Wir sind immer die Verarschten. So ist es nun einmal. Das Leben fickt uns von hinten.«
Solinas, in dessen Nase Wattebäusche steckten, fand das Schlusswort, das seiner Analphilosophie entsprach.
Vor dem gerichtsmedizinischen Institut hatte Anaïs den Kommissar überredet, mit ihr ins Auto zu steigen. Sie waren ein paar Hundert Meter gefahren, hatten eine Brücke überquert und vor dem großen Tor eines Parks angehalten, den Anaïs für den Jardin des Plantes hielt.
Hier hatte sie Solinas die letzten Informationen mitgeteilt. Das Matrjoschka-Projekt. Das Serum. Die menschlichen Versuchskaninchen. Den ganzen Schlamassel, den die Armee unter dem Deckmantel von Mêtis angerichtet hatte.
»Ende des Coups«, schloss sie.
Solinas schüttelte langsam den Kopf. Er schien zwar niedergeschlagen, nicht aber erstaunt zu sein.
»Ehrlich gesagt überrascht es mich, dass du deine Beute so schnell loslässt.«
»Ich lasse überhaupt nichts los. Aber die Mauscheleien von Mêtis und der Armee bringen uns nicht weiter. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, und eigentlich ist das auch nicht das Ziel meiner Ermittlung.«
»Wonach genau suchst du denn? Ich habe offenbar den Faden verloren.«
»Ich will Freire retten.«
Solinas lachte grimmig.
»Also damit werde ich es nicht zum Präfekten bringen.«
»Hinter Janusz verschanzt sich der Mörder. Und den müssen wir fassen.«
Solinas sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Jeder geht seinen Weg so, wie er es für richtig hält. Auch wenn es sich merkwürdig anhört: Ich bin überzeugt, dass es eine Verbindung zwischen Medina Malaoui und dem Projekt Matrjoschka gibt.«
»Du hast mir doch selbst nahegelegt, mich von diesen Komplottgeschichten zu verabschieden.«
»Nur dass der Mörder, der mythologische Killer, irgendwie mit der Sache zusammenhängt. Die Leute bei Mêtis sind überzeugt, dass ihre Substanz aus einem ihrer Versuchskaninchen einen Massenmörder gemacht hat. Sie denken, es ist Freire. Ich bin überzeugt, dass sie sich irren, allerdings nur zum Teil. Mit Sicherheit ist der Mörder einer der Probanden.«
»Und was hat das alles mit der Malaoui zu tun? Sie war eine Nutte.«
Anaïs seufzte. Die Beleidigung schien allen Frauen zu gelten.
»Sie hatte irgendetwas mit dem Netzwerk zu tun, aus dem die Versuchskaninchen rekrutiert wurden. Deshalb ist Freire auch zu ihr zurückgekehrt.«
»Nachdem du ausgebüchst bist, sind meine Jungs ihren Internetverbindungen und Telefonkontakten nachgegangen.«
»Und?«
»Nichts. Ihre Freier hat sie jedenfalls so nicht gefunden. Nur eine Sache erschien uns merkwürdig. Sie war Mitglied eines Speed-Dating-Clubs.«
»Was für eine Art Club ist das?«
»Etwas ganz Banales. Er heißt sasha.com. Ein Portal für Loser.«
Ein solches Netzwerk passte nun ganz und gar nicht zu einer Edelprostituierten aus dem 8. Arrondissement und ihren gut betuchten Kunden.
»Wer ist für die Homepage zuständig?«
»Eine Dame, die sich Sasha nennt. Ihr richtiger Name lautet Véronique Artois. Ehe sie sich auf die Partnervermittlung verlegte, hatte sie schon ein paar Firmenpleiten hingelegt. Sie wird im Augenblick gerade von Fiton und Cernois vernommen.«
Anaïs wechselte das Thema.
»Was weißt du über Arnaud Chaplain?«
»Ich dachte mir schon, dass du mich das fragen würdest.«
Solinas steckte die Hand in den Mantel. Anaïs zuckte zusammen. Eine Aura von Gewalt und animalischer Brutalität umgab diesen Mann, der mit seinen Haaren in den Nasenlöchern wie ein Blödian aussah. Doch er nahm nur einen zusammengelegten Hefter aus der Tasche, legte ihn auf seine Knie und strich ihn glatt. Das auf die Vorderseite geheftete Foto überraschte Anaïs nicht.
»Arnaud Chaplain«, dozierte Solinas. »Gesicht bekannt, andere Identität. Arbeitet angeblich als Werbezeichner und abstrakter Maler.«
»Wieso angeblich?«
»Dieses Mal waren wir schneller als die Typen von der Kripo. Wir haben die Unterlagen, die Chaplain im Mai 2009 dem Makler überlassen hat. Alles getürkt.«
»Und womit verdiente er sein Geld?«
»Ich habe ein paar Leute darauf angesetzt. Auf seinem Bankkonto gingen lediglich Bareinzahlungen ein. Niemals Schecks, niemals Überweisungen. So etwas riecht meilenweit nach Schwindel.«
Anaïs öffnete die Akte und stieß auf weitere Fotos. Es waren sowohl offizielle Dokumente als auch Abzüge von den Sicherheitsvideos in der Rue de la Roquette. Die Zeiten des nachlässigen Psychiaters, des ungepflegten Clochards und des verrückten Malers waren vorbei. Er erinnerte auch nicht mehr an den Mann, der sie in Fleury besucht hatte.
Auf einem der Bilder glänzte seine Gürtelschnalle wie ein Sheriffstern.
»Er ist unschuldig«, wiederholte Anaïs. »Er muss beschützt werden.«
»Die Soldaten von vorhin werden ihn bestimmt kaltmachen.«
»Nicht, wenn wir ihn vorher verhaften. Wir erpressen sie einfach mit unserer Akte. Sobald Freire in Sicherheit ist, drohen wir ihnen, die Medien auf sie anzusetzen.«
»Eben hast du noch selbst gesagt, dass wir gegen diese Kerle nichts ausrichten können.«
»Niemand mag solche Drohungen. Und wenn es uns gelingt, den wahren Mörder zu entlarven, wird uns das zugutekommen.«
»Allerdings hat Janusz gerade erst zwei von ihren Leuten erledigt.«
»Aus Notwehr. Es war ein Kollateralschaden. Soldaten sollten das verstehen.«
Solinas antwortete nicht. Vielleicht erkannte er die vage Möglichkeit, sich mit der Verhaftung des wirklichen Mörders die begehrten Sporen verdienen zu können.
»Trotzdem weiß ich noch immer nicht, wo du heute Nachmittag abgeblieben bist.«
Es machte keinen Sinn mehr, Versteck zu spielen. Mit wenigen Worten schilderte Anaïs ihre Recherchen zu den Daguerreotypien. Sie sprach von der mit Jod bedampften Spiegelscherbe, die man bei Ikarus gefunden hatte, und ihrer Hypothese, dass der Mörder seine Werke fotografierte. Sie erklärte die hundertfünfzig Jahre alte Methode und dass es in Frankreich noch vierzig Fotografen gab, die diese Technik benutzten.
»Aha, Anaïs und die vierzig Wichser.«
»Das, was ich angefangen habe, bringe ich auch zu Ende. Zumindest die zwanzig Fotografen in der Umgebung von Paris werde ich besuchen und ihre Alibis für den Zeitpunkt der Morde überprüfen. Danach sehen wir weiter.«
Solinas räusperte sich, zog seinen Mantel zurecht und wurde sichtlich ruhiger. Die Energie seiner kleinen Kollegin schien ihn zu ermutigen.
»Setzt du mich am Büro ab?«
»Tut mir leid, aber dafür habe ich keine Zeit. Ruf dir einen Dienstwagen. Oder nimm ein Taxi. Wenn ich die Nacht durchmache, kann ich die Liste bis morgen Mittag erledigt haben.«
Der Kommissar grinste und betrachtete die Umgebung – das Gitter des Jardin des Plantes, den Boulevard de l’Hôpital mit seinem dichten Verkehr, den Bahnhof Austerlitz, der frisch renoviert war und wie eine Kulisse aus Stuck aussah.
Schließlich öffnete er die Wagentür und zwinkerte Anaïs zu.
»Dieser Spinner geht dir ganz schön unter die Haut, nicht wahr?«