«Was?», fauche ich der stillen Morgendämmerung entgegen, wie eine wütende Katze, der man ihre Jungen weggenommen hat, um sie zu ertränken. «Keine königlichen Barkassen? Kein Kanonendonner vom Tower? Kein Wein in den Brunnen der Stadt? Kein Trommelwirbel, keine Lehrlinge, die ihre Zunftlieder hinauskrakeelen? Keine Musik? Keine Jubelrufe? Kein Beifall entlang der Festzugsroute?» Ich öffne das Fenster, sehe den gewohnten Verkehr aus Barkassen, Jollen und Ruderbooten und sage zu meiner Mutter und zu Melusine: «Das ist eindeutig. Sie werden ihn heute nicht krönen. Aber wird er stattdessen sterben müssen?»
Ich denke an meinen Sohn, als würde ich sein Bildnis malen. Ich denke an die gerade Linie seiner kleinen Nase, deren Spitze immer noch rund ist wie die eines Babys, an seine rundlichen Wangen und die klare Unschuld seines Blicks. Ich denke an die Rundung seines Hinterkopfs, die sich so gut in meine Hand schmiegte, und an seinen geraden Nacken, wenn er sich beim Lernen über seine Bücher beugte. Er war ein tapferer Junge, ein Junge, dem sein Onkel Anthony beigebracht hatte, sich in den Sattel zu schwingen und Turniere zu reiten. Anthony hat versprochen, Edward würde furchtlos werden, indem er lernte, sich der Angst zu stellen. Und er war ein Junge, der das Land liebte. Er war so gern in Ludlow Castle, denn dort konnte er in die Hügel reiten und die Wanderfalken hoch über die Klippen aufsteigen sehen, dort konnte er im kalten Flusswasser schwimmen. Anthony sagte, er habe ein Gespür für die Landschaft – etwas Seltenes bei jungen Menschen. Er war ein Junge mit einer goldenen Zukunft. Er wurde in Zeiten des Krieges geboren, um ein Kind des Friedens zu sein. Ich zweifle nicht daran, dass er ein großartiger Plantagenet-König geworden wäre, auf den sein Vater und ich hätten stolz sein können.
Ich spreche von ihm, als wäre er tot, denn da er heute nicht gekrönt wird, habe ich wenig Zweifel daran, dass man ihn heimlich töten wird. So wie William Hastings hinausgeschleift und im Tower Green auf einem Baumstumpf geköpft wurde, von einem Henker, der sich noch nachlässig die Hände vom Frühstück abgewischt hat. Lieber Gott, wenn ich an den Nacken meines Jungen und an die Axt des Henkers denke, wird mir so bang ums Herz, dass ich sterben möchte.
Ich bleibe nicht am Fenster, nicht am Fluss, der gleichgültig dahinfließt, als wäre mein Sohn nicht in Lebensgefahr. Ich kleide mich an, stecke mir die Haare hoch und schleiche in unserem Asyl herum wie eine der Löwinnen, die einst im Tower gehalten wurden. Ich tröste mich mit Pläneschmieden: Wir haben Freunde, ich bin nicht bar jeder Hoffnung. Ich weiß, dass mein Sohn Thomas Grey fleißig ist, er trifft sich heimlich mit Männern, die überzeugt werden können, sich für uns zu erheben. Es muss auf dem Land und in London viele geben, die allmählich daran zweifeln, wie Herzog Richard seine Rolle als Lord Protector versteht. Margaret Stanley arbeitet ganz sicher für uns: Ihr Gatte, Lord Thomas Stanley, hat Hastings gewarnt. Meine Schwägerin, Duchess Margaret of York, wird für uns in Burgund tätig sein. Selbst die Franzosen sollte es interessieren, dass ich in Gefahr bin, wenn auch nur, um Richard Probleme zu bereiten. In Flandern steht ein sicheres Haus, in dem eine Familie fürstlich dafür entlohnt wird, einen kleinen Jungen bei sich aufzunehmen und ihm beizubringen, in Tournai in der Menschenmenge unterzugehen. Im Augenblick mag der Herzog die Oberhand haben, doch er wird von genauso vielen gehasst wie wir Rivers. Viele werden jetzt, da ich in Gefahr bin, mit Wohlwollen an mich denken. Vor allem wird es Männer geben, die Edwards Sohn auf dem Thron sehen wollen und nicht seinen Bruder.
Eilig näher kommende Schritte schrecken mich auf. Meine Tochter Cecily kommt durch die Krypta gelaufen und stößt die Tür zu meiner Kammer auf. Sie ist kreidebleich vor Angst. «Da ist etwas an der Tür», sagt sie. «Etwas Schreckliches ist an der Tür.»
«Was?», frage ich. Ich denke natürlich sofort an den Henker.
«So groß wie ein Mann, aber es sieht aus wie der Tod.»
Ich bedecke meinen Kopf mit einem Schal, gehe zur Tür und öffne das Türgitter. Der Tod persönlich scheint auf mich zu warten. Er trägt einen schwarzen Umhang und einen hohen Hut. Eine lange weiße Röhre vor der Nase verbirgt sein Gesicht. Er ist Arzt, und die Kräuter in dem langen Kegel seiner Nasenmaske sollen ihn vor den Ausdünstungen der Pest schützen. Er richtet die glitzernden Schlitze seiner Augen auf mich. Mich fröstelt.
«Hier hat niemand die Pest», sage ich.
«Ich bin Dr. Lewis aus Caerleon, der Arzt von Lady Margaret Beaufort», sagt er, und seine Stimme hallt seltsam unter dem Kegel. «Sie sagt, Ihr krankt an Frauenleiden und könntet einen Arzt brauchen.»
Ich öffne die Tür. «Kommt herein, mir geht es gar nicht gut», sage ich. Doch sobald die Tür zwischen der Welt und uns geschlossen ist, stelle ich ihn zur Rede. «Ich bin vollkommen gesund. Was wollt Ihr hier?»
«Lady Beaufort – Lady Stanley, sollte ich sagen – geht es auch gut, Gott sei gedankt. Aber sie suchte eine Möglichkeit, mit Euch in Verbindung zu treten, und ich bin gleicher Gesinnung wie sie und Euch treu ergeben, Euer Gnaden.»
Ich nicke. «Nehmt die Maske ab.»
Er nimmt den Kegel vom Gesicht und zieht die Kapuze vom Kopf. Vor mir steht ein kleiner, dunkler Mann mit einem lächelnden, vertrauenswürdigen Gesicht. Er verbeugt sich tief vor mir. «Sie möchte wissen, ob Ihr einen Plan ersonnen habt, wie die beiden Prinzen aus dem Tower zu retten sind. Sie möchte, dass Ihr wisst, dass sie und ihr Gatte, Lord Stanley, Euch zu Diensten sind. Sie sagt, der Duke of Buckingham ist voller Befürchtungen, wozu der Ehrgeiz Herzog Richard noch verleitet. Sie glaubt, der junge Herzog sei bereit, die Seiten zu wechseln.»
«Buckingham hat alles getan, um den Herzog dahin zu bringen, wo er jetzt ist», erwidere ich. «Warum sollte er es sich an diesem Siegestag anders überlegen?»
«Lady Margaret glaubt, der Duke of Buckingham könnte überzeugt werden.» Er beugt sich vor, um mir ins Ohr zu flüstern: «Sie glaubt, er zweifelt allmählich an seinem Anführer. Außerdem interessiert er sich für größere Belohnungen als die, die Herzog Richard ihm bieten kann. Er ist ein junger Mann und leicht zu beeinflussen. Er fürchtet, dass der Herzog selbst den Thron besteigen will, und hat Angst um die Sicherheit Eurer Söhne. Ihr seid seine Schwägerin, es sind seine Neffen. Er macht sich Sorgen um die Zukunft der Prinzen, seiner jungen Verwandten. Lady Margaret bittet mich, Euch auszurichten, dass die Diener im Tower ihrer Meinung nach bestechlich sind. Sie möchte wissen, wie sie Euch in Eurem Vorhaben, den Prinzen Edward und Richard die Freiheit zu schenken, unterstützen kann.»
«Es ist nicht Richard …», setze ich an, da kommt Elizabeth wie ein Geist vom Fluss die Stufen herauf. Der Saum ihres Kleides ist durchnässt.
«Elizabeth! Was machst du denn da?»
«Ich war unten und habe eine Weile am Fluss gesessen», sagt sie. Ihr blasses Gesicht hat einen seltsamen Ausdruck. «Am Morgen war es zuerst ganz ruhig und schön, dann wurde es immer geschäftiger. Ich habe mich gewundert, dass so viel los war auf dem Fluss. Es war fast, als würde der Fluss selbst es mir erzählen.» Sie sieht den Arzt an. «Wer ist das?»
«Ein Bote von Lady Margaret Stanley», erkläre ich und betrachte ihr nasses Kleid, das sie hinter sich herschleift wie einen Fischschwanz. «Wie bist du so nass geworden?»
«Von den vorbeifahrenden Barkassen», sagt sie, ihr Gesicht blass und feindselig. «Die vielen Barkassen, die den Fluss hinunter zum Baynard Castle gefahren sind, wo Herzog Richard heute groß Hof hält. Das Kielwasser der vorbeifahrenden Schiffe hat die Stufen überspült. Was geschieht dort heute? Halb London ist auf Barkassen unterwegs zum Haus des Herzogs, dabei soll mein Bruder doch angeblich heute gekrönt werden.»
Dr. Lewis wirkt verlegen. «Ich wollte es Eurer königlichen Mutter gerade mitteilen», sagt er zögernd.
«Der Fluss selbst ist Zeuge», sagt meine Tochter rüde. «Er ist mir über die Füße geschwappt, als wollte er es mir sagen. Jeder kann es erraten.»
«Was erraten?», frage ich beide.
«Das Parlament hat sich versammelt und Herzog Richard zum rechtmäßigen König erklärt», sagt er leise, doch seine Worte hallen durch das Flurgewölbe, als verkündete er lauthals eine Proklamation. «Es hat entschieden, dass Eure Ehe mit dem König ohne Wissen der rechtmäßigen Lords geschlossen wurde und durch Hexerei seitens Eurer Mutter und Euch herbeigeführt wurde. Und dass der König bereits mit einer anderen Dame verheiratet war.»
«Dann warst du also all die Jahre seine Hure und wir sind Bastarde», fährt Elizabeth kalt fort. «Wir sind vernichtet und beschämt. Es ist vorbei, alles vorbei. Können wir Edward und Richard jetzt abholen und gehen?»
«Was redest du da?», frage ich sie. Diese Tochter in einem Kleid wie ein nasser Fischschwanz, wie eine Meerjungfrau, die vom Fluss hochgekommen ist, verwirrt mich genauso wie die Nachricht, dass Richard Anspruch auf den Thron erhoben hat und wir geschlagen wurden. «Was redest du da? Was ist dir durch den Kopf gegangen, als du am Fluss gesessen hast? Elizabeth, du bist so seltsam heute. Warum bist du so?»
«Weil ich glaube, dass wir verflucht sind», schleudert sie mir entgegen. «Ich glaube, wir sind verflucht. Der Fluss hat mir einen Fluch zugeflüstert. Dir und Vater gebe ich die Schuld, weil ihr uns in die Welt gesetzt und hierher gebracht habt, in die Klauen des Ehrgeizes, und doch habt ihr an der Macht nicht festhalten können, um uns zu schützen.»
Ich greife nach ihren kalten Händen und halte sie fest, als wollte ich meine Tochter am Fortschwimmen hindern. «Du bist nicht verflucht, Mädchen. Du bist das beste und außerordentlichste meiner Kinder, das schönste und meistgeliebte. Das weißt du! Welcher Fluch sollte dich treffen?»
Der Blick, den sie mir zuwirft, ist voller Entsetzen, als hätte sie ihren Tod gesehen. «Du wirst niemals aufgeben, du wirst uns niemals in Frieden lassen. Dein Ehrgeiz wird der Tod meiner Brüder sein, und wenn sie tot sind, setzt du mich auf den Thron. Der Thron ist dir wichtiger als deine Söhne, und wenn sie beide tot sind, setzt du mich auf den Thron meines toten Bruders. Du liebst die Krone mehr als deine Kinder.»
Ich schüttele den Kopf, um die Macht ihrer Worte zu leugnen. Dies ist mein kleines Mädchen, dies ist mein sorgloses, unkompliziertes Kind, dies ist mein Liebling, meine Elizabeth. Sie ist Fleisch von meinem Fleisch. Sie hatte nie einen Gedanken, den ich ihr nicht in den Kopf gesetzt habe. «Das kannst du gar nicht wissen; es ist nicht wahr. Du kannst es nicht wissen. Der Fluss kann dir so etwas nicht sagen, und du kannst es nicht hören. Es ist nicht wahr.»
«Ich werde den Thron meines Bruders einnehmen», sagt sie, als könnte sie mich nicht hören. «Und du wirst froh sein darüber, denn dein Ehrgeiz ist dein Fluch, sagt der Fluss.»
Ich werfe einen Blick auf den Arzt und überlege, ob sie Fieber hat. «Elizabeth, der Fluss kann nicht zu dir sprechen.»
«Natürlich spricht er zu mir, natürlich höre ich ihn!», ruft sie ungeduldig aus.
«Es gibt keinen Fluch …»
Sie wirbelt herum, gleitet durch den Raum – ihr Kleid hinterlässt eine feuchte Schleifspur – und öffnet das Fenster. Dr. Lewis und ich folgen ihr, für einen Augenblick besorgt, sie wäre wahnsinnig geworden und wollte aus dem Fenster springen. Doch ich werde augenblicklich von einer hohen, süßen Totenklage vom Fluss gebremst, einem sehnsüchtigen Laut, einem Trauergesang, einem derart qualvollen Klang, dass ich die Hände auf die Ohren lege, um das Klagelied auszusperren. Fragend sehe ich den Arzt an. Er schüttelt verwirrt den Kopf, denn er hört nur heitere Stimmen von den vorbeifahrenden Barkassen, die zur Krönung des Königs fahren, Trompetengeschmetter und Trommelschlag. Indessen sieht er die Tränen in Elizabeths Augen. Er sieht mich vor dem offenen Fenster zurückschrecken und mir vor dem quälenden Gesang die Ohren zuhalten.
«Das gilt nicht dir», sage ich. Ich ersticke schier an meinem Kummer. «Ach, Elizabeth, meine Liebe, das gilt dir nicht. Das ist Melusines Lied, das wir hören, wenn einer aus unserem Hause stirbt. Das ist keine Warnung für dich. Dies gilt meinem Sohn Richard Grey, ich kann es hören. Es gilt meinem Sohn und meinem Bruder Anthony. Meinem Bruder Anthony, dem ich geschworen habe, ich würde auf ihn aufpassen.»
Der Arzt ist kreidebleich vor Schreck. «Ich höre nichts», sagt er. «Nur den Lärm der Menschen, die den neuen König bejubeln.»
Elizabeth ist neben mir, ihre grauen Augen sind dunkel wie sturmgepeitschtes Meer. «Dein Bruder? Was meinst du damit?»
«Mein Bruder und mein Sohn haben durch die Hand von Richard of Gloucester den Tod gefunden, so wie mein Bruder John und mein Vater durch George of Clarence zu Tode gekommen sind. Die Söhne von York sind mordende Bastarde, Richard ist kein Deut besser als George. Sie haben mir den besten Mann meiner Familie genommen und mir das Herz gebrochen. Ich kann es hören. Ich kann den Fluss hören. Das ist sein Lied. Das ist seine Totenklage für meinen Sohn und meinen Bruder.»
Sie tritt näher. Sie ist wieder mein zartes Mädchen, ihr wilder Zorn wie weggefegt. Sie legt mir eine Hand auf die Schulter. «Mutter …»
«Glaubst du denn, er hört jetzt auf?», platzt es wütend aus mir heraus. «Er hat meinen Jungen, er hat meinen königlichen Sohn. Wenn er es wagt, mir Anthony wegzunehmen, wenn er es über sich gebracht hat, mir Richard Grey zu nehmen, glaubst du, er wird davor haltmachen, mir auch noch Edward zu nehmen? Einen Bruder und einen Sohn hat er mir an diesem Tag schon geraubt. Niemals werde ich ihm das verzeihen, niemals werde ich das vergessen! Für mich ist er ein toter Mann. Ich werde ihn siechen sehen, ich werde sehen, wie sein Schwertarm ihm den Dienst versagt, ich werde sehen, wie er nach seinen Freunden sucht, wie ein Kind, das sich auf dem Schlachtfeld verirrt hat, ich werde sehen, wie er fällt.»
«Mutter, sei still», flüstert sie. «Sei still und hör dem Fluss zu.»
Es ist das Einzige, was mich beruhigen kann. Ich reiße alle Fenster des Zimmers auf. Warme Sommerluft dringt in die kalte Düsternis der Krypta. Tief unten schwappt das Wasser gegen die Ufer. Es ist Ebbe, es stinkt nach Schlamm, doch der Fluss fließt weiter, als wollte er mich daran erinnern, dass das Leben weitergeht, als wollte er sagen, dass Anthony von uns gegangen ist, dass mein Sohn Richard Grey gegangen ist und dass mein Junge, der kleine Prinz Richard, auf einem kleinen Boot flussabwärts zu Fremden gegangen ist.
Von vorbeifahrenden Barkassen weht Musik herüber, die Edelleute feiern Herzog Richards Thronbesteigung. Ich begreife nicht, dass sie den Gesang des Flusses nicht hören können, dass sie nicht wissen, dass Lichter ausgelöscht wurden mit dem Tod meines Bruders Anthony und meines Sohnes … meines Sohnes.
«Er hätte nicht gewollt, dass du trauerst», sagt sie ruhig. «Onkel Anthony hat dich so sehr geliebt. Er hätte nicht gewollt, dass du trauerst.»
Ich lege meine Hand auf die ihre. «Er hätte gewollt, dass ich weiterlebe und euch Kinder aus dieser Gefahr bringe», sage ich. «Wir halten uns vorerst weiter im Asyl versteckt, aber ich schwöre, wir werden wieder hinausgehen und unseren wahren Platz einnehmen. Du kannst dies den Fluch des Ehrgeizes nennen, wenn du willst, aber ohne ihn würde ich nicht kämpfen. Und kämpfen werde ich. Du wirst mich kämpfen sehen und siegen.
Wenn wir nach Flandern segeln müssen, werden wir es tun. Wenn wir zuschnappen müssen wie in die Enge getriebene Hunde, werden wir es tun. Wenn wir uns wie Bauern in Tournai verstecken und uns von Aalen aus der Schelde ernähren müssen, werden wir es tun. Richard wird uns nicht vernichten. Kein Mann auf dieser Welt kann uns vernichten. Wir werden uns erheben. Wir sind Kinder der Göttin Melusine: Vielleicht müssen wir zurückweichen, doch wir werden wieder aufsteigen. Das wird Richard noch erfahren. Jetzt sind wir am Tiefpunkt angelangt, aber bei Gott, er wird erleben, wie es ist, wenn sich die Gezeiten wenden.»
Tapfere Worte, doch sobald ich schweige, überwältigt mich die Trauer um meinen Sohn Richard und um meinen Bruder, meinen geliebten Bruder Anthony. Ich denke noch einmal an Richard als an einen kleinen Jungen, wie er hoch oben auf dem Pferd des Königs saß, wie er am Straßenrand meine Hand hielt, als wir auf den König warteten. Er war mein Junge, mein schöner Junge, dessen Vater in der Schlacht gegen einen der York-Brüder starb, und jetzt ist er gestorben durch die Hand eines anderen York. Ich erinnere mich an meine Mutter, wie sie ihren Sohn John betrauert und gesagt hat, wenn man ein Kind durch die ersten Lebensjahre gebracht hat, wiege man sich in Sicherheit. Doch eine Frau ist nie sicher. Nicht in dieser Welt. Nicht in dieser Welt, in der ein Bruder gegen den anderen kämpft und niemand das Schwert zur Seite legen oder dem Gesetz vertrauen kann. Ich denke an ihn als Baby in der Wiege, als Kleinkind, als er laufen lernte, sich an meine Finger klammerte, die lange Galerie in Grafton immer hoch und runter, bis mir der Rücken wehtat vom Bücken, und dann denke ich an ihn als Jüngling, aus dem ein guter, aufrechter Mann werden sollte.
Mein Bruder Anthony war seit Kindheitstagen mein liebster und vertrauenswürdigster Freund und Ratgeber. Edward hatte recht, ihn den größten Dichter und edelsten Ritter am Hof zu nennen. Anthony, der so gern nach Jerusalem pilgern wollte, hätte ich ihn nicht aufgehalten. Richard hat in Stony Stratford mit den beiden gespeist, als sie sich auf der Straße nach London begegnet sind und freundlich über das England sprachen, das wir alle zusammen errichten würden, Rivers und Plantagenets, über ihren gemeinsamen Erben, meinen Sohn, den sie auf den Thron setzen würden. Anthony war kein Narr, aber er hat Richard vertraut – warum auch nicht? Sie waren Verwandte. Sie haben Seite an Seite in der Schlacht gekämpft, waren Waffenbrüder. Sie sind zusammen ins Exil gegangen und im Triumph nach England zurückgekehrt. Beide Onkel hatten die Vormundschaft für meinen kostbaren Sohn inne.
Als Anthony am Morgen in die Gaststube hinunterkam, um zu frühstücken, waren die Türen verbarrikadiert, und seine Männer hatte man weggeschickt. Er fand Herzog Richard und Henry Stafford, Duke of Buckingham, vor, zur Schlacht gerüstet, ihre Männer mit versteinerten Gesichtern im Hof. Sie verschleppten ihn zusammen mit meinem Sohn Richard Grey und Sir Thomas Vaughan und beschuldigten sie des Verrats, obwohl alle drei treue Diener meines Sohnes, des neuen Königs, waren.
Im Gefängnis, wo er auf seinen Tod am nächsten Morgen wartet, lauscht Anthony einen Augenblick am Fenster, ob es nicht doch so etwas gibt wie das starke, süße Lied der Melusine. Er erwartet nicht, etwas zu hören, doch als er ein glockenähnliches Läuten hört, erhellt ein Lächeln sein Gesicht. Er schüttelt den Kopf, um das Läuten aus seinen Ohren zu vertreiben, doch die überirdische Stimme bleibt und verleitet ihn zu einem pietätlosen Kichern. Er hat nie an die Legende von dem Mädchen geglaubt, das halb Fisch ist und halb Frau, die Ahnherrin seines Geschlechts. Doch jetzt muss er feststellen, dass es ihn tröstet, sie um seinen Tod singen zu hören. Er bleibt am Fenster stehen, die Stirn gegen den kühlen Stein gelehnt. Ihre Stimme zu hören, hoch und klar, über den Zinnen von Pontefract Castle, ist ihm endlich Beweis dafür, dass es die Gabe seiner Mutter, seiner Schwester und seiner Nichte wirklich gibt. Sie haben es immer behauptet, doch er hat ihnen nur halb geglaubt. Er wünschte, er könnte seiner Schwester noch sagen, dass er es jetzt weiß. Sie werden die Gabe womöglich brauchen. Vielleicht reicht sie aus, um sie zu retten. Um die ganze Familie zu retten, die sich zu Ehren der Wassergöttin Rivers genannt hat, der Begründerin ihrer Familie. Vielleicht sogar, um ihre zwei Plantagenet-Söhne zu retten. Wenn Melusine für ihn, einen Ungläubigen, singen kann, kann sie vielleicht auch die leiten, die auf ihre Warnungen hören. Er lächelt, denn das hohe, klare Lied gibt ihm Hoffnung, dass Melusine über seine Schwester und ihre Söhne wacht, besonders über den Jungen, der in seiner Obhut war und den er liebt: Edward, den neuen König von England. Er lächelt, weil ihre Stimme die Stimme seiner Mutter ist.
Er verbringt die Nacht weder betend noch weinend, sondern schreibend. In seinen letzten Stunden ist er weder Abenteurer noch Ritter, nicht einmal Bruder oder Onkel, sondern Dichter.
Sie bringen mir, was er geschrieben hat. Ich erkenne, dass er am Ende, just in dem Augenblick, da er dem Tod ins Auge blickte, erfahren hat, dass alles eitel ist. Ehrgeiz, Macht, selbst der Thron, der unsere Familie so teuer zu stehen kam – am Ende wusste er, dass das alles bedeutungslos war. Und doch starb er in diesem Wissen nicht verbittert, sondern lächelnd über die Torheit der Menschen, über seine eigene Torheit.
Er schreibt:
Sinnierend
und voller Trauer
gedenke ich
der Unbeständigkeit
der Welt.
Die sich so hastig dreht.
Dagegen ich,
was sinn’ ich wohl?
Voller Verdruss
und voller Kummer,
da ich kein
Mittel weiß dagegen.
im tiefsten Kern
ist mein Tanz so,
dass ich nur sterben möcht’.
Mich dünkt wahrlich,
ich bin verpflichtet,
zu sehr,
als zufrieden zu sein.
Seh ich jetzt klar:
Das Schicksal wirkt
im Widerspruch
zu meinem Streben.
Dies ist das Letzte, was er in der Morgendämmerung tut, und dann führen sie ihn hinaus und enthaupten ihn auf Befehl von Richard of Gloucester, dem neuen Lord Protector von England, der jetzt für meine Sicherheit verantwortlich ist, für die Sicherheit all meiner Kinder und besonders für die Sicherheit und Zukunft meines Sohnes, Prinz Edward, des rechtmäßigen Königs von England.
Ich lese Anthonys Gedicht später, und die Zeilen «Das Schicksal wirkt im Widerspruch zu meinem Streben» gefallen mir besonders. Das Schicksal hat sich dieses Jahr gegen uns Rivers gestellt – da hat er recht.
Ich muss herausfinden, wie ich ohne ihn leben kann.
Zwischen meiner Tochter Elizabeth und mir hat sich etwas verändert. Mein Mädchen, mein Kind, meine älteste Tochter, ist plötzlich erwachsen geworden und mir entwachsen. Das Kind, das geglaubt hat, ich wüsste alles, ich würde über alles gebieten, ist jetzt eine junge Frau, die ihren Vater verloren hat und an ihrer Mutter zweifelt. Sie findet es nicht richtig, dass ich darauf bestehe, weiter im Asyl zu bleiben. Sie macht mich für den Tod ihres Onkels Anthony verantwortlich. Sie wirft mir vor – auch wenn sie nie ein Wort darüber verliert –, dass es mir nicht gelungen ist, ihren Bruder Edward zu retten, und dass ich ihren kleinen Bruder Richard schutzlos in die graue Stille des abendlichen Flusses geschickt habe.
Sie zweifelt daran, dass ich ein sicheres Versteck für Richard gefunden habe und dass unser Plan mit dem untergeschobenen Pagen glückt. Sie weiß, dass ich Edward nur einen falschen Prinzen zur Gesellschaft schicke, weil ich daran zweifle, dass Edward je wieder nach Hause kommt. Sie setzt keine Hoffnung in den Aufstand, den mein Sohn Thomas Grey schürt. Sie fürchtet, dass wir niemals gerettet werden.
Seit jenem Morgen, da wir den Gesang des Flusses hörten, und dem Nachmittag, als man uns die Nachricht von Anthonys und Richards Tod brachte, hat sie kein Vertrauen mehr in mein Urteil. Sie hat nicht wiederholt, dass sie glaubt, wir seien verflucht, doch die Schatten um ihre Augen und die Blässe ihres Gesichts verraten mir, dass etwas sie quält. Gott weiß, ich habe sie nicht verflucht, und ich kenne niemanden, der diesem silber-goldenen Mädchen so etwas antun würde, aber es stimmt: Sie sieht aus, als hätte ihr jemand einen dunklen Daumenabdruck aufgedrückt und sie so mit einem harten Schicksal gezeichnet.
Als Dr. Lewis wiederkommt, bitte ich ihn, sie zu untersuchen und mir zu sagen, ob sie gesund ist. Sie isst kaum noch etwas und ist sehr blass. «Sie muss frei sein», sagt er einfach. «Ich sage Euch als Arzt, was ich bald als Verbündeter zu sehen hoffe. Eure Kinder und Ihr selbst, Euer Gnaden, könnt nicht hierbleiben. Ihr müsst hinaus an die frische Luft, Ihr müsst den Sommer genießen. Sie ist ein zartes Mädchen, sie braucht Bewegung und Sonnenschein. Sie braucht Gesellschaft. Sie ist eine junge Frau – sie sollte tanzen und sich hofieren lassen. Sie sollte ihre Zukunft planen dürfen, von ihrem Verlöbnis träumen, nicht hier eingesperrt sein und den Tod fürchten.»
«Ich habe eine Einladung vom König.» Ich zwinge mich, den Titel zu nennen, als könnte Richard ihn je verdienen, als könnte die Krone auf seinem Kopf und die Salbung seiner Brust je mehr aus ihm machen als den Verräter und Abtrünnigen, der er ist. «Der König möchte, dass ich diesen Sommer mit den Mädchen in mein Haus auf dem Land gehe. Er sagt, wenn ich dort wäre, könnte man mir die Prinzen bringen.»
«Und, werdet Ihr gehen?» Er ist so gespannt auf meine Antwort, dass er sich vorbeugt, um sie zu hören.
«Zuerst müssen meine Söhne freigelassen werden. Solange meine Jungen nicht bei mir sind, wie er es versprochen hat, habe ich keine Garantie für meine Sicherheit und die meiner Mädchen.»
«Gebt acht, Euer Gnaden, gebt acht. Lady Margaret fürchtet, er treibe ein falsches Spiel mit Euch», flüstert er. «Sie sagt, der Duke of Buckingham glaube, er werde Eure Jungen …», er zögert, als brächte er es nicht über sich, die Worte auszusprechen, «… töten lassen. Sie sagt, der Duke of Buckingham sei so entsetzt darüber, dass er Eure Söhne retten und sie Euch zurückgeben will, wenn Ihr ihm Sicherheit und Wohlstand garantiert, sobald Ihr wieder an der Macht seid. Wenn Ihr ihm Eure Freundschaft versprecht, Eure unvergängliche Freundschaft, sobald Ihr wieder zu Eurem Recht gekommen seid. Lady Margaret sagt, sie wird ihn dazu bringen, ein Bündnis mit Euch und den Euren einzugehen. Die drei Familien Stafford, Rivers und das Haus Lancaster gegen den falschen König.»
Ich nicke. Darauf habe ich gewartet. «Was will er im Gegenzug?», frage ich freiheraus.
«Dass seine Tochter, sollte er mit einer gesegnet werden, Euren Sohn heiratet, den jungen König Edward», berichtet er. «Dass er selbst zum Regenten und Lord Protector ernannt wird, solange der junge König nicht erwachsen ist. Dass Ihr ihm die Herrschaft über den Norden übertragt, die Herzog Richard innehatte. Wenn Ihr ihn zu einem derart bedeutenden Herzog macht wie Euer Gatte Herzog Richard, wird er seinen Freund verraten und Eure Söhne retten.»
«Und was will sie?», frage ich, als erriete ich es nicht. Als wüsste ich nicht, dass sie die vergangenen zwölf Jahre, seit ihr Sohn ins Exil ging, jeden Tag, den Gott werden ließ, daran gearbeitet hat, ihn sicher zurück nach England zu bringen. Er ist das einzige Kind, das sie empfangen hat, der einzige Erbe ihres Familienvermögens und des Titels ihres verstorbenen Gatten. Alles, was sie in ihrem Leben erreicht hat, wird nichts sein, wenn sie ihren Sohn nicht zurück nach England bringen kann, damit er sein Erbe antritt.
«Sie will eine Vereinbarung, dass ihr Sohn seinen Titel bekommt und ihre Ländereien erben darf und dass ihr Schwager Jasper wieder auf seinen Ländereien in Wales eingesetzt wird. Sie will, dass beide frei nach England zurückkehren können, und sie möchte ihren Sohn Henry Tudor mit Eurer Tochter Elizabeth verloben. Außerdem sollt Ihr ihn als Erben nach Euren Söhnen benennen», sagt er rasch.
Ich zögere keinen Augenblick. Ich habe nur auf die Bedingungen gewartet, und sie sind genau so, wie ich erwartet habe. Nicht indem ich es vorausgesehen habe, sondern einfach nur durch das Gefühl dafür, was ich verlangen würde, wenn ich Lady Margaret wäre, in ihrer starken Position: verheiratet mit dem drittwichtigsten Mann Englands, im Bündnis mit dem zweitwichtigsten, den Verrat des wichtigsten planend. «Ich bin einverstanden», erkläre ich. «Sagt dem Duke of Buckingham und Lady Margaret, dass ich einverstanden bin. Und nennt ihnen meinen Preis: Meine Söhne werden sofort freigelassen und zu mir gebracht.»
Am nächsten Morgen kommt mein Bruder Lionel lächelnd zu mir. «An der Pforte zum Fluss ist jemand, der dich sehen möchte», sagt er. «Ein Fischer. Begrüß ihn leise, Schwester. Denk daran, dass Zurückhaltung die größte Gabe einer Frau ist.»
Lionel legt mir eine Hand auf den Arm, weniger die eines Bischofs als eines Bruders. «Kreisch nicht los wie ein Mädchen», sagt er freiheraus und lässt mich gehen.
Ich nicke, schlüpfe durch die Tür und steige die Steinstufen zum Korridor hinunter. Er ist düster, nur das Tageslicht, das durch das Eisentor zum Fluss fällt, erhellt ihn. Draußen hüpft eine kleine Jolle auf und ab, in deren Heck ein Bündel Fischernetze liegt. Ein Mann in einem schmutzigen Umhang, den Hut tief ins Gesicht gezogen, wartet an der Pforte, doch seine Körpergröße lässt sich nicht verbergen. Von Lionel gewarnt, schreie ich nicht auf. Ohnehin schreckt mich der Gestank nach altem Fisch so ab, dass ich ihm auch nicht in die Arme falle. Ruhig sage ich: «Bruder, mein Bruder, ich freue mich von ganzem Herzen, dich zu sehen.»
Seine dunklen Augen blitzen unter der breiten Krempe auf, und ich sehe in das lächelnde Gesicht meines Bruders Richard Woodville, verunstaltet durch einen scheußlichen Bart. «Geht es dir gut?», frage ich, ziemlich schockiert über seine äußere Erscheinung.
«Es ging mir niemals besser», sagt er unbekümmert.
«Hast du von unserem Bruder Anthony gehört?», frage ich. «Und von meinem Sohn Richard Grey?»
Er nickt, plötzlich ernst. «Ich habe es heute Morgen erfahren. Auch deswegen bin ich hergekommen. Es tut mir leid, Elizabeth, es tut mir unendlich leid für deinen Verlust.»
«Du bist jetzt Earl Rivers», sage ich. «Der dritte Earl Rivers. Du bist das Oberhaupt der Familie. Scheint, als würden wir die Köpfe unserer Familie recht zügig verschleißen. Bitte, behalt du den Titel eine Weile länger.»
«Ich will tun, was ich kann», verspricht er. «Gott weiß, ich habe den Titel von zwei guten Männern geerbt. Ich hoffe, ihn länger zu halten, aber ich bezweifle, dass ich es besser machen kann als sie. Wie auch immer, wir stehen kurz vor einem Aufstand. Hör mir gut zu. Richard fühlt sich mit der Krone auf dem Kopf sicher, er will auf Rundreise gehen, um sich in seinem Königreich zu zeigen.»
Ich muss an mich halten, um nicht ins Wasser zu spucken. «Ich frage mich, ob seine Pferde die Dreistigkeit besitzen, sich vom Fleck zu rühren.»
«Sobald er London verlassen hat und seine Garde mit ihm, stürmen wir den Tower und holen Edward heraus. Der Duke of Buckingham ist auf unserer Seite, ich vertraue ihm. Er muss mit König Richard reisen, und der König wird auch Stanley zwingen, ihn zu begleiten, denn er zweifelt immer noch an ihm. Aber Lady Margaret wird in London bleiben und Stanleys Männern und ihren eigenen Verwandten befehlen, sich uns anzuschließen. Sie hat ihre Männer schon im Tower platziert.»
«Werden wir genug Männer haben?»
«Fast hundert. Der neue König hat Sir Robert Brackenbury zum Kommandanten des Towers ernannt. Brackenbury würde niemals einem Jungen, der unter seiner Obhut steht, ein Haar krümmen – er ist ein guter Mann. Ich habe neue Diener in die königlichen Gemächer bestellt, Männer, die mir die Türen öffnen, wenn ich es ihnen befehle.»
«Und dann?»
«Wir bringen dich und die Mädchen nach Flandern. Deine Söhne Richard und Edward sollten uns begleiten», sagt er. «Hast du Nachricht von den Männern, die Prinz Richard fortgebracht haben? Ist er sicher in seinem Versteck?»
«Noch nicht», sage ich gereizt. «Ich erwarte jeden Tag eine Nachricht. Inzwischen hätte ich hören müssen, dass er in Sicherheit ist. Ich bete jede Stunde für ihn. Längst hätte ich etwas hören müssen.»
«Vielleicht ist ein Brief verloren gegangen, das heißt nichts. Wenn etwas schiefgegangen wäre, hätten sie gewiss Nachricht geschickt. Und denk nur: Du kannst Richard auf dem Weg zu Margarets Hof in seinem Versteck abholen. Sobald du deine Söhne wiederhast und ihr in Sicherheit seid, stellen wir unsere Armee auf. Buckingham wird sich zu uns bekennen. Lord Stanley und seine ganze Sippe stehen auf unserer Seite, hat uns seine Gattin, Margaret Beaufort, versprochen. Die Hälfte von Richards Lords ist dem Duke of Buckingham zufolge bereit, sich gegen ihn zu wenden. Lady Margarets Sohn, Henry Tudor, wird in der Bretagne Waffen und Männer ausheben und über Wales einfallen.»
«Wann?», flüstere ich.
Er sieht sich um. Auf dem Fluss herrscht wie immer reges Treiben, Schiffe kreuzen, kleine Frachtjollen fädeln sich zwischen den größeren Booten durch. «Herzog Richard …» Er unterbricht sich und grinst mich an. «Verzeih, ‹König Richard› wird Ende Juli zu seiner Rundreise aufbrechen. Wir eilen sofort zu Edwards Rettung und geben euch beiden genug Zeit, euch in Sicherheit zu bringen, sagen wir, zwei Tage, dann werden wir uns erheben, während der König auf Reisen ist.»
«Und unser Bruder Edward?»
«Edward rekrutiert Männer in Devon und Cornwall. Dein Sohn Thomas ist in Kent unterwegs. Buckingham wird Männer aus Dorset und Hampshire bringen, Stanley seine Sippschaft aus den Midlands, und Margaret Beaufort und ihr Sohn können im Namen der Tudors Wales erheben. Alle Männer des Hofes deines Gemahls sind fest entschlossen, seine Söhne zu retten.»
Ich knabbere an meinem Finger, denke, wie mein Gatte gedacht hätte: Männer, Waffen, Geld und breite Unterstützung im Süden Englands. «Es reicht, wenn wir Richard schlagen können, bevor er seine Männer aus dem Norden herbeiholt.»
Er grinst mich an, verwegen wie ein Rivers. «Es reicht, und wir haben alles zu gewinnen und nichts zu verlieren», sagt er. «Er hat unserem Jungen die Krone gestohlen: Wir haben nichts zu fürchten. Das Schlimmste ist bereits geschehen.»
«Das Schlimmste ist bereits geschehen», wiederhole ich, und den Schauer, der meinen Rücken hinunterläuft, schreibe ich dem Verlust meines geliebten Bruders Anthony und dem Tod meines Sohnes Richard Grey zu. «Das Schlimmste ist bereits geschehen. Nichts kann schlimmer sein als die Verluste, die wir bereits erlitten haben.»
Richard legt seine schmutzige Hand auf die meine. «Halt dich bereit, sofort aufzubrechen, sobald ich dir eine Nachricht schicke», sagt er. «Ich gebe dir Bescheid, sobald ich Prinz Edward in Sicherheit gebracht habe.»
«Ich werde bereit sein.»