EIN GEHEIMNIS WIRD GELÜFTET
Es war mit hoher Wahrscheinlichkeit im Frühjahr 1964, denn Großvater lag schon im Grab. Mein Bruder Sasha und ich, damals vierzehn Jahre alt, spielten mit einem Ball im Schlafzimmer, das wir mit Großmutter teilten. Wir stellten uns vor, es wäre das Finale des Fußball-Europacups im Wiener Praterstadion, zwischen Inter Mailand und Real Madrid. Ich, der blitzschnelle Italiener Sandro Mazzola, dribbelte an Sasha und der ganzen spanischen Abwehr vorbei und gab einen kräftigen Schuss auf den Nachttisch ab, der das Tor war. Doch der Ball ging übers Tor und traf das große dunkle Gemälde an der Wand.
Das Porträt stellte Großmutters Mutter Mirjam Neumann dar, 1907 gemalt von einem Amateur. Damals war sie etwa vierzig Jahre alt gewesen, sah jedoch viel älter aus: verhärmt und düster.
Das Bild fiel krachend zu Boden. Mein Großonkel stand in der Küche und verhandelte mit Großmutter über einen kleineren Kredit, denn die fünfhundert Dollar, die er für seine Lebensgeschichte von den Mormonen in Salt Lake City bekommen hatte, waren längst verbraucht. Der Lärm ließ beide ins Schlafzimmer stürmen. Großmutter war völlig außer sich. Ich habe noch ihr Schreien im Ohr: »Wie könnt ihr mir so etwas antun? Ist euch denn gar nichts heilig? Warum lasst ihr meine geliebte Mutter nicht in Frieden? Was für fürchterliche Kinder!« Sie wollte uns ohrfeigen, doch die Hausmeisterin kam uns unerwartet zu Hilfe. Als Großmutter es klingeln hörte, vergaß sie unser Verbrechen und lief zur Haustür, um den letzten Klatsch aus dem Viertel zu erfahren.
Mein Großonkel half uns, das Porträt wieder aufzuhängen. Mit ernstem Blick bat er uns, in Zukunft vorsichtiger zu sein.
»Es ist ungut, die Toten zu stören«, sagte er. »Man darf sie nicht aus dem Schlaf wecken. Sie verdienen ihre Ruhe. Niemand hat das Recht, sie dazu zu zwingen, als Gespenster umzugehen.«
Warum die Augen von Großmutters Mutter so traurig waren, habe ich mich oft gefragt. Ihr dunkler Blick war das letzte, was ich jeden Abend vor dem Einschlafen, und das erste, was ich jeden Morgen nach dem Aufwachen sah, denn das düstere Gemälde hing direkt gegenüber dem Doppelbett, das Sasha und ich teilten. Mochte sie mich nicht? Ich nahm die Gelegenheit wahr, meinen Großonkel zu fragen, der ja alle Fragen beantworten konnte. Er beruhigte mich und erklärte, dass ihre Trauer nichts mit mir zu tun habe. Sie komme daher, dass sie sich immer so einsam fühlte.
»Wie einsam sich ein Mensch fühlen kann, das ist kaum mit Worten zu beschreiben«, sagte er. »Und Mirjam, das ist mal ganz klar, war ein äußerst einsamer Mensch, ihr ganzes Leben lang.«
Mein Großonkel nutzte die Gelegenheit, unaufgefordert eine Geschichte zu erzählen. Mit schicksalsschwerer Stimme begann er, Mirjams Kindheit im Schatten ihres Vaters zu beschreiben, geknechtet und ungeliebt, im Galizien der kleinen Häuser und der großen Kinderscharen, genauer gesagt in der abgelegenen Kleinstadt Chertnow. Die Juden lebten hier selbstverständlich abgesondert, und ihr Schicksal wurde vom Zaddik Menachem gesteuert, dem man mystische Kräfte zuschrieb und der von den Chassidim in ganz Osteuropa verehrt wurde.
Nach einer ganzen Weile hielt er inne, sah sich im Zimmer um, wie um sich zu vergewissern, dass Großmutter nicht in der Nähe war, und dämpfte die Stimme: »Ich will euch etwas anvertrauen, Jungs.«
Ich stellte mir vor, dass er uns ein paar Details über die Zauberkünste des Zaddiks enthüllen wollte. Doch es war ein anderes Geheimnis, in das er uns einweihte.
»Es war vor dem Tod ihres Vaters«, flüsterte er, »da wollte Mirjam unbedingt ein Kind haben. Der Vater des Kindes war arm, ein Fremder, jung, deutlich jünger als sie, fast noch ein Junge, ohne Zuhause, landflüchtig aus Weißrussland, und er blieb nur kurze Zeit in Chertnow, gerade lange genug, um sich zu besinnen, bevor er sich wieder in die Welt hinausbegab.«
DER THEATRALISCHE STREIT
Sasha und ich wollten unseren Ohren kaum trauen. Die Erkenntnis, dass Großmutter keinen Papa gehabt hatte, weckte mein Mitleid. Ich lief sofort hinaus, um sie zu trösten. Sie stand am Herd, steckte den Daumen in die Kartoffelsuppe und leckte ihn ab. »Weder zu heiß noch zu kalt«, stellte sie zufrieden fest. Ich erzählte ihr, was wir gehört hatten, und hoffte, meine Anteilnahme würde sie freuen. Doch statt mir zu danken, begann sie zu schreien. Sie war schrecklich böse auf mich – merkwürdigerweise nicht auf Sasha –, weil ich solchen Verleumdungen Glauben geschenkt hatte. Dann schimpfte sie meinen Großonkel dafür aus, dass er Lügen verbreite und versuche, zwei unschuldige Jungen zu verderben.
»Meine Mutter, möge sie in Frieden ruhen, war eine ehrbare Frau, Witwe eines angesehenen Kaufmanns in Chertnow! Er war ein guter Mensch, und ich bin stolz darauf, seine Tochter zu sein.«
Aufgebracht stieß sie ein paar deutsche Sätze aus. Wir verstanden nicht, was sie sagte. Das tat hingegen mein Großonkel. Er wurde sichtlich kleinlaut.
Mein Bruder und ich setzten uns aufs Sofa und verfolgten den theatralischen Auftritt zwischen den Erwachsenen, die schrien und wild gestikulierten. Wir waren an so etwas in unserem friedlichen Hause nicht gewöhnt. Eigentlich hätten wir verängstigt sein müssen, doch der Streit hatte etwas Unwirkliches an sich, sodass wir zwischen Weinen und Lachen schwankten.
Großmutter loderte vor Wut. Mein Großonkel reckte die Arme zum Himmel und rief Gott zum Zeugen an für seine Unschuld. Doch Großmutter erhob erneut die Stimme: »Franci, du hast mich vor meinen Enkelkindern lächerlich gemacht. Das ist entsetzlich! Dass du dich nicht schämst! Wie kannst du es wagen, den Namen meiner seligen Mutter zu verunglimpfen?«
Wieder flogen deutsche Ausdrücke durch die Luft. Das Gesicht meines Großonkels war aschgrau. Er schwitzte, kleine Bäche liefen an seiner Stirn hinunter. Mit schleppenden Schritten ging er zur Tür und knallte sie zu.
Nach diesem Tag dauerte es lange, bis ich meinen Großonkel wiedersah. Erst im Jahr darauf, zu Sashas Beerdigung.
MIRJAM
Mirjam Neumann war arm, doch keineswegs frühreif oder einfältig. Nicht besonders schön, zugegebenermaßen, dennoch verdiente sie es nicht, einsam und verlassen zu sein. Sie war klein, dick und rund. Mit einem unter dem Kinn gebundenen schwarzen Kopftuch sah sie aus wie ein Dienstmädchen oder eine Bauersfrau. Sie wurde bald dreißig und war immer noch Jungfrau. Warum sie nie geheiratet hat, kann ich nicht mit Gewissheit sagen.
Dass sie keinen Mann gefunden hatte, wunderte die Menschen in ihrer Heimatstadt. Denn die Bewohner von Chertnow pflegten in solchen Fällen Familienverbindungen zu nutzen, und auch Kupplerinnen konnten nützlich sein. In gewissen Fällen bat man das Gemeindeoberhaupt, Briefe an Kollegen in den Orten der Umgebung in Galizien zu schicken. Auf die eine oder andere Weise, früher oder später, tauchte immer ein passender Freier auf. Keine jüdische Frau in der Stadt musste verzweifeln.
Mirjam war das jüngste Kind einer Familie, die in Armut lebte. Ihre Eltern waren geübt in der uralten Kunst, über die Kranken zu wachen und um die Toten zu trauern. Ihre ersten vier Kinder, vier Jungen, starben im Säuglingsalter.
Rachel, die älteste Tochter, war der Liebling aller. Sie wurde früh auf ihre Verheiratung vorbereitet. Sie konnte waschen, bügeln, kochen, religiöse Rituale ausführen. Es gab kein wohlerzogeneres Mädchen in ganz Chertnow. Der Vater pflegte zu prahlen, sie sei auf die Welt gekommen wie die großen jüdischen Königinnen der Geschichte, mit der Nabelschnur um den Hals.
Die zwei Jahre jüngere Mirjam wirkte dagegen kläglich und arm im Geiste. Die Eltern sagten ihr eine ungewisse Zukunft voraus. Als Kind war sie willensschwach und verschlossen. Sie antwortete schüchtern, wenn man sie ansprach, und sagte fast nichts aus eigenem Antrieb. Immer erbte sie die Kleider und Schuhe der Schwester, wenn sie für diese zu abgetragen waren, und da sie größere Füße hatte als Rachel, ging sie immer in zu kurzen und zu engen Schuhen. Sie hatte schon früh düstere Lebenserfahrungen gemacht und erwartete nur Vorwürfe, Zurechtweisungen und herabsetzende Bemerkungen. Allerdings brachte ihr der Vater das Lesen und Schreiben bei, doch er tat es, als würde er eine Fremde unterrichten. Es beschämte ihn, dass Mirjam sich nie ein Wort von dem merken konnte, was sie gerade gelesen hatte. Sie verstand jeden Satz für sich, doch jeder einzelne löschte den vorhergehenden aus, mit der Folge, dass ihr die Gesamtheit immer verlorenging.
Nur die Mutter, eine wortkarge Frau, behandelte Mirjam ab und zu fürsorglich. Sie hieß Hanna und kam aus Plotnow, einer jüdischen Kleinstadt in der Nähe. Ihr Vater war Müller, und sie war die Jüngste einer Geschwisterschar von neun Mädchen. Sie hatte schwache Augen, und ihr stumpfsinniges, leicht betrübtes Aussehen verbarg ihren eigentlichen Charakter. Sie versuchte voller Selbstaufopferung, die Bedürfnisse ihres Mannes und Rachels zu befriedigen. Immer sah man sie kochen, waschen und weinen.
Mirjam bemerkte früh, wie schnell die Mutter alterte. Ihre Haut verlor an Spannkraft, der Körper wurde unförmig, und jeden Monat traten neue Falten in ihrem Gesicht hervor.
Mirjam war sieben Jahre alt, als Hanna an einer Lungenentzündung starb, einer weitverbreiteten Krankheit. Ihr Körper war schwach und ausgelaugt. Deshalb ging alles sehr schnell.
Niemand ahnte, wie verzweifelt Mirjam in den Nächten weinte. In aller Heimlichkeit versuchte sie, die Mutter zurückzuholen, indem sie wieder und wieder das Kaddisch sprach, das Trauergebet für die Verstorbenen.
DER FAHRENDE HÄNDLER
Der Vater, Samuel, war fahrender Händler. Sein Geiz war legendär, ganz Chertnow sprach darüber, und alle lachten hinter seinem Rücken über ihn. Dennoch war er ein respektiertes Mitglied der Gemeinde, konnte er doch die Heilige Schrift zu jeder erdenklichen Gelegenheit zitieren und hatte eine schöne Singstimme. Häufig tat er deshalb Dienst in der Synagoge, als Vertreter des Kantors beim Morgengottesdienst an Sonnabenden.
Nach dem Tod seiner Frau heiratete er nicht wieder, sondern lebte als Witwer und wurde noch geiziger als zuvor. Er kleidete sich wie ein Bettler in einen verschlissenen Kaftan mit einem Strick um den Leib. Das Brot für die Familie buk er aus Baumrinde.
Samuels unberechenbares Temperament erfüllte die Töchter mit Angst. Er war sehr streng und unterließ es nie, die Mädchen auch für das geringste Vergehen zu bestrafen. Mirjam beklagte sich nicht. Wenn der Vater einen Wutanfall bekam, saß sie mit vor Schreck gesenktem Kopf, hörte auf zu essen und verschloss sich völlig. Rachel hingegen wurde mit den Jahren immer widerspenstiger.
Samuel hielt sich streng an die jüdische Glaubenstradition. Die Vorschriften bezüglich des Essens und Trinkens wurden in der Familie unerbittlich eingehalten. Die Tradition roch leicht nach Lavendel und Schimmel.
Mirjam zeigte sich der Frömmigkeit gegenüber gleichgültig. Aus dem fruchtlosen Aufsagen des Kaddischs zog sie den Schluss, Gott sei taub, außerstande, ihr Gebet zu hören. Deshalb konnte die Mutter nicht aus dem Totenreich zurückkehren. Außerdem erinnerte sie sich daran, wie die Mutter mit gebeugtem Rücken am Herd gestanden hatte, zahnlos und viel zu früh gealtert: Welche Freude hatte sie am Judentum gehabt?
Alle in Chertnow wussten, dass Samuels Dasein von einer großen Trauer verdunkelt wurde. Er kam nie darüber hinweg, dass die Lieblingstochter Rachel, gerade erst zur vollen Blüte gekommen, das schönste Mädchen der Stadt und noch nicht einmal siebzehn Jahre alt, in großer Eile und gegen den Willen des Vaters den entfernten Verwandten eines Nachbarn geheiratet hatte. Mit ihm, einem einfachen jüdischen Schneider aus Budapest, war sie nach Ungarn gezogen. Manche meinten, sie habe den Erstbesten genommen, der ihr über den Weg lief, um dem freudlosen Zuhause zu entkommen.
Dass Rachels Ehe keine Früchte trug, machte Samuel noch niedergeschlagener. Je mehr Zeit verging, desto sehnlicher wünschte er sich Gottes Segen in Gestalt eines Enkelkindes.
Als Mirjam zwanzig wurde, begann der Vater ernsthaft, sich nach einem möglichen Schwiegersohn umzusehen. Doch sie war abweisend. Der eine taugte aus diesem, der andere aus jenem Grund nicht, von einem dritten hieß es, er käme absolut nicht in Frage. Sie verzog den Mund und verjagte alle heiratslustigen Kandidaten.
EIN WUNDER
Eines Tages, bei einer Tanzveranstaltung, die beim Purimball im Gemeindehaus arrangiert wurde, als sie mal wieder Mauerblümchen war, fiel ihr Blick auf einen Mann, der erst einundzwanzig Jahre alt war. Er hieß Jasja Karpilowski, war einen Monat zuvor nach Chertnow gekommen, aus Weißrussland, und wollte weiter nach Amerika reisen. Jasja war groß und blond, hatte ein mageres Gesicht mit hohen Wangenknochen und hellblauen Augen. Als er sie zum Tanz aufforderte und um die Taille fasste, fühlte sie, wie die Welt unter seiner Berührung versank. Im selben Augenblick war es um sie geschehen. Die Kraft des Lebens brach ihr Inneres auf, und eine Wollust durchströmte sie, für die sie jetzt reif war. Sie hatte nichts dagegen einzuwenden, sie war bereit. In dieser Nacht verlor sie ihre Unschuld und wurde schwanger.
Als das Unglück sich nicht länger verbergen ließ, ging Mirjam zum Vater und bekannte stammelnd ihre Sünde. Sie hoffte, er werde die Nachricht mit Freude aufnehmen – dass das Kind in ihrem Leib die Verkörperung des Lebens selbst sei, das endet und neu beginnt bis in alle Ewigkeit. Jasja war zwar verschwunden, doch Mirjam erklärte: »Manchmal geschieht ein Wunder.«
»Wunder«, wiederholte Samuel und starrte sie fassungslos an. Der erste Gedanke, der ihm in den Sinn kam, war, sofort zur Synagoge zu laufen und um einen Segen für das ungeborene Kind zu bitten. Dann beschloss er, sich mit Zaddik Menachem zu beraten, dem große Weisheit zugesprochen wurde und der Antworten auf alle Fragen des Leben hatte.
»Wunder«, wiederholte der heilige Mann. Er fuhr sich nachdenklich mit den Fingern durch den langen Bart, erhob sich, ging zum Bücherregal, nahm eine kabbalistische Handschrift heraus, schlug sie aufs Geratewohl auf, las einige Zeilen, nickte und verwarf daraufhin energisch die Theorie von einem Wunder.
»Solche Wunder geschehen nicht außerhalb der Ehe«, konstatierte er.
Indem er aus der Thora und anderen heiligen Schriften zitierte und außerdem Beschwörungen sowie mehrere verschiedene Namen Gottes aussprach, machte er Samuel glauben, die Schwangerschaft sei ein Werk des Bösen.
»Du sehnst dich nach Ehre, nach einem Enkelkind, und nun erlebst du Schande, ein uneheliches Kind«, erklärte der Zaddik.
Samuel antwortete, seine Scham sei groß, er wage es kaum, den Frommen und Rechtgläubigen in Chertnow in die Augen zu sehen. »Aber Mirjam ist trotz allem meine Tochter. Was soll ich tun?«
Menachem riet ihm, die Tochter zu verstoßen und den Bankert niemals unter sein Dach zu lassen.
»Ein schwarzes Schaf kann die ganze Welt verderben«, behauptete der Zaddik mit Nachdruck.
SAMUELS ABGANG
Vielleicht waren es die Sonne und die Wärme in diesem heißen Sommer, die auf Samuels Körper einwirkten. Eines Morgens, nachdem er Mirjam klargemacht hatte, dass sie mit dem unehelichen Kind im Bauch so schnell wie möglich das Haus verlassen müsse, klagte er über Schmerzen in der Brust und schaffte es nicht, aus dem Bett aufzustehen. Sein Kopf war glühend heiß und hinter seiner Stirn wirbelten verwirrende Gedanken.
Mirjam mischte Ziegenmilch, Knoblauch und Meerrettich in einer Schale und ließ das Gemisch auf dem Feuer köcheln. Am Morgen servierte sie dem Vater eine Portion auf leeren Magen. Doch er schrie und spuckte und beklagte sich über den furchtbaren Geschmack.
Die Tage vergingen, und Mirjam versuchte es mit anderen Rezepten, doch Samuel weigerte sich, die verschiedenen Aufgüsse zu trinken, und wurde immer schwächer. Sein Bart, der bis zuletzt schwarz gewesen war, wurde weiß und sein Körper schlaff wie ein leerer Sack. Er lag wie leblos in seinem Bett, völlig in der Gewalt der Krankheit. Mirjam kochte Hühnersuppe mit starken Gewürzen, das Lieblingsgericht des Vaters, doch er weigerte sich, davon zu kosten.
Eines Nachmittags warf Samuel Mirjam hasserfüllte Blicke zu, verfluchte sie und überschüttete sie abwechselnd mit Kaskaden von schleimiger Spucke und den gröbsten Unverschämtheiten, die es auf Jiddisch gab. »Niemand entgeht seinem Schicksal«, wiederholte er mehrmals mit immer schwächerer Stimme. Dann redete er wirr und sagte, er sehe den Todesengel im Raum, und der Totengräber stehe mit dem Spaten bereit.
Mirjam war verzweifelt und sehr erschöpft. Seit der Vater krank geworden war, hatte sie rund um die Uhr an seiner Seite gewacht.
In der folgenden Nacht wurde sie von einer unheimlichen Angst erfasst. Zitternd vor Fieber lauschte sie auf das Surren der Fliegen im Raum und auf die Grillen, die im Morgengrauen ihr Spektakel veranstalteten. Als sie bei Tagesanbruch ermattet einschlief, blieb das Herz des Vaters stehen.
Was Mirjam am nächsten Tag bei der Beerdigung erlebte, sollte sie für den Rest ihres Lebens verfolgen. Es waren nicht der Tod des Vaters und die Einsamkeit, die ihr am meisten zusetzten, sondern die Art und Weise, in der die Leute, die sie seit ihrer Geburt kannten, sie plötzlich behandelten.
Obwohl es den ganzen Tag in Strömen regnete, kamen fast alle Chertnower zur Beerdigung des fahrenden Händlers. Menachem hielt eine schonungslose Höllenfeuer- und Bußpredigt. Er forderte die Menschen auf, dem Bösen zu widerstehen, denn sonst werde die Verwirrung in dieser aus den Fugen geratenen Welt überhandnehmen. Er warnte davor, dass die Stadt im Netz des Satans enden und von der Erdoberfläche verschwinden würde. Die Mitglieder der Gemeinde betrachteten ihn ehrerbietig.
Im Regen sah es so aus, als würden alle schluchzen und ununterbrochen weinen. Nur Mirjam nicht. Sie war beherrscht, ruhig an der Oberfläche, doch panisch im Inneren. Sie stand allein, still und blass in ihren schwarzen Kleidern, völlig durchnässt, ohne Tränen und Klagerufe. Sie sah ins Grab hinunter, das war alles. Die Menschen warfen sich hinter ihrem Rücken vielsagende Blicke zu. Obwohl die Juden von Chertnow bekannt waren für ihr Mitgefühl, war nicht eine Seele bereit, Mirjam zu trösten. Denn es stand außer Zweifel, dass sie ihren Vater ins Unglück gestürzt hatte und die Verantwortung trug für seinen Tod.
ALLEIN UND AUSGESTOßEN
Nach dem Tod des Vaters bestimmte Mirjam zum ersten Mal selbst über ihr Schicksal. Sie stand völlig allein da. Überall vermutete sie Feinde und bemerkte hinterhältige Blicke. Sie hatte Angst, Chertnow zu verlassen, doch sie hatte keine Wahl. Sie konnte nicht bleiben. Sie wurde von den Juden ihres Heimatortes verachtet. Sie wurde als Sünderin betrachtet, als schamlose Hure, die ihren Vater in den Tod getrieben hatte. Mirjam fühlte sich in der Seele vergiftet. Sie packte ihr weniges Hab und Gut zusammen und verließ die Stadt, mit Bitterkeit im Herzen.
Das Glück in Mirjams Leben hatte nur ein paar Stunden gewährt. Genauer gesagt: von halb acht bis halb zwölf Uhr abends am 26. März 1897. In diesen vier Stunden fühlte sie sich lebendig, frei, vollkommen, geliebt. Danach wurde alles furchtbar. Das Leben hatte ihr einen Schlag versetzt, und ihr Dasein brach in Stücke. Sie war schwanger, Jasja war ohne Abschied verschwunden, der Vater hatte sie und ihr ungeborenes Kind verstoßen, dann war er gestorben.
Schwere Schuld drückte sie nieder. Sie suchte die Fehler bei sich. Sie hatte sich Jasja hingegeben. Der rätselhafte und gefährliche Geschlechtstrieb hatte sie in die Sünde geführt. Sie schwor sich, niemals mehr mit einem Mann zusammen zu sein. Nie mehr würde sie einen Mann in ihre Nähe lassen.
ZWEI VERSIONEN
Chertnow existiert nicht auf den Karten unserer Zeit. Es gibt zwei Versionen dessen, was geschah.
In regelkonformen orthodoxen Kreisen im Stadtteil Crown Heights in New York, wo man des Zaddiks Menachem noch immer mit Ehrfurcht gedenkt, wird geltend gemacht, seine Prophezeiung, Chertnow werde im Netz des Satans enden und vom Erdboden verschwinden, sei in Erfüllung gegangen. Denn die Geschlechter, die nicht im Einklang mit dem Gesetz leben, sind dazu verdammt, durch die gerechte Hand des Herrn vernichtet zu werden.
Die andere Version des Hergangs beruht eher auf historischen Fakten.
Im Herbst 1942 fuhren zwei Lastwagen mit Männern in dunklen Uniformen auf den großen Platz bei der Synagoge. Die Männer waren Deutsche, Familienväter, zu alt, um an der Front zu dienen, Polizisten des Reservebataillons 101, allesamt Freiwillige, und sie waren für Säuberungsaktionen zuständig. Ihre Geschichte ist nicht schön. Sie trieben die Juden auf dem Platz zusammen. Der Befehlshabende überschlug schnell die Zahl und erkannte, dass es zu zeitraubend wäre, alle zu erschießen. Die Juden wurden in die Synagoge getrieben, die Türen wurden pedantisch verriegelt. Es wurde der Befehl erteilt, Chertnow niederzubrennen. Sechsunddreißig Stunden später erlosch die letzte Flamme. Alles, was übrigblieb, war Asche.
NACH BUDAPEST
Mirjam war eine schlichte Seele, ein Mensch an der Peripherie des Daseins, unsichtbar für den Weltenlauf. Sie hatte auch eine Geschichte, doch die hinterließ nirgends einen Abdruck. Heute bin ich der einzige, der weiß, dass sie überhaupt auf der Welt war.
Die Reise nach Budapest war eine fünfzigstündige Wüstenwanderung auf Schienen. Mirjam schlief fast nicht und aß wenig, da das Begräbnis die paar Groschen, die der Vater hinterlassen hatte, verschlungen hatte. Im Zug saß sie zwischen einer Nonne und einem dicken Fähnrich, der vergeblich versuchte, die anderen Passagiere in ein Gespräch zu verwickeln. Sie sah aus dem Fenster, betrachtete die ländliche Gegend, Wiesen, die Bäume, die im Sonnenschein vorbeizogen. Das Strahlen des Himmels wurde allmählich unerträglich. Die Hitze, die stickige Luft im Zug, die Müdigkeit nach schlaflosen Nächten trübten Blick und Gedanken.
Sie versuchte, sich das Gesicht der Schwester vorzustellen. Es muss auch einen Ausweg geben für eine, die so vollkommen allein ist wie ich, dachte sie. Sie versprach Gott, dass sie niemals etwas für sich selbst erbitten würde, wenn er sie nur mit heiler Haut zu Rachel führte.
An einem Sommertag im Jahre 1897, ich glaube, es war der 10. Juli, erreichte Mirjam den Bahnhof Nyugati, einen architektonischen Tempel im Riesenformat, entworfen vom Franzosen Gustave Eiffel.
Budapest zählte zu jener Zeit ungefähr eine Million Einwohner und hatte sich als eine von Europas vitalsten Hauptstädten etabliert, schamlos prahlend in ihrem Bestreben, Wien in allem Wesentlichen zu übertreffen, am liebsten auch Paris und London. Hierher, in diese Donauperle, strömten Menschen aus allen Ecken der Doppelmonarchie: ruthenische Bauern, polnische Arbeiter, hoffnungsvolle Juden, tschechische Schuhfabrikanten, österreichische Bankiers, serbische Taschendiebe, kroatische Zuhälter mit gepflegten Bärten, weltmännische Schwindler. Doch auch zahllose Schönheiten in eleganten Kleidern mit geschminkten Wangen und Lippen, auf der Jagd nach distinguierten Herren, die bereit waren, ihre wohlgefüllten Brieftaschen zu öffnen, um ihr Begehren zu befriedigen.
Die Stadt brodelte vor Aktivität und war von einer kosmopolitischen Aura erfüllt. Nicht ohne Grund wurde die ungarische Hauptstadt »Amerika im Kleinformat« genannt.
Die Welt schien zur gleichen Zeit neu und alt. In der Luft lagen so viele Möglichkeiten, dass das Atmen schwerfiel. Doch unter dem munter sprudelnden und sorglosen Leben, das die Stadt prägte, verbarg sich eine dunkle Seite. Hier gab es, wie der Schriftsteller Gyula Krúdy es ausdrückte, keine echte Liebe, keinen ehrlichen Mann, keine anständige Frau.
Der Zug verlangsamte sein Tempo und lief in den Bahnhof ein. Verwirrt und erschöpft, mitten in der großen Hitzewelle des Jahres, beendete Mirjam die erste Reise ihres Lebens. Sie sollte noch eine zweite Reise unternehmen im Laufe ihres langen Lebens, siebenundvierzig Jahre später, dann aber in einem überfüllten Viehwaggon, zurück nach Polen zu einem kleinen Ort, nur ein paar Kilometer entfernt von dem Städtchen, in dem sie geboren war. Der Ort wurde unter seinem deutschen Namen bekannt: Auschwitz.
Vor ihr lagen nun Jahrzehnte der Einsamkeit und der Entsagung in einem Land voller Vorurteile und Ungerechtigkeit, in einem Land, in dem sie niemals Wurzeln schlagen, wo sie immer eine Fremde bleiben würde.
Ein kleiner geflochtener Korb fasste all ihre Habseligkeiten. Sie hielt ihn fest mit der rechten Hand, als sie aus dem Zug stieg. Auf dem Bahnsteig traf sie auf ein Menschenmeer, vollkommen überwältigend, mit hunderten von Gesichtern, manche gepflegt und elegant, die meisten jedoch aufgelöst in der Hitze, Jugendliche, Arbeiter, Frauen mit Kindern auf dem Arm, Alte; alle versuchten, sich durchzudrängeln. Sie erstarrte, bekam Angst, denn so viele Menschen hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen. Genau in dem Moment, als die Menschenmenge sie fast verschluckt hätte, fiel ihr Blick auf einen Zugführer der kaiserlich-königlichen Eisenbahn. Sie wandte sich an ihn und fragte mit zitternder Stimme, wo sich die Synagoge befinde. Budapest war die Stadt, in der alle Deutsch sprachen. Jiddisch hingegen – Mirjams Muttersprache – verstand niemand. Doch der Zugführer war freundlich und hilfsbereit. Nach wiederholten Versuchen, sie zu verstehen, schrieb er eine Adresse auf und zeichnete eine einfache Karte auf seinen Notizblock. Mit dem ausgerissenen Zettel in der Hand ging sie hinaus in den brodelnden Wirbel der Großstadt.
DIE BEGEGNUNG MIT DER METROPOLE
Die erste Wanderung durch Budapest überwältigte Mirjam. Die Stadt brauste, dröhnte und zischte wie eine Dampflokomotive. Händler lockten, Zeitungsverkäufer schrien, Menschenmassen wurden hektisch auf den breiten Boulevards hin und her geschoben. Die riesigen palastähnlichen Häuser mit dem prunkvollen Überfluss an Dekorationen und Verzierungen, Atlasfiguren und Nischen machten sie benommen. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Hier fehlte es an nichts, alles gab es im Überfluss: Juweliere, Schneidereien, Modistinnen, Frisöre, Schönheitssalons, Konditoreien, Kaffeehäuser, Luxushotels und Theater – eine phantastische Einrichtung übertrumpfte die nächste. Vor jedem Geschäft reckte sie den Hals und machte große Augen.
Die Menschen sahen gepflegt und elegant aus. Die Herren in ihren flotten Anzügen, die Frauen in ihren farbenfrohen Kleidern. Doch es irritierte sie, dass die schönen Frauen auf eine Weise ihre Hüften schwangen, die die Leute in Chertnow als unanständig betrachtet hätten.
Viele Jahrzehnte später sollte sich Mirjam noch immer daran erinnern, wie unerträglich heiß es an diesem Tag gewesen war. Sie wanderte stundenlang in der brütenden Hitze herum, während der Schweiß unter ihrem fest gebundenen schwarzen Kopftuch hervortropfte.
Keiner, den sie nach dem Weg fragte, gab eine klare Antwort, und sie fühlte sich immer erschöpfter, unwohler, verlorener.
Dass sie ausgehungert war, merkte sie erst, als sie zu einem großen Markt mit Gemüseständen, Fleischgeschäften und Speiserestaurants kam. Sie blieb stehen, um Atem zu holen. Sie spürte, wie ihr Herz klopfte und ihre Brust sich hob. Die Nase registrierte die verschiedensten Düfte: Fett und Bratschmalz von einem Stand, wo in Bratpfannen Gerichte gedünstet wurden, verschwitzte Körper, angenehme Gerüche von Obst und Gemüse. Ein appetitliches Sortiment an Verlockungen, die auf dem Markt angeboten wurden, auch wenn sie wusste, dass der Großteil des Essens nicht koscher war. Das Wasser lief ihr im Munde zusammen, und sie betrachtete mit großen Augen einen dicken Schlachter, der seinen Beruf zu einer Kunst erhoben hatte und mit dem scharf geschliffenen Messer elegant ein langes Fleischstück in schön geschnittene Scheiben verwandelte.
Mirjam wanderte weiter kreuz und quer durch die Stadt. An einer Straßenecke hustete ihr ein Kutschgaul direkt ins Gesicht, und der Kutscher brüllte sie an, dass sie sich dem Pferd nicht auf diese Weise nähern solle. Sie bekam weiche Knie vor Schreck und eilte weiter.
Plötzlich strömte ihr Abfallgeruch entgegen. Sie befand sich in einem hässlichen Stadtteil, verschmutzt, mit heruntergekommenen Fassaden. Die Menschen sahen ärmlich aus und waren merkwürdig blass.
In einer schmalen Gasse kreuzte ein kleines Mädchen mit einem fremdartigen Gesicht ihren Weg. Das Kind lächelte ein einfältiges, aber seliges Lächeln, ähnlich dem eines andächtigen Pilgers, der nach einer langen Wanderung die Pforten des Himmelreichs vor sich sieht. Mirjam ergriff ein Unbehagen und sie erstarrte, als hätte sie den Teufel gesehen. Zu Hause in Chertnow war sie die Nachbarin eines geistesschwachen Jungen gewesen, den alle in der Stadt mit freundlicher Herablassung als eine gutartige, wenn auch zurückgebliebene Person betrachteten. Hingegen war ihr noch nie jemand wie dieses Mädchen begegnet. Heute würde man sagen, sie habe ein Kind mit Downsyndrom gesehen, doch diesen Begriff gab es in Mirjams Vorstellungswelt nicht.
Mit beiden Händen umfasste das Mädchen Mirjams Hand, zart, als wäre sie aus Porzellan. Die leichte Berührung ließ Mirjam erzittern. Das Mädchen sah aus, als hütete es ein Geheimnis, und flüsterte etwas mit fast unhörbarer Stimme. Sie zeigte nach oben, zu den Tauben auf dem Hausdach.
Mirjam betrachtete diese Begebenheit als schlechtes Omen und bekam Angst um ihr ungeborenes Kind. Sie hatte schon mit der Muttermilch eingetrichtert bekommen, dass selbst die flüchtigste Begegnung mit Fremden von abweichendem Aussehen zu Missbildungen des Kindes im Mutterleib führen könnte. Sie zog ihre Hand erschrocken zurück und eilte mit langen Schritten weiter. Als sie sich umdrehte, stand das Mädchen noch an derselben Stelle und lächelte, während es mal Mirjam, mal den Tauben zuwinkte.
Die Müdigkeit wurde unerträglich. Mirjams Körper fühlte sich schwer an, als hätte sie Blei in den Adern. Durstig und ausgelaugt, wie sie war, wurde ihr schwindelig. Sie spürte, dass die heftigen Strudel der Stadt sie hinabziehen würden. Um nicht zu fallen, setzte sie sich auf die Bordsteinkante. Ihre Augen waren voller Tränen. Wenige Meter entfernt, an einer Straßenecke, stand eine Frau an einem einfachen Stand und verkaufte Gemüse. Sie hatte wohl erkannt, in welch elendem Zustand sich Mirjam befand, denn sie kam ihr zu Hilfe und reichte ihr ein Glas Wasser. Es schmeckte köstlich, doch Mirjam konnte sich nicht mehr bedanken. Sie spürte, wie all ihre Kräfte schwanden, und verlor das Bewusstsein.
IN ANDERTHALB ZIMMERN
Im Traum war Mirjam in eine vergangene Phase ihres Lebens in Chertnow zurückgekehrt und erlebte erneut eine der Ängste ihrer Kindheit, die Angst davor, ihr Vater würde sie an den Zöpfen ziehen. Diese Angst hörte erst auf, als ein Nachbarjunge ihr die Zöpfe unmotiviert und mit Augen voller Bosheit abschnitt. Es gab einen großen Aufruhr in der sonst so friedlichen Stadt, doch für Mirjam begann eine neue Lebensphase.
Jetzt lag sie in einem fremden Bett. Das Kissen war hart und roch schlecht. Ihr Rücken tat weh, der Nacken war taub, und sie hatte Angst. Sie wusste weder, wo sie sich befand, noch, wie sie hierhergekommen war. Sie konnte sich an nichts erinnern.
Langsam setzte sie sich im Bett auf und sah sich mit müden Augen um. Von den Wänden blätterte der Putz ab, und die alten Möbel waren wacklig und morsch. Auf einer Kommode stand ein siebenarmiger Kerzenleuchter. Außerdem gab es einen Sack Kartoffeln und einen Petroleumkocher. Es roch nach Armut und Schimmel. Wie lange hatte sie geschlafen?
Die Gemüsehändlerin kam ins Zimmer und lächelte ihr zu. »Früher«, sagte sie, »war diese Wohnung viel schöner und sauberer. Aber es ist viel zu teuer geworden, sich eine Putzhilfe zu halten.«
Sie legte den Kopf zur Seite und strahlte mit einem breiten Lächeln. Sie hatte nicht mehr viele Zähne, und Gesicht und Hals waren faltig. Die Augen hingegen waren schön und verbreiteten Freude. Mit sichtbarer Zufriedenheit zählte sie die sieben Menschen auf, die in der Wohnung lebten, auf weniger als dreißig Quadratmetern, in anderthalb Zimmern.
»Das bin ich selbst – ich heiße Luiza. Da ist meine rheumakranke Mutter Erzsi, die furchtbare Angst davor hat, ihre Haare zu verlieren, und in einer Tour weint. Ansonsten sitzt sie meistens in dem verschlissenen Sessel da drüben und denkt an alte Zeiten, während sie auf die kargen Mahlzeiten wartet. Manchmal versucht sie, meinen fünf Kindern zu erzählen, wie es war, als sie jung war in Transsylvanien. Aber die Kinder sind zu klein und haben keine Geduld, um sich anzuhören, was ein alter Mensch zu sagen hat.«
Luizas Herz ging vor Freude über, wenn sie von ihrem Leben erzählte. Im Gegensatz zu Mirjam war sie sehr redegewandt. Sie versicherte, sie habe sich gegen die gnadenlose Ungerechtigkeit des Lebens immun gemacht und besitze eine unerschütterliche Lebenskraft. Nur Selbstmitleid könne sie nicht ertragen. »Man soll nicht klagen und sich anstellen«, erklärte sie, »sondern unverzagt weitermachen und sein Schicksal annehmen, bevor man für immer ins Vergessen eintritt.«
Luiza sagte, sie glaube zwar nicht an Gott, doch jeden Tag danke sie ihrem Schöpfer für ihr gutes Gedächtnis, denn das habe sie in ihren vierzig Jahren auf Erden niemals im Stich gelassen. Sie meinte, es gebe Menschen, die mit einem einzigartigen Erinnerungsvermögen auf die Welt gekommen seien. Sie selbst könne sich im Detail an Dinge erinnern, die lange vor der Zeit geschehen waren, als ihre Eltern sich zum ersten Mal begegneten. Sie erinnere sich an alles, selbst an die kleinste Kleinigkeit, von allen Menschen, die ihr in ihrem Leben begegnet seien. Um ihre einzigartige Fähigkeit unter Beweis zu stellen, begann sie Geschichten von sämtlichen Nachbarn zu erzählen, die im Hause wohnten. Sie räumte bereitwillig ein, traurige Geschichten zu lieben. Je rührseliger, desto besser. Das lasse ihr Herz schneller schlagen.
Die Menschen im Hause, sagte sie, seien mit Hitze und Kälte, Missernte und Hunger, Armut und Krankheiten, allen Plagen des Daseins geschlagen. Sie seien erschöpft, müde, resigniert, manche fast verzehrt von der Hoffnungslosigkeit des Lebens. Und dennoch hätten sie etwas Großes und Respekteinflößendes an sich. Sie seien gute Menschen.
»Nichts ist ganz schwarz oder weiß«, konstatierte Luiza, »aber das Weiße hat oft etwas Schwarzes in sich, und das Schwarze ist oft nur etwas Weißes, das unter die Räder gekommen ist.«
Mirjam hörte zu und überlegte, was sie Kluges antworten könnte. Sie verglich die Geschichten, die Luiza über die Verzweiflung und die Armut der Nachbarn erzählte, mit ihren eigenen Erfahrungen. Das machte sie verlegen. Sie meinte, nicht das Recht zu haben, Luiza mit ihrer kläglichen Lebensgeschichte in Chertnow zu belasten. Also schwieg sie.
EIN NEUES LEBEN
Der Nachmittag war in die Dämmerung übergegangen. Luiza stellte keine Fragen. Mirjam war erleichtert, dass sie nicht zu erklären brauchte, warum sie ihre Heimatstadt verlassen hatte. Luizas bloße Anwesenheit übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus. In keiner einzigen Stunde seit dem Abend, an dem sie Jasja begegnet war, hatte sie einen so großen inneren Frieden empfunden. Sie fühlte sich beachtet, denn niemand hatte ihr jemals so viel Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet. Plötzlich breitete sich ein Wohlgefühl in ihrem Körper aus, eine Ahnung von Freiheit und Hoffnung nach den schweren Turbulenzen.
Mirjam meinte, auch wenn sie dem niemals Ausdruck verlieh, das Schicksal habe sie angelächelt, indem es sie mit Luiza zusammengeführt habe. Sie war nach Budapest gereist, um ihre Schwester, ein Zuhause und eine Familie zu finden. Rachel fand sie nie. Doch alles andere, was sie gesucht hatte, fand sie bei Luiza.
Mirjams Bett schirmte Luiza durch einen an der Decke befestigten dünnen, dunklen Vorhang von den Nachbarn ab. Dort, auf knapp sechs Quadratmetern, sollte Mirjam leben, zusammen mit ihrer Tochter Sara (die meine Großmutter werden sollte), für mehr als ein Viertel ihres Lebens.
DIE FREILASSUNG
Ich werde später mehr über Mirjam und ihre Tochter Sara erzählen. Jetzt drängt sich eine andere Geschichte in meinen Kopf.
Adi wurde fünfzig. Ganz Deutschland bereitete sich darauf vor, Führers Geburtstag zu feiern. Man plante das Fest des Jahrhunderts, größer als die Olympischen Spiele 1936 in Berlin. In der Woche vor besagtem Tage – dem 20. April 1939 – bekam er einen Vorgeschmack darauf, was er sich von diesem Volk erwarten konnte, das ihn über alles auf der Welt liebte. Er hielt sich zu einem Blitzbesuch in Frankfurt auf. Hakenkreuze segelten auf die Stadt nieder. Fünfzigtausend treue Parteianhänger, die sich im Waldstadion zusammengedrängt hatten, sahen am Himmel, wie ein kreisendes Flugzeug hakenkreuzgeschmückte Papierfähnchen abwarf. Die Heil-Rufe hallten wider, als der Führer seinen Platz auf der Ehrentribüne einnahm. Seine Rede war kurz und prägnant. Eine Viertelstunde lang huldigte er dem deutschen Volk, den tapferen Männern und Frauen, die furchtlos bereit waren, ihr Leben für das Vaterland zu opfern. Das war alles. Der stürmische Jubel des Menschenmeers wollte kein Ende nehmen. Die Menschen weinten vor Glück. Dann verließ der Führer das Stadion, denn weitere Begegnungen mit dem deutschen Volk warteten auf ihn.
Die Idee stammte von Mathäus Frombichler. Die Freunde befanden sich auf dem Berghof, dem privaten Wohnsitz des Führers bei Berchtesgaden, nicht weit entfernt von der Region, die das kampflustige Oberkommando des Dritten Reiches gute vier Monate später in einen neuen Weltkrieg hineinziehen sollte.
Es war ein ereignisloser Vormittag bei klarem Himmel. Von den großen Fenstern aus konnte man im Norden bis nach Salzburg schauen. In der Küche herrschte eine spürbare Melancholie. Frombichler hackte Zwiebeln und bereitete das Mittagessen vor, Salade Niçoise. Adi machte sich griesgrämig die Fingernägel mit einem Küchenmesser sauber. Er sagte, ihm graue vor dem Geburtstag, denn es falle ihm schwer, sich damit auszusöhnen, dass er älter werde. Er legte das Messer weg und ließ die Hand zu seinem Glied wandern. Seiner unzufriedenen Miene nach zu urteilen, war es klein und schlaff. Er räumte ein, dass er fast vergessen habe, was ein erfülltes Liebesleben sei, denn Eva sei trocken wie Zunder und völlig desinteressiert. Alles, was er von ihr bekomme, sei ein Gutenachtkuss auf die Stirn. Das bedeute nicht, versicherte Frombichler, dass ihre Liebe erkaltet sei. Adi seufzte resigniert.
Zwei junge Soldaten hielten Wache an der Küchentür. Sie konnten nicht umhin, die Worte des Führers zu hören, und waren ebenso bleich wie die Baguette, die der Koch zum Mittag aufschnitt. Beschämt sahen sie zu Boden.
Unter dem Esstisch döste Eva Brauns Lieblingsschäferhund Fritz und ließ einen lauten Furz fahren. Daraufhin mussten Adi und Frombichler grinsen.
Adi wechselte das Thema und beklagte sich über die unerwartet heftigen Reaktionen der Umwelt auf seine Annektierung der Tschechoslowakei. Kein Staatsmann außer diesem Kasper Mussolini verstehe ihn.
Frombichler zog die Augenbrauen hoch und sagte: »Adi, du solltest ein paar bekannte Gefangene aus Dachau freilassen. Viele im Ausland haben ihr Missfallen darüber zum Ausdruck gebracht, dass Schriftsteller und bekannte Persönlichkeiten dort als Gefangene gehalten werden. Lass einige aus humanitären Gründen zur Geburtstagsfeier frei. Das wird die Kritik gegen dich abmildern.«
»Das geht nicht«, antwortete Adi. »Wir können solchen kriminellen Abschaum nicht freilassen, nur weil sich ein paar liberale Parlamentarier in London darüber aufregen und Theater machen. Das wäre ein Fehler, ein großer Fehler.«
»Aber ein notwendiger Fehler, Adi. Denk mal nach. Ich brauche dir das nicht zu erklären. Dachau ist kein gewöhnliches Gefängnis. Keiner, der dort einsitzt, ist nach geltendem Recht verurteilt worden. Das schadet deinem und Deutschlands Ruf. Liberale Politiker in London können sich kulturelle Größen nicht in gestreiften Gefangenenanzügen vorstellen. Sie wollen sie in diskreten, perfekt geschneiderten Anzügen sehen. Zieh ihnen einen dunklen Anzug an, lass einen Fotografen ein paar Fotos machen, wenn sie Dachau verlassen, und schicke sie mit einem Schiff nach England. Das wird alle glücklich machen.«
»Du redest wie ein Dummkopf, Mathäus. Diese Männer sind Deutschlands schlimmste Feinde. Juden, Kommunisten, Homosexuelle, Zigeuner, Gewerkschaftler …«
»Lass fünfzig von ihnen frei, als eine symbolische Geste. Du wirst keinen von ihnen vermissen. Es gibt haufenweise Gefangene in deutschen Gefängnissen«, sagte Frombichler hartnäckig.
Nach dem Mittagessen bat Adi Hermann Göring, eine Liste der Gefangenen in Dachau zu beschaffen.
Zwei dicke Bände kamen am nächsten Morgen an, mit über siebzehntausend Namen. Adi, mit einer miserablen Laune aufgewacht, wurde rasend vor Wut. Er brüllte, kleinliche Bürokraten würden Deutschland in einer Flut von Papieren ertränken. Doch Frombichler beruhigte ihn. Es sei kein Problem, fünfzig Namen zu finden. Er reichte Adi den einen Band und nahm selbst den anderen. Sie begannen ziellos zu blättern.
»Bruno Bettelheim, Psychologe und Schriftsteller … Hermann Broch, Schriftsteller … Alfred Cohen, Zahnarzt … Wegen eines Zahnarztes wird in London ja wohl niemand eine Träne vergießen. Der Jude soll bleiben, wo er ist«, beschloss Adi.
Hermann Göring betrachtete Hitler mit fast religiöser Ehrfurcht und notierte sorgfältig die Namen derer, die freigelassen werden sollten.
Frombichlers Blick fiel auf einen bekannten Namen. Sein Herz begann schneller zu klopfen. Das kann nicht wahr sein, dachte er und räusperte sich. »Franz Scharf, Kabarettist«, sagte er laut.
Früh am nächsten Morgen kam ein Aufseher und holte meinen Großonkel aus seiner Baracke. Der Aufseher war ein kleiner Mann, etwas in die Jahre gekommen, mit einem großen Gewehr. Er sagte, Scharf solle zum Sturmbannführer August Behrendsdorff kommen. Wegen einer Sonderbehandlung oder so, fügte er undeutlich hinzu. Mein Großonkel bekam Angst, seine Hände begannen zu zittern, sein Mund wurde trocken. Der Österreicher Behrendsdorff liebte es, ausgewählten Gefangenen Rücken und Gesäß blutig zu peitschen, bevor er ihnen grobe Gegenstände in den After schob, um sie dann zu vergewaltigen. Alle wussten das. Keines der Opfer hatte sich allerdings beklagt, denn die behrendsdorffsche Behandlung wurde immer mit einem Genickschuss beendet.
Es hatte in der Nacht geregnet, und der Morgenhimmel war von bedrohlichen Wolken verdunkelt. Mein Großonkel spürte, dass seine letzte Stunde geschlagen hatte. Sein Herz raste. Er ging ohne Eile. Hinter ihm trabte der Soldat, ohne etwas zu sagen. Der lehmige Weg führte durch eine Einzäunung mit Stacheldraht in den Bereich, in dem das Büro des Lagerkommandanten lag.
Der Sturmbannführer lächelte freundlich, rieb sich die Hände und bot Kaffee an. Es war Ersatzkaffee und schmeckte scheußlich. Doch Behrendsdorff schien der Geschmack nicht zu stören. »Wissen Sie, weshalb Sie hier sind, Herr Scharf?«, fragte er.
Ohne auf eine Antwort zu warten, erklärte er, der Führer habe ihn in seiner großen Güte begnadigt. Er dürfe duschen und sich rasieren, würde neue Kleider bekommen und mit einigen anderen Gefangenen zum Bahnhof nach München fahren. Der erste Zug nach Budapest ginge um sechs Uhr am Nachmittag.
»Sind Sie sehr enttäuscht, Herr Scharf, dass wir Sie nach Hause zu ihrer Familie schicken?« Behrendsdorff lachte trocken und nahm einen Schluck Kaffee. »Wir erwarten, dass Sie aufhören, herabsetzend über unseren Führer zu sprechen. Erzählen Sie stattdessen von der deutschen Gastfreundschaft hier in Dachau. Sie haben bei uns Essen und ein Dach über dem Kopf bekommen, ohne dass wir von Ihnen eine Gegenleistung gefordert hätten.«
Mein Großonkel saß stumm, in Gedanken versunken. Er traute den Worten des Österreichers nicht. Er dachte, es gehöre zu Behrendsdorffs widerlicher Folter, das Opfer glauben zu lassen, es dürfe nach Hause. Doch ein paar Stunden später saß er unendlich erleichtert im Zug nach Budapest, nicht ahnend, wer dafür gesorgt hatte, dass sein Schicksal eine so günstige Wendung genommen hatte.
DIE RETTUNGSAKTION DES KOCHS
Marek Halter, französischer Schriftsteller, aufgewachsen im Warschauer Ghetto, hat kürzlich einen Dokumentarfilm gedreht. Soweit ich mich erinnere, lautet der Titel »Retter in einer dunklen Zeit« (Tzedek – les justes). Der Film handelt von Menschen, die Juden vor der Vernichtungsmaschinerie der Nazis retteten. Dort sah ich das Interview mit Mathäus Frombichler, dem der schönste Ehrentitel Israels verliehen worden ist: Gerechter unter den Völkern. Der alte Koch erzählte, die Idee für die Rettungsaktion, eine der bedeutendsten des Zweiten Weltkriegs, sei ihm in dem Moment gekommen, als er auf der Liste der Gefangenen in Dachau den Namen seines alten Freundes Franz Scharf entdeckt habe.
Frombichler war im ganzen Reich als Hitlers halbjüdischer Koch bekannt. Nach dem Fall Berlins wurde er im Bunker des Führers verhaftet und von den Russen gefangen genommen. Während der Verhöre, geleitet von Hauptmann Lew Kopelew, konnte er bestätigen, dass Hitler tot sei und dass es sich bei der stark verkohlten Leiche in seinem Arbeitszimmer um dessen sterbliche Überreste handle. Er gab auch Auskunft über die letzten Stunden des Führers, wie er sich aufgeregt habe, als er hörte, die Rote Armee sei weniger als fünfhundert Meter vom Bunker entfernt. Es schien, als sei sich nicht einmal mehr Hitler des Endsiegs sicher. Er habe wild mit einer Pistole gestikuliert, die Haarsträhne sei ihm in die Stirn gefallen, er habe gebrüllt, die Juden seien an allem schuld, denn sie hätten die deutsche Nation geschwächt.
Frombichler war davon ausgegangen, dass Hitler jemanden erschießen würde. Andere fürchteten, er würde einen Nervenzusammenbruch erleiden. Doch er beruhigte sich und bat darum, sein Lieblingsgericht, Salade Niçoise, im Arbeitszimmer serviert zu bekommen. Als Frombichler mit dem Essen kam, fragte Hitler, ob er Lust habe, eine letzte Mahlzeit mit ihm einzunehmen. Sie aßen zu dritt. Ein paar Fliegen setzten sich auf Eva Brauns Teller. Sie verscheuchte sie angeekelt. Offensichtlich hatten sie ihr den Appetit verdorben, denn sie rührte den Salat nicht an und saß während der Mahlzeit stumm da. Die Freunde sprachen über Erinnerungen aus ihrer Jugend an der Schule in Linz.
Nach dem Essen erhoben sich alle drei vom Tisch. Hitler bedankte sich für die lange Freundschaft und drückte Frombichlers Hand. Eva Braun küsste ihren Mann auf die Stirn und schluckte Gift. Sie starb fast augenblicklich. Danach versuchte Hitler, Selbstmord zu begehen, indem er eine Zyankalikapsel leerte. Doch das Gift allein brachte ihn nicht um. Er wand sich vor Qualen. Die Schmerzen im Bauch wurden unerträglich, und er bat den Freund, seinem Leben ein Ende zu bereiten.
Frombichler nahm die Pistole, die auf dem Tisch lag, und zielte mit zitternder Hand auf Hitlers Schläfe. Er legte den Zeigefinger an den Abzug. »Schieß!«, brüllte Hitler. Doch die Pistole war nicht geladen. Frombichler spuckte auf den Boden und fluchte. Der immer bleicher werdende Hitler schrie vor Schmerzen. Da lief Frombichler in die Küche und kam mit einer schweren Bratpfanne aus Gusseisen wieder. Mit zwei zielgerichteten Schlägen gelang es ihm, Hitlers Schädel zu zertrümmern. Er betrachtete die Leiche ein paar Minuten lang und betete ein Kaddisch für seinen Freund. Dann ging er erneut in die Küche, um Petroleum zu holen. Er schüttete zwei Flaschen über der Leiche aus und zündete sie an. Mit Tränen in den Augen betrachtete er die Flammen. Als er Hitlers Arbeitszimmer verließ, wurde er von den Russen verhaftet.
In Nürnberg wurde Frombichler anderthalb Jahre später zusammen mit zwanzig Ärzten wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht gestellt. Diese Ärzte hatten Experimente in den verschiedenen Konzentrationslagern durchgeführt: die Körpertemperatur bei Männern auf sechsundzwanzig Grad gesenkt, Frauen in großer Höhe aus Flugzeugen geworfen, vitale Körperteile ohne Betäubung herausoperiert, Erwachsene sterilisiert, Embryonen aus Schwangeren herausgeschnitten, Kindern Tinte in die Augen injiziert, Chloroform in die Herzen von Zwillingen gespritzt, Zwerge in Teile geschnitten, unzählige Menschen ermordet, verletzt und invalidisiert. Einige der Ärzte wurden begnadigt, andere bekamen eine lange Gefängnisstrafe, acht wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Frombichler hatte selbstverständlich nichts in dieser Gesellschaft zu suchen. Er war schließlich kein Arzt. Doch als Koch konnte er nicht zusammen mit hohen Offizieren und Politikern angeklagt werden.
Die Verhandlungen dauerten acht Monate. Hunderte von Dokumenten wurden vorgelegt. Nichts deutete darauf hin, dass Frombichler schuldig war. Sein einziges Verbrechen – wenn man es denn als solches bezeichnen konnte – bestand darin, dass er Hitler stark und vital gehalten hatte mit nahrhaftem und wohlschmeckendem Essen.
Am Ende des Gerichtsverfahrens traten zwei Zeugen auf und schworen unter Eid, der Koch habe ihnen das Leben gerettet. Auf geheimnisvolle Weise habe er bewirkt, dass sie aus dem Konzentrationslager freigelassen wurden und Deutschland verlassen durften. Insgesamt hatten ihm über vierhundert Menschen ihr Leben zu verdanken.
Frombichler wurde freigesprochen. Der amerikanische Richter Francis Biddle bat ihn, das Geheimnis hinter den unfassbaren Rettungsaktionen zu verraten. Der Koch ließ sich nicht zweimal bitten. Was er erzählte, führte dazu, dass alle im Saal Anwesenden sich vor Lachen wanden. Er erklärte, dass er und sein Freund Adi nach dem fünfzigsten Geburtstag des Führers eine Übereinkunft getroffen hätten. Jedes Mal, wenn es ihm gelungen war, ein Dessert zuzubereiten, das Eva Brauns sexuelles Interesse und ihre Lust anfachte, sodass Hitler sein Glied gebrauchen und sich wie ein ordentlicher Mann fühlen konnte, bekam er die Erlaubnis, im Archiv der Gestapo mit den umfassenden Listen der Gefangenen in den verschiedenen Konzentrationslagern zu blättern und zwei Namen auszuwählen. Diese Personen sollten umgehend freigelassen werden. Auf die Frage des Richters, ob es ein bestimmtes Rezept gegeben habe, dem so viele Menschen ihr Leben verdankten, antwortete er lächelnd: »Fünf Sechstel dunkle Schokolade, der Rest Lakritz, gewürzt mit einer Prise Anis. Das funktionierte immer.«
Viele Jahre später verkaufte Frombichler sein Schokoladenrezept an die in Zürich beheimatete Firma Lindt & Sprüngli und wurde zu einem wohlhabenden Mann. Er zog sich ins Burgenland zurück, wo er sein Elternhaus kaufte, nicht weit von Schloss Biederhof entfernt. Doch seine Schokolade, die die Firma Eva B nannte, kam niemals auf den Markt. Sie wurde von den Schweizer Gesundheitsbehörden verboten.
KOLYMA
Es gibt noch etwas, das dieser Geschichte hinzuzufügen ist. Es betrifft Hauptmann Lew Kopelew. Als der Krieg ausbrach, meldete er sich freiwillig bei der Roten Armee. Seine Vorgesetzten hatten schon früh die Gelegenheit, seine Intelligenz, seine Entschlossenheit und seinen Mut schätzen zu lernen. Dass er fließend Deutsch sprach und einen Sinn für Diplomatie hatte, wurde zu einem großen Plus, als Hitlers Kriegsglück sich wendete und Stalins Truppen auf Berlin stürmten. Kopelew bekam die Aufgabe, die gefangen genommenen Offiziere zu verhören. Wenige andere Verhörleiter beherrschten die deutsche Sprache gut. Diesen Mangel kompensierten viele von ihnen mit den Fäusten. Einige verwendeten Gewehrkolben. Manche versuchten, ihren Vorgesetzten zu imponieren, indem sie Menschen, die sie verhören sollten, totschlugen, besonders wenn diese einen geringeren Rang hatten. Nicht so Kopelew. Er war immer freundlich und behandelte die Deutschen mit Respekt. Er wendete nie Gewalt an, weder physische noch psychische, und ließ sich mit den Kriegsgefangenen nicht auf politische Diskussionen ein. Hingegen sprach er bei den Verhören gern über die Musik Wagners. Er liebte Wagner, auch wenn er einige Partien als schwülstig und emotional manipulierend empfand. Leise und ohne sich aufzuplustern demonstrierte er eine tiefe Einsicht in die Opern, in denen die Tonsprache und Dramenästhetik des Meisters ihre Vollendung gefunden hatten: Tristan und Isolde, Parsifal und die Meistersinger. Die Verhöre entwickelten sich zu kultivierten Gesprächen. Indem er sich anders verhielt, als es in solchen Zusammenhängen gemeinhin üblich war, gelang es ihm, das Vertrauen sogar der widerwilligsten Feinde zu gewinnen. Vor allem höhere Dienstgrade von aristokratischer Herkunft konnten sich nicht zurückhalten und offenbarten ihm sogar Geheimnisse der Wehrmacht. Kopelew wurde von den Vorgesetzten gelobt und bekam mehrere Tapferkeitsmedaillen verliehen. Sein Erfolg weckte allerdings den Neid seiner Kollegen. Es begannen merkwürdige Gerüchte über ihn zu kursieren. Zunächst war es ein Flüstern, doch mit der Zeit wurden die Angriffe offener, direkter. Die Anklagen waren schwerwiegend. Seine Verhörmethoden wurden kritisiert. Seine Vaterlandsliebe wurde in Zweifel gezogen. Einige meinten, er stünde auf allzu freundschaftlichem Fuße mit führenden deutschen Militärs. Andere behaupteten, sie hätten Kopelew, der aus Kiew stammte, über Holodomor sprechen hören, die Hungerkatastrophe in der Ukraine, die 1932 bis 1933 zwischen vier und fünf Millionen Menschen das Leben gekostet hatte, und er habe Stalin beschuldigt, diese Katastrophe bewusst verursacht zu haben. Einige berichteten, sie hätten ihn sagen hören, Soldaten der Roten Armee hätten über zwei Millionen Frauen vergewaltigt und noch mehr Häuser geplündert.
Nachdem Kopelew die Verhöre mit Hitlers Koch abgeschlossen hatte, wurde er nach Moskau zitiert. Er bekam Bescheid, dass er für seinen Einsatz als Verhörleiter beim Volkskommissariat für Inneres mit dem Roten Stern dritten Grades ausgezeichnet werden solle. Er fühlte sich geehrt und wünschte, seine Eltern könnten ihn sehen. Er ahnte nichts Böses, als er in die Hauptstadt fuhr. Nicht einmal als er von dem allseits gefürchteten Lawrenti Berija empfangen wurde, Chef des sowjetischen Sicherheitsdienstes NKWD, der zahllose Männer und Frauen in den Tod geschickt hatte, witterte Kopelew Gefahr. Als er die Hand zur Begrüßung ausstreckte, legte ihm Berija Handschellen an und betrachtete ihn mit einem Blick voller Verachtung: »Ihre widerliche Anbiederung bei den Nazis ist ein Messerstich in den Rücken der Parteiführung, die Ihnen vertraut hat«, sagte Berija und fügte hinzu: »Sie sind ein Landesverräter. Es wäre ein Vergnügen, Sie am Galgen hängen zu sehen.« Kopelew wurde von zwei Wachen abgeführt. Sie fuhren hinunter ins Erdgeschoss, wo man einen Gerichtssaal eingerichtet hatte.
Erst da erkannte er, wie ernst seine Lage war. Der Prozess dauerte nur fünf Minuten. Ein Mann von der Staatsanwaltschaft las die Anklagen vor. Seine Stimme war so angespannt, dass er Kopelew direkt leid tat. Kopelew meinte, die Anklagen seien lächerlich, und wollte den Vertreter der Staatsanwaltschaft fragen, ob er Beweise vorlegen könne und ob er selbst an das Lügengebräu glaube, das er vorgelesen habe. Doch er kam nicht dazu, etwas zu sagen, bevor der Richter das Wort ergriff und ihn dafür verurteilte, bürgerlichen Humanismus verbreitet und zu großes Mitgefühl mit dem Feind gezeigt zu haben: zehn Jahre Verbannung nach Sibirien. »Sie bekommen viel Zeit zu bereuen«, sagte der Richter. »Was bereuen? Dass ich die Deutschen wie Menschen behandelt habe?«, fragte Kopelew.
Der Richter rümpfte verärgert die Nase und gab den Wachen den Befehl, den Angeklagten abzuführen. Kopelew hatte von frühester Jugend an eine positive Lebenseinstellung, die nicht einmal diese Niederlage, diese massive Ungerechtigkeit und die strenge Strafe völlig verdunkeln konnten. Er war fest entschlossen, sich nicht von Zweifeln an der Unfehlbarkeit der Partei anfechten zu lassen. Vor allem nicht Schwächen anheimzufallen, die er bei den deutschen Gefangenen gesehen und missbilligt hatte. Er wollte die Zeit in Sibirien für etwas Sinnvolles verwenden. Doch er wusste nicht, für was.
In Kolyma landete er in der gleichen Baracke wie mein Großonkel. Die Gefangenen nannten sie »Die vereinten Nationen«, denn hier gab es Männer aus allen Volksgruppen, die östlich der Elbe lebten. Hier hatten alle einen Spitznamen. Kopelew wurde von den anderen Gefangenen Rubin genannt. Weshalb er diesen Namen bekam, ist mir nicht bekannt. Vielleicht wegen seiner immer strahlenden Laune. Vielleicht auch wegen seines harten Kerns, den nichts zu brechen vermochte.
Mein Großonkel erwähnt ihn in der Schrift, die er an die Genealogische Gesellschaft verkauft hat. Dass er über Rubin schrieb, rührte daher, dass er nur mit ihm eine gewandte Konversation auf Deutsch führen konnte, denn es gab sonst niemanden im Lager, der eine so reine deutsche Aussprache und einen so reichen Wortschatz besaß wie der ehemalige Verhörleiter. Sie empfahlen einander Bücher, die zu bekommen sie selbstverständlich keine Möglichkeit hatten. Sie führten leidenschaftliche Gespräche über Heinrich Heines bodenständigen Humor und scharfe, ironische Dichtkunst, vor allem über Deutschland. Ein Wintermärchen, das sie beide liebten. Sie diskutierten Antonio Gramscis Gedanken über den Weg zur Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft. Sie erzählten einander Geschichten, um die Dunkelheit des Lagers aufzuhellen.
Beide wussten, dass Scheherazade – Symbolfigur für den Wunsch des Menschen, das tragische Schicksal zu überlisten – tausendundeine Nacht lang Geschichten erzählte, um ihr Leben zu retten. Sie tauschten Gefühle und Gedanken aus, weil die Mächtigen sie zum Schweigen bringen wollten. Sie waren sich dessen bewusst, dass das Fehlen von Geschichten über das Leben den Tod bedeutet. Nichts lässt allerdings darauf schließen, dass sie darüber gesprochen hätten, Frombichler zu kennen.
Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als läge dies außerhalb der Geschichte der Familie Spinoza, doch ich kann es dennoch nicht unterlassen, hier Kopelews Buch zu erwähnen. Er wurde 1954 freigelassen und nach weiteren zwei Jahren rehabilitiert. Der Aufenthalt im Gulag hatte seinen Idealismus, seinen Glauben an eine Gesellschaft, in der der Gleichheitsgedanke sich durchsetzen würde, nicht brechen können. Er beantragte die Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei, und als sie ihm bewilligt wurde, erhielt er eine Anstellung an der Universität. In seinem Unterricht pries er die Freiheit der Literatur. Er lehrte eine junge Generation, dass das wahre, mutige Wort, dessen sich die großen Dichter bedienten, eine Waffe für den Frieden sei. Die brutale Invasion der Bruderländer in der Tschechoslowakei 1968 zerstörte schließlich seine Illusion von den Segnungen der sozialistischen Gesellschaft. Ohne an die eigene Sicherheit zu denken, argumentierte er dafür, dass die Menschenrechte in der Sowjetunion respektiert werden sollten. Er unterstrich, dass Menschen mit gutem Willen bösen Machthabern widerstehen und sie sogar besiegen könnten.
Die Reaktion der Behörden ließ nicht auf sich warten. Zunächst wurde er isoliert, dann bürgerte man ihn aus. Das Buch Aufbewahren für alle Zeit schrieb er im deutschen Exil. Mitreißend schildert er die Wirklichkeit des sibirischen Lagers während des Terrors der Stalin-Ära. Kolyma geht gemeinsam mit Auschwitz und Hiroshima in die Geschichte der größten Schrecken des 20. Jahrhunderts ein. Kopelew berichtet vom Schicksal verschiedener Mitgefangener. In der Geschichte von F. erkenne ich meinen Großonkel. Sie handelt von einem deutschsprachigen Juden aus Ungarn, einem Kabarettisten, der zunächst in Dachau gesessen hatte, dann während des Krieges Sklavenarbeiter in einer Kupfermine in Jugoslawien gewesen war, einer Mine, die für die deutsche Kriegsindustrie von großer Bedeutung war. Nach der Befreiung wurde er in Budapest auf der Straße von Soldaten der Roten Armee aufgegriffen und zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion geschickt, wo die Fabriken stillstanden, nachdem so viele Männer gefallen waren. Da er viel zu schwach war für körperliche Arbeit, wurde er nach Sibirien deportiert. Kopelew beschreibt, F. sei, als er dort ankam, nach qualvollen Wochen in der Enge der Viehwaggons, im Dreck, im Delirium des Dursts, schon von Jahren des Hungers und der Misshandlung geschwächt gewesen. Der Aufenthalt im Lager, mit Kälte, Strafarbeit, Schlafmangel, Krankheiten, Ungeziefer, Ängsten, Erniedrigung und Leid, zehrte seinen Körper noch weiter aus. Als er nach Ungarn zurückkehrte, war seine Gesundheit völlig zerrüttet.
UMSCHREIBUNG DER GESCHICHTE
Gerade fällt mir noch eine andere Geschichte ein, die uns mein Großonkel erzählt hat.
Lawrenti Berija – erzählte er uns, nach wie vor unter dem Gebot strengster Verschwiegenheit – sei Stalins rechte Hand gewesen, ein schlauer und rätselhafter kleiner Mann. Es hieß, er sei gebildet, was man nicht ernsthaft behaupten konnte, allerdings war er belesen. Belesen auf eine vollkommen unsystematische Weise, denn er las alle literarischen Werke, die Stalin auf seinen Rat hin im Lande verboten hatte, und alle unveröffentlichten Manuskripte, die die Geheimpolizei beschlagnahmt hatte. Als eine Folge dieser Lesetätigkeit war er kurzsichtig und benutzte einen Pincenez. Berija hatte verschlissene Lederpeitschen an den Wänden seines Büros beim Sicherheitsdienst hängen, wo er die umfassenden Säuberungsaktionen in Georgien von 1936–1938, das Massaker an über 4400 polnischen Offizieren in einem Wald bei Katyn 1940, den Mord an Trotzki, die brutale Umsiedlung großer Volksgruppen, den systematischen Einsatz von Folter, Sklavenarbeit und Mord plante. Er schickte seine Landsleute wegen nichts in den Tod. Die verdächtigen Schriftsteller gingen häufig im Gulag zugrunde, nachdem sie erzwungene Geständnisse unterschrieben hatten. Alle fürchteten ihn, denn seine abscheulichen Handlungen und grauenhaften Übergriffe waren allgemein bekannt. Seine Wutausbrüche waren legendär. Ebenso sein sexueller Appetit. Nachts fuhr er in seinem großen Volga mit geschwärzten Scheiben umher, auf der Jagd nach Frauen, und die meisten von denen, die er auftrieb, kamen nie wieder nach Hause. Es wurde behauptet, seine perversen Gelüste hätten sich nicht nur auf Frauen beschränkt. Er soll auch von kleinen Jungen begeistert gewesen sein. In der Garderobe habe man nach seinem Tod – so erfuhren Sasha und ich – hunderte abgehackter Kinderhände gefunden. Dieses bizarre Privatmuseum soll sogar Stalin missfallen haben, denn was die Opfer des Regimes betraf, so meinte der unfehlbare Führer, sollten doch alle Spuren ihres Erdenlebens vernichtet werden.
Normalerweise pflegten die Geschichten meines Großonkels meine Phantasie anzuregen. Ich konnte ihm stundenlang zuhören. Doch nicht, wenn er von Berija erzählte. Das mit den abgehackten Kinderhänden fand ich unerträglich, und ich war drauf und dran, aus dem Zimmer zu stürmen und mich auf der Toilette zu verstecken.
In der Nacht hatte ich einen Albtraum. Ich war auf unserem angestammten Spielplatz, allein, alle Kinder waren schon nach Hause gegangen. Es war in der Dämmerung. Ein schwarzer Volga bremste und hielt neben mir. Am Steuer saß ein Mann mit runder Brille ohne Bügel. Er lächelte freundlich und versuchte, mich in den Wagen zu locken. Ich wollte ihn abweisen, doch meine Kehle schnürte sich zusammen und ich bekam kein Wort heraus. Da sagte der Mann, mein Bruder Sasha würde in seiner Wohnung auf mich warten, in der Garderobe, wo es einen Haufen Süßigkeiten gebe. Während der Mann sprach, konnte ich sehen, dass er ein Maul hatte, mit dem er ein Kind mit einem Happs verschlucken könnte. Er stieg aus dem Wagen, um mich zu holen. Ich sah, dass er keine Hände hatte. Er breitete die Arme aus und kam näher. Da erwachte ich mit einem Ruck, nass geschwitzt. Ich spürte sowohl Angst als auch Erleichterung. Es war still und dunkel im Zimmer. Sasha und Großmutter schliefen tief. Ich stellte mich ans Fenster und spähte durch einen Spalt in der Gardine nach einem schwarzen Volga. Es war keiner zu sehen.
Der wirkliche Berija war eine kompliziertere und vielschichtigere Person als die, die mein Großonkel uns vermittelt hatte. Das wurde mir klar, nachdem ich Kopelews Buch gelesen hatte. Denn einerseits ließ Berija Millionen von Menschen töten, aus Notwendigkeit – wie er selbst es nannte. Anderseits war es ihm ein Anliegen, das Sowjetsystem zu reformieren. Nach Stalins Tod im März 1953 kritisierte er die Kolchosenwirtschaft, startete teure Projekte, trat dafür ein, die DDR aufzulösen und Deutschland zu vereinigen. Vor allem aber entließ er einen Teil der Gefangenen aus dem Archipel Gulag. Viele von ihnen durften nach Hause. Ihm ist es zu verdanken, dass mein Großonkel freigelassen wurde und nach Ungarn zurückkehren konnte. Doch hundert Tage nach Stalins Tod wurde Berija verhaftet. Man weiß, dass er liquidiert wurde. Die genauen Umstände seines Todes blieben bisher ungeklärt.
Mein Großonkel erzählte auch, dass Berijas Hinrichtung dem Herausgeber der Großen russischen Enzyklopädie Probleme bereitet habe. Als die Abonnenten den Band B des Nachschlagewerks bekommen hatten – irgendwann Ende der 1940er Jahre –, lasen sie einen Artikel über Berija, in dem er als großer sowjetischer Held gepriesen wurde. Nach seinem Fall bekamen alle Abonnenten einen Brief vom Verlag mit der Aufforderung, die Seiten über Berija herauszuschneiden und zurückzuschicken. Zum Ausgleich bekamen sie einen Artikel mit Bildern von der Beringstraße.
Die Wirklichkeit übertrifft die Phantasie, sagte mein Großonkel gern. Weiß man, was geschehen ist, braucht man nichts zu erdichten. Außerdem ist es einfacher, einen Lügner einzuholen als einen lahmen Hund.
DIE LIEBE IST DIE ZUKUNFT
Als das heimliche Liebespaar Ariadne und Bernhard bemerkte, dass Ariadne schwanger war, wurde alles in ihrem jungen Leben auf den Kopf gestellt. Sie hatten Angst vor den Konsequenzen und fürchteten, man werde sie voneinander trennen. Es war ihre erste Verliebtheit. Das Schönste, was sie jemals erlebt hatten. Die Liebe forderte, dass sie nach vorn blickten, ohne auf irgendjemanden Rücksicht zu nehmen. Die Liebe, konstatierte Bernhard, sei die Feindin der Tradition, sie stehe auf der Seite der Zukunft. Die Liebe ist die Zukunft, sagte Ariadne. Die Liebe überwindet alles, sagte Bernhard.
In jener Nacht beschlossen sie, aus Biederhof zu fliehen.
Warum die blinde Ariadne und Bernhard nach Ungarn gingen, ist ein Rätsel. Nicht einmal mein Großonkel kannte die Antwort. Einmal behauptete er, der Grund sei, dass Ariadne unangenehme Erinnerungen an ihre Kindheit in Wien hatte. Das nächste Mal glaubte er, das Paar – sie waren minderjährig: sie fünfzehn, er siebzehn – habe damit gerechnet, in der ungarischen Hauptstadt nicht gesucht zu werden.
Die erste Begegnung der jungen Leute mit der Stadt war freundlich. Sie kamen an einem Tag dort an, als ein großes Fest gefeiert wurde: die Zusammenlegung der beiden Stadthälften Buda und Pest, jede auf einer Seite der Donau gelegen, zu einer einzigen Stadt – Budapest. Auf den breiten Boulevards drängten sich die Menschen, sie sangen, schwenkten stolz Fahnen und umarmten in ihrem Freudenrausch selbst Unbekannte. Ariadne und Bernhard fühlten sich sofort wohl und betrachteten die Zusammenlegung als gutes Omen. Ariadne ergriff Bernhards Hand, die ihr so große Sicherheit und Freude vermittelte. In einem Vorort fanden sie bald einen ziemlich angeheiterten Bürgermeister, der keine Papiere von den jungen Leuten verlangte und sie rechtmäßig zu Mann und Frau machte. Die Welt war klar und schön. Die Zukunft lag zu ihren Füßen.
Als Rudolf zu Ohren kam, dass Ariadne Bernhard geheiratet und in Budapest einem Sohn das Leben geschenkt hatte, war er wie verwandelt. Bis dahin hatte er kaum Interesse an der verschwundenen Ariadne bekundet, doch jetzt war er außer sich. Als Prinz und Oberhaupt einer der ältesten Adelsfamilien Österreichs konnte er nicht akzeptieren, dass seine Tochter einen Juden heiratete und Judenkinder zur Welt brachte. Er raste vor Wut auf Jakob, obwohl dieser ihn vor dem Ruin gerettet, das Gut zum Erblühen gebracht und sich um Ariadne gekümmert hatte. Dunkle Bilder zogen durch Rudolfs Kopf. Er hieß einen Diener, in den Keller zu gehen und eine Flasche Jahrgangscognac zu holen, den er in sich hineinschüttete. Er nannte Ariadne eine Hure und ihre Mutter ein herzloses Frauenzimmer, das ihn zum Narren gehalten und seine Gutmütigkeit ausgenutzt habe. Er ließ sich mehr Cognac heraufbringen. Er trank und führte sich auf wie ein wildes Tier, schrie und tobte gegen alle im Schloss. Allerdings hielt er sich von Jakob fern, der inständig darum bat, mit ihm sprechen zu dürfen. Umgeben von Cognacschwaden verfluchte er Jakob, nannte ihn bald ein Judenschwein, bald einen Verbrecher. Er habe ihm alles abluchsen wollen, was er besitze, indem er ihm die Tochter genommen, sie in sein Haus eingesperrt und mit seinem Sohn gepaart habe.
Rudolfs Verwünschungen hallten in den hohen Sälen des Schlosses wider. Als sich die Dämmerung herabgesenkt hatte, stellte er sich auf den Balkon und brüllte, sodass alle es hören konnten, es schmeichle ihm nicht im Geringsten, einen jüdischen Schwiegersohn zu haben, denn er wisse, worauf dieses niederträchtige Schauspiel hinauslaufe. Er würde dafür sorgen, dass Ariadne keine gute Partie wäre, indem er sie enterbte. So könnten die Juden nach seinem Tod nicht Biederhof mit Beschlag belegen.
Mitten in der Nacht rief er den Notarius Publicus herbei und diktierte ihm ein neues Testament. Nach seinem Ableben solle sein gesamtes Vermögen an seinen Vetter Ludwig von Thurn und Taxis gehen, da er blaues Blut habe und der einzige Mann auf der Welt sei, auf den er sich verlassen könne. Dann trank er noch mehr und trat wieder auf den Balkon. Er brüllte, sein Geist könne nun Ruhe finden, denn er habe das Testament geändert und dafür gesorgt, dass die Hure Ariadne nach seinem Tod mit leeren Händen dastehen werde.
Er hielt einen Moment inne, um die rechten Worte zu finden, die ausdrückten, was er fühlte. Im nächsten Augenblick, geblendet von den ersten Strahlen der Morgensonne, verlor er das Gleichgewicht, fiel über das Geländer und wurde am Boden zerschmettert.
Sein Begräbnis fand eine Woche später statt. Jakob und seine Familie hatten das Gut bereits verlassen und waren nach Wien gezogen.
DREI WEITERE GESCHWISTER
Jakob hatte vier Kinder. Alle hatten, bei zum Teil großen Mängeln und Fehlern, etwas von ihrem Vater geerbt: Nikolaus – wirtschaftliches Genie, Claudia – Güte, Andreas – Erfindergeist. Doch keines der Kinder war mit dem Charakter Jakobs begabt. Ich bin kein Psychologe und will mir nicht herausnehmen, sie miteinander zu vergleichen. Doch ich weiß, dass nur eines der Kinder sich zu ähnlicher Größe entwickelte wie Jakob, menschlich und intellektuell, und das war Bernhard, der seine Integrität, seine Autorität und seinen scharfen Verstand geerbt hatte.
Dass ich mich vor allem bei Bernhard aufhalte, ist nicht verwunderlich. Er war der Vater meines Großvaters, geboren nicht nur mit einer gigantischen Nase – als ältester Sohn erbte er auch das Kleinod der Familie, Das Elixier der Unsterblichkeit, und führte auf seine Weise unser mächtiges Erbe weiter.
Doch es ist selbstverständlich, dass ich auch von den anderen Geschwistern erzähle, die in einer Familie mit starkem Zusammenhalt aufwuchsen und dennoch sehr unterschiedlich waren. Dass sie als Erwachsene weit voneinander entfernt und gleichsam in verschiedenen Welten lebten, war nicht nur der Verschiedenheit ihrer Charaktere, Ambitionen und Begabungen geschuldet, sondern auch dem raschen Wandel der Gesellschaft. Doch es hatte auch mit einem merkwürdigen Zug zu tun, der, wie ich glaube, allen eigen war, die den Nachnamen Spinoza trugen, seit undenklichen Zeiten. Die Familienbande waren immer wichtig für uns gewesen, doch nur so lange, wie man sich im Rahmen des Schicklichen hielt. Sobald jemand sich Unregelmäßigkeiten oder Skandale zuschulden kommen ließ, vom rechten Glauben abwich oder eine Ehe einging, die als nicht standesgemäß betrachtet wurde, reagierten alle mit Schweigen, kehrten dem Betreffenden den Rücken und stießen ihn aus der Gemeinschaft aus, als hätte er niemals existiert.
Nikolaus trat in die Fußstapfen seines Vaters. Schon als Kind interessierte er sich fast ausschließlich für Zahlen. Seinen Geschwistern, die Mathematik trocken fanden, fiel es schwer, diese Einseitigkeit zu verstehen. Nach Handelsstudien bekam er eine Anstellung bei der Rothschild Bank. Trotz seiner Ergebenheit und seinem Respekt für den Vater wusste er schon früh, dass sie von unterschiedlichen Motivationen getrieben waren. Es war nicht das Geld, das Jakobs Phantasie anfachte, sondern die Denkarbeit, das Finden neuer Lösungen für wirtschaftliche Probleme, die niemand zuvor entdeckt hatte. Für Nikolaus bekam die Arbeit in der Bank allein dadurch ihren Sinn, dass er hoffte, vermögend zu werden. Seine Anstrengungen unter der Leitung des Vaters zeitigten rasche Ergebnisse. Er übernahm den Chefsessel im Wiener Büro, bevor er dreißig Jahre alt war. Er war ein ansehnlicher junger Mann, wohlhabend, gewöhnt an das gute Leben, stets von einer Schar schöner Frauen umgeben. Er hatte nicht im Sinn, das Junggesellendasein aufzugeben, bis er die jüngste Tochter eines böhmischen Barons kennenlernte.
Beatrice war eine liebenswerte, rundliche Achtzehnjährige, die ein wenig hinkte, da ihr eines Bein kürzer war als das andere, jedoch hatte sie Brüste, die die Nymphen des Olymps hätten neidisch werden lassen. Er verliebte sich auf der Stelle in sie, der Duft ihres Haars und ihre warme Haut berauschten ihn – fast in gleichem Maße wie der Reichtum ihres Vaters. Beatrice fiel es ebenfalls nicht schwer, diesem Freier ihr Jawort zu geben. Mit Hilfe geschickter Manipulationen war es Nikolaus gelungen, die Geschwister hinters Licht zu führen und das hinterlassene Erbe des Vaters mit Beschlag zu belegen. Mit diesem Geld, das er mit einem größeren Kredit seines Schwiegervaters aufstockte, kaufte er die Österreichische Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe der Rothschilds auf. Er nannte sie Credit-Anstalt, und zehn Jahre später besaß er eines der renommiertesten Finanzinstitute des Kontinents. Nikolaus wurde von Kaiser Franz Joseph geadelt und verkehrte in den feinsten Kreisen der Doppelmonarchie. Er war auch ein gefragter Gast in den ersten Salons von Paris, London und Berlin. So erlebte unsere Familie, nach zahlreichen Niederlagen, eine kurze Ausflugsfahrt auf der Welle des Erfolgs. Unser Name wurde von vornehmen Persönlichkeiten in ganz Europa mit Achtung ausgesprochen. Aber wir hatten die Seite gewechselt. Wir wurden nicht mehr als Philosophen und Schriftsteller geachtet, sondern wir waren durch Jakob und Nikolaus zu Hohepriestern im Tempel des Mammons geworden. Mit den Jahren zeigte Nikolaus sich immer mehr von den Errungenschaften der Technik fasziniert, die die Welt verändern würde, und investierte in großangelegte industrielle Projekte. Hemmungslos optimistisch und zukunftsgläubig, ließ er sich auf ein kolossales Projekt ein und bewilligte der britischen White Star Line einen Kredit, als die Reederei drei neue Passagierschiffe bestellte. Die Titanic, die Olympic und die Britannic sollten die Schiffe mit den größten Maschinenleistungen und höchsten Geschwindigkeiten ihrer Zeit werden und all ihre Rivalen auch in Bezug auf Luxus und Pracht in den Schatten stellen.
Als die Titanic zu ihrer Jungfernfahrt auslaufen sollte, luden Nikolaus und seine Frau ihre Kinder sowie einige wichtige Geschäftsfreunde zu dieser Reise ein. Zehn Suiten wurden in seinem Namen gebucht. Am 15. April wollte er den fünfzehnten Geburtstag seines ältesten Sohnes Adalbert feiern. Nikolaus lud fünfundzwanzig Personen zum Diner mit elf Gängen an Bord der Titanic ein. Die Stimmung war großartig. Man prostete sich mit Cristal zu, Jahrgang 1876, dem Champagner des Zaren Alexander II. Die Gäste aßen und tranken vier Stunden lang und hatten einen schweren Magen nach dem opulenten Mahl. Sie sanken nach der Kollision mit einem Eisberg, die zum Untergang des angeblich unsinkbaren Schiffes führte, wie Steine in das kalte Wasser. Keiner von Nikolaus’ Gästen überlebte. Die Leiche des Gastgebers wurde erst viele Jahre später geborgen. In seiner Jackentasche fand man fünfzig Zehntausenddollarscheine – mit dem Porträt des düster lächelnden amerikanischen Finanzministers Salmon P. Chase sowie eine verblüffend gut erhaltene Übersicht des Elf-Gänge-Menüs.
Claudia heiratete früh. Sie war erst neun Jahre alt, als ihr klar wurde, dass Markus Frombichler und kein anderer ihr Ehemann werden sollte. Sie waren bis auf zwei Wochen genau gleich alt und hatten schon miteinander gespielt, bevor sie laufen konnten. In der Schule saßen sie in derselben Bank. Markus’ Vater war Bauer und Nachbar des biedersternschen Gutes. Als die Familie Spinoza nach Wien zog, versprachen Claudia und Markus einander ewige Treue. Sieben Jahre später reiste er ihr nach in die Hauptstadt. Vor Jakob stand ein junger, stiller, unsicherer und verzagter Freier, dem man kaum vorwerfen konnte, ein Mann von Welt zu sein, und hielt um die Hand seiner einzigen Tochter an. Nur ein Blinder konnte übersehen, wie verliebt die beiden waren. Dennoch riet Jakob Claudia von der Heirat ab. Dass sie auf dem Lande glücklich werden würde, eingeheiratet in eine katholische Familie, unter ungebildeten Bauern, das konnte er sich nicht vorstellen. Außerdem hätte sie konvertieren müssen, doch der jüdische Glaube und die Tradition ließen sich nicht wie ein Paar Handschuhe ersetzen. Die Augen der Mutter füllten sich mit Tränen, und sie murmelte, auf einen Schwiegersohn wie Markus wäre keine jüdische Mutter stolz. Nikolaus sagte voraus, dass das Leben seiner Schwester trostlos enden würde. Claudia entgegnete, freilich sei ihr Markus kein verwöhnter jüdischer Sohn aus reichem Hause mit feinen weißen Händen wie ihre Schlauberger von Brüdern, sondern ein Mann, der es gewohnt sei, zu arbeiten und seine Pflichten zu erfüllen. Doch was sei Anstößiges daran, dass sein Vater ein Bauer sei? Die Frombichlers seien einfache Menschen, irgendwelche Welträtsel hätten sie nie gelöst, sie hätten immer auf ihrem kleinen Fleckchen Erde gelebt, sich um ihre Kinder gekümmert und seien glücklich mit ihrem Los. Und was die Religion angehe, so habe sie noch nie an einen Gott geglaubt. Jude, Katholik – die Liebe sei über so etwas erhaben. Die Frage wurde in der Familie heftig diskutiert, und natürlich war es Jakob, der das Wort führte. Doch keine Überredungskunst half gegen Claudias Argumente. Sie wusste, was sie wollte.
Markus und sie bekamen drei Kinder. Mathäus war der Älteste. Er war ein schwieriges und bösartiges Kind. Mit zehn Jahren versuchte er, eine seiner kleinen Schwestern in einem Brunnen zu ertränken. Zur Strafe schickte man ihn zu einem Vetter des Vaters nach Linz, einem kinderlosen Obergefreiten im kaiserlich-königlichen Heer. Seine Frau, eine Giftkröte von einer Matrone, verabscheute Mathäus sofort. Dass er dem lieblosen Paar nicht davonlief, lag allein daran, dass er in der Schule einen Freund gefunden hatte, Adi, von dem er sich nicht trennen wollte.
Die Schwestern Isidora und Hedda heirateten und wanderten nach Amerika aus. Nach dem Börsencrash 1929 verlieren sich alle Spuren von ihnen. Claudias Ehe war glücklich, und sie wirkte zufrieden mit ihrem Leben als Bauersfrau. Das einzige, was ihr einen Stich ins Herz versetzen konnte, war der Gedanke an die Geschwister. Sie hatten sich von ihr abgewandt, als sie einen Nichtjuden geheiratet hatte. Markus starb 1937 eines natürlichen Todes. Fünf Jahre später wandte sich Karl Schneider, Markus’ bester Freund, Polizeichef im Distrikt, an Claudia und bat sie, in sein Büro zu kommen, um eine kleinere Formalität in ihrer Geburtsurkunde anzuschauen. Sie kam an dem Nachmittag nicht wieder nach Hause. Auch nicht am nächsten Tag. Ihr Leben endete zwei Wochen später in Auschwitz. Hitlers Koch, dem so viele ihr Leben zu verdanken hatten, konnte seine eigene Mutter nicht retten.
Andreas war das jüngste Kind und der Clown der Familie. Die Geschwister nannten ihn »Karpfen«, weil seine Lippen zitterten wie das Maul eines Karpfens, wenn er begeistert über seine eigenen Geschichten lachte. Als Erzähler hatte er eine ungewöhnliche Gabe. All seinen Unwahrheiten, Übertreibungen und ausgeschmückten Boshaftigkeiten zum Trotz fanden die Leute auf dem Gut es lustig, seinen labyrinthisch gewundenen Geschichten zu lauschen.
Andreas’ Liebe zu Schusswaffen wurde, zum Erschrecken der ganzen Familie, von Bertold begründet, der, ebenso wie sein Vater und Großvater vor ihm, die Verantwortung für den großen Schusswaffenbestand des Gutes trug. Der Junge träumte davon, an der polytechnischen Universität Physik zu studieren, wurde aber nicht angenommen. Nach drei Versuchen gab er auf und ließ sich als Lehrling in der Österreichischen Waffenfabriksgesellschaft anwerben, die die schönsten Jagdgewehre des Landes herstellte. Schusswaffen waren zu jener Zeit noch langsam und unhandlich. Andreas versuchte, die Treffsicherheit zu verbessern und den Ladevorgang zu beschleunigen. Er wusste genau, dass die Preußen 1866 im Preußisch-Österreichischen Krieg mit ihrem Dreyse-Hinterlader in der gleichen Zeit, die die Soldaten Franz Josephs brauchten, um stehend die Waffe zu laden und einen Schuss abzugeben, sieben Schuss abgefeuert hatten, und zwar liegend. Wer siegreich aus diesem Krieg hervorging, lag auf der Hand. Andreas konstruierte eine Waffe, die schnell war, treffsicher und unempfindlich gegen Feuchtigkeit. Er begegnete zwar einem gewissen Interesse, als er sein Gewehr beim Militärkommando präsentierte, doch die bürokratischen Mühlen der Doppelmonarchie mahlten langsam. Während man prüfte und diskutierte, Bedenken zwischen verschiedenen Abteilungen hin und her schickte und neue Fragen stellte, die beantwortet werden mussten, verging die Zeit, und Andreas fuhr enttäuscht über die Grenze zur Waffenfabrik Paul Mauser in dem kleinen deutschen Ort Oberndorf am Neckar. Mauser erkannte sofort das Geniale an Andreas’ rotierendem Zylindermechanismus für Kammerladung und begrüßte diesen großen Fortschritt. Nie zuvor hatte jemand eine Waffe konstruiert, mit der Infanteristen fünfzehn Schuss in fünfzehn Sekunden abfeuern konnten, mit einer Treffsicherheit noch über tausend Meter. Andreas unterzeichnete einen Vertrag mit den Mauser-Werken, und die von ihm entwickelten Finessen wurden in die neuen Repetiergewehre eingebaut, die unter der Bezeichnung Modell 98 liefen. Der legendäre Infanteriegeneral Lothar von Trotha besuchte vor seiner Ostafrika-Expedition die Fabrik, um die neue Waffe zu testen. Er war überaus zufrieden. »Mit dieser Waffe können wir die Vernichtung der aufrührerischen Afrikaner ins Auge fassen«, konstatierte der General. »Vernichtung«, wiederholte Andreas, denn der Klang des Wortes gefiel ihm.
Kurz vor dem Treffen mit dem General war er zufällig auf einen Abenteuerroman von Rider Haggard gestoßen. Die romantische und von erotischem Exotismus triefende Geschichte des Engländers darüber, wie weiße Männer die Frauen der Kolonien kontrollierten, wie sie Kraft ihrer kulturellen und technischen Überlegenheit Afrikas Schätze in Besitz nahmen, erschien ihm äußerst verlockend. Von dem Buch wie verhext, bat er von Trotha, ihn mit nach Ostafrika zu nehmen. Er wolle im Feld studieren, wie die neue Waffe wirke. Zwei Jahre lang begleitete er die Expedition des Generals. Während Dörfer geplündert und niedergebrannt wurden, ein Drittel der Bevölkerung ermordet und ebenso viele verwundet wurden, saß Andreas in einem komfortablen Militärzelt, zwar geplagt von Insekten, doch gut versorgt von zwei dunkelhäutigen Geliebten, und verbesserte die Gewehre noch weiter, indem er die Rauchgase einschloss, die sich bildeten, wenn der Schuss abgefeuert wurde. Das brutale Vorgehen des Generals und das maßlose Leiden der Afrikaner störten ihn ebenso wenig wie die Schreie der Affen und das Brüllen der Wildtiere. Es war ihm schon sein ganzes Leben lang leichtgefallen, unangenehme Dinge zu verdrängen. Er hatte natürlich gelernt, dass der Wert aller Menschen gleich ist und dass alle Individuen angeborene Rechte haben. Doch in Afrika galt das nicht. Er teilte die Sichtweise des Generals: Schwarze Menschen musste man nicht als Menschen betrachten. Waren nicht ihre einfache Lebensführung, ihr Unwissen von der Welt, ihre primitiven Vorstellungen und Riten mehr als genug Beweis dafür? Er und von Trotha knüpften starke Bande, während sie an langen Abenden am Lagerfeuer saßen und einander Geschichten erzählten. Nach ihrer Rückkehr aus Ostafrika stellte der General ihm seine Nichte vor, die er später heiratete.
Andreas begleitete von Trotha auch auf der Reise nach Südwestafrika. Ziel der Expedition war es, den Aufstand des Herero-Volkes gegen die deutsche Kolonialmacht, die die Eingeborenen schlimmer behandelte als ihre Hunde, niederzuschlagen. Seine Frau winkte ihm zum Abschied im Hamburger Hafen. Sie hatte die böse Ahnung, dass er nicht nach Hause zurückkehren würde. Erst als das Schiff außer Sichtweite war, begann sie zu weinen. Die Deutschen waren voller Arroganz und rechneten mit einem Sieg, leicht wie ein Spaziergang. Deshalb verwendete der General keine besondere Sorgfalt darauf, für die Verpflegung der Truppe zu sorgen.
Die Hitze in Südwestafrika war unerträglich. Die Herero-Soldaten leisteten unerwartet Widerstand und nutzten ihre Ortskenntnis erfolgreich aus. Nach drei Monaten in der Wüste gingen Proviant und Wasser der Kolonialherren zur Neige. Mehr Deutsche starben an tropischen Krankheiten und Erschöpfung als an den Kugeln der Aufrührer. Andreas war einer von ihnen. Er war überanstrengt und bekam Fieber, Durchfall und eine Darmblutung. Seine Beine gaben unter ihm nach, er sank zu Boden und konnte sich nicht mehr rühren. Es war klar, dass er in diesem Zustand unmöglich von Trotha und seinen Truppen folgen könnte. Er ahnte, dass er die Omaheke-Wüste niemals wieder verlassen würde. Der General untersuchte ihn, und Andreas wollte ihm sein Herz ausschütten, doch er bekam kein Wort heraus. Von Trotha überlegte, ob er seinem Freund eine Kugel in die Stirn verpassen sollte, um sein Leiden zu verkürzen. Doch er brachte es nicht über sich. Andreas blieb zurück in seinem Zelt, zusammen mit zwei Geliebten aus dem Volk der Nama. In der Nacht schlichen sich die Frauen aus dem Zelt und verschwanden. Allein und verlassen lebte er noch vier Tage.
Trotz großer Verluste weigerte sich der General, mit dem Anführer des Herero-Volkes über einen Waffenstillstand zu verhandeln. Er wollte in die Geschichte eingehen, indem er das Bild eines Deutschland schuf, das große Teile Afrikas beherrschte. Er war so überzeugt davon, dass diese aufsässigen Schwarzen ausgerottet werden müssten, dass er Massaker an wehrlosen Menschen anordnete: an Alten, Frauen und Kindern. Danach wurden die männlichen Hereros erschossen, ob sie nun Waffen bei sich trugen oder nicht. Die Gewehre, die Andreas konstruiert hatte, wurden von dem vielen Schießen so heiß, dass die deutschen Soldaten sich fast die Finger verbrannten.
Auch das Leben des Nama-Volkes blieb nicht verschont. Der Blutgestank erfüllte ganz Südwestafrika.
Nach der Heimkehr von diesem ersten, doch längst nicht letzten Völkermord im 20. Jahrhundert wurde von Trotha in Berlin wie ein Held gefeiert. Einige Monate später jedoch wurde er, meinem Großonkel zufolge, vor Gericht gestellt und verurteilt. Nicht weil er über achtzig Prozent der Herero-Bevölkerung und fünfzig Prozent des Nama-Volkes ermordet hatte, sondern weil er seine Geliebte in Windhuk misshandelt hatte, eine weiße Frau, Nichte des deutschen Reichskommissars in Südwestafrika.
WIEDER AUF ABWEGEN
Mir fällt plötzlich auf, dass es mir tatsächlich gelungen ist, ein nicht unwesentliches Detail von Nikolaus’ Kauf der Österreichischen Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe zu vergessen. Er konnte die Firma zu einem Preis übernehmen, der zwanzig Prozent unter dem Marktwert lag. Bedingung war, dass im Kaufvertrag eine Klausel eingefügt wurde: Sollte er zum Zeitpunkt seines Ablebens keine leiblichen Erben haben, würden alle Aktien ohne Verluste an die Rothschild Bank zurückfallen. Jedes Mal, wenn seine Frau mit einem Kind niederkam, lachte Nikolaus herzlich und gratulierte sich im Stillen zu seinem Geschäftsgenie. Das Paar hatte vier Jungen und zwei Mädchen. Doch wer zuletzt lachte, war dennoch der Rivale Albert Rothschild, das Oberhaupt der Bankiersfamilie, der Nikolaus nicht leiden konnte. Als die Titanic sank, konnte dieser Geizhals, ohne einen Groschen zu bezahlen, die Credit-Anstalt übernehmen.
Ich zögere ein wenig, hier auszusprechen, dass der Verlust von Nikolaus’ Vermögen ein Segen für uns war. Doch es war so. Denn Geld ist ein Blendwerk des Teufels. Der plötzliche Reichtum brachte für die Familie Spinoza letztlich nur Enttäuschungen mit sich. Er spaltete die Familie und machte Geschwister zu Feinden – das innerste Wesen der Familie Spinoza war eben doch etwas anderes, als dem Geist des Geldes zu huldigen. Getreu dem Glauben an die Begegnung unseres Ahnen Baruch mit Moses, war unsere Aufgabe auf Erden seit undenklichen Zeiten – auch wenn der Lauf der Welt von unserem Einsatz vollkommen unbeeinflusst zu bleiben schien –, das größte aller Geheimnisse zu hüten: das Elixier, das Unsterblichkeit schenkt.
DAS KURZE GLÜCK
Kehren wir wieder zurück zu Ariadne und Bernhard. Die Liebenden wahrten Abstand zu Bernhards Familie, da sie fürchteten, Jakob würde versuchen, ihrem Glück Hindernisse in den Weg zu legen. Nur selten gab es Kontakte zwischen ihnen und der Familie in Wien, und Bernhard weigerte sich, Hilfe von seinem Vater anzunehmen. Auch auf Jakobs Versuche, ihm begreiflich zu machen, welche Unfreiheit es mit sich brächte, kein Geld zu haben, ging er nicht ein. Die jungen Leute waren stolz auf ihre Unabhängigkeit und sprachen voller Freude darüber, in Budapest zu leben, weit entfernt von den Eltern, die ja doch versucht hätten, sich einzumischen und ihr Leben zu bestimmen. Es fiel ihnen nicht ein, sich über die Armut zu beklagen, die in Ungarn ihr Schicksal war.
Fünf Jahre nach der Ankunft in Budapest hatten sie schon drei Jungen: Moricz, Nathan (der mein Großvater werden sollte) und Kalman. Sie bekamen auch eine Tochter, Hanna, das jüngste Kind. Sie kam durch einen Kaiserschnitt zur Welt, viel zu früh, im siebten Monat, und wog kaum zwei Kilogramm. Ariadne lag auf dem Operationstisch und ihr Leben hing an einem dünnen Faden, denn sie hatte viel Blut verloren, doch ein junger Arzt rettete sie. Die kleine Hanna hatte einen komplizierten Herzfehler, stellte der Oberarzt im Armenkrankenhaus fest, und eine Operation sei notwendig, wenn sie sie nicht verlieren wollten. Er verlangte fünftausend Kronen für sich selbst und deutete an, dass er einen weiteren Arzt und zwei erfahrene Schwestern benötige, und auch diese müssten bezahlt werden. Als der Oberarzt Bernhards bleiches Gesicht sah, fügte er hinzu, dass eine solche Operation in einem privaten Krankenhaus mindestens das Doppelte kosten würde, vielleicht mehr. Das sei der Moment gewesen, sagte Bernhard viele Jahre später, in dem er erkannte habe, was Geld in der Welt bedeute. Er erklärte dem Arzt, dass er nichts habe, womit er bezahlen könne, doch dass das Leben seiner Tochter gerettet werden müsse. Er bat um eine Stundung des Betrags für einige Wochen, bis sein Vater ihm Geld geschickt habe. Er versprach zu bezahlen, und um seine Kreditwürdigkeit zu unterstreichen, erzählte er, dass sein Vater die Rothschild Bank in Wien betreibe und ein reicher Mann sei. Der Oberarzt lächelte skeptisch. Er musste nur einen Blick auf den jungen Mann mit den verschlissenen Hosen und dem ausgefransten Hemdkragen werfen, um einen Beweis für das Gegenteil zu haben. Er erklärte, dass nirgends in Budapest Operationen auf Kredit durchgeführt würden, brachte sein Bedauern zum Ausdruck und verschwand schnell auf dem Korridor. Bernhard wäre fast in Tränen ausgebrochen. Damit niemand es bemerkte, folgte er mit dem Blick den Rissen in der Wand, die sich durch die Feuchtigkeit gebildet hatten.
Zwei Tage später beerdigte er die kleine Hanna.
Ariadne lag noch zehn Tage im Krankenhaus und empfand unerträgliche Trauer. Diese Trauer veränderte sie. Nach ihrer Heimkehr fand sie sich immer schlechter im Alltag zurecht. Sie wurde zänkisch – wohl ein Erbe ihres Vaters – und machte Bernhard ständig Vorwürfe. Sie begann früh am Morgen, bevor er zur Arbeit ging, und fuhr am Abend damit fort, wenn er nach Hause kam. Und das, obwohl Bernhard sich um alles kümmerte. Er kaufte ein und kochte und sorgte dafür, dass es in der Wohnung sauber und ordentlich war, und wenn die Kinder krank waren, war er es, der des Nachts aufstand und sie versorgte. Auf diese Weise nahm er Ariadne einen Teil ihrer Verantwortung für den Haushalt ab. Sie mied die Hausarbeit, nicht nur wegen ihrer angeborenen Blindheit. Sie war träge und hatte keinen ausgeprägten Ordnungssinn. Bernhard ignorierte das alles und behandelte sie liebevoll, auch wenn sie es nicht immer verdiente. Er wusste, dass ihr Alltag – zehn Stunden allein mit drei kleinen Kindern – ganz und gar kein Tanz auf Rosen war. Viel hing von ihrer jeweiligen Laune ab. Moricz, der in einem Augenblick noch ein süßer kleiner Kerl gewesen war, erschien ihr plötzlich als anspruchsvolles Kind, wenn er sie um mehr zu essen bat. Nathan, den sie dafür schalt, dass er zurückgeblieben sei, verwandelte sich in ein Genie, wenn er mit seinem kleinen Bruder Kalman spielte, sodass sie nachmittags eine Stunde schlafen konnte. Bernhard verstand auch, dass sie eifersüchtig war – nicht weil er untreu gewesen wäre, für ihn existierte keine Frau außer Ariadne. Sie hatte schlicht und einfach eine Veranlagung zur Eifersucht und meinte, Bernhard sei ihr Eigentum. Zweifellos spielte es auch eine Rolle, dass sie zu niemandem außer Bernhard und den Kindern Kontakt hatte, sie besaß weder Freunde noch Verwandte.
PESTER LLOYD
Pester Lloyd war das Flaggschiff der deutschsprachigen Presse in der ungarischen Hauptstadt, eine seriös berichtende Tageszeitung. Das Finanzielle war durch Unterstützung des liberalen Bankiers Siegmund Kornfeld gesichert, der in seiner Jugend Jakobs Schützling in Wien gewesen war und im Alter von sechsundzwanzig Jahren von Albert Rothschild zum Chef der Ungarischen Credit-Anstalt in Budapest ernannt worden war. Die Redaktionslokale der Zeitung und die Druckerei befanden sich in einem Gebäude im nördlichen Teil des eleganten Stadtteils Lipótváros. Der Chefredakteur, der legendäre Miksa Falk, bewegte sich ungezwungen zwischen den verschiedenen sozialen Schichten. Er war ein Vertrauter der Kaiserin Elisabeth, und selbst Franz Joseph lieh ihm sein Ohr. Falk hatte eine souveräne Fähigkeit, viele Fäden gleichzeitig in der Hand zu halten, und scheute keine Mühe, seine Mitarbeiter in ein gemeinsames Abenteuer hineinzuziehen. Es lag ihm nichts daran, mit seinem Können zu brillieren und sich zum Helden der Zeitung zu machen. Er hörte immer zu, was andere zu sagen hatten, und inspirierte seine Umgebung mit Ideen und Vorschlägen. Er war großzügig mit Lob und zurückhaltend mit Kritik. Er verabscheute Floskeln und den Gebrauch von allzu vielen Adjektiven. Die Furcht vor Adjektiven, so pflegte er zu sagen, ist der Beginn des Stils. Alle Mitarbeiter wussten, was er von ihnen erwartete, deshalb musste er niemals deutlich werden. Der Bart ließ ihn barsch und streng aussehen, doch er war von Natur aus freundlich. Nur die Selbstzufriedenen und Eingebildeten in der Redaktion mussten seine spitzen Kommentare fürchten.
Bernhard begann bei Pester Lloyd als Laufbursche, gleich nach seiner Ankunft in Budapest. Der Lohn reichte kaum für Miete und Nahrung für die Familie. Harte Arbeit war ihm nicht fremd. Er erledigte ebenso gern Aufträge, wie er dabei half, schwere Papierballen zu bewegen. Ihm gefiel die mitreißende, lebendige Aktivität in allen Abteilungen. Er liebte die Nähe zu Druckerschwärze und empfand eine kindliche Begeisterung für den Paternosteraufzug, der die Redaktionen in den verschiedenen Etagen miteinander verband. Es erfüllte ihn mit großer Zufriedenheit, sich tagtäglich unter gebildeten Männern und Frauen zu bewegen, die für die Rechte der Schwachen in der Gesellschaft eintraten.
Er begann davon zu träumen, irgendwann in der Zukunft seinen eigenen Namen auf der Titelseite der Zeitung gedruckt zu sehen. Eines Tages – in einem Anfall von Größenwahn, wie er selbst meinte – schrieb er einen Text darüber, wie es war, in Budapest blind zu sein. Er wusste, die Chance, dass der Artikel angenommen würde, war nicht größer als die, dass Ariadne sehend würde. Dennoch lieferte er den Text beim diensthabenden Leiter der Inlandsabteilung ab. Mehrere Wochen vergingen, und er hatte die Sache schon fast vergessen, als er eines Morgens ins Büro des Chefredakteurs gerufen wurde. Einen Augenblick lang fürchtete er, eine Strafpredigt zu bekommen oder gar entlassen zu werden wegen einer Unachtsamkeit. Doch Falk begegnete ihm freundlich und bat um Entschuldigung dafür, dass er so lange gebraucht habe, um den Artikel zu lesen. Er fragte, ob Bernhard schon einmal etwas publiziert habe, andernfalls werde er am kommenden Sonntag sein journalistisches Debüt auf der Titelseite von Pester Lloyd erleben, und zwar mit einem Artikel, der nicht nur die hohen Qualitätsanforderungen der Zeitung erfülle, sondern außerdem wichtig sei. Schließlich beleuchte er ein Problem, dessen – soweit er sich erinnern könne – kein Journalist sich jemals angenommen habe. Er fragte, woher Bernhard so viel über die schwierigen Lebensbedingungen der Blinden wisse. Und er traute seinen Ohren nicht, als er erfuhr, dass die Frau des jungen Mannes blind geboren war. »Ihre Frau!«, rief der Chefredakteur aus und fügte hinzu, dass ein Welpe wie Bernhard doch wohl kaum verheiratet sein könne. Noch erstaunter war er, als Bernhard erklärte, er sei nun wirklich kein Welpe, sondern neunzehn Jahre alt und schon Vater von zwei Söhnen. Dann sei also ein kleines Honorar ein willkommener Beitrag für die Familienkasse, antwortete Falk. Er stellte außerdem in Aussicht, dass Bernhard weitere Artikel publizieren könne, vorausgesetzt sie wären ebenso wohlformuliert und gut recherchiert wie der über den Alltag der Sehbehinderten. Auch dürfe seine bisherige Arbeit bei der Zeitung nicht darunter leiden.
Der Sonntag kam und Bernhards Enttäuschung kannte keine Grenzen, als er die Zeitung in den Händen hielt. Der Artikel stand zwar tatsächlich auf der Titelseite, doch sein Name war falsch geschrieben. Statt Bernhard Spinoza stand dort als Verfasser Bernhard Spiritosa. Er wusste, dass Pester Lloyd als Tageszeitung bekannt war, in der fast keine Satzfehler vorkamen. Deshalb hatte er den Verdacht, jemand in der Redaktion könne aus purer Bosheit seinen Nachnamen geändert haben. Am nächsten Tag ging er zum Redaktionschef und bat um eine Erklärung, wurde jedoch an die Setzerei verwiesen. Dort wurde ihm erklärt, dass der Typograph, der früh am Sonntag den Artikel gesetzt hatte, den Satz mit Bleitypen, in dem Bernhards Name stand, hatte fallen lassen, und als er sie habe wieder zusammensetzen wollen, seien ihm leider einige Buchstaben durcheinandergeraten. Es hätte schlimmer kommen können, stellte der Vorarbeiter der Setzerei stoisch fest.
Bernhard konnte nicht begreifen, wie ein erfahrener Mann so wenig Verständnis dafür aufbringen konnte, wie furchtbar es war, nun mit einem falschen Namen unter dem ersten publizierten Text leben zu müssen.
Der falsch geschriebene Name – das erste Missgeschick dieser Art in der Geschichte der Zeitung – wurde zum Gesprächsthema des Montagvormittags in der Redaktion. Ein aufgeweckter Journalist sagte mit einem listigen Lächeln, die Sache müsse einen geheimen Sinn haben, und behauptete – selbstverständlich ohne um Bernhards Verwandtschaft mit Bento und Benjamin zu wissen –, der Nachname Spiritosa sei passender für den ständig lächelnden jungen Mann als der Name Spinoza, den man nur mit ein paar langweiligen Philosophen in Verbindung bringe.
Von dem Tag an nannten alle im Zeitungshaus Bernhard Spiritosa, was auf Italienisch humorvoll, geistreich und spirituell bedeutet.
Einen Monat später erhielt Bernhard einen Brief von seiner Mutter. Dieses Mal war seine Enttäuschung wenn möglich noch größer. Sie gratulierte ihm zur Publikation seines ersten Artikels. Gleichzeitig brachte sie ihre Freude darüber zum Ausdruck, dass es ihr endlich gelungen sei, ihren Mann davon zu überzeugen, seinen ehemaligen Schützling, den Finanzier des Pester Lloyd Siegmund Kornfeld, zu bitten, an ein paar Fäden zu ziehen, um die Position ihres Sohnes bei der Zeitung zu verbessern.
DER PATERNOSTER
Ariadne war schon eine geraume Zeit schlechter Stimmung. Normalerweise ließ sie sich, auch wenn sie besonders streitlustig war, nach ein paar Tagen von Bernhards zärtlichen Berührungen erweichen. Dann gab sie ihm, indem sie ihm den Kopf streichelte, zu verstehen, dass die ehelichen Lustbarkeiten wieder beginnen könnten. Wenn sie miteinander schliefen, versöhnten sie sich stets. Doch diesmal waren mehrere Wochen vergangen seit ihrer letzten sinnlichen Versöhnung, und dieser Morgen war der schlimmste seit langem. Ariadne war noch zänkischer als sonst aufgewacht. Sie beklagte sich über ihr Los und bedachte ihn und die Jungen mit den widerwärtigsten Ausdrücken. Als die Kinder zu weinen begannen, warf sie Teller an die Wand und zerbrach eine Fensterscheibe. Es dauerte fast eine Stunde, bis sie sich beruhigt hatte und Bernard zur Arbeit gehen konnte.
In der Redaktion herrschte meist große Hektik. Bernhard, der nun schon seit ein paar Jahren als Unterredakteur in der Annoncenabteilung arbeitete, kümmerte sich nicht um die ganze Aufregung. Doch an diesem Tag war etwas anders als sonst, sodass auch er unruhig wurde. Er wollte gerade den Raum verlassen, als der Chefredakteur hereinkam. Falk war blass. Nicht nur seine Stimme zitterte, sondern auch seine Hände. Er bat Bernhard, sich zu setzen. Bernhard ahnte etwas Furchtbares. Sein Leben blieb in dem Augenblick stehen, als Falk ihm erzählte, was geschehen war. Im Paternoster hatte man eine junge Frau gefunden, die zwischen zwei Etagen ausgestiegen sein musste und offenbar das Gleichgewicht verloren hatte. Jedenfalls sei sie gefallen und erdrückt worden. Ihr Kopf war abgetrennt worden. Allem Anschein nach sei die junge Frau blind, und man habe Grund anzunehmen, es handle sich um Bernhards Frau.
Ariadne war Bernhards Leben. Ein anderes Leben hatte er nicht. Ein anderes Leben wollte er auch nicht. Wir müssen der Vorsehung danken, dass Bernhard drei Söhne hatte, denn sonst wäre ihm nach Ariadnes Tod möglicherweise nur der Tod geblieben. Doch auch wenn die Gedanken an Ariadne ihn niemals loslassen sollten, so wusste er doch, dass er sich um die Kinder kümmern musste.
In dem abgewetzten Koffer, den ich von meinem Großvater geerbt habe – in einem wüsten Durcheinander aus Briefen, Tagebüchern aus verschiedenen Jahrhunderten, Geburtsurkunden, Testamenten und anderen historischen Dokumenten, die unsere Familie angehen –, fand ich auch eine vergilbte Fotografie, wahrscheinlich vor dem Zweiten Weltkrieg aufgenommen, auf der ein Grab mit folgender Goldinschrift auf schwarzem Granit zu sehen ist: »Ariadne – meine Prinzessin – du sahst die Welt mit anderen Augen. Auf ewig vermisst.«
Auf die Rückseite der Fotografie hatte Großvater mit kleinen Buchstaben geschrieben: »Meine einzige Erinnerung an Mama …«
Kurz nach der Beerdigung erhielt Bernhard den Bericht des Obduktionsarztes. Daraus ging hervor, dass Ariadne schwanger gewesen war. Seine Augen füllten sich mit Tränen, als ihm klar wurde, dass Ariadne, die wegen ihrer Blindheit fast nie das Haus verließ und nie im Zeitungsgebäude gewesen war, gekommen sein musste, um sich für ihr Verhalten zu entschuldigen und ihm zu sagen, dass sie ein Kind erwarte.
DIE BESTE KUR
»Labor omnia vincit.« Das Zitat stamme von dem großen römischen Dichter Vergil, erklärte der Chefredakteur, und es bedeute: Arbeit überwindet alles. Falk betrachtete Bernhard mit dem Mitgefühl, das man einem Freund zeigt, der sich im Leben verirrt hat.
»Ich muss aufrichtig zu Ihnen sein«, sagte er. »Sie können nicht den ganzen Tag hier in der Redaktion auf und ab gehen und an Ihre verstorbene Frau denken. Das hilft weder Ihnen noch sonst jemandem. Sie bekommen sie nicht zurück. Sie ist tot. Das müssen Sie akzeptieren. Die einzig würdige Art und Weise, ihr Andenken zu ehren, ist das Schreiben. Bei tiefer Trauer ist Arbeit die beste Kur. Wenn Sie wieder zu schreiben beginnen, werden Sie sehen, wie Ihre Seele sich erhebt. Sie werden immer dann, wenn Sie ein nichtssagendes Wort im Text durch ein weniger nichtssagendes ersetzen, ein wenig Mut schöpfen. Sie werden Freude empfinden, wenn Sie in den unendlichen sprachlichen Galaxien den rechten Weg finden.«
Der Chefredakteur fuhr fort, der Artikel über die Blinden sei die stärkste Beschreibung gewesen, die er jemals über die Situation der Notleidenden in Budapest gelesen habe. Der Text zeuge davon, dass Bernhard zu den wenigen Menschen gehöre, die zum Schreiben geboren seien und die im Leben einen Auftrag hätten: mit Hilfe der Feder für das Wohl der Menschheit zu kämpfen. Er erklärte, er stamme selbst aus einer armen jüdischen Familie, und es gebe nichts, was er lieber wolle, als im Land für mehr Gerechtigkeit zu sorgen, denn allzu viel in der ungarischen Gesellschaft verstoße gegen seine Prinzipienaus der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Er fügte hinzu, dass diese Worte ja gewissermaßen auf Nicolas Spinoza zurückgingen. Bernhard lächelte schwach und nickte.
»Ihr wahres Erbe kommt von Ihrem Urgroßvater Nicolas«, sagte Falk. »Es besteht darin, bekannte Dinge mit neuen Augen zu sehen und sie zu beschreiben. Wer schreibt, wird zum Zeugen vor dem Gericht der Welt. Durch Ihre Worte geben Sie auch anderen Kraft, sich über ihr Schicksal zu erheben.«
Falk lehrte Bernhard nicht nur, Sätze zu formen und mit den Worten zu ringen. Er wurde sein Mentor und Lehrmeister. Er unterrichtete ihn in ungarischer Geschichte und ließ ihn eine humanistische Tradition mit Wurzeln entdecken, die bis zu Cicero, Plutarch und Seneca zurückreichten. Er empfahl ihm, Erasmus von Rotterdam und Michel de Montaigne zu lesen. Er trainierte Bernhards Argumentationskunst durch lebendige Diskussionen über Wirtschaft und Politik. Er brachte ihn dazu, eine ästhetische Verbindung mit einigen der großen Gegenwartsschriftsteller einzugehen und sich mitreißen zu lassen von der Vielfalt der Schicksale, die sich in der Dichtkunst spiegelten. Er lehrte ihn, sich in der Welt der Bücher zurechtzufinden.
IM CAFÉ DU MATIGNON
Sie hatten ein Treffen im Café du Matignon vereinbart, im eleganten Faubourg Saint-Germain. Den Ort hatte Theodor Herzl ausgewählt. Er war seit vier Jahren Korrespondent der Wiener Zeitung Neue Freie Presse in Paris und kannte die Stadt gut, besonders die Viertel, in denen Alfred Dreyfus gewohnt und gearbeitet hatte, bevor er verhaftet wurde. Mit großem Interesse hatte Herzl das Gerichtsverfahren gegen den jüdischen Hauptmann verfolgt. Er stellte sich, ohne zu zögern, hinter die Kampagne, die in Frankreich geführt wurde, um Dreyfus Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Es gab kaum etwas, dem Herzl mit größerem Eifer entgegengesehen hätte, als die Begegnung mit Bernhard. Seit zehn Jahren hatten sie die Artikel des jeweils anderen verfolgt und waren Rivalen gewesen um den Königsthron des Journalismus in der Doppelmonarchie. Der eine kam aus Budapest und war als Siebzehnjähriger nach Wien gezogen; der andere war im gleichen Alter von einem Gut etwas außerhalb Wiens aufgebrochen und hatte sich in Budapest niedergelassen. Sie waren eine Art merkwürdiges Zwillingsphänomen, immer mit denselben Fragen und Problemstellungen beschäftigt. Vielleicht wurde Herzl deshalb eine Art Bernhard Spinoza in Wien genannt, und Bernhard bekam manches Mal zu hören, er sei eine Art Theodor Herzl in Budapest. Beide waren bekannt für ihr imponierendes Arbeitspensum und ihre hohen Ideale, was die Bedeutung der journalistischen Arbeit betraf. Sie waren sich ihrer Macht als kritische Meinungsbildende bewusst. Es gab kaum einen anderen Autor, der ebenso heftige Debatten auslösen, derart radikale politische Forderungen stellen und den Machthabern so tiefe Wunden und Schrammen beibringen konnte wie diese beiden. Natürlich nahmen sie einen wichtigen Platz im Bewusstsein der Leser ein.
Herzl und Bernhard hatten seit vielen Jahren eine lebendige Korrespondenz geführt, waren sich aber nie persönlich begegnet. Die Initiative zu dem Treffen in Paris war von Herzl ausgegangen. Er arbeitete an einem Buch, das er Der Judenstaat nannte. Als Reaktion auf den wachsenden Antisemitismus in Europa im Kielwasser der Dreyfus-Affäre plädierte er dafür, dass die Juden einen eigenen Nationalstaat gründen sollten. Er hatte eine Leseprobe an eine Handvoll herausragender jüdischer Kulturpersönlichkeiten in den deutschsprachigen Ländern geschickt. Die Reaktionen waren überwältigend positiv. Die einzige Kritik, mit schwerwiegenden Argumenten, kam aus der Feder von Bernhard. Herzl wollte das Thema unbedingt weiter mit ihm diskutieren, da er überzeugt war, dies werde für seine Arbeit von großem Nutzen sein.
Bernhard kam an einem strahlenden Vormittag Anfang Mai an der Gare du Nord an. Er schaffte es gerade noch, sein Gepäck im Hotel de l’Europe am Boulevard de Magenta abzusetzen, bevor es Zeit war, zum linken Seine-Ufer aufzubrechen, wo das Treffen stattfinden sollte. Er war sehr gespannt darauf, Herzl zu begegnen. Sobald er das Café du Matignon betreten hatte, erkannte er ihn, obgleich er nicht so aussah, wie Bernhard ihn sich vorgestellt hatte. Er war größer und schmaler. Herzl war kurz zuvor fünfunddreißig Jahre alt geworden, doch er wirkte älter. Mit dem langen, dunklen Bart sah er aus wie ein biblischer Prophet. Statt sich die Hände zu drücken, umarmten sie einander.
Nachdem sie einige Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht hatten, fragte Bernhard, wie es Herzl in der französischen Hauptstadt ergehe. Paris sei die Krone von allem, antwortete Herzl. Er liebe die Schönheit der Stadt, aber der Umgang mit den Franzosen sei nicht immer ganz leicht. Sie seien arrogant, störrisch, faszinierend in ihrer Steifheit, aber auch in ihrer Eleganz, manchmal voller Spiritualität und dennoch vollkommen stupide. Die Pariserinnen seien wunderbar, schön und kokett. Er bekannte lächelnd, dass er sich in fast jede französische Frau verliebe, der er begegne, doch sie seien hoffnungslos unerreichbar für ihn. Deshalb seien die wenigen Minuten des Genusses, die er erlebe, immer erkauft. »Oh, là, là, cher ami«, sagte er, »ich könnte Ihnen viel erzählen über das, was man in Frankreich die Maisons de tolérance nennt.« Er spürte, dass Bernhard, der dagegen protestiert hatte, die Erotik in eine Handelsware zu verwandeln, und die Schließung der Bordelle in Budapest gefordert hatte, dieses Thema nicht sonderlich schätzte. Er wechselte schnell zum französischen Essen, das er für unübertrefflich hielt. Ein Bœuf Bourguignon, behauptete er mit Überzeugung, bringe tausendmal mehr Lebensenergie hervor als das zähe Wiener Schnitzel. Ein guter Pariser Koch sei der beste Arzt. Darüber lachten sie sehr und gingen dann dazu über, ernstere Fragen zu diskutieren.
Worüber sie in den folgenden Stunden sprachen? Über die Judenverfolgung und über die Möglichkeiten, ihr Einhalt zu gebieten. Herzl führte an, dass die Juden in den letzten zweitausend Jahren in ständigem Schrecken gelebt hätten. Sie seien verfolgt worden, diskriminiert, erniedrigt, verstümmelt und ermordet. Warum? Weil sie überall fremd seien und als Menschen betrachtet würden, die man je nach Gutdünken behandeln könne. Sie hätten kein eigenes Land, das sie beschützen, und keine eigene Flagge, auf die sie stolz sein könnten. Doch mit der Gründung des jüdischen Nationalstaats werde sich die Situation der Juden überall verbessern.
Bernhard sprach von den beiden jahrhundertealten jüdischen Traditionen. Die eine war Masada, benannt nach der uneinnehmbaren Festung, 441 Meter über dem Toten Meer, wo die Juden nach dem Fall Jerusalems im Jahre 73 n. Chr. heldenhaft Widerstand gegen das überlegene römische Heer geleistet hatten. Die jüdischen Kämpfer verteidigten die letzten Reste ihrer besetzten Festung sieben Jahre lang. Da alle Hoffnung verloren war, begingen sie kollektiven Selbstmord als freie Männer, statt als Sklaven zu leben. Den anderen Weg nannte er Jawne, nach dem kleinen Ort, an dem der pragmatische Rabbi Yochanan ben Zakkai eine Schule begründet hatte. Hier wurde das Judentum aus einer Religion, die mit einem Land verknüpft war, mit historischen und heiligen Orten, in einen tragbaren Glauben verwandelt. Er fand in wenigen Büchern Platz und konnte auch außerhalb Israels existieren, da es möglich war, ihn überallhin mitzunehmen. Was das Jawne-Modell kennzeichne, sagte er, seien Wissen, Gelehrtheit, Pragmatismus, ein klares Ja zu einer friedlichen Koexistenz – das einzige, was den Juden auf längere Sicht das Überleben garantieren könne.
Herzl war nicht Bernhards Meinung. Er glaubte, die Vision Jawnes würde verblassen und die geistigen Prinzipien des Judentums seien dazu verurteilt, entstellt zu werden. Dies sei eine Folge des gesellschaftlichen Unrechts, das die Juden zwinge, in einer von Judenhass durchtränkten Welt zu leben. Er betonte, sein Ziel sei nicht, das jüdische Problem zu lösen, indem er ein geistliches Zentrum schaffe, sondern indem der jüdische Staat nach zweitausend Jahren Dornröschenschlaf wiedererschaffen werde. Gleichzeitig hob er hervor, dass der Staat, den er gründen wolle, kein Nationalstaat sei wie alle anderen. Er träume vielmehr von einem Modellstaat, der auf Toleranz und Gleichheit beruhe, auf den Idealen, die Europas Beitrag zur Welt seien, die der gegenwärtige Nationalismus jedoch verleugne.
Bernhard unterbrach ihn und sagte, der große Beitrag der Juden zur Welt sei nicht der Monotheismus, sondern das Gesetz, das Prinzip des Universalismus. Es besage, dass das Gesetz für alle gelte und niemand über dem Gesetz stehe. Ohne dieses Prinzip könne die Demokratie nicht existieren, und die Ideale der Französischen Revolution könnten niemals verwirklicht werden. Die Aufgabe der Juden sei es, das Prinzip des Universalismus zu verteidigen; das sei es, was sie miteinander verbinde, über alle Landesgrenzen und Jahrhunderte des Exils hinweg.
Herzl wandte ein, das Exil sei eine Sackgasse gewesen, in der die Juden Generationen lang umhergeirrt wären und die Orientierung verloren hätten. Viele gläubige Juden hätten ihre Aufgabe, das, was Bernhard die Fahne des Universalismus nenne, hochzuhalten, verwechselt mit der Legende vom auserwählten Volk. Sie glaubten in einem Versuch, ihre hoffnungslose physische Bedrohtheit zu kompensieren, an ihre geistige Überlegenheit.
Bernhard spürte, wie schwer es Herzl fiel, seine Auffassung, das Exil, das Leben in der Diaspora, sei die Voraussetzung für den Beitrag der Juden zur Welt, zu akzeptieren. Deshalb verriet er ihm, dass er von seinem Vater ein Buch des Philosophen Benjamin Spinoza geerbt habe. Dieses sei seit über zweihundert Jahren im Besitz der Familie, und kein Außenstehender habe es jemals lesen dürfen. Das Buch enthalte Betrachtungen über einige der großen Fragen der Menschheit. Kurz vor der Abreise aus Budapest habe er darin einen Abschnitt über den wahren Geist Israels gelesen, der großen Eindruck auf ihn gemacht habe.
Er erzählte, der Legende zufolge, die Benjamin Spinoza wiedergab, werde jedes einzelne der siebzig Reiche der Erde von einem Engel regiert, den man den Fürsten nennt. Dieser Fürst leite und repräsentiere sein Volk vor dem Thron des Herrn. Nur das Volk Israel habe keinen Engel, da die Juden sich geweigert hätten, eine vermittelnde Instanz im Dialog mit dem Herrn zu akzeptieren und sich einer Herrschermacht unterzuordnen, die nicht von Gott ausgeht. Benjamin Spinoza habe gewarnt vor der Ernennung eines Fürsten, klarer ausgedrückt vor dem Unglück, das ein Volk treffe, das nur sich selbst und seine Eigenart verehre und nur sich selbst gegenüber Verpflichtungen empfinde. Mit dem Geist Israels, betone der Philosoph, solle das jüdische Volk nicht seinen eigenen kollektiven Egoismus verbinden, sondern eine Wahrheit, die jenseits der Nation liege, ein höheres Reich, vor dem die Menschheit verantwortlich sei. Denn sonst würden die Juden unter dem Joch eines Fürsten enden – ob dieser nun ein Mensch, ein Stück Land oder ein Bild sei –, und aus diesem Fürsten werde man einen Götzen erschaffen.
Der Abschnitt handle, führte Bernhard weiter aus, von der Aufgabe der Juden, gegen die Verehrung von Götzen zu kämpfen und die universellen Werte zu verteidigen, doch er könne auch als eine Warnung davor betrachtet werden, einen Nationalstaat zu etablieren, der sich wie alle anderen Nationalstaaten entwickeln würde.
Bernhard sah Herzl erwartungsvoll an. Doch er erkannte, dass er vergebens auf eine Reaktion wartete, denn der Schriftsteller war mehr damit beschäftigt, heiße Blicke zu werfen und offen mit einer eleganten Frau zu flirten, die sich am Nachbartisch niedergelassen hatte, als konzentriert der Erzählung von Benjamins geheimem Buch und Israels Geist zu folgen. Bernhard räusperte sich, um Herzls Aufmerksamkeit einzufangen, und sagte, er sei müde von der langen Reise. Es sei an der Zeit, aufzubrechen. Bevor sie auseinandergingen, verabredeten sie, sich am nächsten Tag zur gleichen Zeit, am selben Ort wiederzutreffen, um den Dialog fortzuführen.
Am nächsten Vormittag verließ Bernhard das Hotel und nahm den Zug zurück nach Budapest.