Was ist das denn?«
Anaïs stand auf der Schwelle und hielt ihm eine Flasche Rotwein entgegen.

»Eine weiße Flagge. Ich möchte Frieden schließen.«

»Guten Abend«, lächelte Mathias Freire.

Es war Anaïs nicht schwergefallen, die Privatadresse des Psychiaters ausfindig zu machen, und acht Uhr abends erschien ihr gerade die richtige Zeit für einen Überraschungsbesuch. Sie hatte sich sogar ausnahmsweise einmal in Schale geworfen. Unter ihrem Mantel trug sie ein Batikkleid in goldgelben Tönen im Stil der Siebziger, hatte aber im letzten Augenblick Angst vor der eigenen Courage bekommen und war zusätzlich noch in eine Jeans geschlüpft. Das Resultat erschien ihr allerdings nicht sehr überzeugend. Außerdem trug sie den Push-up-BH, den sie nur ganz besonderen Gelegenheiten vorbehielt. Mit Glitzerpuder auf den Wangen, Spangen im Haar und ein paar Aspirin gegen die Kopfschmerzen fühlte sie sich bereit zum Angriff.

»Wollen Sie mich nicht reinlassen?«

»Entschuldigen Sie.«

Er trat beiseite und ließ sie ins Haus. Wie schon bei ihrem ersten Zusammentreffen sah er ziemlich zerknittert aus. Sein Hemdkragen lugte zur Hälfte aus dem Ausschnitt seines Pullovers, die Jeans waren fadenscheinig, und das Haar wirkte ungekämmt. Er sah aus wie ein zerstreuter Professor, der seine Studentinnen zum Träumen bringt, ohne sich dessen bewusst zu sein.

»Wie sind Sie an meine Adresse gekommen?«

»Ich habe mein komplettes Team aktiviert.«

Neugierig sah sie sich im Wohnzimmer um. Weiße Wände und Laminatboden. Abgesehen von einer durchgesessenen Couch und vielen an den Wänden aufgereihten Umzugskartons war der Raum fast leer.

»Sind Sie gerade angekommen oder ziehen Sie aus?«

»Diese Frage stelle ich mir jeden Morgen.«

Sie drückte ihm die Flasche in die Hand.

»Das ist ein Médoc. Ich gehöre einem Degustationsclub an und habe gestern mehrere Flaschen gekauft. Sie müssen mir unbedingt sagen, wie Sie ihn finden. Ein zarter Körper, aber kraftvoll ausgebaut. Ausgewogen und süffig. Er …«

Anaïs brach ab. Der Psychiater schien um Fassung zu ringen.

»Alles in Ordnung?«

»Es tut mir wirklich leid, aber ich trinke keinen Wein.«

Mit offenem Mund starrte Anaïs ihn an. Diesen Satz hörte sie in Bordeaux wirklich zum allerersten Mal.

»Und was trinken Sie?«

»Cola Zero.«

Sie musste lachen.

»Dann geben Sie uns doch einen aus.«

»Okay, setzen Sie sich«, sagte er und wandte sich zur Küche. »Ich hole nur schnell zwei Gläser.«

Interessiert betrachtete Anaïs das Zimmer. Gegenüber dem Sofa stand ein flacher Bildschirm an der Wand, und vor dem Fenster diente ein über zwei Böcke gelegtes Brett als Schreibtisch. Eine Lampe auf dem Boden verbreitete einen trüben Lichtschein. Der Psychiater hatte das für kleine Familien vorgesehene Haus in eine absolut anonyme Bleibe verwandelt.

Anaïs schmunzelte. Ganz offensichtlich lebte Freire allein. Nirgends sah sie ein Foto oder auch nur die leiseste Spur der Anwesenheit einer Frau. Außerhalb seiner Arbeit schien der Arzt weder Freunde noch eine Geliebte zu haben. Sie hatte sich informiert und wusste, dass er erst seit Anfang Januar in der Klinik arbeitete, aus Paris gekommen war, mit niemandem Kontakt hatte und sich anscheinend nur für seine Arbeit interessierte. Ein Typ, der höchstens in der Kantine oder anlässlich einer Einladung bei einem Kollegen einmal eine warme Mahlzeit zu sich nahm.

Sie trat an den Schreibtisch. Neben Notizen und jeder Menge teilweise in Englisch verfasster psychiatrischer Fachliteratur fand sie Computerausdrucke und hastig hingekritzelte Telefonnummern. Offenbar betrieb der Psychiater irgendwelche Nachforschungen. Ging es um seinen Patienten?

Neben dem Drucker lagen frisch ausgedruckte Fotos, die die Nummernschilder eines Autos im Regen zeigten. Was suchte der Arzt? Anaïs beugte sich vor, um die Nummern entziffern zu können, doch in diesem Augenblick näherten sich Schritte. Mathias kam mit Gläsern und Coladosen zurück.

»Mir gefällt es bei Ihnen«, sagte sie und ging zur Couch.

»Sie brauchen sich nicht über mich lustig zu machen.«

Er stellte die Dosen auf den Boden. Sie waren schwarz und beschlagen.

»Tut mir leid, aber ich besitze keinen Couchtisch.«

»Kein Problem.«

Er setzte sich im Schneidersitz auf den Boden.

»Ich überlasse Ihnen das Sofa.« Anaïs ließ sich nieder. Sie überragte ihn wie eine Königin. Sie öffneten die Dosen. Weder Anaïs noch Freire benutzten ein Glas. Sie prosteten einander zu und sahen sich dabei tief in die Augen.

»Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist«, entschuldigte er sich. »Wollen Sie vielleicht etwas essen? Ich habe allerdings nicht viel im Haus und …«

»Vergessen Sie’s. Ich wollte mit Ihnen feiern. Es gibt nämlich Neuigkeiten.«

»Welcher Art?«

»Es geht um die Ermittlungen.«

»Wollen Sie mich nicht mehr in Gewahrsam nehmen?«

Anaïs lächelte.

»Ich war ziemlich wütend.«

»Ich habe mich auch ganz schön unfair verhalten«, gab er zu. »Ich hätte Ihnen natürlich reinen Wein einschenken müssen, aber ich habe nur an meinen Patienten gedacht – an das, was mir für ihn die beste Lösung schien, verstehen Sie?« Er trank einen Schluck Cola. »Und nun zu Ihren Neuigkeiten.«

»Zunächst einmal haben wir das Opfer identifiziert. Ein junger Aussteiger, der auf jedem Rock-Festival zu finden und obendrein heroinsüchtig war. Er kam regelmäßig nach Bordeaux. Sein Mörder hat ihn mit Dope von außergewöhnlicher Reinheit angelockt, und der Junge ist an dem Schuss gestorben. Der Mörder hat seinen Tod richtiggehend inszeniert – mit dem Stierkopf und so weiter.«

Freire hörte aufmerksam zu.

Jetzt ließ Anaïs die Bombe platzen.

»Wir haben auch den Mörder identifiziert.«

»Wie bitte?«

Mit einer Geste dämpfte sie seine Erwartungen.

»Sagen wir lieber mal so: Die Spurensicherung hat in der Grube Fingerabdrücke gefunden, die weder von unserem Opfer noch von Ihrem Cowboy stammen. Die zentrale Datenbank hat uns einen Namen dazu geliefert. Die Fingerabdrücke gehören einem Obdachlosen aus Marseille, der Victor Janusz heißt. Der Typ ist vor einigen Monaten nach einer Schlägerei festgenommen worden.«

»Wissen Sie, wo er sich zurzeit aufhält?«

»Noch nicht, aber wir haben ihn zur Fahndung ausgeschrieben. Ich bin sicher, dass wir ihn bald finden. Die Polizei von Marseille ist im Einsatz, und wir werden seiner Spur bis Bordeaux folgen. Auf diese Weise hat die Polizei schließlich auch den Serienmörder Francis Heaulme dingfest gemacht.«

Freire schien enttäuscht. Er drehte seine Coladose in der Hand und betrachtete sich im silbrigen Metall des Deckels.

»Was wissen Sie über den Mann?«, fragte er nach einer geraumen Zeit.

»Nichts. Ich warte auf seine Akte, aber wir haben schon den ganzen Tag Probleme mit dem Computer. Der einzige wahre Feind der Polizeiarbeit ist heutzutage ein Virus.«

Der Psychiater machte sich nicht die Mühe zu lächeln. Er blickte zu Anaïs auf.

»Glauben Sie, dass die Inszenierung des Mordes zu einem Obdachlosen passt?«

»Absolut nicht. Aber wir werden eine Erklärung finden. Vielleicht ist dieser Janusz nur ein Komplize.«

»Oder ein Zeuge.«

»Ein Zeuge, der selbst in die Grube gestiegen ist und überall seine Fingerabdrücke hinterlassen hat? Wir nennen so etwas erschwerende Umstände.«

»Damit ist Patrick Bonfils aber vielleicht aus dem Schneider, oder?«

»Langsam. Da ist immer noch diese Sache mit dem Plankton. Allerdings konzentrieren wir uns im Moment auf Janusz. Sobald ich Zeit habe, werde ich selbst nach Guéthary fahren und Ihren Schützling vernehmen. In jedem Fall sind wir auf dem richtigen Weg.«

Freire lachte leise.

»Das sind wirklich gute Nachrichten … für einen Bullen.«

War da ein ironischer Unterton? Sie ging darüber hinweg:

»Und bei Ihnen?«

»Wie bei mir?«

»Wie hat der Fischer reagiert?«

»Nach und nach findet er sich in seiner wirklichen Identität zurecht. Er hat bereits vergessen, dass er versucht hat, ein anderer zu werden.«

»Und was ist mit dem, was er in Saint-Jean gesehen hat?«

Freire nickte müde.

»Ich sagte Ihnen ja bereits: Diese Dinge sind das Letzte, dessen er sich erinnern wird. Falls er sich überhaupt je erinnert …«

»Trotzdem muss ich ihn vernehmen.«

»Aber Sie nehmen ihn nicht in Gewahrsam, oder?«

»Das habe ich doch nur gesagt, um Sie zu beeindrucken.«

»Polizisten verbreiten offenbar gern Angst und Schrecken. Es scheint ihrem Leben Sinn zu geben.«

Anaïs hatte sich nicht geirrt: Er war ihr feindlich gesinnt. Wahrscheinlich einer dieser Linken, die die Spinnereien Michel Foucaults mit der Muttermilch eingesogen hatten. Und von einer Polizistin mit einer Glock im Halfter würde er sich kaum anbaggern lassen. Zwei Phallussymbole bei einem einzigen Paar – das war eines zu viel.

Anaïs stellte die Coladose ab. Ihre Hoffnung, ihn verführen zu können, hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst. Sie spielten einfach nicht in der gleichen Liga.

Sie wollte gerade aufstehen, als Freire sehr leise sagte:

»Ich will noch einmal nach Guéthary fahren.«

»Aber warum?«

»Um Patrick zu befragen. Ich will wissen, wer er wirklich ist und was tatsächlich am Bahnhof Saint-Jean passiert ist.« Er schwenkte seine Coladose. »Im Grunde führen wir die gleiche Ermittlung.«

Anaïs lächelte wieder. Hoffnung und Wärme breiteten sich in ihr aus wie Heilquellen. Nie hätte sie zu träumen gewagt, dass sie bei ihrer Arbeit einem derart verführerischen Mann begegnen würde.

»Sind Sie ganz sicher, dass wir meine Flasche nicht doch öffnen sollten?«

Der Ursprung des Bösen
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