Täter?

Neue Theorien zum Fünffachmord am Lago Maggiore: Die Ermittler haben Anhaltspunkte, die den unbekannten Mann auf dem Rad zu einem Verdächtigen machen. Er fuhr nicht zufällig am Tatort vorbei, an dem die Familie M. ermordet wurde, sondern er wartete auf sie: Die Spurensicherung fand zahlreiche Zigarettenkippen mit der DNA des Mannes. An seiner Hand wurden Schmauchspuren entdeckt. Er muss also geschossen haben. Wer ist dieser Mann? Was hat er mit der toten Familie und dem israelischen Journalisten zu tun?

Es klopfte. Stella steckte den Kopf durch die Tür. »Unten im Empfang wartet jemand auf dich.«

»Und wer?«

»Das hat er nicht gesagt.«

»Und fragen konntest du nicht?« Wann endlich wird diese Frau begreifen, was ihr Job ist?, dachte ich.

»Kannst ihn ja selbst fragen«, schnippte die Sekretärin. »Ich hab echt genug am Hals.«

»Ich war unterwegs, als Sie auf meine Mailbox gesprochen haben, und dachte, ich komme am besten gleich her«, verkündete Fabian Fellner, nachdem er sich vorgestellt hatte. »Schön, dass wir uns endlich treffen.«

Ich betrachtete ihn. Ein gut aussehender junger Mann, drahtig, offenbar durchtrainiert, mit wachem Blick und wirrem dunklem Haar.

»Lassen Sie uns woanders hingehen«, schlug ich vor. »Haben Sie Hunger? Ich lade Sie zum Essen ein.«

Hundert Meter vom Verlagshaus entfernt hatte eine Trattoria aufgemacht. Die Kollegen schwärmten von der Qualität der Speisen und dem Ambiente.

Hinter einer Galerie mediterraner Blumenkübel stand ein Tisch, der Ungestörtheit versprach. Mir fiel siedend heiß ein, dass ich die kleine Palme aus Meina dringend einpflanzen musste.

»Eine tragische Geschichte«, begann ich, nachdem wir Platz genommen hatten. »Woher kannten Sie David?«

»Wir haben uns über Melanie kennengelernt. Ich bin freier Journalist und beschäftige mich seit Jahren mit der Entwicklung der rechten Szene in Deutschland. Sie hat mir von ihrem Cousin in Israel erzählt und den Kontakt hergestellt. Per E-Mail.«

»Ich hab von Ihnen noch nie etwas gelesen«, gestand ich. »Auch im Netz ist kein Text zu finden. Wie kommt das?«

»Ich benutze das Pseudonym Holger Bruns«, antwortete Fellner. »Die Rechten haben mich mal zusammengeschlagen. Das muss ich nicht noch mal haben. Zumal die Polizei immer noch auf dem rechten Auge blind zu sein scheint.«

»Ich wundere mich, dass noch immer so viele Menschen anfällig sind für rechtes Gedankengut«, sagte ich. »Gerade wir Deutschen sollten es besser wissen.«

Der Kellner rückte an und wir bestellten Salat, Pasta und Wasser. Aus den Lautsprechern perlte klassische Harfenmusik. Die Stühle waren bequem – ein Segen für meinen Rücken. Der war noch leicht lädiert – die Stühle Marke Touristenquäler vom Lago hatten ihre Spuren hinterlassen.

»Faschistische Gedanken gibt es in jeder Gesellschaft«, meinte Fellner. »Vor ein paar Jahren war es allerdings noch einfacher, die Faschos zu benennen. Sie trugen ihre kackbraunen Hemden, ließen sich Glatzen scheren, steckten ihre Füße in Springerstiefel und grölten rassistische Parolen.«

»Stimmt. Heute sind sie nicht mehr ganz so laut und haben sich einen intellektuellen Überbau zugelegt.«

»Ja. Und sie greifen genau die Themen auf, die in unserer Gesellschaft kritisch diskutiert werden. Arbeitslosigkeit, Ausländerkriminalität, Armut und Zukunftsängste. Ihre Lösungen sind brutal einfach: raus mit den Schmarotzern, weg mit den Ausländern und alle Arbeitsplätze für Deutsche. Das kommt an.«

Der Salat war knackig frisch, das Knoblauchdressing duftete, der Mozzarella di bufalo war sämig und die Oliven glänzten schwarz. Merkwürdig, dass sich in unser Essen die ausländischen Zutaten eingeschlichen hatten, ohne dass jemand gleich von Überfremdung sprach. Oder essen Neonazis keine Pizza?

»Haben Sie ein Foto von David Cohn?«, fragte ich. »Ich würde gern wissen, wie er ausgesehen hat. Dann kann ich besser über ihn schreiben.«

Fabian schüttelte den Kopf. »Nein. Warum sollte ich ein Foto von ihm haben? Vermutlich gibt es in Israel Fotos, immerhin hatte David ja dort eine Familie. Oder vielleicht besitzen die Mahlers ein Familienalbum, in dem er eingeklebt ist. Fragen Sie doch mal bei der Polizei nach.«

»Gute Idee«, lächelte ich. »Das Bundeskriminalamt ist immer die beste Adresse für Journalisten.«

Er begriff die Ironie und grinste. Wir aßen schweigend die Pasta. Zweimal frische Ravioli mit Ricotta-Spinatfüllung, garniert mit gerösteten Pinienkernen und Salbeibutter. Die Harfe hatte ausgeperlt, nun ertönte Flötenmusik aus dem italienischen Barock.

Ich spülte mit dem Wasser die letzte Salbeibutter aus meinem Gaumen. »Was hat David herausbekommen? Was hat ihn das Leben gekostet?«

Fellner schob den Teller von sich. »Ich habe mir den Kopf zerbrochen. Habe mir jedes Gespräch mit ihm noch einmal ins Gedächtnis zurückgeholt, aber ich habe keine Idee.«

»Erzählen Sie einfach, worüber Sie geredet haben, vielleicht haben wir zusammen Erfolg! Er wollte seine Informationen retten, sonst hätte er den USB-Stick nicht verschluckt.«

»Aber da scheint nichts Relevantes drauf zu sein«, gab Fellner zu bedenken. »Ich habe mich gefragt, wie ich mich selbst verhalten hätte. Darf ich das mal eben durchspielen?«

»Nur los!«

»David ist an einer brandheißen Geschichte dran. Aus seinen Recherchen über die Familiengeschichte hat sich eine Spur ins Heute ergeben. Etwas, was einem unserer Zeitgenossen sehr wehtun würde, wenn es bekannt würde. Der Zeitgenosse bekommt Wind von Davids Recherchen und will eine Veröffentlichung verhindern. Er kauft sich einen Killer. Der Killer beobachtet David. Dann erfolgt die Reise nach Italien. Der Killer kriegt es irgendwie hin, sich mit David im Wald zu verabreden. Vielleicht hat er ihn mit angeblichen Informationen geködert. Er wartet dort auf ihn. Aber David kommt nicht allein, Mahlers sind dabei. Der Killer zieht die P8 und beginnt, ein Blutbad anzurichten.«

»Moment. P8? Wie kommen Sie darauf?«

»Gewöhnlich gut informierte Kreise«, grinste Fellner abwinkend.

»Keine Antwort ist auch eine Antwort. Vielen Dank.«

»Ich spinne das mal weiter. David weiß, er wird sterben und verschluckt den Stick, um wenigstens einen Hinweis zu geben, in welcher Richtung man suchen muss.«

»Das alles liegt ja irgendwie auf der Hand und ist nicht schwer auszudenken. Aber wie passt der Radfahrer dazu?«

»Er kam zufällig vorbei.«

»Eben nicht. Der Typ hat in dem Wald gewartet. Auf jemanden oder etwas. Vermutlich auf das Auto. Er hatte Schmauchspuren an der Hand und man hat zahlreiche Zigarettenkippen mit seinem genetischen Fingerabdruck gefunden. Diese Informationen werden morgen in der Zeitung stehen.«

Fellner war baff. »Dann war der Radfahrer der Killer? Und wer hat den Killer gekillt?«

Ich zuckte die Schultern. »Vielleicht der Mann, den wir Zeitgenosse genannt haben. Wenn der aber zu den Mördern von 1943 gehört hat, müsste er über neunzig sein.«

Wir bestellten zwei Espressi.

»Werden Sie den Fall journalistisch verwerten?«, fragte ich.

»Nein. Das überlasse ich den aktuellen Reportern. Holger Bruns ist ein politischer Journalist mit Tiefgang und Durchblick.«

Das saß. Plötzlich gefiel mir der Kollege gar nicht mehr so gut.

»Ich war erst einmal hier«, vernahm ich im nächsten Moment eine mir bekannte Stimme. »Und da war das Essen ganz vorzüglich.«

Ich guckte durch die Grünpflanze. Dr. Friedemann Kleist und – ja, sie war es wirklich! – Giaconda Maronetti. Was machte diese Tussi hier?

Ein inneres Grollen stieg in mir auf. Wozu brauchte er in Bierstadt eine Übersetzerin?

»Was ist? Sie machen ein Gesicht, als hätten Sie den Teufel persönlich gesehen«, fragte Fabian und guckte dorthin, wohin ich guckte.

Kleist und Condi hatten inzwischen Platz genommen. Die Italienerin trug keine Uniform mehr, was ihre Erscheinung nicht gerade unattraktiver machte.

»Nur ein Bekannter«, murmelte ich und rückte den Stuhl so, dass mein Gesicht von der Pflanze verdeckt war. »Und ich will ihm nicht gerne begegnen. Haben Sie eine Idee, wie wir hier rauskommen?«

Der Zufall half. Kleists Handy klingelte und er ging in den Vorraum zu den Toiletten. Condi saß mit dem Rücken zu uns. Bezahlen und nichts wie weg!

Wieder in der Redaktion, googelte ich Holger Bruns, den politischen Journalisten mit Tiefgang und Durchblick. In der Tat hatte er sich durch ausführliche Analysen zum Faschismus, Neofaschismus und zur Neonaziszene einen Namen gemacht. Er hatte in vielen linken, liberalen und demokratischen Zeitschriften veröffentlicht und war als Interviewpartner ausgesprochen beliebt. Er saß in Gutachtergremien und unterstützte mit seinen Kenntnissen politische Vereine und Verbände.

Nirgendwo war ein Foto von ihm zu finden, aber das ließ sich mit seiner Angst vor Angriffen erklären.

Er schien jede neonazistische Gruppe zu kennen und hatte vor Jahren ein Buch über die Verbrechen der SS während des Dritten Reiches geschrieben.

Ob SS-Hauptsturmführer Theodor Steiger auch darin erwähnt wurde? Leider war das Buch vergriffen. Aber ich stöberte es dennoch auf – ein Antiquar offerierte im Internet ein gebrauchtes. Ich bestellte das Buch und bat um Expresszustellung.

Bruns’ jüngste große Veröffentlichungen bezogen sich auf die Morde des Nationalsozialistischen Untergrunds.

Die neonazistischen Gefahren wurden viel zu lange verharmlost, ihre Strukturen, die sich im Laufe der Jahre verstärkten, von den Sicherheitsbehörden abgestritten. Die braune Szene wurde nie als politische Bewegung gesehen. Eine eklatante Fehleinschätzung, die in den Versäumnissen und Pannen bei den Ermittlungen rund um den NSU-Terror ihren traurigen Höhepunkt fand.

Ja, da hatte Fellner recht. Der Verfassungsschutz hatte die Zwickauer Terrorzelle zwar seit Jahren beobachtet, aber von den Morden nichts mitbekommen oder mitbekommen wollen.

Auch im Norden von Bierstadt hatte die Terrorzelle zugeschlagen. Ein türkischer Kioskbesitzer war durch mehrere Kopfschüsse hingerichtet worden. Ich war damals als Reporterin vor Ort gewesen: ein kleiner Laden in einer Straße, in der die Ausländerquote bei rund achtzig Prozent lag.

Zeugen sagten aus, dass die Mörder am helllichten Tag das Geschäft betraten, die Schüsse abgaben und dann ohne Eile verschwanden. Die Nachbarn glaubten an eine Schutzgelderpressungsgeschichte und unterstellten dem Opfer, in Drogengeschäfte verwickelt zu sein. Die Ermittlungen waren im Sand verlaufen. Jahre später fand man die Waffe, mit der der Mann und acht weitere Ausländer ermordet worden waren, bei der Terrorzelle aus Zwickau.

Ich las weiter. Alle Medien hatten von Fabian Fellner abgeschrieben, wenn es um Erklärungen zum ideologischen Überbau der Terrorzelle ging.

Irgendwann schweiften meine Gedanken ab. Ich sah Kleist vor mir, wie er der schönen Italienerin den Stuhl zurechtschob.

Ich wählte seine Büronummer, doch ich erreichte nur seine Vorzimmerdame. Genüsslich berichtete sie mir, dass der Herr Doktor sich den Rest des Tages freigenommen habe, um einer Kollegin aus Italien die Stadt zu zeigen.

»Frauchen, er hat gar nicht gebohrt!«

Nach einer relativ schlaflosen Nacht, die mir ständig Bilder von Kleist und Condi auf die Netzhaut projizierte, kehrte ich schon ziemlich früh bei Frau Schmitz ein. Sie hatte die Bäckerei gerade aufgeschlossen und die ersten Brötchen in den Ofen geschoben. Sie war guter Dinge, denn Bärchen Biber hatte sie am Vortag im Rahmen seiner Recherche zur Sozialen Alternative Dorstfeld aufgesucht und sich ihre Sorgen über die Nachbarn angehört.

»Ich mach erst mal ein richtig schönes Frühstück für uns zwei Hübschen, Frau Grappa«, meinte sie und schloss den Laden wieder ab. Sie seufzte. »Das Lehrmädchen kommt auch nie pünktlich.«

»Aber sonst klappt es doch gut mit der Kleinen, oder?«

»Sie ist freundlich zu den Kunden und lernt schnell«, räumte die Bäckerin ein. »Das ist ja schomma viel, wenn du dir überlegst, wo sie wechkommt.«

Ich nickte. Donka war eine Roma und ich hatte sie Frau Schmitz vermittelt – nach einer Recherche im Prostituiertenmilieu in der Nordstadt.

»Nur pünktlicher könnte sie sein …«, grummelte Frau Schmitz.

»Das wird schon noch«, besänftigte ich sie. »Machst du auch Rührei mit Schinken für uns?« Mein Magen knurrte.

»Na sicha.«

Sie verschwand. Ich griff zum Bierstädter Tageblatt. Mein Artikel über den mysteriösen Radfahrer war an prominenter Stelle abgedruckt. Bärchen Biber hatte die Recherche zur neuen Neonazigruppe noch nicht abgeschlossen, aber den Personaldezernenten der Stadt interviewt. Der hatte gerade einen interessanten Arbeitsgerichtsprozess durchzustehen: Der ehemalige Feuerwehrchef von Bierstadt war auf einer rechtsextremen Kundgebung gesichtet und fotografiert worden. Für einen Beamten, der sich der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verpflichtet hat, ein Unding. Der Mann war bei geringer Gehaltskürzung nach Hause geschickt worden und hatte dagegen geklagt. Er wolle der Stadt weiterhin als Beamter zur Verfügung stehen.

Die meiste Freude bei der Zeitungslektüre machte mir allerdings Margarete Wurbel-Simonis. Die Kulturredakteurin war neuerdings auch für Umwelt und Gesellschaft zuständig.

Bei guter Pflege: »Frauchen, er hat gar nicht gebohrt!«

Es ist unfassbar: Vier von fünf Hunden über drei Jahre haben ein krankes Zahnbett. Das schädigt langfristig die Zähne. Und die braucht der Bello – denn was für Menschen die Hände, sind für den Hund die Beißerchen. Im Zahnbelag sammeln sich Bakterien, die zu Zahnausfall führen können. Tierärzte empfehlen deshalb regelmäßiges Zähneputzen. Es gibt Hundezahnbürsten, die besonders weich sind, aber auch Kinderzahnbürsten sind brauchbar. Wichtig ist die Wahl der Hundezahnpasta, die im Zoofachhandel zu erhalten ist. Beispielsweise mit Leberwurstgeschmack.

Frau Schmitz schleppte das Tablett mit dem Frühstück heran. Das Leberwurstbrot ließ ich erst mal liegen.

»Dein junger Kollege hat alles aufgeschrieben, was ich gesagt habe«, erzählte Frau Schmitz. »Sach ma, Frau Grappa, stecken da wirklich Nazis dahinter und nicht mein Nachbar?«

»Die Katzenscheiße auf deiner Terrasse stammt bestimmt von dem netten Herrn, der neben dir wohnt«, entgegnete ich. »Aber der Satz Rotfront verrecke ist eindeutig politisch. Es gibt bei dir in Dorstfeld eine neue Gruppe. Die heißt Soziale Alternative. Und diese Leute versuchen, den Stadtteil zu übernehmen.«

»Übernehmen?«

»Ja, sie wollen die demokratisch gesinnten Bürger in Angst und Schrecken versetzen. Mit rechten Parolen und Gewaltaktionen. Die schreiben ja nicht nur Rotfront verrecke, sondern auch Ausländer raus und Tod für Kinderschänder. Und ab und zu ziehen sie los und verprügeln ein paar Ausländer. Mein Kollege versuchte, die Atmosphäre zu schildern, die in dem Stadtviertel herrscht.«

Jemand klopfte an die Ladentür. Donka. Sie hatte verweinte Augen und entschuldigte sich bei ihrer Chefin fürs Zuspätkommen.

»Was ist los, Mädchen?«, fragte Frau Schmitz.

»Mein Onkel war bei mir. Aus Bulgarien. Er will mich zurückholen.«

Das war keine gute Nachricht.

»Ist er dir bis hierher gefolgt?«, fragte ich.

»Nein. Ich konnte abhauen.«

»Hat er dich bedroht?«

Sie nickte.

»Wo ist dein Onkel jetzt?«

»Ich bin weggelaufen. Da war er noch in meiner Wohnung.«

Ich kramte mein Handy heraus und wählte die Nummer der Mission. Mit dieser Beratungsstelle für Prostituierte und Opfer von Menschenhandel hatte ich schon oft zu tun gehabt und sie hatte auch Donka geholfen, das Milieu zu verlassen.

»Wir werden den Mann durch die Polizei aus der Wohnung entfernen lassen«, kündigte die Sozialarbeiterin an. »Wir bezahlen die Miete. Der hat da nichts verloren.«

»Und Donka? Sie kann doch nicht dahin zurück. Der Onkel wird ihr auflauern.«

»Wir werden eine Lösung finden. Ich denke da an einen Platz in einer Wohngruppe.«

SS-Eddi kehrt zurück ins Rampenlicht

Am Mittag traf ich Bärchen Biber in der Kantine. Er mümmelte lustlos an einem Wiener Schnitzel und blätterte in einem Katalog mit der Aufschrift FernreisenDie große weite Welt erleben.

Ich stellte meinen Teller ab und nahm Platz. »Wo soll es denn hingehen? Ich könnte dir den Lago Maggiore empfehlen.«

»Nee, lass mal. Dazu bin ich zu jung. Ich will zum Nordlichthimmel der Lofoten«, verriet er. »Im November. Hört sich doch gut an, oder?«

Er las vor:

Die Inselgruppen der Vesteralen und der Lofoten gehören zu Europas letzten Naturparadiesen. Im Winter verzaubern Sie die einzigartigen Licht- und Naturschauspiele, während Sie die Ruhe am nördlichen Eismeer genießen. In der Region sorgt ein lokales Mikroklima für eine relativ geringe Wolkenbildung, sodass abseits künstlicher Lichtquellen die Wahrscheinlichkeit recht groß ist, das einzigartige Polarlicht zu erblicken.

»Ist immer gut, wenn einem ein Licht aufgeht«, entgegnete ich. »Mir wäre es zu kalt da oben. Was hast du in Dorstfeld rausbekommen? Wer steckt hinter der Sozialen Alternative?«

»Die nennen sich Autonome Nationalisten. Sie haben da sogar einen Treffpunkt, den sie Nationales Zentrum nennen.«

»Wieso gibt es so viele Gruppen? Da verliert man ja den Überblick.«

»Eben – genau das ist beabsichtigt. So ist es für die Behörden schwieriger, sie im Auge zu behalten«, antwortete Bärchen.

Er hatte den Kampf mit dem Wiener Schnitzel aufgegeben und stocherte in der Salatbeilage herum. »Wird einer dieser Klubs verboten, kriechen dessen Mitglieder beim nächsten unter. Ich finde die Stimmung in diesem Stadtteil übrigens sehr unangenehm. Überall lungern Typen rum, beobachten einen und man weiß nicht, ob sie zu den Guten oder den Bösen gehören. Man kann die nicht mehr unterscheiden. Die Autonomen Nationalisten treten wie eine Antifa-Gruppe auf und kleiden sich auch so … schwarze Windbreaker mit Kapuze oder Kapuzenpullover und Baseballkappen. Zur Krönung ein Palästinensertuch.«

»Hast du Namen?«

»Hm. Zum Beispiel SS-Eddi. Eddi Schaberl.«

»Ach, Gottchen, der alte Schmierlapp. Der muss doch schon auf die sechzig zugehen«, stöhnte ich. »Der hat noch Einfluss auf die Szene? Der hat doch so viele Vorstrafen und Bewährungsauflagen, dass er noch nicht mal bei Rot über die Ampel laufen darf, ohne dass man ihn einbuchtet.«

»Er lernt den dummen rechtsradikalen Nachwuchs an, also die, die sich nur prügeln wollen. Damit kennt er sich ja aus.«

Mir fiel etwas ein. »Sagt dir der Name Holger Bruns etwas?«

»Ja. Ein Journalist. Er hat viel über Neonazis geschrieben.«

»Und er war mit David Cohn befreundet. Wenn du Kontakt zu ihm brauchst, sag mir Bescheid. Bruns ist gerade in Bierstadt.«

»Danke, Grappa. Deine Frau Schmitz könnte übrigens recht haben.«

»Womit?«

»Dass ihre Nachbarn für die Schmierereien verantwortlich sind. Heinz und Gisela Golombeck gehören nämlich auch der Sozialen Alternative an. Die schmeißen nicht nur mit Katzenscheiße, die haben noch mehr auf Lager!«

Am Nachmittag erreichte ich endlich Kleist.

»Wann gibt es denn mal wieder eine nichtssagende Pressemitteilung?«, fragte ich.

»Heute.«

»Zu welchem Thema?«

»Zu der Tatwaffe. Die Kollegen haben sie in einem Steinbruch in der Nähe des Tatortes gefunden. Der oder die Täter haben sie dort entsorgt.«

»Es war eine P8, oder?«

»Woher weißt du das?«, fragte er – hörbar überrascht.

»Von Holger Bruns.«

»Wer ist das?«

»Ein Freund von David Cohn. Sein echter Name ist Fabian Fellner. Er schreibt unter dem Pseudonym Bruns.«

»Ach, der. Und du hast Kontakt zu ihm?«

Jetzt war ich verwirrt. »Ihr nicht?«

»Maria, denk doch mal mit! Warum hast du mir nicht von ihm erzählt?«

»Dass Fellner ein Bekannter von David Cohn ist, hab ich dir doch gesagt. Und dass er als Holger Bruns schreibt, weiß ich selbst erst seit Kurzem. Im Übrigen hab ich mehrfach versucht, dich zu erreichen. Frag deine Sekretärin. Sie sagte mir, dass du sehr beschäftigt seist.«

»Das bin ich auch.«

Ich dachte an Maronetti. Hatte er dem heißen Feger mehr gezeigt als die zweifelhaften Attraktionen von Bierstadt? Ich verdrängte den Film, den mir mein Kopf zeigen wollte.

»Wie komme ich an diesen Fellner oder Bruns heran?«, fragte Kleist.

»Keine Ahnung«, log ich.

»Du hast doch bestimmt eine Handynummer.«

»Er ruft mich an, wenn er was will«, behauptete ich. »Außerdem weiß er nicht mehr, als ohnehin bekannt ist. Ich hab ihn schon ausgequetscht.«

»Immerhin weiß er, mit welcher Waffe die Mahlers und der Radfahrer getötet wurden. Woher?«, beharrte Kleist.

»Mir hat er gesagt, dass er die Info aus gut informierten Kreisen hatte. Mehr hat er nicht rausgelassen. Die P8 ist doch eine weitverbreitete Pistole. Das ist sogar mir bekannt.«

Wir beendeten das Telefongespräch. Anschließend wählte ich Fellners Nummer, um ihm zu sagen, dass die Polizei ihn dringend sprechen wollte. Doch der Teilnehmer war nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt, riet die Automatenstimme.

Eine befreite Nazibraut

Im Großraumbüro hieb Bärchen Biber eifrig in die Tasten, Pöppelbaum sichtete Fotos, Wurbel-Simonis las die Feuilletons der überregionalen Blätter, Susi brütete über der Blöd-Zeitung – ein Käsebrötchen mümmelnd. Die anderen waren ausgeflogen.

»Will jemand Kaffee?«, fragte ich in die Runde.

»Du willst uns Kaffee bringen, Grappa?«, fragte Wayne verdattert.

»Nur heute und dann nie wieder«, versprach ich. »Und auch nur, wenn genug Kaffee da ist und ihr die Tassen ordentlich gespült habt.«

»Das ist mir zu kompliziert, Grappa«, sagte der Bluthund.

»Was sind das für Fotos?«, wollte ich wissen.

»Dorstfeld. Für Bibers Artikel. Willst du mitgucken?«

»Gerne. Ich hol uns den Kaffee und bin gleich wieder da.«

Das Chaos in der Küche überforderte mich. Daher lief ich schnell in die Kantine. Zwei Mal Milchkaffee. Für Wayne mit drei Stückchen Zucker.

Das Bild zeigte acht Personen. Sie lehnten oder standen vor einer mit Graffiti besprühten Hauswand. Die meisten verbargen ihr Gesicht, indem sie Kapuzen über die Stirn gezogen hatten oder die untere Hälfte des Kopfes hinter einem Schal versteckten.

Nur einer war glasklar zu erkennen: SS-Eddi. Er grinste frech in die Linse – den mächtigen Bauch nach vorn geschoben. Die Glatze schützte ein schwarzes Piratentuch, am linken Ohrläppchen prangte ein Ring, der Kinnbart war weiß-braun meliert und in Form gebürstet. Die kurzen, dicken Arme zierten Tattoos.

»SS-Eddi und seine Schüler«, sagte ich. »Der sieht immer noch so aus, als könnte er mit Kühlschränken werfen.«

»Nicht nur das. Guck dir die blassen Bübchen daneben doch mal an, wie sie ihn anhimmeln. Er ist nach wie vor ein Idol in der Szene.«

Wayne blätterte weiter. Einige Gesichter hatte er herangezoomt.

»Prekariatsnachwuchs aus der alleruntersten Schublade«, spottete er. »Denen steht die Dummheit ins Gesicht geschrieben.«

»Nur, weil einer ungebildet und arm ist, muss er noch lange nicht rechtsradikal sein«, stellte ich fest. »Bei den Antifas gibt es auch Blödbatzen.«

»Hast ja recht, Grappa. Außer Dummheit gehört noch eine Menge Hass auf andere dazu, um rechtsradikal zu sein.«

»Vor allem Hass auf sich selbst«, vervollständigte ich die Kurzanalyse und klickte weiter. »Wer sind denn diese beiden Frauen?«

»Die Blonde ist Frau Licht von der Neonaziberatung. Sie betreut Opfer rechter Gewalt. Sie hat das Mädchen daneben aus dem Haus geholt. Die Polizei hat aufgepasst. Hier …«

Er holte das nächste Foto auf den Monitor. Ich sah einen Polizeiwagen mit Besatzung.

»Carsten hat mit den Beamten gesprochen. Weißt du eigentlich, warum die Licht gestern da war?«, rief Wayne Bärchen zu.

»Sie hat dieser Nazibraut geholfen«, antwortete Bärchen. »Die Kleine hatte Schiss vor den Kumpels ihres Freundes. Mehr weiß ich auch nicht.«

»Hast du Lichts Handynummer?«

»Nee, aber ihre Karte.« Er reichte sie mir.

In meinem Büro überlegte ich, was ich tun sollte.

Ich schaute auf die Visitenkarte. Luisa Licht, Beratungsstelle für die Opfer rechter Gewalt. Der Verein arbeitete noch nicht lange in Bierstadt. Er bekam Unterstützung vom Land und der Stadt und existierte sonst von Spenden. Ich wählte Lichts Nummer. Sie war bereit, sich mit mir zu treffen.

»Chantal ist erst achtzehn und schwanger von einem Nazischläger«, berichtete sie eine halbe Stunde später freimütig. Wir saßen in einem Café im Bierstädter Kreuzviertel. »Der Kerl hat sich seit vierzehn Tagen nicht mehr gemeldet. Vermutlich hat er sich aus dem Staub gemacht. Jetzt sitzen ihr seine Freunde im Nacken.«

»Was wollen die denn von dem Mädchen?«

»Wissen, wo ihr Freund ist. Dabei sucht sie ihn ja selbst.«

»Ist der Freund schon mal aufgefallen?«

»Nun ja, er ist der Mann fürs Grobe in der Szene und sehr geschickt. Er wurde nie verhaftet oder angeklagt. Chantal hatte gehofft, dass er sich jetzt, wo sie schwanger ist, von seinen Kumpanen zurückzieht. Aber es änderte sich nichts. Jeden Abend Treffen im Nationalen Zentrum mit viel Alkohol, Schießübungen und ab und zu mal ein Zug durch den Norden – Ausländer klatschen. Sie hat ihm eine Szene gemacht. Er hat sie daraufhin verprügelt und seitdem ist er weg. Dem Baby ist zum Glück nichts passiert.«

»Will sie ihn denn zurück?«

»Ich glaube nicht. Aber wegen des Kindes will sie auf jeden Fall wissen, wo sie Schatto erreichen kann. So heißt der Typ.«

Am späten Nachmittag erreichte mich endlich die Pressemitteilung, von der Kleist gesprochen hatte. Absender war das Bundeskriminalamt. Der Inhalt war mager, aber ich konnte die Zeilen, die mir Schnack zugeteilt hatte, damit füllen.

Wer suchet, der findet: Nach einer zweiten Untersuchung der Umgebung rund um den Tatort haben Spurensicherer von Interpol die Waffe entdeckt, mit der fünf Menschen erschossen worden sind. Sie lag in einem Steinbruch in der Nähe des Ortes Pisano. Dort sind vor gut einer Woche die Bierstädter Familie Mahler, ein Journalist aus Israel und ein unbekannter Radfahrer kaltblütig hingerichtet worden. Bei der Tatwaffe handelt es sich um eine P8 der Firma Heckler & Koch, die mit einem Schalldämpfer ausgestattet ist. Die Pistole gehört zur Standardausrüstung der deutschen Bundeswehr, wird aber auch von Polizeikräften in aller Welt benutzt. Die P8 zeichnet sich durch schnelle Schussbereitschaft und einfache Handhabung aus. Befüllt wird die Pistole mit Stangenmagazinen für fünfzehn Patronen. Der kriminaltechnische Vergleich zwischen der Waffe und den Projektilen, die in den Leichen gefunden wurden, ergab eine eindeutige Zuordnung. Die Waffe ist nicht registriert.

Spuckzone und Katzenkot

Im Morgengrauen klingelte mein Handy: Pöppelbaum.

»Ins Haus der Mahlers ist eingebrochen worden«, erklärte er knapp. »Die Bullen sind unterwegs. Ich auch. Und du?«

»Klar. Wo muss ich hin?«

Er nannte mir die Adresse. Die Uhr zeigte drei. Fluchend rannte ich ins Badezimmer und warf mir Wasser ins Gesicht.

Langsam bist du zu alt für diese Nummern, Grappa, dachte ich, meine Merkel-Falte wird sich noch weiter vertiefen.

Halbwegs wach startete ich den Golf. Ich öffnete das Verdeck, der Wind würde mein Hirn in Schwung bringen – hoffte ich. Doch leider fror ich nur. Ende September eben.

Ein Streifenwagen stand vor dem Haus, dessen Adresse Wayne mir genannt hatte. Der Bluthund war schon eingetroffen und unterhielt sich mit einem der beiden Polizisten. Ich zückte den Presseausweis und gesellte mich dazu.

»Tach, die Herren. Was gibt es?«

»Einbruch. Die Hausbesitzer sind wohl nicht da«, erklärte ein Polizist.

»Ich weiß. Wollen Sie nicht nachschauen, was drinnen los ist?«, fragte ich.

»Nein. Ich warte auf die Kollegen vom Einbruchsdezernat.«

»Wollen Sie nicht auch die Mordkommission informieren? Interpol? Das BKA?«

»Verarschen kann ich mich alleine, meine Dame!«

»Ist das Haus denn nicht versiegelt?«, fragte ich.

»Warum sollte es versiegelt sein?«

Pöppelbaum grinste und ich verstand: Der Streifenbeamte hatte keine Ahnung, um welches Haus es sich hier handelte. Ich rief Kleist an. Seine Stimme klang verschlafen.

»Jemand ist in Mahlers Haus eingebrochen«, teile ich ihm mit. »Deine Kollegen von der Streife wissen anscheinend nicht, wer hier mal gewohnt hat. Ich wollte dir nur Bescheid sagen.«

»Ich komme.«

»Der Leiter der Mordkommission, Dr. Kleist, ist unterwegs«, teilte ich dem Beamten mit.

»Ihr Kollege hat mich inzwischen aufgeklärt«, sagte der Polizist. »Bei uns ging ein Notruf ein. Ein Passant hat Licht gesehen und Lärm gehört. Ich konnte ja nicht ahnen, um welches Gebäude es sich handelt.«

»Daraus wird Ihnen keiner einen Vorwurf machen.«

Ich blickte zum Haus. »Es scheint wieder alles ruhig zu sein. Hat der Passant sonst noch etwas gesehen? Vielleicht jemanden, der weggelaufen ist?«

»Der Anrufer hat nur die Meldung gemacht und leider seinen Namen nicht genannt.«

Ein Wagen stoppte. Zwei Männer stiegen aus und kamen auf uns zu.

»Da sind die Kollegen schon«, bemerkte der Polizist. Er zog die beiden zur Seite und redete mit ihnen.

Zwei Straßenlaternen sandten ihren matten Schein auf das Anwesen der Mahlers: ein kompaktes, zweistöckiges Gebäude aus Sandstein mit Erkervorbau. Das schmiedeeiserne Tor war nur angelehnt.

»Bleiben Sie zurück!«, ermahnte mich der Einbruchsbulle.

»Schon klar!«, rief ich. »Ich guck ja nur.«

Pöppelbaum grinste. »Die Fotos hab ich im Kasten. Ich war drei Minuten vor dem Streifenwagen da. Das Siegel an der Tür ist übrigens unversehrt. Die müssen durch die rückwärtigen Fenster gekommen sein.«

»Dann lichte gleich noch den Leiter der Mordkommission ab und wir haben alles. Wahrscheinlich haben die Täter gewusst, dass die Besitzer nicht mehr zurückkommen, und dachten, sie räumen das Haus leer, bevor es jemand anderes tut.«

»Das glaub ich nicht«, widersprach Wayne. »Willst du wissen, warum?«

»Klar.«

»Hier!« Er reichte mir die Kamera. Ein gesprühtes Hakenkreuz ›zierte‹ eine große Fensterscheibe, darunter der Spruch: Juda verrecke!

»Das steht auf dem großen Terrassenfenster zum Garten«, erklärte der Bluthund. »Ganz schön herb, was?«

»Allerdings.«

Kleist ließ sich von zwei Kollegen begleiten. Dreitagebart, offenes Hemd und ein müder Blick. Ich mochte diesen Look und bekam prompt weiche Knie. Er grüßte uns knapp, drückte das Gartentor auf und steuerte die Tür an. Seine Leute folgten ihm. Wayne knipste drauflos. Kurze Zeit später fuhren die Spurensicherer vor und legten ihre weißen Overalls an. Die Kripo Bierstadt operierte mit kompletter Besetzung.

»Hier kommen wir nicht weiter. Die Fotos haben wir und die Fakten kriege ich, wenn die Sonne aufgegangen ist«, stellte ich fest. »Kennst du eine Kaffeebude, die schon geöffnet hat?«

»Nur die Tankstelle an der Bundesstraße. Aber der Kaffee dort ist lausig.«

»Egal. Ich will weder nach Hause noch in die Redaktion. Kommst du mit?«

Wayne nickte. »Auf mich wartet zu Hause auch keiner.«

Vor der Tankstelle lagen die gerade gelieferten Ausgaben der Tageszeitungen – darunter auch das Tageblatt. Im Inneren des Häuschens saß ein müder Mann hinter der Kasse. Er musste nicht nur den Sprit kassieren, sondern auch die Kaffeemaschine bedienen. Milch und Kaffee liefen in die großen Plastikbecher.

»Sonst noch was?«, fragte er.

»Zwei Croissants«, bestellte ich. »Mit Marmelade.«

Ich transportierte unser Frühstück zum Tisch.

Wayne hatte es sich schon bequem gemacht und schaute sich die Fotos an. »Dafür, dass es stockfinster war, gar nicht so schlecht«, meinte er und ließ mich gucken.

»Ist das hier ein Lichtschein hinter dem Fenster?«, fragte ich und deutete auf ein Bild, das die Terrassentür mit den Schmierereien zeigte. »Und der Schatten hier – könnte das ein Mensch sein?«

Er prüfte das Foto. »Da spiegelt sich der Blitz, denke ich. Und der Schatten kann Teil einer Skulptur sein. Ich glaube nicht, dass noch jemand im Haus war, als ich im Garten stand. Da ist auch kein Auto weggefahren. Es war totenstill.«

»Ein Passant hat die Bullen gerufen und seinen Namen nicht genannt. Ist das nicht merkwürdig?«

»Finde ich nicht. Vielleicht hat der Zeuge das Hakenkreuz gesehen und Angst bekommen. Wer legt sich schon gern mit einer Nazitruppe an?«

Der Kassierer ordnete die Zeitungen auf dem Tresen. Ich kaufte ein Tageblatt. Bärchen Bibers Artikel über die Dorstfelder Szene und Frau Schmitz stand auf der ersten Seite des Lokalteils.

»Lies mal vor, Grappa«, forderte Wayne.

Bierstadt ist wegen seiner harten Neonaziszene in Dorstfeld immer wieder in den Schlagzeilen. In diesem Stadtteil bauen die Autonomen Nationalisten ihre Herrschaft aus. Bewohner von Dorstfeld berichteten unserer Zeitung von Straßenfesten der Nazis, von Sieg-Heil-Rufen in der Nacht und massiven Einschüchterungen. Da werden Scheiben eingeworfen, Autos mit Hakenkreuzen beschmiert und offene Drohungen ausgesprochen. Auf Laternenpfählen und Elektrokästen kleben Sticker. Sie markieren das Revier der Rechtsextremen, zeigen marschierende Springerstiefel mit dem Slogan: Dorstfeld bleibt deutsch. Ab und zu kratzen Schulklassen, Gewerkschafter und Demokraten diese Klebebilder ab – doch ein paar Tage später sind sie wieder da.

Die meisten Bewohner haben Angst, mit uns zu reden, denn sie möchten keinen braunen Besuch bekommen – wie Anneliese S. Die Inhaberin einer kleinen Bäckerei in der City ist eine Zugezogene – sie erwarb ein Zechenhaus mit Garten im Negerdorf, renovierte es und glaubte, ein ruhiges Örtchen für den Lebensabend gefunden zu haben. Doch Frau S. hatte nicht mit ihren Nachbarn gerechnet. Heinz und Gisela G. haben bestimmte Vorstellungen vom nachbarlichen Zusammenleben. Sie wollen allein bestimmen, was in ihrem Umfeld geschieht, und wenn sich jemand nicht danach richtet, wird er gemobbt. Zudem gehört das unauffällig wirkende Ehepaar zu den Gründern der Sozialen Alternative Dorstfeld – einem Nazi-Bürgerverein.

Frau S.’ Haus wurde mit beleidigenden und rechten Parolen beschmiert, nachdem sie sich bei der Bürgerinitiative Gesicht zeigen gegen Rechts eingeschrieben hatte. Ihr Grundstück wurde mit Fäkalien und Müll beworfen, tote Kleintiere landeten in ihrem Briefkasten.

»Dorstfeld ist ein Hotspot des Rechtsextremismus«, so Luisa Licht, die Leiterin der Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt. »Zehn Jahre lang ist der Rechtsextremismus hier verharmlost und ignoriert worden. Diese Zeit haben die Nazis genutzt, sich zu vernetzen. Sie haben enge Beziehungen zur NPD und pflegen Kontakte zu Rassisten in ganz Europa.«

»Gar nicht mal so übel«, kommentierte Wayne. »Aber das Beste sind natürlich die Fotos.«

»Stimmt. Meine Frau Schmitz sieht so kämpferisch aus! Und Luisa Licht ist eine sehr hübsche Person.«

»Finde ich auch.« Ein leichtes Rot legte sich auf die Wangen des Bluthundes.

»Fragt sich nur, ob sie den Neonazis so richtig Angst einjagen kann. Die strecken einmal kurz die Faust aus und sie fällt um.«

»Sie soll den Burschen ja keine Angst einjagen, sondern das Vertrauen ihrer Opfer gewinnen und anderen beim Ausstieg aus der Szene helfen.«

»Okay. Aber ob die Nazis das so gut finden?«

Je vernünftiger die Polizei arbeitet, desto bequemer ist der Job der Reporterin, denn sie muss nicht selbst ermitteln.

Sechs Stunden später erreichte mich erneut eine Pressemitteilung. Die Fakten: Das Haus der Mahlers war komplett durchsucht worden. Alle Schränke waren geöffnet, die Schubladen herausgerissen, sogar das Parkett hatten die Einbrecher aufgestemmt. Sämtliche Bücher lagen aufgeschlagen auf dem Boden, die Kleider waren überall verstreut und die Polstermöbel und Matratzen aufgeschnitten worden. Nach ersten Ermittlungen fehlte jedoch nichts. Auch im Haus hatten sich Schmierereien gefunden. Die Polizei bezeichnete sie als verbotene nazistische Zeichen antisemitischen Inhalts.

Nachdem ich den entsprechenden Artikel verfasst hatte, verspürte ich das dringende Bedürfnis, mich zu belohnen. In der Kantine traf ich auf Wayne und Harras. Die beiden saßen schon gemütlich bei Kaffee und Kuchen. Die Kantinenwirtin hatte gerade eine Selbstbackphase und zauberte die schönsten Leckereien. Leider positionierte sie die dampfenden Kuchen in der sogenannten Spuckzone – also an der Stelle, an der die Kunden Geld und Scheine hinüberreichten und ein mehr oder weniger feuchtes Kurzgespräch mit der Küchenchefin führten.

Trotzdem konnte ich nicht widerstehen und kaufte ein Stück Apfeltorte. Mein Bakterienabwehrsystem würde mit der neuen Aufgabe wachsen.

»Der Einbruch kommt mir komisch vor«, kaute Wayne, als ich saß. »Da sucht jemand etwas, nimmt das ganze Haus auseinander und sprüht in aller Ruhe die Wände voll. Das kostet doch viel zu viel Zeit!«

»Vielleicht waren es zwei«, erklärte ich. »Der eine sucht, der andere sprüht.«

»Warum blättert man ein Buch durch?«, spielte Simon Harras mit. »Weil man etwas Kleines sucht. Etwas Großes würde ja nicht in ein Buch passen.«

»Vielleicht ein Papier, ein Dokument oder einen Brief«, nickte ich. »Etwas, was David Cohn einen Hinweis darauf gegeben hat, was aus den Diamanten geworden ist, die der SS-Hauptsturmführer damals gestohlen hat.«

Ein alter Bekannter erscheint

Ich hatte mein Handy im Büro liegen lassen. Drei Anrufe in Abwesenheit und eine SMS. Kleist, eine unterdrückte Nummer und Frau Schmitz. Die SMS stammte von Fellner. Er teilte mir mit, dass er einige Tage nicht zu erreichen sei – er habe Vorträge zu halten und werde sich danach bei mir melden.

Kleist war natürlich nicht mehr verfügbar – eine Dienstbesprechung, die »bis in die Abendstunden dauern kann« –, so sein Vorzimmerdrachen.

Ich wählte die Nummer von Frau Schmitz.

»Ich hab ein Foto von den Nachbarn gemacht, wie sie mir Katzenscheiße auf die Terrasse werfen«, gab sie bekannt. »Meinst du, du kannst das in der Zeitung abdrucken, Frau Grappa? Als Beweis?«

Ich schenkte mir den Hinweis auf das Recht am eigenen Bild und meinte: »Geh lieber zur Polizei damit, Frau Schmitz. Das ist wirkungsvoller.«

»Na, das hab ich jetzt auch verstanden«, schnappte die Bäckerin ein. »Ich dachte, du willst mir helfen? Komm wenigstens vorbei und guck dir das Bild an.«

»Ich bin in einer Stunde da.«

Frau Schmitz hatte die Bäckerei bereits verriegelt und wartete auf mich.

»Tach auch. Wie isses?«, begann ich.

»Muss. Könnte abba besser sein«, antwortete sie.

»Siehst fertig aus, Frau Schmitz. Die Sache geht dir ganz schön an die Nieren, was?«

»Da kannste von ausgehen.« Sie reichte mir das Foto.

Ich betrachtete es und war wie vom Donner gerührt. Nicht wegen der beiden Leute im Vordergrund, den Golombecks: ein mittelalter Kerl in einer verschlissenen Cordhose, der Katzenkot von einem Kehrblech über den Zaun schleudert – beobachtet von seiner hämisch grinsenden Gattin. Doch es war noch eine dritte Person auf dem Bild zu sehen: ein großer, älterer Mann mit weißem, halblangem Haar, zerfurchtem Gesicht und kantigem Kinn. Der Unbekannte, der uns am Lago Maggiore mehrmals über den Weg gelaufen war – im Foyer und beim Kuchenbuffet des Hotels Milan du Lac. Und im Wald von Pisano.

Der Killer wird erkannt

Kleist hatte andere Probleme, als dem weißhaarigen alten Mann hinterherzujagen. Er ließ mich abblitzen. Also musste ich allein herausbekommen, wer der Typ war, der sich im Garten der rechtsradikalen Nachbarn von Frau Schmitz herumtrieb.

»Machst du mit?«, fragte ich Wayne, nachdem ich ihm am nächsten Morgen das Foto gezeigt hatte. Begeistert war er nicht.

»Aber es ist schon merkwürdig, dass der Kerl ausgerechnet in Bierstadt auftaucht«, gab er zu.

»Eben«, nickte ich. »Jetzt muss nur noch Frau Schmitz mitspielen.«

Unser Plan war, eine Webcam am Haus der Bäckerin zu installieren, die auf die Haustür der Golombecks gerichtet war. So konnten wir beobachten, wenn jemand das Haus verließ oder betrat.

»Ist das denn erlaubt?«, fragte Wayne.

»In dem Fall schon«, behauptete ich. »Frau Schmitz wird seit Wochen bedroht und muss sich selbst schützen. Niemand kann ihr verbieten, Beweise zu sichern.«

Wayne zog los und besorgte die Cam. Sie war handlich und unauffällig und sendete ihre Bilder per Funk an alle Geräte, die bei ihr angemeldet waren.

»Und wer von uns macht das Teil scharf?«, fragte Pöppelbaum. »Der Kerl kennt uns beide und wird Lunte riechen, wenn wir bei der Schmitz auftauchen.«

»Dazu müsste er gleichzeitig mit uns vor Ort sein. Falls wir ihm begegnen, spreche ich ihn einfach an«, meinte ich. »Jetzt berede ich erst mal alles mit Frau Schmitz.«

Die Bäckerin fand unsere Aktion spannend.

»Ich hab den Mann zum ersten Mal auf dem Foto wahrgenommen«, berichtete sie. »Aber heute Morgen ist er mit dem Golombeck ins Auto gestiegen und weggefahren. Ich war grad auf dem Weg zur Arbeit, da hab ich die beiden Honks gesehen.«

Angesichts von Frau Schmitzens Arbeitszeiten musste das sehr früh gewesen sein.

Sie überreichte mir ihren Hausschlüssel. »Pass gut drauf auf, Frau Grappa.«

»Na, sicha! Du kriegst ihn heute Nachmittag wieder.« Ich schnupperte. »Was riecht hier eigentlich so lecker?«, fragte ich scheinheilig.

»Warte mal«, bat sie. »Die Hörnchen sind fertig. Ich pack dir ma ebend ’ne Tüte voll.«

Auf den ersten Blick schien in dem Häuschen im Negerdorf alles normal zu sein. Die Haustür war ordentlich verschlossen, Zeitungen und Reklame verstopften den Briefkasten und die Mülltonne stand quer zum Eingang. An der Wand gab es kaum noch Spuren der Graffiti. Die Stellen, an denen die Buchstaben entfernt worden waren, waren sogar sauberer als der Rest der Wand. Ein Rosenbusch mit rosa Blüten würde bald alles verbergen.

Auch im Nachbarhäuschen rührte sich nichts, noch nicht mal hinter den Gardinen. Die Golombecks schienen ausgeflogen.

Ich schloss die Tür auf. Frau Schmitz hatte einige Wände entfernen lassen. So war ein großer Raum entstanden, durch den man direkt von der Haustür aus in den Garten schauen konnte. Die tragenden Pfeiler waren in Orange gestrichen, was dem Raum einen fröhlichen Ausdruck verlieh. Ein Blümchensofa, zwei gemütliche Ohrensessel, ein großer Esstisch mit Stühlen und ein alter Geschirrschrank aus hellem Kiefernholz. Der Teil des Hauses, in dem sich die Küche befand, war wohl erst später angebaut worden. Drei Stufen führten in den Kochbereich hinab. Von dort öffnete sich eine Tür direkt zum Garten. Ein Haus zum Wohlfühlen.

Wayne schaute sich prüfend in der Küche um.

»Kein schlechter Ort, die Cam zu installieren. Wir können sie direkt auf den Eingang nebenan richten. Allerdings in einem schrägen Winkel. Das hätte andererseits den Vorteil, dass noch ein Teil der Straße abgebildet wird. Was meinst du, Grappa?«

Ich prüfte die Perspektive. Ja, das sah gut aus.

Wayne positionierte die Webcam auf der Küchenfensterbank, richtete sie aus und machte sie scharf. Die Aufnahmen würden per Funk direkt an den Laptop übertragen werden, den wir im Wohnzimmer aufstellten.

Am Nachmittag gab es Neuigkeiten vom BKA. Der zuständige Pressekollege überließ den Medien ein Foto des toten Radfahrers. Zugleich wandte sich die Polizei auch mit Flugblätter an die Bevölkerung. Endlich wurde die Öffentlichkeit offensiv in die Aufklärung der Mordfälle einbezogen.

Wer kennt diesen Mann? – so die einfache Frage der Ermittler.

Ich betrachtete das Bild. Man hatte es bearbeitet und die Spuren der Hinrichtung beseitigt.

Der Unbekannte war überraschend jung. Er trug das Haar sehr kurz, fast rasiert. Ein Oberlippenbart gab dem Gesicht einen Mittelpunkt. Die Wangen waren fleischig, das Kinn fliehend und der Haaransatz niedrig. Die Beschreibung outete ihn als stämmig, nur 1,67 m groß und mit einem rechtsradikalen Tattoo verziert, von dem es ein Detailbild gab: Blood and Honour prangte in altdeutscher Schrift auf dem Oberkörper des Mörders.

Der Tote galt jetzt offiziell als Täter und nicht mehr als Zufallsopfer.

Ich war sauer. Warum hatte Kleist mir nicht erzählt, dass der Typ eine eindeutige Nazitätowierung hatte? Das wäre ein weiterer wichtiger Beleg dafür gewesen, wo der Mörder der jüdischen Familie Mahler zu finden war.

Schnack teilte mir vierzig Zeilen plus Foto zu. Nachdem ich den Artikel geschrieben hatte, rief ich Kleist an, um ihn wegen des Tattoos zusammenzufalten. Aber er nahm mir sofort den Wind aus den Segeln: »Denk dir, wir wissen jetzt, wer der Radfahrer war.«

»Das ging aber schnell.«

»Jemand hat ihn auf dem veröffentlichten Bild erkannt. Seine Freundin. Sie ist gerade hier.«

»Und wie heißt der Typ?«

»Daniel. Daniel Schatto.«

»Schatto? Den Namen habe ich schon mal gehört. Der hat doch diese schwangere Freundin. Wie heißt sie noch …«

»Chantal. Chantal Meinau. Sie ist gerade hier, mit Begleitung.«

»Ha, lass mich raten. Luisa Licht.«

»Kannst du hellsehen?«

»Leider nicht immer.«

Razzia gegen die Autonomen Nationalisten

Zwei Stunden später veranstaltete die Polizei eine Razzia in Dorstfeld. Das Bundeskriminalamt hatte die Medien kurzfristig informiert und behinderte die zahlreichen Journalisten nicht. Es gab sogar eine mobile Pressestelle, die eine Verlautbarung verteilte, in der Daniel Schatto als mutmaßlicher Mörder der Mahlers und Cohns bezeichnet wurde. Schatto war Mitglied der Autonomen Nationalisten – so war zu lesen.

»Die harten Jungs kommen«, sagte Pöppelbaum und deutete auf einen schwarzen Pulk. »Und da ist ja auch dein Spezialkommissar.«

Friedemann Kleist gehörte zu den zahlreichen zivilen Beamten am Einsatzort. Er winkte mir zu, doch ich reagierte sparsam, denn Condi Maronetti stand neben ihm.

Die Spezialeinsatzkräfte trugen schwarze Overalls und ballistische Westen sowie Helme mit Funkgerät und Gehörschutz. Sie waren mit Maschinenpistolen ausgerüstet. Ihre Mienen waren durch den klappbaren Gesichtsschutz nicht zu erkennen. Sie umstellten das Haus, in dem das Nationale Zentrum seine Adresse hatte. Drei Männer bauten sich vor dem Eingang auf.

»Aufmachen, Polizei!«, dröhnte es durch ein Megafon.

Nichts rührte sich. Auch weitere Aufforderungen und Poltern gegen die Tür brachten keinen Erfolg.

Pöppelbaum drängelte sich nach vorn, wurde jedoch zurückgepfiffen. »Bleiben Sie aus der Schusslinie, wir wissen nicht, wer sich im Haus befindet.«

Wayne gehorchte und schraubte ein Teleobjektiv auf.

Ein Rammbock wurde herbeigeschafft. Dann ging alles sehr schnell: Die Tür zersplitterte und fiel in den Flur des Hauses. Das SEK stürmte das Zentrum.

Zehn Minuten später wurden die ersten Neonazis aus dem Haus geführt – in Handschellen und einigermaßen kleinlaut. Manche verbargen ihre Gesichter vor den Kameras der Fotografen. Einer versuchte den Hitlergruß, bekam aber einen Hieb auf den Arm.

Anschließend schlug die Stunde der Spurensicherer. Sie schleppten Kisten ins Haus und brachten sie gefüllt mit Flugblättern, Transparenten und anderem Propagandamaterial heraus. Er folgten mehrere Computer und Wannen, aus denen die Läufe von Waffen ragten. Alles wurde in Polizeitransporter gepackt.

»Wir haben heute auch andere Treffpunkte und Privatwohnungen einschlägig bekannter Mitglieder der Autonomen Nationalisten durchsucht«, gab der Pressesprecher bekannt. »Die Aktionen sind zum Teil noch im Gang. Das vorläufige Ergebnis der Razzia wird Ihnen am morgigen Tag in einer Pressekonferenz mitgeteilt. Die Einladung dazu geht Ihnen schriftlich zu.«

»Super Show«, meinte Wayne. »Endlich ist mal was passiert. Bisher haben die Bullen ja so getan, als ob die Neonazis in Bierstadt nur ein bisschen spielen wollten. Dabei haben die sogar einen Killer in ihren Reihen.«

»Fragt sich nur, wer den Killer gekillt hat«, entgegnete ich.

»Das kriegen wir auch noch raus, Grappa«, lächelte der Bluthund.

Noch am selben Abend schrieb ich einen Kurzbericht über die Razzia für die Onlineausgabe.

Toter Killer identifiziert –
Er gehörte zur Neonaziszene in Bierstadt

titelte ich.

Daniel S. – so heißt der mutmaßliche Mörder vom Lago Maggiore. Er lebte bis zu seiner Ermordung in Bierstadt, und zwar im Stadtteil Dorstfeld, der für seine aktive Neonaziszene bekannt ist. Warum erschoss der junge Neonazi vier Menschen? Hat er allein aus Judenhass gehandelt oder hatte er einen Auftrag? Für Letzteres spricht, dass S. selbst zum Opfer wurde – und zwar unmittelbar nach seiner Tat. Er wurde mit derselben Pistole hingerichtet, mit der er selbst getötet hatte, einer P8 von Heckler & Koch. Heute Abend umstellten Sondereinsatzkommandos die einschlägigen Neonazitreffpunkte in Dorstfeld und beschlagnahmte umfangreiches Beweismaterial, darunter auch Schusswaffen. Mehrere Neonazis wurden festgenommen.

Chantal ließ ich unerwähnt, aber ich schilderte den Verlauf der Razzia, stellte die Fotos von der Tätowierung und vom Gesicht des Killers dazu und schaltete den Artikel scharf.

Das war ein aufregender Tag gewesen. Und er hielt für mich noch einen Höhepunkt bereit, denn Friedemann Kleist wartete in meinem Haus auf mich. Er hatte in meiner Küche und im Kühlschrank nach Essbarem gesucht und ein Mahl für zwei komponiert. Herausgekommen war ein Salat aus Kidneybohnen mit Zwiebeln und Kräutern aus dem Garten, Pasta mit Salbei, Olivenöl und Parmesan und Chicken Wings, die in meiner Tiefkühltruhe gelegen hatten, mit Chutney und Ciabatta.

»Du bist genial«, schwärmte ich.

»Danke, leider nicht immer. Darf ich einen Wunsch äußern?«

»Natürlich.«

»Lass uns essen und über alles reden – nur nicht über den Fall.«

Ich sah in seine müden Augen und stimmte zu, obwohl mir jede Menge Fragen auf der Seele brannten.

Geld und noch mal Geld

»In Schattos Wohnung haben wir eine Radfahrerkarte von der Gegend um den Lago Maggiore gefunden«, berichtete Kleist beim Frühstück am nächsten Morgen. »Der Weg durch den Wald von Pisano war mit einem Marker gekennzeichnet.«

»Und warum hat er die Karte zu Hause gelassen und nicht mitgenommen?«, fragte ich.

»Was weiß ich. Vielleicht hat er sie einfach vergessen oder hatte sich den Weg eingeprägt.« Kleist nahm den Toast aus dem Apparat.

»Warum rückt ihr erst jetzt damit raus, dass der Kerl diese eindeutige Tätowierung hatte?«

»Ich wusste das nicht. Die Italiener haben die Obduktion nicht in meinem Beisein durchgeführt. Die haben mir eine Menge verschwiegen – aber das weißt du ja.«

Ich zog die Brauen hoch. »Warum sind die nur so zögerlich?«

»Weißt du, in Deutschland sind wir es gewohnt, uns Asche aufs Haupt zu streuen und die Schuld am Holocaust als historische Verantwortung anzunehmen. Die anderen Länder, besonders die Sieger, nehmen die Rolle der Befreier an. Am Ende kämpfte Italien gegen Deutschland. Natürlich ist es den Italienern peinlich, dass sie ihren eigenen Faschismus hatten, der mit dem deutschen kollaborierte. Sie schieben alles auf die Nazis. Dabei ist der Neofaschismus dort mindestens genauso lebendig wie bei uns.«

Kleist legte eine Scheibe Schinken auf den Toast und packte eine Scheibe Gouda obenauf.

»Meinst du, dass Schatto einen Auftraggeber hatte?«

»Davon bin ich überzeugt. Auf sein Sparbuch wurden fünftausend Euro eingezahlt. Ein bisschen viel für einen Hartz-IVler.«

»Wer hat das eingezahlt und wie?«

»Das klären wir. Falls es zu klären ist. Möchtest du noch Kaffee?« Er schenkte nach.

»Warum ist diese Italienerin hier?«, platzte es nun aus mir heraus.

»Condi?« Kleist lächelte. »Sie ist meine Verbindungsfrau zur italienischen Polizei. Aber ich erzähle ihr nur das, was ich für richtig halte. Ich traue ihr nicht über den Weg.«

»Dafür bist du aber sehr charmant zu ihr«, muffelte ich. »Stadtrundfahrt mit persönlicher Betreuung.«

»Alles Tarnung«, grinste er amüsiert.

»Dann bin ich ja beruhigt.«

Eine Weile schwiegen wir und widmeten uns dem Frühstück.

Sollte ich ihm von dem Mann erzählen, der uns in Italien aufgefallen war und der jetzt bei Golombecks ein und aus ging? Ich entschied mich dagegen. Ich wollte selbst herausbekommen, was es mit dem Opa auf sich hatte.

»Hast du eigentlich inzwischen mal mit Fabian Fellner gesprochen?«, kam ich zum nächsten Punkt.

»Nein. Wir haben ihn immer noch nicht erreichen können.«

»Er hält doch überall Vorträge«, entgegnete ich. »Die Termine stehen im Netz.«

»Holger Bruns alias Fabian Fellner hat alle Vorträge abgesagt. Heißt es zumindest auf seiner Homepage. Auf die Idee, ihn bei einer Veranstaltung zu erwischen, sind wir auch schon gekommen.«

»Ihr seid ja kreativer, als ich dachte«, griente ich. »Schade, ich dachte, du könntest mir sagen, wo ich ihn finde. Ich habe eine wichtige Frage an ihn. Eine Frage, die sich die Behörden auch stellen sollten.«

»Aha. Und die wäre?« Er schaute amüsiert.

»David muss das Original des Briefes von Samuel Cohn an seinen Bruder in der Hand gehabt haben. Sonst hätte er ihn nicht fotografieren können. Wo ist das Original des Briefes? Gibt es noch weitere Unterlagen? Wie konnte David an einen Brief kommen, der nie abgeschickt wurde?«

»Vielleicht haben die Italiener noch mehr Papiere gefunden und mir nichts gesagt«, meinte Kleist.

»Wie gründlich ist Cohns Zimmer in Stresa denn untersucht worden? Und habt ihr im Haus der Mahlers nachgesehen, bevor dort eingebrochen und alles gefilzt wurde?«

»Natürlich haben wir das Haus untersucht und nichts Besonderes gefunden. Auch nicht auf den Rechnern. Aber dein Hinweis ist gut. Ich werde Condi bitten, mir noch mal Einblick in die Akten zu geben. Darin muss ja stehen, was genau in dem Hotelzimmer sichergestellt wurde.«

»Bitte nicht zu intensiv«, grummelte ich und warf ihm einen schrägen Blick zu. Dann riss ich mich zusammen und machte aus dem schrägen Blick einen intensiven. Ich konnte mich im letzten Moment davon abhalten, mit den Lidern zu klappern. »Ich muss dir etwas beichten, lieber Hauptkommissar.«

»Du machst mich neugierig«, kam es reserviert von seinen Lippen.

Ich nahm einen Zettel, schrieb Fellners Handynummer darauf und schob ihm das Papier zu.

Er warf einen Blick darauf und runzelte die Stirn. Dann fragte er: »Fellner?«

Ich nickte zerknirscht. »Vielleicht kannst du ihn orten.«

Verbote und ein einsames Abendessen

Kurz nach der Redaktionskonferenz erhielt ich die Einladung zur Pressekonferenz. Staatsanwaltschaft und BKA wollten die Ergebnisse der Razzia bekannt geben.

Der Sitzungsraum im Polizeipräsidium war überfüllt. Die Polizeiaktion der vergangenen Nacht hatte den Fokus der Medien auf Bierstadt gerichtet. Erste Reaktionen vor allem im Web begrüßten die Aktion als überfällige Maßnahme. Aber es gab im Netz auch anonyme Wortmeldungen wie: Eure Repression macht uns nur stärker! und Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht.

Friedemann Kleist saß neben einem Kollegen vom Bundeskriminalamt und an seiner rechten Seite thronte Giaconda Maronetti – diesmal in Uniform. Die Blitzlichter der Fotografen gehörten ihr und sie genoss es.

Oberstaatsanwalt Dr. Pudel referierte in kreativem Beamtendeutsch. Fragen waren nicht erlaubt, um weitere Ermittlungen nicht zu gefährden. Auch wurden Interviews für die TV-Sender verweigert, was allgemeines Murren erregte.

»So habe ich mir Informationsfreiheit immer vorgestellt«, seufzte ich.

»Deine Quelle ist doch viel besser als so ein verklemmter Staatsanwalt«, erinnerte Wayne. »Ich hab alles im Kasten. Lass uns abhauen.«

Zwei Stunden später war mein Artikel fertig.

Polizeirazzia: Böses Erwachen für die Neonazis in Bierstadt

Die Morgendämmerung erwachte, als die Polizei mit rund zwanzig Beamten das Zentrum der Autonomen Nationalisten stürmte. Zeitgleich wurden rund fünfzig Wohnungen durchsucht. Bei dem mit sechshundert Beamten bisher größten Einsatz des Polizeipräsidiums Bierstadt gegen Neonazis wurden auch Waffen beschlagnahmt – wir berichteten. Jetzt steht fest, wie gefährlich sie sind. Man fand illegale Kriegswaffen, Granatwerfer, Maschinenpistolen, Maschinengewehre, Sprengstoff, Chemikalien und in der Szene weitverbreitete Hieb-, Stich- und Schusswaffen.

Oberstaatsanwalt Dr. Pudel auf der Pressekonferenz: »Die Autonomen Nationalisten sind auf Bewaffnung und auf terroristische Gewalt aus. Die Sicherstellung von Waffen, Munition und Sprengstoffen gestern Nacht ist ein Indiz für eine zunehmende Militanz innerhalb der Szene.«

Die Behörden haben allerdings ein Problem: Häufig sind die beschlagnahmten Waffen legal, teilweise sogar in einschlägigen Internetshops der rechten Szene ganz einfach per Mausklick zu bestellen. Schlagstöcke, Messer, Baseballschläger, dazu schusssichere Westen, sogar GSG 9-Ausrüstung. Für einige der Waffen haben einzelne Neonazis einen Waffenschein.

Einer der Waffenshops im Internet wird übrigens von einem bekannten Neonazi mit besten Kontakten zum internationalen rechtsextremen Terrornetzwerk betrieben.

Schnack segnete den Artikel ab und zeigte eine menschliche Regung: Er gab mir den Rest des Tages frei.

Den nutzte ich zu einem Besuch bei Frau Schmitz. Sie war euphorisch, denn die Razzia war ganz nach ihrem Geschmack.

»Jetzt kriegen die Rechten mal richtig was auf die Buxe«, strahlte sie mich an. »Und die Nachbarn hatten auch Besuch vom Staatsschutz. Der Kerl wird mich nicht noch mal Schlampe nennen und mein Haus versauen.«

»Das wollen wir hoffen«, meinte ich. »Frau Schmitz, ich möchte noch mal den Schlüssel zu deinem Haus haben. Wir müssen mal nachsehen, was die Kamera aufgenommen hat.«

Sie kramte ihr Schlüsselbund hervor und nahm einen der Schlüssel vom Ring. »Ich hab schon dran gedacht, Frau Grappa. Solange diese Kamera da steht, gebe ich dir einen Zweitschlüssel, damit du nicht immer erst hier reinschauen musst, bevor du nachsehen kannst. Aber immer gut wieder abschließen.«

»Mach ich, Ehrensache.«

Ich schaute mir den Überwachungsfilm an. Die Aufnahmen waren unspektakulär. Die meiste Zeit passierte nichts auf dem Bild und ich konnte mit dem Schnelldurchlauf arbeiten. Ab und zu fuhr ein Auto die Straße entlang. Der Briefträger warf bei den Nachbarn Sendungen ein, Frau Schmitz erhielt heute keine Post. Leute führten ihre Hunde an dem Haus vorbei. Dann wurde es interessant. Zwei Männer traten aus Golombecks Tür, stiegen in ein Auto und fuhren weg. Wessen Auto war das? Das Kennzeichen konnte ich nicht erkennen, aber die Marke des Gefährts: eine große dunkle Limousine mit dreizackigem Stern.

Ich rief Frau Schmitz an: »Fährt Golombeck einen Mercedes, Frau Schmitz?«

»Nee, der hat so ’nen alten Opel Corsa.«

»Gut, das wollte ich wissen.«

Ich verließ das Haus, schloss gewissenhaft ab und sah mich um. Der schwarze Daimler parkte vor Frau Schmitzens Haus. Er war in München zugelassen. Ich notierte das Kennzeichen und kehrte nach Hause zurück.

Den Rest des Abends verbrachte ich vor dem Fernseher, nur in Begleitung einer Flasche Chianti, einem Glas Oliven, Brot und Käse. Die Fernsehmagazine berichteten ausführlich über die Razzia gegen die Rechten. Und in den Tagesthemen wurde bekannt gegeben, dass der Innenminister am Abend einige Neonazigruppen verboten hatte – darunter auch die Autonomen Nationalisten. Na also, dachte ich, geht doch.