BESUCH BEI MEESTER

An jenem warmen Vormittag im August des Jahres 1640, als Uriel Spinoza sich in schwarzer Verzweiflung und mit schweren Schritten zu dem Haus mit der Nummer 4 in der Jodenbreestraat in Amsterdam begab, wusste er nicht, dass er nur noch wenige Stunden zu leben hatte.

Meester war eine großzügige Natur. Wann immer Uriel Spinoza ihn in seinem prachtvollen Haus besuchte, beeilte Meester sich, ihm zu beteuern, wie ersehnt der jüdische Philosoph sei, und ließ die Diener den mit Kräutern gewürzten Branntwein hervorholen. Meester verachtete die Flasche nicht. Er liebte das angenehme Gefühl, das sich im Körper ausbreitete, wenn das Blut mit Alkohol vermischt wurde. Aber in Uriel Spinozas Kopf wallte schnell die Hitze auf, wenn er trank.

Der Maler und der Philosoph fühlten sich wohl miteinander. Ihre Persönlichkeiten waren unterschiedlich, aber beide waren der Meinung, dass Gegensätze bereichern, während zwischen Menschen, die einander gleichen, häufig Neid, Rivalität und Feindschaft aufkommen. Aufgrund ihrer Verschiedenartigkeit hatten sie das Gefühl, sich sehr nahe und zugleich auf eine fruchtbare Art und Weise weit voneinander entfernt zu sein.

Viele Abende saßen sie in der untersten der fünf Etagen des Hauses zusammen vor dem Feuer. Sie sprachen stets von großen Dingen. Ihr Gesprächston war meistens gedämpft, und der Maler war der Auffassung, dass die Argumentationen des Philosophen einzigartig waren.

Für Meester, der nur ein wenig gebildeter werden wollte, waren intellektuelle Subtilitäten oder sinnreiche Wortgeflechte uninteressant, er wollte Gedankengänge, die von Anfang an auf das Wesentliche abzielten. Nämlich darauf, wie die Talente der Menschen genutzt werden konnten, wenn ihr Handeln aus Liebe zur Schöpfung, mit Innerlichkeit und handwerklicher Bravour vollzogen wird, sodass sie durch die Arbeit einen Blick ins Himmelreich werfen konnten.

In Übereinstimmung mit großen Denkern früherer Zeiten neigte Uriel Spinoza dazu, hauptsächlich über Fragen nachzudenken, die die Vergeblichkeit der menschlichen Vernunft und die Unsterblichkeit der Seele betrafen. Obwohl er ausgebildeter Rabbiner war, nahm er nicht den Talmud und die Kabbala zu Hilfe, um Wissen und Einsichten in die großen Fragen des Daseins zu finden. Er studierte Aristoteles und Plinius, Seneca und Cicero, und anschließend pflanzte er ihre Gedankengänge und Lehren um und verknüpfte sie mit seinen eigenen. Er achtete genau darauf, nur das auszuleihen, was seine eigenen Ideen hervorhob, denn ein aufrechter Mann sollte nie versuchen, die Schwäche seiner Gedanken hinter der Autorität anderer Denker zu verbergen, und er betonte, wie wichtig es sei, dass jedes Individuum für seine Ansichten selbst einstehe.

Niemand in der Stadt lauschte mit solchem Ernst wie Meester den Argumenten, mit denen Uriel Spinoza seine kühnen Behauptungen über die Natur der menschlichen Seele und seine These untermauerte, die Welt sei kein unergründliches Mysterium, das nur von Gott durchschaut werden könne, sondern eine begreifbare Wirklichkeit.

Meinem Großonkel zufolge war Uriel ein Sonderling, dessen Charakter kaum jemanden zu näherer Freundschaft einlud. Selbst Menschen von seinem eigenen Fleisch und Blut – sein Halbbruder Michael und dessen Familie – waren der Ansicht, dass sein Wesen, von seiner Gelehrsamkeit abgesehen, nicht viel Glänzendes zu bieten hatte. Sie wandten sich von ihm ab. Die Juden in Amsterdams Gemeinde konnten Uriel nicht verzeihen, dass er äußerst gefährliche Ideen verbreitete, und deshalb musste er seine Tage verbringen wie ein Paria, bei fast allen unerwünscht.

Eines Abends im Wirtshaus machte ein Tuchhändler, der Kontakt zu jüdischen Kollegen hatte, Meester darauf aufmerksam, dass er besser etwas weniger Umgang mit diesem Uriel Spinoza pflegen sollte, sonst könnte es zu einem drastischen Rückgang an Bestellungen und einer reservierteren Haltung seitens seiner Gönner kommen, besonders jener, die gute Verbindungen zu einflussreichen Juden hatten, die den Philosophen für einen Gotteslästerer hielten.

Dieser niederschmetternde Rat hatte indessen keinerlei Auswirkungen auf Meesters Umgang mit Uriel. Seinen Freund nicht mehr zu treffen, nur weil dieser angeblich umstürzlerische Ideen verbreitete, wäre Meester nie eingefallen, und er lauschte den Gedanken des Philosophen mit umso größerem Interesse.

Also klopfte Uriel an diesem heißen Augustvormittag frenetisch an die Tür des Hauses Nummer 4 in der Jodenbreestraat. Er wollte von dem Schrecklichen erzählen, das ihm widerfahren war, und er wusste, dass es in Amsterdam nur einen Menschen gab, der bereit war, ihm zuzuhören, und dem er sich anvertrauen konnte.

Meesters Dienstmagd Sjoukje – eine füllige junge Frau mit feinen Gesichtszügen, die dem Hausherrn erlaubte, mit ihr zu schlafen, um seinen Zorn zu dämpfen, wenn er wieder einmal entdeckt hatte, dass sie aus der Haushaltskasse stahl – öffnete die Tür. Bedrückt erklärte sie, Meester könne keinen Besuch empfangen. »Sie müssen an einem anderen Tag wiederkommen.«

Uriel sah sogleich, dass Sjoukje rot verweinte Augen hatte.

»Es ist ungeheuer wichtig für mich, Meester zu treffen«, sagte er und wandte den Blick ab, damit die Magd nicht merkte, wie verzweifelt er war.

Die Worte blieben ihr beinahe im Halse stecken, als sie erklärte, Meester habe früh am Morgen aus Leiden die Nachricht erhalten, dass seine Mutter gestorben sei. Mit verzerrtem Gesicht fügte sie hinzu: »Und heute Nacht haben Meester und seine Frau ihre neugeborene Tochter verloren. Das Mädchen hat Blut gehustet und den Geist aufgegeben. Es ist das zweite Kind in zwei Jahren, das in diesem Haus gestorben ist.«

Uriel stand wie gelähmt vor ihr und starrte sie an. Obwohl er aufgrund seiner philosophischen Arbeiten mit dem Tod versöhnt war und ihn akzeptiert hatte, konnte er nicht begreifen, warum er einen unschuldigen Säugling aus dem Leben riss. Er sah den Tod des kleinen Mädchens als eine launische Ungerechtigkeit an, und er fühlte sich, als würde ihm ein Stück des Herzens aus der Brust gerissen, wusste er doch, wie viel das Neugeborene Meester bedeutet hatte. Sjoukje glaubte, der jüdische Philosoph würde anfangen zu weinen, doch das tat er nicht. Er wanderte langsam weiter.

EIN PORTRÄT ZUR RECHTEN ZEIT

Mein Großonkel nannte uns nie Meesters richtigen Namen. Ich weiß nicht, warum er es nicht tat. Aber er hatte sicher seine Gründe. Er nannte ihn nur Meester, und ich glaubte lange, dass er so hieß.

Mein Zwillingsbruder Sasha und ich bekamen oft eine bestimmte Geschichte über Meester und die Familie Spinoza zu hören. Deshalb hat sie sich mir so stark eingeprägt.

Meester brauchte dringend Geld. Seine Frau Saskia sollte bald das erste Kind zur Welt bringen, und niemand wollte ihm mehr Kredit gewähren. Das palastähnliche Haus in der Jodenbreestraat hatte dreizehntausend Gulden gekostet. In Anbetracht der drückenden Abzahlungskosten hätte er es nie kaufen dürfen. Obwohl er unermüdlich auf der Jagd nach neuen Porträtaufträgen war, blieben die Bestellungen aus, zumal er in dem Ruf stand, die Kunden unverschämt und herablassend zu behandeln. Vergebens hatte er mehrere Werke begonnen, die jetzt unvollendet in seinem Atelier standen, weil kein Geld für Farbe da war, und die Bilder, die er abgeschlossen hatte, fanden keine Käufer.

Am schwersten traf es Meester, dass seine früheren Gönner sich von ihm abgewandt und ihn im Stich gelassen hatten. Wenn es hoch kam, hatten sie ihn freundlich, aber bestimmt aufgefordert, anderswo Unterstützung zu suchen. Bei den meisten stieß er auf Schweigen, Gleichgültigkeit, Kälte.

In dieser angespannten finanziellen Lage forderte auch noch einer von Meesters Gläubigern eine Schuld zurück, von der er geglaubt hatte, sie sei erst zwei Monate später fällig. Dieser Gläubiger – ein herzloser Teufel und unehelicher Sohn des einst so mächtigen Johan van Oldenbarnevelt, dem Politiker, der des Hochverrats angeklagt und geköpft worden war – pflegte seinen Forderungen mit Hilfe einer Bande hartgesottener, knüppelbewaffneter Burschen Nachdruck zu verleihen. Obwohl Meester den Mann angefleht hatte, ihm für die Rückzahlung des Kredits eine Woche Aufschub zu gewähren, drohte er damit, dem Meister die Arme zu brechen und die Möbel und Haushaltsutensilien zu konfiszieren, wenn er nicht binnen vierundzwanzig Stunden sein Geld bekäme.

Am nächsten Tag, unerwartet und fast wie in einem Traum, erschien Michael Spinoza in Meesters Atelier, um zu seinem vierzigsten Geburtstag im Oktober 1638 ein Familienporträt in Auftrag zu geben, auf dem er mit seiner Ehefrau und seinen drei Söhnen abgebildet sein sollte.

Gott sei Dank, dachte Meester. Endlich hat das Elend, das mich schon so lange quält, ein Ende. Ihm wurde froh und leicht ums Herz, aber er konnte seine Gefühle verbergen. Geleitet von einem angeborenen Bauerninstinkt, der in früheren Zeiten seine Vorväter dazu gebracht hatte, mit ausdruckslosem Gesicht auf den Märkten Südhollands Vieh zu kaufen und zu verkaufen, sah er unberührt aus, um eine bessere Verhandlungsposition zu bekommen. Er erklärte reserviert und in beinahe düsterem Ton, er sei derzeit stark beschäftigt und die Warteliste sei lang, aber selbst wenn er eine Ausnahme mache, weil es sich um den hochrespektierten Vorsitzenden des jüdischen Rates handle, gebe es eine Bedingung, und zwar eine unverzichtbare, damit er das Familienporträt male: »Sie müssen der Lust widerstehen, bestimmen zu wollen, wie das Bild aussehen soll, und akzeptieren, dass ich als Künstler die Freiheit habe, das Werk zu gestalten. Nur dann kann ich den Auftrag annehmen.«

Der bescheidene Michael Spinoza nickte und sagte: »Ja, natürlich, wie Sie wollen. Sie wissen es ja am besten.«

Da er in der Vorstellung lebte, Meester sei enorm gefragt, und um seiner Dankbarkeit dafür Ausdruck zu geben, dass der große Maler den Auftrag akzeptierte, ließ er den Künstler den Preis selbst festlegen, ohne zu handeln.

»Jede Figur in voller Größe kostet zweihundert«, sagte Meester souverän und rieb sich insgeheim die Hände, denn so viel hatte er noch nie bekommen.

Somit wurde die Gesamtsumme auf tausend Gulden festgelegt. Am folgenden Tag kam man in Michael Spinozas Arbeitszimmer zusammen, um in Anwesenheit von Zeugen die Abmachung zu unterschreiben, und die Hälfte der Summe wurde im voraus bezahlt. Die Arbeitszeit wurde auf drei Monate veranschlagt, da Meester nicht über die Mittel verfügte, Lehrlinge zu beschäftigen, die den Hintergrund und die Gewänder malen konnten.

Die Summe, die Meester jetzt in der Hand hatte, betrug das Fünffache dessen, was ihm zuletzt für ein Bild gezahlt worden war. Äußerst zufrieden ging er sogleich zu seiner Lieblingskneipe. Er berichtete dem Inhaber sofort, dass er gekommen sei, um seine Schulden zu bezahlen, denn das Glück habe sich zu seinen Gunsten gewendet. Dann machte er es sich in einem Sessel bequem, den der nicht minder zufriedene Kneipenwirt ihm herangezogen hatte, und spendierte eine Lokalrunde Branntwein. Jetzt würden neue Aufträge nur so hereinregnen. Hier war Geld zu holen, davon war er überzeugt. Nach ein paar Kräuterschnäpsen sah er deutlich vor sich, dass er weitere lohnende Aufträge von wohlhabenden Kaufleuten in der jüdischen Kolonie an Land ziehen und bald imstande sein würde, alle anstehenden Kosten für das teure Haus zu bezahlen. Er dankte seinem Schöpfer dafür, einen Auftrag für einen Kunden ausführen zu dürfen, der bei den meisten Juden so hoch angesehen war, sodass sie seinem Beispiel folgen würden.

Als Zeichen seiner Wertschätzung sandte Meester Michael Spinoza am nächsten Tag eine Radierung aus Leiden als Geschenk. Sie stellte die Kathedrale der Stadt dar, umgeben von blühenden Linden und weißen Privatpalästen am Rapenburgkanal.

Die Arbeit begann im Vorsommer. Obwohl Meester unter der für die Jahreszeit ungewöhnlichen Hitze litt, ging er mit großer Energie und Schöpferkraft zu Werke. Er arbeitete sorgfältig und machte zahllose Skizzen. In seinem Atelier war es unerhört heiß, und er entledigte sich seiner Kleidung, ohne die Zustimmung des Auftraggebers einzuholen. Er zeichnete mit nacktem Oberkörper weiter, obwohl Frau Spinoza augenscheinlich unangenehm berührt war. Doch er war ganz und gar von sich selbst in Anspruch genommen und beachtete sie nicht. Auf dem Fußboden sammelten sich Stapel von Rötelzeichnungen.

Michael Spinozas Familie verbrachte jeden Tag viele Stunden still und geduldig im Atelier, an dessen Wänden, von denen die Farbe abblätterte, unverkaufte Bilder hingen. Die Wochen vergingen, und die Hitze nahm nicht ab. Besonders in der Nähe des Fensters, wo der Künstler die Familie plaziert hatte, war es schwer auszuhalten. Außerdem war Meesters Körpergeruch nicht leicht zu ertragen; jeden Morgen stellte er sich mit bloßem Oberkörper ungewaschen und ungepflegt hinter die Staffelei. Doch keiner klagte, nicht einmal, als die Farben gemischt wurden und es beißend und unangenehm roch.

Meester legte den Grund mit dem Messer und breiten Pinseln, die er an den Hosen abwischte. Er trug die Farbe dick mit schwungvollen Bewegungen auf, Schicht um Schicht.

Den ganzen Tag sagte keiner ein Wort. Nur Frau Spinozas Husten störte die Ruhe. Sie hatte schwache Lungen, und die starken Gerüche im Atelier verursachten ihr Erstickungsgefühle und Hustenanfälle. Dies irritierte Meester über die Maßen, zumal er einen intuitiven Widerwillen gegen sie empfand.

Schon vor ihrer ersten Begegnung hatte Meester geahnt, dass es ihm schwerfallen würde, Frau Spinoza zu ertragen, denn er erinnerte sich an die Worte seines Freundes Uriel, dass sie einen unversöhnlichen Hass gegen ihn genährt habe und jedes Mal, wenn er versuchte, mit seinem Halbbruder und seinen Neffen in Kontakt zu kommen, wütend geworden sei und Verwünschungen gegen ihn ausgestoßen habe.

Wenn er an den Abenden hinter ein paar entkorkten Branntweinflaschen in seiner Lieblingskneipe saß, machte Meester sich oft über sie lustig und gab höhnische Kommentare über ihr lächerliches Aussehen, ihre fetten Hände und ihre blassen Pausbacken zum Besten.

IM HAUS DES TODES

Eines Tages fand die Magd Sjoukje Meesters Lieblingstier tot im Keller. Es war ein lustiger kleiner Schimpanse, den er eines Abends, als er betrunken zu einer Prostituierten im Hafen unterwegs war, für zehn Groschen gekauft hatte. Es erwies sich als einer seiner geglückteren Einkäufe, denn das kleine Tier – das er nicht ohne eine gewisse Ironie Caravaggio nannte – hatte ihm viele Momente herzhaften Lachens beschert. Ein paar Minuten zusammen mit dem Schimpansen reichten immer aus, um seine düstere Stimmung zu vertreiben.

Der Verlust setzte Meester sehr zu. Weder die Arbeit noch der Branntwein vermochten ihn aus der Niedergeschlagenheit zu reißen, in die er nach dem Tod des kleinen Schimpansen verfallen war. Er verlor die Konzentration und bat Michael Spinoza, die Arbeit für eine kurze Zeit unterbrechen zu dürfen.

Der Tod Caravaggios erwies sich als Vorbote noch schmerzhafterer Ereignisse in Meesters Leben. Wenige Tage später erlitt er einen weiteren Schlag: Seine kleine Tochter, die auf den Namen Cornelia getauft worden und erst wenige Wochen alt war, starb plötzlich nach einer Darmblutung.

Im Haus Nummer 4 in der Jodenbreestraat gab es nur noch Raum für Tränen. Man sprach flüsternd und aß schweigend. Besucher waren nicht willkommen. Meester hatte diese strenge Trauer angeordnet. Er spürte Ohnmacht. Eine entsetzliche Angst hielt ihn Tag und Nacht wach. Er sah deutlich Caravaggios Gesicht, dann war es, als ob sich das Dunkel verdichtete, und es war ihm unmöglich, sich an das Gesicht zu erinnern, das seiner Tochter Cornelia gehört hatte. In den Nächten – all diesen schlaflosen Nächten, in denen er versuchte, sich Einzelheiten im Gesicht des Mädchens in Erinnerung zu rufen – sah er nur ein Dunkel. Woche auf Woche saß er im Atelier, einsam und schweigend, in unsäglichem Schmerz und herzzerreißender Trauer, versunken in überwältigende, bittere Gedanken. Er fühlte sich innerlich tot und glaubte, die Fähigkeit zum Malen verloren zu haben.

Michael Spinoza hatte Nachricht erhalten, dass in Meesters Atelier nicht gearbeitet wurde, und sah ein, dass das Familienporträt nicht zu seinem Geburtstag fertig werden würde. Geduldig wartete er bis Mitte September. Dann beschloss er, Meester zu besuchen und ihm in seiner schweren Zeit beizustehen.

Das Leben hatte Michael Spinoza gelehrt, dass keine Trauer die letzte ist. Nur ein Jahr zuvor hatten er und seine Frau ein Neugeborenes verloren. Er wusste, dass nur eins Meester auf die Beine helfen konnte: wieder zu arbeiten.

Ein unangenehmer Geruch hing im Atelier, und sämtliche Bilder waren der Wand zugedreht. Meester saß in einem Nachthemd und im offenen verschlissenen Morgenrock da. Michael Spinoza erkannte ihn kaum wieder. Er schien geschrumpft zu sein, war mager und gelb im Gesicht und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Es war offensichtlich, dass er sich lange nicht gewaschen hatte. Michael Spinoza sprach ihm sein Beileid aus und sagte, er verstehe Meesters schwere Lage, weil er selbst einen ähnlichen Verlust erlitten habe. Er merkte sogleich, dass das Selbstmitleid des Malers in lähmende Bitterkeit umgeschlagen war.

»Der Tod ist in meiner Familie ein unsichtbarer Mitbewohner gewesen«, sagte Michael Spinoza. »Daran lässt sich nichts ändern. Als wir im vergangenen Jahr einen Säugling verloren haben, packte mich die Wut und ich wollte auf die Straße laufen, meine Trauer herausschreien und die ganze Welt hören lassen, wie schlecht ich von meinem Herrn behandelt worden war, obwohl ich seine Gesetze immer befolgt hatte. Glauben Sie mir, ich weiß, wie es sich anfühlt, einen Menschen zu verlieren, den man liebt. Aber das Leben geht weiter, und glücklicherweise heilt die Zeit alle Wunden.«

Meester saß eine Weile stumm da. Er schien abwesend zu sein. Doch plötzlich begann er zu sprechen, schnell und ohne Unterbrechung. Er stellte Fragen und beantwortete sie selbst. Seine Worte strömten durch das Atelier wie Wasser. Er machte Rechnungen auf, rechtfertigte sich, murmelte, klagte gegen das Schicksal. Alles, was er zurückgehalten hatte, auch seine verborgensten Gedanken, kam jetzt ans Licht. Mochte sein Besucher zuhören oder nicht, ihm war es egal. Er schien sich nicht einmal dessen bewusst zu sein, dass die Worte ununterbrochen aus ihm herausrannen.

Michael Spinoza hob einige Male die Hand, kam aber nicht zu Wort. Schließlich stand er auf und ging zur Tür. »Ich muss jetzt gehen«, unterbrach er Meesters Redestrom. »Ich habe ein wichtiges Treffen im Gemeindehaus.«

Meester geriet ins Stocken. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Obwohl er sich anstrengte, es zurückzuhalten, hoben sich seine Mundwinkel.

»Sie verfügen über eine Gottesgabe«, sagte Michael Spinoza mit seiner mildesten Stimme. »Sich ihrer zu bedienen, in all der Trauer, kann Ihren Schmerz lindern. Dank Ihrer unerschütterlichen Disziplin haben Sie die höchsten künstlerischen Höhen erreicht. Ich rate Ihnen, so schnell wie möglich an Ihre Staffelei zurückzukehren.«

EINE KRÄNKUNG

Später am gleichen Nachmittag hob Meester den Pinsel an die Leinwand. Das Gesicht des kleinen Wesens, das ein paar Wochen lang seine Tochter gewesen war, hatte er mit dem Blick nicht erforschen können. Caravaggio dagegen sah er deutlich vor sich. Er beschloss, ein Porträt des kleinen Tieres zu malen, das ihn so oft zum Lachen gebracht hatte. Weil er kein Geld für eine neue Leinwand hatte, malte er den Kopf des Schimpansen auf den Körper eines der Kinder Spinoza.

Es war eine Kränkung, die auch das sanfteste Gemüt in Aufruhr versetzt hätte. Als Michael Spinoza entdeckte, dass auf Bentos Gestalt ein Affenkopf saß, war er maßlos enttäuscht. Seine Frau konnte kaum die Tränen zurückhalten und schluchzte, Meester habe nicht die leiseste Ahnung davon, was wahre Kunst sei. Die Kinder lachten und trieben ihren Scherz mit Bento, der verzweifelt war.

Meester war in aufgeräumter Stimmung gewesen, als er zu Michael Spinozas Haus gegangen war, um sein Werk zu zeigen. Doch seine Stimmung änderte sich schnell, denn er ertrug es nicht, von Frau Spinoza angegriffen und wie ein Idiot behandelt zu werden. Vor allem wollte er sich nicht vorwerfen lassen, nicht zu wissen, was Kunst eigentlich war. Das sagte er auch geradeheraus mit einer Stimme, die vor Zorn bebte, und er fühlte, dass dies die richtige Gelegenheit war, etwas zum Ausdruck zu bringen, was zu sagen ihm schon seit vielen Jahren am Herzen lag, was er jedoch nicht laut hatte sagen wollen, nämlich dass auf der ganzen Welt kein anderer so malen könne wie er.

»Wir haben nicht die Absicht, Sie zu verletzen oder Ihre Kunst in Frage zu stellen«, erklärte Michael Spinoza, der einen aufreibenden Konflikt vermeiden wollte. Da er fürchtete, seiner Frau könnten weitere Beleidigungen einfallen, fügte er rasch hinzu: »Wir haben große Hochachtung vor Ihrem Genie. Seit Jahren bewundern wir Ihre Werke und Ihre künstlerische Meisterschaft. Deshalb habe ich mich an Sie gewandt. Aber meinen Sohn als Schimpansen abzubilden, das muss eine der absonderlichsten Ideen sein, die jemals in einen Künstlerkopf gefahren ist.«

»Sie haben mir volle künstlerische Freiheit versprochen«, entgegnete Meester zornig. Er war gekränkt, und seine Stimme ließ einen aufflammenden Hass erkennen. »Wenn Ihnen dieses Bild nicht gefällt, dann können Sie stattdessen selbst eins malen. Aber bilden Sie sich nicht ein, Sie wären dazu in der Lage.«

Dann nahm er das Bild und ging ohne ein Wort des Abschieds davon.

Einige Tage später schickte Michael Spinoza einen Brief an Meester, in dem er mit der Vertraulichkeit und der Verzweiflung eines Mannes, der sich einem Freund eröffnet, seine Enttäuschung über das Bild beschrieb. Er betonte, er wolle um jeden Preis weitere Missverständnisse vermeiden, bat Meester aber darum, ernsthaft die Möglichkeit zu erwägen, den Kopf des Schimpansen durch den Bentos zu ersetzen.

Meester war jedoch nicht zu erweichen. Er war beleidigt, weil das jüdische Paar die Frechheit besessen hatte, seine Kunst zu kritisieren, und bereute zutiefst, so viel Zeit mit der Familie Spinoza vergeudet zu haben. Gleichzeitig redete er sich ein, dass es klug gewesen sei, Caravaggio auf die Leinwand zu malen, denn auf diese Weise hatte er ein anderes und unschätzbares Meisterwerk geschaffen, das mit dem vergeistigten und selbstlosen Blick des Künstlers zu betrachten war und nicht mit den egoistischen und unsensiblen Augen des Kaufmanns. Deshalb beharrte er auf seinem Standpunkt und forderte Michael Spinoza auf, ihm unverzüglich die fünfhundert Gulden zu zahlen, die er ihm schuldig war. Er drohte mit gerichtlichen Schritten, falls das Geld nicht binnen einer Woche bei ihm einträfe.

Michael Spinoza weigerte sich, die zweite Hälfte des Betrags zu zahlen. Nachdem er vergebens alle Möglichkeiten ausprobiert hatte, um Meester zur Änderung seiner starren Haltung zu bewegen, ging er vor Gericht und ließ den Vertrag für ungültig erklären. Dagegen hatte er nicht das Herz, von dem hochverschuldeten Meester den Vorschuss von fünfhundert Gulden zurückzufordern.

Das Gemälde wurde, in grobes Packpapier eingeschlagen, bis zu Meesters Tod im Atelier aufbewahrt. Der Titel des Werks lautet Caravaggio in Gesellschaft der Familie Spinoza.

Mein Großonkel hatte nie die Möglichkeit, das Gemälde im Museum in Amsterdam zu sehen, aber er kannte es bis ins letzte Detail.

Er behauptete, dem Amerikaner Bernard Berenson, dem herausragenden Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts, seien die Tränen gekommen, als er das Bild zum ersten Mal sah, und er habe ausgerufen: »Wunder geschehen für den, der an sie glaubt.«

Später schrieb Berenson in seinem Buch Seeing and Knowing – ich habe es nicht selbst gelesen, sondern gebe nur die Worte meines Großonkels wieder: »Dies ist nichts Geringeres als das erste moderne Gemälde der Kunstgeschichte. Es handelt sich um eine epochale Arbeit, die mit ihrer beachtlichen künstlerischen Sprengkraft bahnbrechend war in der europäischen Kunst.«

DIE JUNGEN UND DER STEIN

Uriel Spinoza ließ sich durch die engen Gassen treiben, hier und da stolperte er über Abfallhaufen. Eine würgende Angst ließ nicht von ihm ab. Er litt unter der Hitze und wedelte sich mit dem Dokument, das er am Morgen vom jüdischen Rat Mahamad erhalten hatte, Luft zu.

Verstohlen blickte er in unbekannte Gesichter und suchte nach einem freundlichen Blick, nach Augen, die nicht angsterfüllt waren oder Distanzierung signalisierten. Er war bekannt in den jüdischen Vierteln. Die Menschen beobachteten ihn mit Misstrauen und Verachtung. Manche verhöhnten ihn, andere spuckten ihn sogar an. Alle wussten, wer er war: der Abtrünnige, der Ketzer, der vagen Gerüchten zufolge in Porto hoher Funktionär in der katholischen Kirche gewesen war.

Die Gedanken wirbelten durch seinen Kopf. Wer weiß etwas von einem anderen Menschen? Wer sieht, was sich auf dem Grunde eines Augenpaars oder hinter einem ausdruckslosen Gesicht verbirgt? Wer weiß, was in einer Seele ruht oder was sich noch tiefer, noch verschlossener findet, was ein Individuum in sich trägt, ohne selbst davon zu wissen?

Vor der großen Synagoge Esnoga kam er an einigen spielenden Jungen vorüber. Als er das Schreien der Kinder hörte, dachte er, ihr Leben sei weit von seiner eigenen Wirklichkeit entfernt. Er lebte, als wäre er immer schon erwachsen gewesen, ohne jemals Bilder oder Erinnerungen aus seiner Kindheit wachzurufen.

Die Jungen erkannten ihn und erstarrten. Sein Ruf hatte auch die Jüngsten in den Judenvierteln erreicht. Alle Kinder wussten, wer er war.

Uriel Spinoza war der Jude, der als gläubiger Katholik in Porto gelebt hatte. Er war der Katholik, der zum orthodoxen Judentum konvertiert und gezwungen gewesen war, in die calvinistischen Niederlande zu fliehen, die religiösen Minoritäten eine Freistatt boten. In Amsterdam war er der Abtrünnige, der die Rabbiner kritisierte und den jüdischen Glauben in Frage stellte. Er war der wurzellose Marrane, der nirgendwo zu Hause war.

In der Religionsschule hatte der strenge Rabbiner Orobio den Kindern erklärt, dass unter allen Marranen Uriel Spinoza derjenige war, der sich am stärksten vom Katholizismus hatte beeinflussen lassen. Orobio behauptete, Uriel sei vom katholischen Glauben besessen, seine abweichende Lebensart widerspreche jüdischen Sitten und Gebräuchen, sein Ziel sei es, die Autorität der Rabbiner zu untergraben. Er sei gefährlich und stelle eine ernste Bedrohung der Juden in Amsterdam dar.

»Niemand«, ließ Orobio sich in drohendem Ton vernehmen, »niemand darf mit diesem Mann reden. Er ist der Sprecher der Verwirrten. Seine Irrlehren können euch fürs ganze Leben Schaden zufügen, Kinder.«

Die Jungen beobachteten Uriel aus der Entfernung. Er war groß, mager, knöchern, hatte eine Nase, die krumm war wie ein Schnabel, und dunkle Augen, die auf die Welt blickten, als wüssten sie alles. Er ging ein wenig vorgebeugt und zog die Füße nach, nicht wegen seines Alters, sondern weil er in sich selbst versunken war.

Die Jungen liefen ihm nach und riefen Schimpfworte. Uriel blieb stehen, als er die Kinderstimmen hörte, die ihn mit Wörtern beleidigten, die er nicht kannte. Er drehte sich um. Da warf einer der Jungen einen großen Stein, der ihn an der Schläfe traf. Er fühlte, wie das Blut über seine linke Wange lief. Er holte tief Luft und seufzte laut, als er in dem Jungen, der den Stein geworfen hatte, seinen Neffen Bento erkannte.

EIN EINHELLIGER BESCHLUSS

Zu Hause setzte Uriel sich an den Tisch. In dem spartanisch eingerichteten Raum herrschte Stille. Er holte das Dokument des jüdischen Rates hervor und las es langsam mehrere Male.

Der Beschluss war einhellig. Wegen seiner Ansichten, die grundlegende jüdische Glaubensvorstellungen in Frage stellten, wurde Uriel Spinoza aus der jüdischen Gemeinde Amsterdams ausgeschlossen. Der Ausschluss trat mit sofortiger Wirkung in Kraft und galt lebenslänglich. Das Dokument war unterzeichnet von Michael Spinoza, seinem Halbbruder.

Uriels Hände begannen zu zittern. Jahrelang hatte er isoliert gelebt, in großer Armut, ohne jemanden in seiner Nähe, ohne eine Frau in seinem Bett. Aber noch nie hatte er sich so hoffnungslos ausgeschlossen gefühlt. Es erschreckte ihn, dass er von eben jenen Menschen verstoßen worden war, die er mit seinen Gedanken erreichen wollte. Seinen jüdischen Freunden Einblick in die Wahrheit zu geben war die Triebkraft hinter seinem besessenen Suchen, die seine Tage erleuchtete und ihn ermutigte, sich dem zeitraubenden Prozess des Schreibens hinzugeben und zu versuchen, die Ordnung im Dasein zu finden.

Uriel dachte nie an seine Kindheit oder Jugend. In der Zeit seines Aufwachsens war er gezwungen gewesen, seinen jüdischen Ursprung zu verschweigen und sich den Anschein zu geben, Katholik zu sein. Deshalb hatte er diesen Teil seines Lebens aus seinem Bewusstsein gelöscht. Als er jetzt versuchte, an die Zeit in Porto zurückzudenken, musste er sich anstrengen, um sich auch nur Fragmente in Erinnerung zu rufen.

Vielleicht lag es an seiner Vergangenheit, dass es ihm missfiel, wenn Juden im Exil so großen Gefallen daran fanden, von ihren Erinnerungen an Sepharad, das jüdische Spanien, zu erzählen. Als wäre das Leben nur dort lebenswert.

SELBSTMORD IM EXIL

Mein Großonkel erzählte uns bei mehreren Gelegenheiten, dass die spanische Inquisition überall auf der Iberischen Halbinsel Furcht, Schrecken und Tod verbreitete. Er erklärte uns auch, dass die Juden umso standhafter am Glauben ihrer Väter festhielten, je grausamer sie verfolgt wurden.

Er machte kein Geheimnis daraus, dass viele im niederländischen Exil zusammenbrachen, obwohl man dort die Freiheit hatte, in Übereinstimmung mit seinen Traditionen zu leben. Aber sie wurden von wiederkehrenden Bildern und Erinnerungen geplagt, die vom Magnetfeld des Traums angezogen wurden. Und manchen gelang es nicht, mit dem Verlust der Heimat zu leben.

»Die Selbstmorde kamen mit dem Exil. Sie wurden still und unbemerkt begangen, und man sprach nicht darüber«, erklärte mein Großonkel.

Aber was wussten wir von Selbstmord, zwei zwölfjährige Jungen. Wir begriffen nichts, so sehr wir uns auch anstrengten.

Michael Spinoza hatte einen Nachbarn, erzählte mein Großonkel, einen gottesfürchtigen jüdischen Familienvater; leider habe ich seinen Namen vergessen. Der Mann – in den Vierzigern, steif und nervös, mit schiefen Schultern, die Art von Mann, die vom Leben schwer geprüft worden ist und in den religiösen Schriften Trost suchte – spielte einen ganzen Nachmittag mit seinen fünf Kindern, verteilte Süßigkeiten und erzählte ihnen ein Märchen, als sie zu Bett gingen. Seine Frau war nicht im Haus, sie half einer jungen Verwandten, die gebären sollte. Als sie am nächsten Morgen nach Hause kam, fand sie ihre fünf Kinder mit durchschnittenen Kehlen. Ihr Mann, vollkommen blutbesudelt, hatte sich an seinem Gebetsschal erhängt, ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen.

Bialomba. Uriel musste unwillkürlich an diesen seltenen Baum denken.

Einer portugiesischen Legende zufolge werden die nicht essbaren Früchte des Bialombabaums im Herbst tieftraurig und fallen zu Boden, wo sie schrumpelig werden und sich in Monarchfalter mit einem auf die Flügel gemalten brandgelben Halbmond verwandeln. Wenn Wind weht, kann man die Schmetterlinge vorsichtig aufheben und in die Luft werfen, dann können sie fliegen und leben. Sonst soll man sie am Boden lassen, bis sie verhungern. Dann geschieht nichts, und das Leben geht seinen gewöhnlichen Gang. Aber wenn man die Schmetterlinge unachtsam behandelt, auf sie tritt oder ihnen auf andere Weise Schaden zufügt, bringt es Unglück.

Uriel versuchte, andere Szenen und Ereignisse aus seinem Inneren auszugraben.

Doch das einzige, woran er denken konnte, war, wie er in seiner Jugend, unverwundbar und sorglos im Wald vor seiner Geburtsstadt Porto, in reinem Trotz die abgefallenen Früchte des Bialombabaums zertrat und unzählige Schmetterlinge tötete.

Die Rabbiner beschrieben die Weltordnung als etwas dem Menschen Unzugängliches, ein Mysterium, das zu durchschauen nur Gott vergönnt ist. Uriel hatte diese Gedanken in Frage gestellt und für eine andere Auffassung plädiert. Er glaubte, dass die Welt gemessen und gewogen werden könnte, dass es möglich wäre, ihre Geheimnisse zu beschreiben. Diese Überzeugung hatte ihn zum Abtrünnigen gemacht.

Jetzt kam ihm der Gedanke, dass die Welt geheimnisvoll und unergründlich war, von unsichtbaren Kräften gelenkt, die der Mensch nicht begreifen konnte. Gibt es eine Ordnung im Kosmos und einen Sinn in der Schöpfung, dann liegen sie jenseits jeden menschlichen Fassungsvermögens.

Aber wenn wir nichts begreifen und unser Leben nicht das Ergebnis eigener Entscheidungen, sondern etwas ist, was das Schicksal vor langer Zeit bestimmt hat – welche Bedeutung hat dann das Leben des einzelnen?

Sein ganzes Leben und sein Bewusstsein, alles war jetzt in dieser Frage gesammelt: Welche Bedeutung hat das Leben des einzelnen?

Plötzlich ereignete sich ein Erdrutsch in Uriels Inneren. Sein Glaube und seine Vernunft, das ganze Wertesystem, das für ihn über Recht und Unrecht bestimmte, alle Überlegungen, die er aus Protest gegen die jüdischen und christlichen Dogmen angestellt hatte – alles stürzte in sich zusammen. Er fand seine eigenen Gedanken sinnlos und verwarf sie.

Gottes Wege sind für den Menschen unbegreiflich, sagte er sich und ging in seine kleine Bibliothek. Er strich mit den Fingerspitzen über die Buchrücken. Die Bücher standen dort mit ihren Botschaften, kluge Wörter, die ihn nichts mehr angingen. Seine eigenen Arbeiten kamen ihm oberflächlich und nichtssagend vor. Er bereute, sie geschrieben zu haben.

Er setzte sich wieder an den Tisch. Vor sich hatte er das Dokument des jüdischen Rates, eine geladene Pistole, ein paar lose Blätter, Tinte in einem kleinen Tintenfass und eine Stahlfeder angeordnet. Er tauchte die Feder in die Tinte, ließ einige Tropfen fallen und schrieb: »Wie hätte mein Leben ausgesehen, wenn ich nicht die Früchte des Bialombabaums zertreten hätte?«

Dann setzte er die Mündung der Pistole an den Punkt an seiner Schläfe, wo Bentos Stein ihn getroffen hatte. Er nahm einen tiefen Atemzug, legte den Zeigefinger an den Abzug und drückte ab.

DER KOMET UND DER TOD

Am selben Abend, an dem Uriel sich das Leben nahm, zeigte sich ein ungewöhnlich großer Komet am Himmel. Es ging das Gerücht, der Schweif des Kometen würde die Erde berühren. Ein katholischer Priester in Nijmegen hatte, offenbar unter dem Einfluss von Alkohol, prophezeit, die Juden würden verschwinden und das sündige Amsterdam würde dem Erdboden gleichgemacht. Dies hatte der Erzengel Gabriel ihn wissen lassen. Ein Priester in Eindhoven, ein Günstling des Prinzen Fredrik Hendrik von Oranien, hatte den Schöpfungsplan in Teeblättern geschaut und sagte voraus, der Antichrist werde auf dem Kometen geritten kommen. Überall sprachen die Menschen mit Furcht und Beben vom bevorstehenden Weltuntergang.

An diesem Abend hatten sich viele Menschen in Michael Spinozas Haus versammelt, um den Kometen zu sehen. Unruhe lag in der Luft. Der Gastgeber versicherte den Gästen, der Tag des Jüngsten Gerichts sei noch nicht gekommen. Es gebe keinen Grund zur Panik. Er erklärte, sein Verwandter seligen Angedenkens, der Kabbalist Moishe de Espinosa, habe den gleichen Kometen im Jahre 1325 in Granada beobachtet und berechnet, dass er dreihundertfünfzehn Jahre später wiederkommen und die Erde in geraumem Abstand passieren werde.

Seine beruhigenden Worte überzeugten nicht alle; in vielen Gesichtern zeigte sich noch Skepsis.

Als die Dunkelheit einbrach, kam ein Diener gelaufen und rief, der Komet sei jetzt von den Fenstern im obersten Stockwerk zu sehen. Alle stürzten die Treppe hinauf.

Bento war wie gelähmt vor Angst, der Komet könnte das Haus der Familie vernichten. Er beobachtete seinen kleinen Bruder Isak, der auf dem Fußboden spielte. Aus einer plötzlichen Eingebung heraus versetzte er dem Kind einen Fußtritt an den Kopf. Er glaubte, sie seien allein im Zimmer, doch der Vater, der zurückgekommen war, um seine Brille zu holen, stand in der Tür hinter ihm und sah, was geschah.

Michael Spinozas Gesicht verfinsterte sich vor Zorn. Er trat zu Bento, packte ihn am Arm und zog ihn in sein Arbeitszimmer, wo der Junge zur Strafe in der Ecke stehen musste. Gerade in diesem Moment stürzte eins der Mitglieder des jüdischen Rates ins Zimmer, völlig außer Atem.

»Es ist etwas Schreckliches passiert«, stieß er mit bebender Stimme hervor. »Man hat Ihren Bruder Uriel tot in seinem Haus gefunden. Es war überall Blut, und er hat ein klaffendes Loch im Kopf.«

Bentos Herz schlug wie rasend. Weinend stürzte er aus dem Arbeitszimmer, denn er verstand, dass er seinen Onkel Uriel getötet hatte.

»Verzeihen Sie mir, Herr Spinoza«, sagte der Besucher und senkte die Stimme. »Es war unbedacht von mir, dies in Anwesenheit Ihres Sohnes zu berichten. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist, aber mir lag daran, dass Sie es erfahren sollten. Ja, wenn man bedenkt, was der Rat beschlossen hat. Aber ich hätte selbstverständlich daran denken müssen. Bento ist ein so sensibler Junge.«

DAS WUNDERKIND

Die Jahre vergingen, der Komet war weit entfernt, aber wann immer Michael Spinoza sich klarmachte, wie schwer es für ihn war, dass Bento in Rijnsburg lebte, wurde er von Wehmut ergriffen und dachte an jenen Abend.

Der nächtliche Himmel über Amsterdam war vom langen Schweif des Kometen erleuchtet gewesen. Es war ein faszinierendes, aber zugleich furchteinflößendes Erlebnis, das viele Menschen in Angst versetzt hatte. Manche fürchteten, Europa würde in Schutt und Asche gelegt werden, andere fielen auf die Knie und leierten Gebete herunter, viele glaubten, die strahlende Herrlichkeit Gottes zu schauen. Der Komet strich an der Erde vorbei, ohne irgendwelche physischen Spuren zu hinterlassen, und setzte seine friedliche Fahrt durch den Kosmos fort, genau wie Moishe es vor dreihundertfünfzehn Jahren vorhergesagt hatte.

Michael Spinozas stärkste Erinnerung an diesen Abend war Bentos sonderbare und unerklärliche Persönlichkeitsveränderung. Er war wie ausgewechselt. Vielleicht war es die Einwirkung des Kometen, dachte der Vater zuweilen. Von einem sehr oft boshaften und halsstarrigen Bengel hatte er sich über Nacht in den nettesten und umgänglichsten Jungen verwandelt, den man sich denken konnte.

Was seine Studien anbelangte, brauchte Bento keinen Ansporn, er war ein Musterschüler und der Stolz der Schule. Alle, die ihm begegneten, verblüffte er durch Klugheit und Wissen. Mit elf Jahren war er schon in der Lage, die Thora und Gemara vorwärts und rückwärts aufzusagen, und er wusste alles über Abraham, Isaak und Jakob, als ginge er schon seit undenklichen Zeiten mit ihnen um.

Sein Ruf als scharfer Geist erreichte auch jüdische Gemeinden außerhalb Amsterdams. Man erwartete, dass ihm eine große Zukunft als Rabbiner bestimmt sei.

Eines Tages jedoch ereignete sich etwas Umwälzendes im Leben des Jünglings und veränderte seine Laufbahn.

Michael Spinoza besaß eine der größten privaten Bibliotheken der Stadt. Hier fand Bento, nachdem er wochenlang danach gesucht hatte, die Schriften Uriel Spinozas. Sie waren sorgfältig hinter anderen Büchern versteckt.

Er las heimlich in diesen Werken, mit größerer Achtung und größerem Respekt als beim Studium der Thora. Obwohl Uriel vollendet und brillant schrieb, verstand Bento zunächst nicht viel. Doch er gab nicht auf, er fühlte sich verpflichtet, weiterzulesen. Er war besessen von dem Gedanken, seinen Onkel getötet zu haben, ein Albtraum über Jahre hinweg. Angesichts dieser entsetzlichen Tat war es keine Mühe, sondern eher eine Pflicht für ihn, sich in die Schriften des Abtrünnigen zu vertiefen und herauszufinden, wer er gewesen war, was er gedacht und geschrieben hatte.

Bento las immer öfter darin, Zeile für Zeile, ohne etwas zu überspringen. Hochkonzentriert versuchte er, die dem Ganzen zugrunde liegende Botschaft zu deuten. Aber Uriels Gedanken folgten einer anderen Logik als der, die die gewöhnlichen jüdischen religiösen Texte prägte. Dagegen wurde Bento schnell klar, mit welch geradliniger Aufrichtigkeit sein Onkel vorgegangen war. Er bedauerte nur, dass Uriel so wenig über sich selbst geschrieben hatte.

Hier fanden sich verblüffende Feststellungen, die Bento den Atem stocken ließen.

Auf einer Seite in Sobre a Mortalidade de Alma do Homem (Über die Sterblichkeit der menschlichen Seele) las er, dass die Seele drei Tage nach dem Tod, wenn sie den gebrechlichen Körper geschaut hat, den sie zuvor bewohnt hat und der sich jetzt im Zustand beginnender Verwesung befindet, diesen für immer verlässt und sich auflöst.

An anderer Stelle, in Propostas contra a Tradição (Vorschlag gegen die Tradition), wurde in Frage gestellt, ob Gott auf dem Berg Sinai Moses und dem jüdischen Volk das Gesetz übergeben habe.

Fast alles in der Substanz dieser Schriften, die kühnen Gedanken und die waghalsigen Argumentationen, stand im Gegensatz zu den Ansichten der Zeit und zu dem, was Bento zu Hause und in der Talmudschule Ets Haim gelernt hatte. Manchmal fühlte er sich abgestoßen, dann wieder war er empört und meinte, nichts könne Uriels Schlussfolgerungen und das Untergraben der Autorität der jüdischen Lehre entschuldigen. In jedem Fall war er verwirrt und unsicher.

Nach Monaten intensiver Lektüre begann Bento sich zu langweilen. Inzwischen war er auch dessen überdrüssig geworden, was ihn am Anfang am meisten beeindruckt hatte – Uriels reine und unnachahmlich elegante Sprache. Dies lag vor allem daran, dass er kaum eine Ansicht des Abtrünnigen teilte. Dann eines Tages, nach all den Anstrengungen, die Ganzheit hinter den Myriaden von Zeilen zu verstehen, die Uriel in seiner Einsamkeit aufgezeichnet hatte, stieß der Jüngling auf einen Satz, der ihn sofort gefangennahm und tief beeindruckte: »Das Wichtigste ist nicht, recht zu haben, sondern zu wagen, selbst zu denken, uralte Dogmen in Frage zu stellen und zu seiner Überzeugung zu stehen.«

Bento las den Satz mindestens hundert Mal und wiederholte die Worte laut: »… uralte Dogmen in Frage zu stellen und zu seiner Überzeugung zu stehen …«

Er sah seine Berufung klar vor sich und beschloss, sein Leben der Suche nach einem eigenen Weg zu weihen, seine eigenen Gedanken zu formulieren und Wahrheiten zu vermitteln, auch wenn er noch zu jung war, um zu wissen, worüber er schreiben wollte.

DIE THORA MIT NEUEN AUGEN

Bento las die Thora mit neuen Augen, ohne zu wissen, in wie hohem Maße ihn Uriels unsichtbare Hand leitete. Er las und machte Notizen. Er war wie besessen. Seine Augen glühten, und seine Aufzeichnungen wurden immer kritischer, immer skeptischer.

Er erkannte, dass Uriel den Finger auf einen wunden Punkt in der heiligen Schrift gelegt hatte: In den Büchern Mose mangelte es an Belegen für eine Reihe zentraler Thesen.

Bento suchte einen neuen Kurs. Vielleicht gab es überhaupt keine Wahrheit? Vielleicht existierte die Welt nur durch sechsunddreißig Geschichten?

Im Rabbinerseminar war Bento wie ausgewechselt. Er war zerstreut, immer verschlossener, in Tagträumereien versunken. Man begann zu munkeln, er sei von einem bösen Geist, einem Dybbuk besessen. Man flüsterte, der tote Ketzer Uriel Spinoza habe sich in Bentos jungem Körper eingenistet.

Als sein Lehrer ihn fragte, was ihn so quäle, antwortete er mit Gegenfragen: »Hat Gott wirklich keinen Körper?«

»Ist die Seele unsterblich?«

»Hat ein Säugling, der nach zwei Tagen stirbt, eine Seele gehabt?«

»Lenkt die göttliche Vorsehung die Menschen auf die beste Weise?«

Sein Rektor, der ehrfurchtgebietende Talmudkenner Morteira, führte den jungen Mann in einen dunklen Winkel des Schulgebäudes, legte ihm die Hand auf die Schulter und dämpfte seine Stimme. »Bento, was ist los mit dir? Du bist nicht wiederzuerkennen. Du verhältst dich sonderbar. Alle hier im Haus sind beunruhigt und verwirrt. Und deine Fragen – sie sind sehr gefährlich! Kein Jude kann sich mit solchen Grübeleien abgeben, wie sie in deinem Kopf herumspuken. Davon wird man verrückt. Du musst dich von unguten Gedanken befreien. Studiere den Talmud, das wird dich auf den rechten Weg zurückführen. Es gibt überall böse Zungen. Das kann übel für dich enden. Wenn deine Worte in die falschen Ohren gelangen, kann es für uns alle gefährlich werden. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

Doch die Fragen drängten sich immer weiter auf, und Bento war nicht der Mann, der schwieg. Als die Zeit gekommen war, sammelte er seine Aufzeichnungen und stellte sie in einer Schrift zusammen. Sein kraftvolles Plädoyer für die Freiheit des Geistes sorgte in den jüdischen Kreisen Amsterdams für helle Aufregung. Und weitere Schriften folgten.

DER JÜDISCHE RAT GREIFT EIN

Unter Berufung auf eine höhere Wahrheit wollte der jüdische Rat Bento zum Schweigen bringen. In der Hoffnung, er würde bereuen und das, was er geschrieben hatte, zurücknehmen, bestellte man ihn zu einem Verhör. Zur Verwunderung aller bekannte er sich – und schien sogar stolz darauf zu sein – schuldig all dessen, was man ihm vorwarf. Obwohl alle Mitglieder des jüdischen Rates Michael Spinoza hoch schätzten und niemand Bentos brillanten Intellekt in Zweifel zog, fühlten sie sich verpflichtet, Gerechtigkeit walten zu lassen.

»Wir verurteilen deinen Sohn, lieber Freund«, erklärte der Vorsitzende des Rates seinem Vorgänger Michael Spinoza, »nicht für das, was er gesagt und geschrieben hat. Es war höchst unbedacht von ihm und kann seiner Jugend zugerechnet werden. Aber was geschehen ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden. Wir verurteilen ihn, damit er sich nicht erneut zu ketzerischen Ansichten hinreißen lässt und damit andere seinem Beispiel nicht folgen. Wie du dich erinnern wirst, haben wir im Falle deines Halbbruders Uriel genauso argumentiert.«

Ich versuche zu verstehen, wie und warum die Mitglieder des jüdischen Rates Bento zum Ketzer abstempelten und ihn aus der Gemeinde vertrieben.

Heute ist es einfach, diese Männer als närrische Greise zu bezeichnen und ihre Beschlüsse ins Lächerliche zu ziehen. Aber damals konnten Bentos Thesen das Denken der Menschen beeinflussen, Verwirrung schaffen und die Dynamik in der jüdischen Gruppe bedrohen. Am meisten fürchtete der Rat, dass der Bürgermeister Amsterdams auf Bentos Religionskritik reagierte. Die Niederlande waren ein moderner Staat, von effizienten Geschäftsleuten gelenkt, die den liberalen Ideen der Zeit anhingen, religiöse Toleranz praktizierten und Juden akzeptierten – doch nur so lange, wie diese, im Unterschied zu Bento, sich nicht erlaubten, alles in Zweifel zu ziehen, was man überhaupt in Zweifel ziehen konnte.

Die alten Männer des Rates vermochten nicht darüber hinwegzusehen, dass der junge Mann die Thora in Frage gestellt hatte. Es war nicht hinnehmbar, dass er die Vorstellung ablehnte, das jüdische Volk sei durch Moses Gesetz gebunden und Gottes auserwähltes Volk. Was diese Frage anging, hatte Bento, so meinte man, alle Grenzen überschritten.

Der Rabbiner Isaac de Fonseca Aboab las den Text vor: »In Übereinstimmung mit dem Urteil der Engel und den Aussagen der Heiligen verfluchen, verurteilen, verstoßen und verbannen wir Bento Spinoza. Mit Zustimmung des seligen Gottes und dieser heiligen Gemeinde angesichts der heiligen Bücher der Thora und der sechshundertdreizehn Vorbemerkungen, wie es darin geschrieben steht, sprechen wir über ihn den Bann aus, mit dem Josua Jericho verdammte und Elisa die bösen Buben verurteilte, und mit Verfluchungen, wie sie im Gesetz verkündet sind.

Verflucht sei er am Tage und verflucht in der Nacht, verflucht, wenn er sich niederlegt, und verflucht, wenn er aufsteht, verflucht, wenn er geht, und verflucht, wenn er kommt. Möge der Herr ihm nie verzeihen und möge Gottes Zorn fortan über diesen Menschen kommen und ihn mit all der Verdammung belasten, die im Buch der Gesetze beschrieben wird. Und der Herr soll seinen Namen unter dem Himmel auslöschen und der Herr soll ihn zu seinem Verderben aus allen Stämmen Israels ausstoßen, mit allen Verurteilungen des Firmaments, wie es in diesen Gesetzen geschrieben ist. Und möget ihr, die ihr Gottes Verbündete seid, keinen Schaden davontragen!

Hütet euch: Niemand soll mündlich oder schriftlich mit ihm verkehren, niemand soll ihm den geringsten Dienst erweisen, niemand unter demselben Dach wohnen wie er, niemand ihm näher kommen als vier Ellen, niemand eine von ihm verfasste oder verfertigte Schrift lesen.«

FREIHEIT IN RIJNSBURG

Im September 1656 stieg Bento – nachdem er vom jüdischen Rat in Amsterdam verbannt worden war – heiteren Sinnes mit einer eilig gepackten Reisetasche die Treppe seines Elternhauses hinab. In der Eingangshalle warteten die Mutter, der Vater und die beiden Brüder. Der Vater legte ihm die Hände auf die Schultern und beteuerte, dass sie alle sich um sein Wohlbefinden sorgen würden. Die Mutter hoffte, dass er bald wieder zu Hause sein und das Ganze ebenso schnell vorübergegangen sein würde wie ein schlimmer Traum.

Der jüngste Bruder Isak, der dicklich, nervös und voller Kummer war, bekam einen Wutanfall: Er zerschlug einen Krug, der auf der Fensterbank stand, und schrie, es sei ungerecht. Er beruhigte sich auch nicht, als die Mutter ihn darum bat. Erst als der Vater ihn in die Wange kniff und fragte, wo seine Vernunft geblieben sei, kam er zur Besinnung.

Der ältere Bruder Benjamin, der wie ein Dichter sprach und Gott zu Gefallen formvollendete Sonettzyklen schrieb, versprach, ihm bald zu folgen, für sein Wohl zu sorgen und sein Weggefährte durchs Leben zu sein. Er erinnerte Bento daran, dass die Verbannung als ein Geschenk der Vorsehung zu betrachten sei, denn die Prüfungen des Exils sind auch für diejenigen, die ihrer Natur nach nicht besonders hervorragend sind, ein einzigartiger Ansporn zu Tugend, Mut und Kühnheit, Eigenschaften, die bei denen, die in Sicherheit und fern jeder Gefahr leben, nicht vorkommen. Dies hatte Benjamin bei dem großen Denker Maimonides gelesen.

Bento wurde verlegen, als beim Abschiedskuss das Haar der Mutter seine Wangen streifte. Der Vater fragte sich, ob sie einander jemals wiedersehen würden. Aber er sagte nichts. Er strich dem Sohn über den Kopf und half ihm in den wartenden Wagen. Jetzt verließ Bento zum ersten Mal in seinem Leben das heimatliche Viertel, und obwohl er seinen Eltern versprochen hatte, bald zurückzukehren, tat er es nie.

Die Reise nach Rijnsburg war eine Qual. Bento versuchte zu lesen, aber nach wenigen Minuten blickte er auf und beklagte sich im Stillen über die Federung des Wagens. Sie bereitete ihm Übelkeit. Mehrmals glaubte er, sich übergeben zu müssen. Dennoch verspürte er eine seltsame Freude, beinahe Heiterkeit.

In seiner Situation – gezwungenermaßen das Judentum, die Familie und die Geburtsstadt Amsterdam hinter sich zu lassen – hätte wohl jeder andere unsicher in die Zukunft geblickt, denn ein Mensch, der in dieser Welt nirgendwo zu Hause war, wurde als eine Beleidigung der gesunden Vernunft angesehen. Aber Bento fühlte sich eigentümlich frei von allen Bindungen, frei von der Zeit und dem Ort, in die er hineingeboren war, aber vor allem frei, selbständig zu denken.

Er liebte das Leben in Rijnsburg, obwohl er in einem nach Schimmel riechenden Keller wohnte. Er hielt akademische Vorlesungen über Gott, die einzig notwendig existierende Substanz, und betrieb intensive Studien, nicht nur in cartesianischer Philosophie. Er war interessiert an allem. Täglich maß er den Luftdruck, untersuchte das Wasser, die Erde und die Farbe des Himmels. Die Nachbarn hielten ihn für verrückt. Doch er wusste, dass ein frei denkender Geist sich daran gewöhnen musste.

BENJAMINS ENTREE

Eigentlich wollte Bento nicht, dass sein älterer Bruder ihm folgte. Er hatte sich in Benjamins Gesellschaft immer kontrolliert gefühlt. Mehrere Monate verweigerte er seine Zustimmung. Aber Benjamin war hartnäckig, sodass Bento in einem schwachen Augenblick nachgab – zumal er hoffte, dass am Ende doch nichts daraus werden würde.

Benjamin fand seinen Bruder am Boden kauernd, über Descartes’ Buch Die Prinzipien der Philosophie gebeugt, mager, mit eingesunkenen Wangen, schweißgebadet in der Sommerhitze, konzentriert auf pantheistische Gedanken, vollkommen unberührt von dem Durcheinander aus ungewaschenen Bechern, Tellern, Besteck und verschimmelten Essensresten, das ihn umgab. Die Luft im Zimmer war schwer wie in Pharaos Grabkammer. Der Staub auf dem Fußboden zeigte Spuren von drei oder vier Generationen von Mäusen, die den Rücken des Talmud zernagt und im Bett ihre Nester gebaut hatten.

Benjamin war klar, dass sein Bruder selten Besuch bekam, und am allerwenigsten weiblichen. Er war drauf und dran, eine entsprechende Bemerkung zu machen, sah aber ein, dass Bento gekränkt wäre, und konnte sich noch rechtzeitig beherrschen.

Die Brüder hatten viele Gemeinsamkeiten in ihrem Wesen, doch was Ordnung betraf, waren sie extrem gegensätzlich. Dies vor allem hatte dazu geführt, dass Bento gegenüber dem ein Jahr Älteren stets einen gewissen Widerwillen empfunden hatte.

Benjamin war ein Pedant, der in seinem Leben Ordnung und Regelmäßigkeit brauchte. Er ging sogleich ans Werk. Während Bento seine Gedanken über die Grundlagen der cartesianischen Philosophie darlegte, stopfte Benjamin ein paar Mauselöcher zu, holte Wasser, wusch in einem Bottich die Bettwäsche und hängte sie im Hinterhof auf, scheuerte den Fußboden, wischte Staub und ordnete die Bücher, nicht in alphabetischer Reihenfolge oder nach Themengebieten, sondern der Größe nach. Als er mit dem Saubermachen fertig war, setzte er sich auf einen Stuhl, atmete tief durch, hörte auf das Läuten der Glocken im Kirchturm, die achtmal schlugen, und war bereit, zusammen mit Bento ein neues Leben zu beginnen.

GOTT UND SCHWACHE LUNGEN

Tagsüber schliffen die Brüder optische Gläser und Linsen für Ferngläser in einer nahe gelegenen Werkstatt. Die Arbeit füllte ihre Lungen mit Glasstaub und ihre Taschen mit einem bescheidenen, aber sicheren Einkommen. Nachts, wenn niemand sie hören konnte, führten sie kühne und extrem unkonventionelle Diskussionen über die Freiheit des Menschen und über seine Möglichkeit, in einem von Gesetzmäßigkeit diktierten Dasein gerecht zu leben.

Sie waren jung, entschlossen, frei, gemeinsam würden sie Großes vollbringen. Doch zuerst wollten sie – es war Benjamins Vorschlag – ihr eigenes Bewusstsein vertiefen und sich geistig weiterentwickeln, denn nur beseelte Wesen verstehen es, ihre argumentierende Vernunft auf die richtige Art und Weise zu nutzen. Dann würden sie das menschliche Leben erforschen und seine Geheimnisse erkunden. Beide ließen sich von Fragen leiten, die das Herz betrafen, dagegen verzichteten sie bewusst darauf, an andere edle Körperteile zu denken, denn sie wollten nicht von verwerflichen körperlichen Begierden versucht werden.

Eines Nachts sahen sie alles klar vor sich. Die Erkenntnis dieser tiefsten Wahrheit brachte sie fast dazu, die Besinnung zu verlieren. Bento versuchte, ihre Gedanken zu Papier zu bringen, doch es gelang ihm nicht. Seine Hand zitterte vor Erregung. Also musste Benjamin, dem es immer leichter fiel, sich schriftlich auszudrücken, die Feder führen.

»Niemand kann Gott sehen, fühlen oder definieren«, notierte er. »Gott existiert in allem, doch er bleibt stumm und unerreichbar. In seiner Schöpfung hat er Spuren hinterlassen, die wir studieren und denen wir folgen können.«

Die Brüder waren zutiefst dankbar für die Gnade, die ihnen widerfahren war. Benjamin brach manchmal in Tränen aus, nicht aus Traurigkeit, sondern aus einer inneren Freude. Er fühlte sich als der glücklichste Mensch auf Erden.

Conversas, die erste Arbeit der Brüder, ein dünnes Pamphlet, in dem sie ihre Beredsamkeit und ihre Argumentationsmethode entwickeln, erschien nur in einer Handvoll von Exemplaren. Der Buchdrucker Pieter van Driest fürchtete die kirchlichen Behörden, die ohne Vorwarnung Spione, »visitatores librorum«, auszusenden pflegten, um neu erschienene Bücher zu kontrollieren. Die Zensur war streng, auch wenn es einen gewissen Spielraum für gegensätzliche Meinungen gab, solange diese in Abgeschiedenheit zum Ausdruck gebracht wurden und die Auflagen der Schriften klein waren. Aber nur wenige Wochen zuvor waren in Leiden zwei Buchdruckereien in Brand gesteckt worden. Man musste auf der Hut sein. Also erhielt das Pamphlet den lateinischen Untertitel CAUTE, sei vorsichtig.

Conversas enthielt die Diskussionen der Brüder, aber auf dem Umschlag stand nur ein Autorenname: Bento Spinoza.

Benjamin war ein Mann von edler Gesinnung, äußere Auszeichnungen waren ihm gleichgültig. Er hatte nur bescheidene Forderungen ans Leben. In erster Linie wollte er dem Bruder nahe sein, ihn fördern und beschützen. Anderen gegenüber war er mild und wohlwollend, streng nur gegen sich selbst. Jede Nacht saß er an seinem Pult. Eine in Tinte getauchte Stahlfeder war sein Schreibwerkzeug. Mit unermüdlicher Schaffenskraft zeichnete er die philosophischen Arbeiten auf, die seinem Bruder ein wachsendes Ansehen verschafften. Nie verlangte er etwas für sich selbst, und schon gar nicht einen Platz auf einem Buchdeckel. Stattdessen wünschte er, dass Bento anerkannt und rehabilitiert wurde, am besten durch eine Entschuldigung des jüdischen Rates in Amsterdam, Mahamad.

Bentos Gesundheit war angegriffen. Von seiner Mutter hatte er schwache Lungen geerbt, in die jetzt Glasstaub aus der Linsenschleiferwerkstatt eingedrungen war. Er litt unter zunehmender Atemnot und großen Schmerzen im ganzen Körper. Nachts hatte er zuweilen Schüttelfrost und hohes Fieber. Er klagte darüber, dass sein Körper ihm nicht mehr gehorchte und im Begriff sei, sich aufzulösen, was Benjamin schwer bedrückte. In dem gleichen Maße, in dem Bento an Körpergewicht verlor, schwand seine Lebenskraft.

Benjamin machte seinem Bruder Umschläge mit Kräuterauszügen und rieb seine Brust mit einer beißend riechenden Salbe ein. Doch weder dies noch Aderlässe halfen; die Schmerzen wollten nicht weichen. Die Hilfe eines Arztes in Anspruch zu nehmen konnten die Brüder sich nicht leisten. Um die Druckkosten für die unter Bentos Namen veröffentlichten Schriften aufzubringen, hatte Benjamin von vielen Seiten Geld leihen müssen. Er war hoch verschuldet und die Gläubiger weigerten sich, ihm weiteren Kredit zu geben.

Bento resignierte. Benjamin grübelte, und bald fand er eine Lösung.

DIE RETTUNG IN DER NOT

Benjamin würde heiraten, um dem Bruder zu helfen. Er schrieb einen poetisch formulierten Heiratsantrag an eine um ein paar Jahre ältere sephardische Frau in Rijnsburg, von der bekannt war, dass sie über ein großes väterliches Erbe verfügte.

Dass es einer so reichen Frau nicht an Freiern mangelte, war selbstverständlich. Aber alle, die sich einstellten, ließen sich entweder von ihrer Hässlichkeit abschrecken, oder die Frau hielt deren Absichten für unseriös, da sie sich mehr für die zu erwartende Mitgift interessierten als für ihre Person. Deshalb begab sich Mafalda Fonseca jeden Freitagabend, wenn andere Frauen Arm in Arm mit ihren Männern zum Sabbatgottesdienst spazierten, eiligen Schrittes zur Synagoge, um Gott zu fragen, warum er es ihr verweigerte, die Liebe zu finden.

Mafalda hatte sich nie vorstellen können, dass das jüdische Spanisch einen so angenehmen Klang hatte und so viele schöne Wörter enthielt. Verzückt las sie Benjamins Brief wieder und wieder, während ein ungekanntes Feuer in ihr aufflammte und ihre runden Wangen erglühen ließ. Zum ersten Mal in ihrem Leben begann Mafalda, die sich in ihrer Einsamkeit lange ohnmächtig gefühlt hatte, ernsthaft über die vielen Möglichkeiten der Liebe nachzudenken. Sie sagte sich, dass es noch nicht zu spät für sie war, und beantwortete Benjamins Brief schon am Nachmittag desselben Tages.

Einen Monat später fand die Hochzeit statt.

Benjamin wusste wenig über Frauen. Alles, was in der Hochzeitsnacht geschah, war neu für ihn, sehr leicht und sehr schwer zugleich.

Mafalda ergriff sofort die Initiative und behielt sie die ganze Nacht. Benjamin war erfreut darüber, dass die hässliche Frau, die er geheiratet hatte, unter dem Kleid so schön war. Zugleich wunderte er sich, dass jemand sich so leidenschaftlich für seinen Körper interessierte. Als sein zuvor anscheinend leblos herabhängendes Glied sich zu voller Erektion aufrichtete, kam ihm ein Segensspruch in den Sinn, den er still für sich rezitierte: »Baruch Atah Hashem mechayei hameitim« (Gesegnet sei Gott, der die Toten auferweckt).

Er hatte nie daran gedacht, dass der physische Genuss bei einer Frau laute und zugleich klagende Rufe verursachen konnte. Mafalda erschreckte ihn ein wenig, aber er fühlte sich sehr glücklich.

Nach der Liebe teilten sie ein Glas Rotwein.

Mafalda war dankbar, dass der Herr mit Wohlwollen auf sie geblickt hatte. Endlich hatte sie einen jüdischen Mann gefunden, und ihr Bund würde so glücklich sein wie der ihrer Eltern, deren warmherzige und liebevolle Verbindung sie all die Jahre hindurch in freundlicher Erinnerung behalten hatte. Außerdem war ihr Mann gelehrt, lieb und zärtlich. Ein Mann, der durch seine Nähe und Berührung ihr Begehren geweckt hatte. Ein Mann, der freigebig seinen Samen in das Kinder erzeugende Feld in ihrem Schoß säte. Alle Freuden der Ehe lagen in Reichweite für sie.

Was konnte sie vom Leben mehr verlangen?

EIN BRUDER ZU VIEL

Bald jedoch türmten sich dunkle Wolken über dem Haus in der Singelstraat auf. Denn Benjamin kam nicht allein, er brachte seinen Bruder mit in die Ehe.

Jeden Tag erlebte Mafalda, dass Benjamin mehr Zeit mit Bento verbrachte als mit ihr. Sie fühlte sich vernachlässigt und einsam. Während die Brüder sich in lebhafte Gespräche vertieften, war das Schweigen ihre tägliche Gesellschaft. Auch die nächtlichen Spiele fehlten ihr. Abend um Abend lag sie nackt und mit pochendem Herzen unter dem Laken, im Dunkeln auf Benjamin wartend, der bis weit nach Mitternacht aufblieb, um Bentos Aufzeichnungen ins Reine zu schreiben. Am Ende war sie davon überzeugt, dass ihm sein Bruder mehr bedeutete als sie. Oft wurde ihr Gesicht blutrot vor Wut, und sie schloss sich im Schlafzimmer ein, um zu weinen. Drei Monate weinte sie jeden Tag. Ihr Gemüt wurde nach und nach von Eifersucht vergiftet.

Abgesehen davon, dass er sie der Möglichkeit beraubte, die Früchte der Ehe zu genießen, gab es noch andere Gründe, warum Mafalda Bento nicht ertrug. Sie fand ihn herablassend und hochnäsig. Sie verstand sich überhaupt nicht auf ihn. Manchmal hielt sie ihn schlicht und einfach für wahnsinnig. Sein ständiges Dozieren über verschiedene Axiome und Prämissen und Euklids Geometrie waren in ihren Augen eine Form gehobenen Wahnsinns. Außerdem konnte er stundenlang dasitzen und eine Wand anstarren, völlig unerreichbar, versunken in einem Mysterium, das er selbst erfunden hatte. Es irritierte sie auch, dass er nachts laut schnarchte und oft hustete.

Mafalda wollte nicht, dass Bento weiter in ihrem Haus wohnte. Sie bezweifelte, dass es gesund war, mit ihm unter einem Dach zu leben. Außerdem war sie der Meinung, dass er den Menschen in seiner Umgebung die Kraft aussaugte, vor allem Benjamin. Sie selbst fühlte sich schon fast wie ein Gespenst.

Benjamin fiel es schwer, sich zu beherrschen und seine Verzweiflung zu verbergen. Genau dies hatte er gefürchtet.

Mafalda war unnachgiebig: Bento sollte aus dem Haus. Sie war zu Zugeständnissen bereit, aber keinen Tag länger würde sie den Schwager ertragen. Plötzlich bekam sie einen Wutanfall, schrie: »Er soll raus, er soll raus«, schleuderte ein Tintenfass an die Wand und warf sich schluchzend vor Selbstmitleid aufs Bett.

Benjamin wusste, dass es sinnlos war, mit Mafalda zu diskutieren, denn die Spannung, die sich in den vergangenen Wochen zwischen ihnen aufgebaut hatte, war an die Grenze des Erträglichen gestoßen. Er hatte keine Wahl, er musste nachgeben, so schlimm es auch für ihn war. Vernunftmäßig war er sich darüber im Klaren, dass es das Beste war, die Sache so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Aber es kostete ihn große Selbstüberwindung, dem Bruder davon zu erzählen.

Bento wurde blutrot im Gesicht. Er versuchte, Benjamin zu ignorieren, nahm ein Vergrößerungsglas hervor, studierte zwei Fliegen auf dem Küchentisch und räsonierte im Geiste Descartes’ über den Wert ihres Lebens. Doch das half wenig. Zwei Tage später sah er sich gezwungen, seine geringe Habe zu packen und zu einem Bekannten zu ziehen, dem Maler Mesach Tydeman, der im ländlichen Voorburg bei Den Haag wohnte.

Benjamin versprach Bento, für sein Wohlbefinden zu sorgen, nicht nur für seine Verpflegung und seinen Aufenthalt zu bezahlen, sondern ihm auch weiterhin zu helfen, seine philosophischen Gedanken aufzuzeichnen und die Texte zu redigieren.

Bento ließ bei Benjamin Trauer und ein schlechtes Gewissen zurück, aber auch unerwartete Schulden, die der ältere Bruder bezahlen musste, sowie ansehnliche Arztrechnungen. Benjamin fand es herzlos, Bento aus dem Haus zu jagen. Er war der Meinung, der Bruder sei zu krank, um allein zu sein, und seine Frau hätte mehr Mitgefühl zeigen sollen. Er ging Mafalda aus dem Weg, doch als sie ihm ein paar Tage später die Hand zur Versöhnung reichte, ergriff er sie mit Freuden.

Binnen kurzer Zeit entdeckte Benjamin, wie angenehm sich das Leben in der Singelstraat gestaltete – ohne Bento. Mafalda war strahlender Laune. Jetzt reichte die Zeit auch für eheliche Freuden und Fruchtbarkeit. Das Paar bekam vier Söhne, die von ihrem Vater nach einem selbst entwickelten pädagogischen System erzogen wurden. Sie wurden sämtlich gelehrte Männer. Der älteste, Aron, wurde zum Oberrabbiner von Paris ernannt. Ein anderer wurde Professor an der Sorbonne. Am Ende zogen alle Söhne mit ihren Familien nach Frankreich.

DER KABBALIST

Abrabanel ben Israel war es, der die Arbeiten der Brüder entdeckte.

In der Enzyclopaedia Judaica heißt es über ihn: »Abrabanel ben Israel (1616–1688), geboren als Solomon Des Pino-Zaah in Andalusien, auch ABI genannt, war ein in Holland tätiger sephardischer Gelehrter, Kabbalist, Diplomat, Schriftsteller, liberaler Rabbiner, Gründer der ersten jüdischen Buchdruckerei. Er korrespondierte mit führenden Philosophen und Angehörigen von Königshäusern seiner Zeit in Europa. Im Jahre 1655 besuchte er Oliver Cromwell in London und sprach im Parlament. Mit Hilfe seiner glänzenden Argumentationskunst gelang es ihm, die Abgeordneten im Oberhaus zur Aufhebung eines Gesetzes zu bewegen, das seit 1290 Juden verboten hatte, sich in England niederzulassen. Er war auch ein guter Freund von Rembrandt, der sein Porträt gemalt hat.«

Ich will sogleich verraten, wer sich hinter dem Namen Abrabanel ben Israel verbarg. Kein Geringerer als Salman de Espinosa. Er verlor seine Verwandten in Amsterdam nicht aus den Augen, wie er auch das Leben von seinen Kindern und Kindeskindern und von deren Kindern und Kindeskindern in Spanien und Portugal aus der Distanz verfolgt hatte. Er zog es vor, unter verschiedenen Namen aufzutreten, um seine wahre Identität nicht preiszugeben. Zu diesem Zeitpunkt war er weit über dreihundert Jahre alt, wenn er auch wie ein Mann in den frühen mittleren Jahren aussah, denn er konnte nicht sterben.

Ich mache es mir selbst schwer, wenn ich jetzt zulasse, dass einer meiner Einfälle die Oberhand gewinnt. Aber ich musste – apropos Tod – plötzlich an die Kabbala denken.

Ich war neun Jahre alt, als mein Großonkel uns zum ersten Mal von Salmans Vater Moishe erzählte, und ich beschloss sofort, natürlich eher intuitiv als aufgrund eines ausreichenden Faktenwissens, dass ich Kabbalist werden wollte wie er. Ich stellte mir vor, ein Kabbalist wäre ein vornehmer Adliger, der Furchtlosigkeit und Würde ausstrahlte und in einer eleganten Rüstung auf einem stolzen weißen Pferd einherritt. Vermutlich hatte ich die Wörter Kabbalist und Kavallerist verwechselt.

Einige Jahre später erhielten mein Bruder Sasha und ich eine detaillierte Darlegung dessen, womit die Kabbalisten sich beschäftigten: Dass sie mit Hilfe eines ausgeklügelten Systems den numerischen Wert der Wörter berechneten, um auf diese Weise verborgene Zusammenhänge im Dasein und ewige Wahrheiten unter den unablässigen Bewegungen der Himmelssphären zu finden.

Mit dreizehn Jahren führte ich, gemäß den Anleitungen, die mein Großonkel uns gegeben hatte, eine kabbalistische Berechnung durch, die auf den Buchstaben in Sashas Namen und unserem gemeinsamen Geburtsdatum basierte. Ich muss böse auf meinen Bruder gewesen sein, aus irgendeinem Grund, den ich seit langem vergessen habe, denn ich kam mit Hilfe der Zahlenmystik zu dem Ergebnis, dass er kurz nach seinem siebzehnten Geburtstag eines tragischen Todes sterben würde.

Erfüllt von Zweifel und Selbstsicherheit, aber unwissend in Bezug auf beides, berichtete ich schon am folgenden Tag meinem Großonkel von meiner Berechnung. Er war der einzige, dem ich davon erzählen konnte, mein Favorit und mein Vertrauter, obwohl er eigentlich nicht zu unserer Familie gehörte. Ich fühlte mich mit ihm tiefer verbunden als mit einem meiner Blutsverwandten, Mutter und Vater, Großmutter und Großvater, Sasha. So lieb und anhänglich sie auch waren, es gab eine unüberwindliche Barriere zwischen uns, die Fragen und Vertraulichkeiten ausschloss. Mit meinem Großonkel war es anders.

Dieses Ereignis habe ich mein ganzes Leben mit mir getragen. Fragt mich nicht, warum. Ich habe oft Dinge vergessen, an die ich mich erinnern wollte. Zu anderen Gelegenheiten drängen sich mir Bilder aus der Vergangenheit auf, losgerissene Wörter, Licht, Düfte, ohne dass ich nach ihnen gerufen hätte.

Ich sah einen Funken von Erstaunen und Angst in den Augen meines Großonkels. Er legte sein Gesicht in Falten und nahm mich in den Arm. Überrascht hob ich den Kopf und sah, dass er Tränen in den Augen hatte. Dann lächelte er und sagte, meine Berechnung müsse einen Fehler enthalten.

Er hatte natürlich recht: Irgendwo hatte sich ein kleiner Zahlenfehler eingeschlichen. Denn Sasha wurde nicht älter als fünfzehn Jahre.

EIN NEUES KAPITEL

Abrabanel ben Israels enthusiastisches Empfehlungsschreiben hatte die beabsichtigte Wirkung, und angesehene Lehranstalten in Europa interessierten sich nicht nur für Bento, sondern für beide Brüder Spinoza. Begehrte Professuren wurden ihnen angeboten. Bento lehnte einen Ruf nach Heidelberg ab. Benjamin konnte nicht begreifen, warum.

Bento erklärte seinem Bruder, er fürchte, die Freiheit, seine Ansichten auszudrücken, zu verlieren. Er nannte sich selbst einen vagabundierenden Denker. Das war eine Rolle, die ihm zusagte. Er war zufrieden und wollte so leben wie bisher. Er würde in keines Menschen Dienst treten und selbst die Form und den Rhythmus seines Lebens wählen. Niemand konnte ihn zwingen, sein Dasein und seine Gedanken an die Herren der Macht und der Ordnung zu verkaufen.

»Seit Jahrhunderten ist eine Bruderschaft von ›scholares vagantes‹ durch Europa gestreift«, sagte Bento. »Keiner ist dem anderen gleich gewesen, aber alle haben die Unruhe des forschenden und irrenden Menschen in sich getragen. Der umherstreifende Denker ist ein launischer Komet, er kommt, wann er will, zieht unberührt seines Weges und wählt seine eigene Bahn. Das ist genau das Leben, das mir passt.«

Benjamin ließ nicht locker. »Gute Absichten können Menschen zu wenig durchdachten Beschlüssen und Handlungen treiben«, erwiderte er. »Ich glaube, es würde dir guttun, einen festen Punkt im Dasein zu haben. Man muss nicht stärker nach der Norm anderer als nach der eigenen leben, nur weil man öffentliche Aufgaben annimmt.«

»Lieber Bruder«, entgegnete Bento rasch. »Platon nennt es ein Wunder, wenn jemand sich den Angelegenheiten der Welt widmet und mit sauberen Hosen davonkommt. Du kennst mich und weißt, dass ich mich jedes Mal, wenn die Versuchung zum Ehrgeiz auftaucht, dagegen sträube und beharrlich in die andere Richtung strebe.«

»Im Unterschied zu dir«, sagte Benjamin, »habe ich das Leben eines Mannes, der sich durch die Tage treiben lässt, immer nur für kurze Zeit führen können. Mein Lebensinhalt sind die Familie und der Genuss im Sammeln und Ordnen von Wissen, die Suche eines Weges durch das Labyrinth unterschiedlicher Meinungen in diesem dem Anschein nach verwirrenden und schwerelosen Universum. Letzten Endes teile ich nicht deine Angst, die Gedankenfreiheit zu verlieren. Meine Überzeugung von der dem Menschen innewohnenden Freiheit hindert mich nicht daran, als Lehrer zu arbeiten.«

Benjamin fühlte, dass ein Kapitel seines Lebens endete und ein neues seinen Anfang nahm. Mafalda ermunterte ihn lebhaft, die Früchte seiner Begabung zu genießen und einen akademischen Ruf anzunehmen.

So zog er mit seiner Familie nach Freiburg, das eine der führenden Universitäten Europas besaß. Sie war so gut wie keine andere organisiert und beschäftigte die namhaftesten Lehrer des deutschen Sprachraums.

Die Wochen lösten einander ab, der Herbst verrann, es wurde Dezember, und der Schnee lag hoch. Jetzt erkannte Benjamin, dass es ihm bisher nicht gelungen war, sich von seinem Bruder frei zu machen. Er erzählte Mafalda, dass er sich beinahe schämte, weil er den großen physischen Abstand zu seinem Bruder als Befreiung empfand, und dass es ihm große Freude machte, zu unterrichten – er kam sich fast leichtsinnig vor. Sie entgegnete, er habe sich verändert. Als er fragte, was sie damit meine, sah sie ihn mit einem innigen Blick an und ging ihres Weges. Nach ihrem nächtlichen Spiel, das phantastisch war, besser denn je zuvor, erklärte sie ihm, sein Gesicht sei froher und entspannter. Er lächelte ein wenig nachdenklich, wusste aber, dass sie recht hatte. Dann hielten sie sich wie gewöhnlich umschlungen und schliefen ein.

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Annie Campsie-Smith, Benjamins britische Biographin, weiß zu berichten, dass er sich in Freiburg damit vergnügte, ein praktisches Handbuch über moralische Fragestellungen zu verfassen. Es wurde als bahnbrechend angesehen. Die damaligen Philosophen schrieben ohne Kontakt zu ihren Lesern. Benjamin arbeitete dagegen mit konkreten Beispielen. Dieser Ansatz war fruchtbar.

Der Verleger Adalbert Althardt in Berlin, der Auszüge aus dieser Arbeit gelesen hatte, war begeistert. Er versprach ein Seitenhonorar von fünfzehn Gulden. Ein Erscheinungsdatum wurde vereinbart. Die Erwartungen wuchsen. Doch das Manuskript wurde nie abgeschlossen. Heute gilt das Handbuch als verschollen.

Mit halb geschlossenen Augen stand Benjamin am Katheder und sprach darüber, wie der Inhalt der Philosophie deduktiv, auf geometrische Weise, aus abstrakten Definitionen abgeleitet werden könne. Er sprach leise, doch seine Stimme war überall im Hörsaal zu verstehen. Mit ansteckendem Enthusiasmus entwickelte er seine Ideen.

Er kam oft auf Gott zurück. Er betonte, dass Gott weder eine Ursache habe noch einen Anfang. Gott sei immanent und nicht transzendent, dozierte er. Der Gott, von dem er sprach, hatte wenig gemeinsam mit dem Gott des Christentums und des Judentums. Sein Gott hatte keine menschlichen Eigenschaften. Er war weder mit dem Vater noch mit dem Schöpfer vergleichbar.

Benjamin betonte, dass man nie etwas lieben könne, dessen Bedeutung man ganz verstehe. Liebe baue auf dem stimulierenden Gefühl auf, dass einem etwas entgehe.

Er sprach auch über Zusammenleben, Mut und Gesundheit, Geld und Wohltätigkeit, physische Aktivitäten und Genüsse. Er vertrat die Ansicht, dass sich der Mensch, wenn er das Leben genießt, der Vollkommenheit und der göttlichen Natur annähere.

»Heiterkeit kann man nicht übertreiben, denn sie ist immer gut«, schärfte er seinen Zuhörern ein. »Schwermut dagegen ist immer von Übel.«

Er verfocht den Gedanken, das Schlimmste sei eine Furcht, die auf Unwissen und Aberglauben beruhe und auf die viele Mächtige die Moral gründen wollten. Dagegen müsse die Moral auf Rechtschaffenheit aufbauen, die mit einem höheren Wert zusammenhänge – dem Guten. Ohne Einsicht in das Gute, so war seine entschiedene Meinung, könnten die Regierenden ihrer Aufgabe nicht angemessen nachkommen.

Benjamin betonte, dass Unterricht in Philosophie nicht allein eine wissenschaftliche Schulung des Denkens, sondern in ebenso hohem Maße eine Charakterschulung darstelle, eine Persönlichkeitsbildung. Studien seien dabei nur ein Mittel, um tiefere Einsichten in beständige und universelle moralische Grundwerte zu gewinnen.

Die Studenten waren von Benjamins Argumentation meistens so angeregt, dass sie am Ende der Vorlesung applaudierten und den Hörsaal in strahlender Laune verließen.

Der Dekan der Universität war Benjamins Nachbar, und gemeinsam verbrachten sie lange Abende mit anregenden Gesprächen. Der Dekan bewunderte Benjamins Intellekt und lobte seine Fähigkeit, den Studenten seine originellen Gedanken zu vermitteln. Aber er mahnte ihn auch zur Vorsicht, denn ihm war klar, dass Benjamins Ideen schockierend wirken konnten – niemand vor ihm hatte in Freiburg so kühne Thesen formuliert. Also empfahl er dem Philosophen eine gewisse Zurückhaltung, denn wenn er mit seinen Spekulationen über die Macht fortführe, könne dies ins Utopische führen. Und wenn seine Schriften den Männern der Kirche in die Hände gerieten, sei mit einem wahren Sturm zu rechnen.

SOCIETAS JESU

Es dauerte nicht lange, bis mächtige katholische Augenbrauen hochgezogen wurden. Deutschen Bischöfen, Mitgliedern des Ordens Societas Jesu, kamen beunruhigende Berichte über Benjamins Unterricht zu Ohren. Man sandte Spione aus, die Beweise sammelten. Sie kamen zurück und brachten viel Sprengstoff mit. Die Spione bezeugten unter Eid, Benjamin habe mit Nachdruck betont, dass ein falscher Gottesbegriff die Quelle geistiger Unfreiheit sei und dass die Auslegung biblischer Texte durch die katholische Kirche den Ausgangspunkt von Intoleranz und Unterdrückung bilde.

Die Berichte der Spione erregten große Verärgerung unter den Bischöfen. Sie ertrugen es nicht, dass ein Jude die Kirche Jesu Christi schmähte.

Der Großmeister der Geheimloge, Balthasar von Uhrs, der im Ruf stand, ein beflissener Gottesdiener zu sein, nahm sich der Aufgabe an, den Angriff zu leiten. Er versprach, verschiedene probate Mittel einzusetzen. Die Bischöfe fühlten sich sicher und rieben sich siegesgewiss die Hände: Der Großmeister war mit dem Waffenarsenal vertraut, das der Kirche zur Verfügung stand, um Feinde auszuschalten. Mit finsterer Miene setzte von Uhrs eine Anklageschrift auf, in der er Benjamin des Atheismus bezichtigte und behauptete, seine Philosophie sei der reine Okkultismus. Der Großmeister verlangte, der Herzog von Hohenkrampen müsse diesen jüdischen Ketzer wegen der Verbreitung von Irrlehren vor Gericht stellen.

Benjamin nahm von Uhrs’ Schrift mit Gelassenheit zur Kenntnis. Dass er bei katholischen Bischöfen in Ungnade gefallen war, kümmerte ihn wenig. Sein Freund, der Dekan, befürchtete, Benjamin würde seine Tage als Entehrter beschließen. Deshalb riet er ihm, einen Teil seiner pointiertesten Äußerungen zurückzunehmen und Abbitte zu leisten. Benjamin nahm gern jeden Rat entgegen, der von Fürsorglichkeit diktiert wurde. Aber in diesem Fall weigerte er sich.

»Man kann vieles ertragen«, antwortete er seinem Freund, »aber nicht den Verlust von Selbstachtung und Ehre.«

Er war der Meinung, die Bischöfe verhielten sich eher wie kläffende Hunde als wie geistliche Führer. Doch das verlogene und hasserfüllte Pamphlet des Balthasar von Uhrs konnte nicht unwidersprochen bleiben, und so verfasste er eine Schrift, in der er seine dialektischen Fähigkeiten entfaltete, seine Ansichten elegant verteidigte und jeden Punkt in der Anklageschrift des Großmeisters zurückwies, ohne pathetisch oder unsachlich zu werden.

Der Herzog ließ sich Zeit bei der Lektüre von Benjamins Verteidigungsschrift. Mehr noch als die Intelligenz und der Scharfsinn des Philosophen beeindruckten ihn die Ehrlichkeit und der Mut, mit dem er sich gegen die religiöse Obrigkeit zu stellen wagte und gleichzeitig eine neue Perspektive einführte, indem er auch die Schwächen seiner eigenen Argumentation erwähnte.

Als der Herzog den Text gelesen hatte, ließ er verkünden, Benjamin Spinoza sei über jeden Verdacht des gottlosen Wandels erhaben und die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen von Blasphemie hätten sich als grundlos erwiesen.

Es war Frühling, warm und hell. Aber von Uhrs war finsterer Stimmung, hatte er doch einen großen Prestigeverlust erlitten. Sein fetter Körper sackte zusammen, Speichel rann aus seinem Mund und er ließ seinen kahlen Kopf hängen. Er fürchtete, die schmähliche Niederlage könne dazu führen, dass er bei der nächsten Versammlung der Loge als Großmeister abgesetzt würde.

Mit jeder Minute, die verging, wurde sein Hass auf Benjamin erbitterter und erfüllte ihn mit neuer Energie. Sogleich machte er sich daran, hinter den Kulissen an diversen Strippen zu ziehen. Er schrieb einschmeichelnde Briefe an eine Reihe von Bischöfen, anderen ließ er dunkle und hochtrabende Worte über die Verhöhnung, den Spott und die Verdammnis zukommen, denen die Kirche durch den unwissenden Kurfürsten ausgesetzt worden sei.

Die nächste Zusammenkunft leitete von Uhrs mit einem theatralischen Manöver ein, um sein Scheitern zu überspielen und erneut Vertrauen zu gewinnen. Er behauptete, er habe Beweise dafür, dass der Jude Spinoza in Kontakt zu Dämonen stehe, die dem Herzog die Sinne verwirrt hätten.

Die Bischöfe waren sprachlos, einige blickten sich fragend an, als der Großmeister erklärte, der Beschluss des Herzogs sei von diesen Dämonen diktiert. Ein vorübergehender Rückschlag sei jedoch kein Grund zur Sorge. Was machen ein paar Monate mehr oder weniger aus, sagte er sich, wenn die Perspektive der Kirche die Ewigkeit ist?

Ein junger Bischof aus Regensburg war der Geistesgegenwärtigste in der Versammlung und schlug vor, den frechen Juden Spinoza als größten Feind der reinen Lehre in den deutschsprachigen Ländern zu bezeichnen. Darauf erklang Beifall. Mittels Abstimmung wurde einhellig beschlossen, dem Großmeister freie Hand zu lassen, auch wenn zwei ältere Bischöfe baten, behutsam und vorsichtig zu Werke zu gehen.

Zum Abschluss des Treffens sangen die Bischöfe mit Donnerstimme einen Lobgesang auf den Herrn.

EINBRECHER UND MEUCHELMÖRDER

Balthasar von Uhrs verlor keine Zeit und beauftragte umgehend zwei Einbrecher, die an einem Tag, als die Familie Spinoza abwesend war, in Benjamins Haus eindrangen. Sie wussten genau, wonach sie zu suchen hatten, und durchwühlten alle Zimmer, öffneten Schränke, zogen Schubladen heraus, kippten den Inhalt auf den Boden, fanden aber keine versteckten Schriften und kompromittierenden Aufzeichnungen. Mit leeren Händen mussten sie zu ihrem Auftraggeber zurückkehren.

Beim nächsten Treffen der Societas Jesu schärfte der Großmeister den verschworenen Bischöfen ein, dass fundamentale geistliche Werte auf dem Spiel stünden. Durch die Irrlehren des Juden Spinoza habe sich ein furchtbarer Abgrund aufgetan, und es sei die Pflicht der Frommen und Rechtgläubigen, diesem ungeheuerlichen Angriff auf Gottes wahre Lehre aufs schärfste entgegenzutreten. Er bedauerte zutiefst, dass der Jude nicht als warnendes Beispiel zum Scheiterhaufen geschleppt werden könne, und betonte die Notwendigkeit, die Daumenschrauben weiter anzuziehen. Daraufhin präsentierte er einen neuen Plan.

Die Prälaten lauschten aufmerksam. Manche nickten zustimmend ob der Weisheit des Führers.

Ein bayerischer Priester von beachtlichem Körperumfang stand auf und berichtete, in seiner Gemeinde sei ein Schwein mit sieben Beinen und nach hinten gedrehten Füßen geboren worden. Es könne sich um einen Vorboten zukünftiger Katastrophen handeln, die von dem tückischen Juden ausgelöst würden. Daher sprach er sich für den Plan des Großmeisters aus. Der Kollege neben ihm erhob sich und berichtete, in seiner Heimatstadt Köln habe eine ältere Frau eine Missgeburt zur Welt gebracht, die sowohl ein männliches Glied als auch eine weibliche Scham aufweise; das Glied sehe aus wie das eines Pferdes und die Scham wie eine große Schnecke. Außerdem sei der Körper des Neugeborenen mit Schuppen bedeckt. Ein dritter Bischof wusste zu erzählen, dass in seiner Gemeinde eine Nonne von Zwillingen entbunden worden sei. Dies sei der Höhepunkt des sittlichen Verfalls und müsse bekämpft werden, fügte er mit Nachdruck hinzu.

Einer der Bischöfe trat zu Balthasar von Uhrs, küsste ihm die Hand zum Zeichen seiner ergebenen Wertschätzung und verkündete, der Großmeister würde nicht nur diesen Kampf gewinnen, sondern auch alle anderen, die gegen die Feinde des katholischen Glaubens geführt werden müssten.

Spinozas Name sollte geächtet werden, darin waren die Versammelten sich einig. Nach dem Treffen forderten die Bischöfe die katholischen Priester im gesamten deutschsprachigen Raum auf, in ihrer nächsten Sonntagspredigt zu verkünden, der Philosophieprofessor in Freiburg stehe mit dem Teufel im Bunde und befehlige Dämonen, die ihm gehorchten.

Als Jude war Benjamin Freiwild und die ideale Zielscheibe für eine Kirche, die Andersdenkende verfolgte. Doch auch diese neue Unterstellung konnte seine Stellung an der Universität nicht erschüttern. Weder wurde er gezwungen, Abbitte zu leisten, noch von der Universität verwiesen.

Balthasar von Uhrs stand in glänzender Mitra im Freiburger Dom und zündete eine Kerze an. Sein Atem ließ die schwach brennende Flamme flackern, als er sich selbst versprach, nicht aufzugeben, bis Benjamin Spinoza in seinem eigenen Kot ruhte und seine Beschützer eines entsetzlichen Todes gestorben waren.

»Möge Gottes Gerechtigkeit ihre Leichen zu einem Festmahl für die Raubtiere und einem Schmaus für die Würmer werden lassen«, flüsterte er und küsste das Holzkreuz, das er um den Hals trug.

Danach setzte er sein konspiratives Werk fort, damit den hochwürdigen Vätern im Vatikan die Augen aufgingen für die Gefahr, die von dem aufmüpfigen jüdischen Philosophen ausging. In einem an die Kurie in Rom adressierten Brief führte der Großmeister eine Reihe von Beispielen für die ketzerischen Äußerungen Benjamins an – von denen er die Mehrzahl selbst erfunden hatte.

Der damalige Papst Clemens X. war ein Anhänger einfacher Lösungen: Forderten hohe Geistliche, dass ein Exempel statuiert werden müsse, sandte er einen Meuchelmörder aus. Nachdem er von Uhrs’ Dokumentation überflogen hatte, beschloss er, den gefährlichen Juden zum Schweigen zu bringen.

In den von Clemens X. hinterlassenen Aufzeichnungen, die in der Bibliothek des Vatikans verwahrt werden, kann man die Mordpläne an Benjamin, der als Teufel in Menschengestalt bezeichnet wird, nachlesen.

Ein italienischer Meuchelmörder im Dienst des Heiligen Stuhls wurde hinzugezogen. Er plädierte für Vergiftung, denn Benjamins Schwäche für Süßigkeiten war allgemein bekannt. In seinen Mantel hatte der Meuchelmörder ein Tütchen Arsen eingenäht, ohne das er nie auf Reisen ging. Er erklärte dem Großmeister, der Inhalt reiche aus, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Sorgfältig präparierte er einige mit Schokolade überzogene Stücke Gebäck, die von einem eigens angeheuerten Boten geliefert wurden. Doch der zerstreute Bote lieferte das Gebäck ins falsche Haus.

Am selben Abend verstarb der Dekan der Universität unter furchtbaren Schmerzen. Der plötzliche Todesfall sorgte in Freiburg für wilde Spekulationen.

GERECHTIGKEIT IN FREIBURG

In einer mondhellen Nacht wurde der italienische Meuchelmörder hinter dem Wirtshaus von drei mit Messern bewaffneten Männern überfallen, die es auf seinen Geldbeutel abgesehen hatten. Sein erster Impuls war zu fliehen, doch dann drehte er sich um und schlug einen der Männer bewusstlos. Dem zweiten versetzte er einen tiefen Messerstich in den Hals, und der Mann verblutete auf der Stelle. Der dritte lief zurück ins Wirtshaus und holte Hilfe. Der Meuchelmörder wurde überwältigt.

Niemand wusste, wer er war. Es war nur bekannt, dass er aus Italien kam, also musste man kein übertriebenes Verständnis oder Erbarmen an den Tag legen. An seiner Schuld bestand nicht der geringste Zweifel. Er war des Mordes an einem Freiburger Bürger angeklagt, und es war selbstverständlich, dass er gefoltert und gerädert werden würde.

Der Italiener wurde nackt auf den Boden geworfen und an vier Pfosten gebunden. Der Leiter des Verhörs ging in die Knie und fragte nach seinem Namen. Der Mann verweigerte die Antwort. Da beugte sich der Scharfrichter gelangweilt vor und legte ihm eine glühende Zange auf die Brust. Die Schreie des Italieners waren mehrere hundert Meter weit zu hören.

Der Leiter des Verhörs fragte erneut nach seinem Namen, erhielt aber keine Antwort. Da holte der Scharfrichter zwei glühende Zangen. Niemandem konnte die wahnsinnige Angst in den Augen des Italieners entgehen. Er wurde erneut mit der Glut behandelt, bis die Stellen an seinem Körper schwarz wurden. Es schien, als hätte er das Bewusstsein verloren. Die Folterkammer stank nach dem verbrannten Fleisch. Der Gehilfe des Scharfrichters goss eimerweise kaltes Wasser auf den Italiener, und dieser kam wieder zu Bewusstsein.

Der Scharfrichter machte sich bereit, ihn aufs Neue mit den glühenden Zangen zu traktieren. Als der Italiener sah, wie sie sich seinem Brustkorb näherten, übermannte ihn die Angst. Er versuchte, sein Leben zu retten, indem er sprach. Langsam öffnete er den Mund und gestand, ein Meuchelmörder zu sein. Er habe das Leben vieler Menschen auf seinem Gewissen, aber er töte nur im Auftrag anderer, nie aus Vergnügen. Er gestand, aus Versehen den Dekan vergiftet zu haben und Benjamin Spinoza erdolchen zu sollen.

Der Leiter des Verhörs fragte ihn nach seinem Auftraggeber. Der Italiener erwiderte, er sei nur ein Werkzeug des Schicksals, das weder von Gott noch von Menschen gerichtet werden könne. Der Scharfrichter hob wieder die Zange. Da wurde ein schwaches Flüstern vernehmbar: »Balthasar von Uhrs.«

Der Leiter des Verhörs gab dem Scharfrichter ein Zeichen, der das Rad nahm und es ein paarmal über den Körper des Italieners rollen ließ. Der Schmerz war so unsäglich, dass der Meuchelmörder meinte, das Gehirn quelle ihm durch die Pupillen heraus. Der Scharfrichter ließ das Rad fallen und zerschmetterte ein Schienbein des Opfers. Der Rücken des Italieners krümmte sich im Krampf und sein Körper hob sich zu einem Bogen. Aber er schrie nicht. Doch aus seiner Kehle drangen Ächzlaute. Der Scharfrichter brach das andere Bein, danach auch die Arme. Schließlich senkte sich das Rad über den Hals des Italieners. Es wurde vollkommen still in der Folterkammer.

Der Leiter des Verhörs wandte das Gesicht ab. Anscheinend war er an derlei Vergnügen nicht gewöhnt, denn er erbrach sich.

BESCHÜTZUNG UND HIRNGESPINSTE

Benjamin wurde zum Polizeipräfekten beordert und erfuhr, dass ein italienischer Mörder ihn habe töten sollen, jedoch ergriffen und hingerichtet worden sei. Benjamin erschrak. Er konnte nicht verstehen, warum jemand ihm nach dem Leben trachtete.

In der Nacht tobte ein Gewitter über Freiburg. Grelle Blitze erleuchteten den Himmel. Benjamin lag schlaflos, von schrecklichen Phantasien heimgesucht. Sobald er die Augen schloss, sah er einen dunkel gekleideten Meuchelmörder durch die Tür hereinkommen. Der Gedanke an den Italiener ließ ihm keine Ruhe.

Jahre später sollte Benjamin beschreiben, wie er in dieser Nacht zum ersten Mal durch die öde und finstere Landschaft des Wahnsinns wanderte, in der mystischer Nebel sein Gehirn umwölkte, sein Denken verzerrte, ihn in eine Besessenheit trieb und ihn zwang, sich im Teufelskreis seiner Ängste zu drehen.

Niemand im Lande war mächtiger als der Herzog von Hohenkrampen. Er war ein aufgeklärter absoluter Herrscher, dem es nicht an Kenntnis der Philosophie mangelte. René Descartes war drei Jahre lang sein Hauslehrer gewesen. Der Kurfürst war Benjamin wegen seiner Schriften über Toleranz gewogen, die seinen Intellekt stimulierten und an sein Herz rührten. Der Herzog versprach, Benjamin durch seine eigene Leibgarde zu schützen.

Doch Benjamins Nerven waren in Unordnung geraten. Für ihn gab es keinen Zweifel: Jemand war darauf aus, ihn zu töten.

Jede Nacht erwachte er und fühlte, wie ein Messer in seinen Körper eindrang. Lag er auf dem Rücken, traf ihn das Messer in den Bauch oder in den Hals. Lag er auf dem Bauch, traf das Messer des Meuchelmörders ihn im Rücken.

Auch am Tage verfolgte ihn die Panik, von einem Messer durchbohrt zu werden. Oft fuhr er instinktiv mit der Hand zum Hals, wie um sich zu schützen. Sobald er sein Haus verließ, befiel ihn die Angst. Als eine Vorsichtsmaßnahme ließ er seinen Bart und den Schnurrbart wachsen und verkleidete sich, um von dem wartenden Mörder auf der Straße nicht erkannt zu werden.

Um sein bedrohtes Leben zu retten, begann Benjamin – dieses friedlichste aller Wesen – davon zu phantasieren, den dunkel gekleideten Meuchelmörder zu töten. Er malte sich aus, wie er akribisch und rachelüstern den tückischen Italiener umbrachte. Einmal benutzte er eine Axt, ein andermal ein Messer. Immer aber waren seine Hiebe tödlich. Mit der Zeit wurden Benjamins Phantasien und Tagträume immer grausiger. Er sah sich selbst, wie er dem Mörder den Kopf abtrennte und die Eingeweide herausriss. Eines Nachts sah er, wie er die dunkle Gestalt vom Kirchturm hinabstieß, und hörte das Geräusch des auf den Sandsteinplatten aufschlagenden Schädels. In einer Gewitternacht ließ er einen Blitz auf den Mörder herabfahren und Flammen seinen Körper verschlingen.

Benjamin fand keinen Frieden. Der Italiener musste getötet werden, das Schicksal der Welt hing davon ab. Bald reichte es nicht mehr aus, den Meuchelmörder zu töten. Der dunkel gekleidete Italiener musste zu nichts werden. Auch die Erinnerung an ihn, das Wissen, dass er auf dieser Erde existiert hatte, musste ausgelöscht werden.

NEUNUNDZWANZIG JAHRE EINSAMKEIT

Benjamins Arbeitsraum hatte zwei Fenster, die aus je zwanzig bleigefassten kleinen Scheiben bestanden und zum Innenhof hinausgingen. In dem halbdunklen kleinen Raum befanden sich ein Bett, ein Stuhl, ein wackliges Pult und ein Bücherregal.

Neunundzwanzig Jahre irrte Benjamin hier umher. Er verließ dieses Zimmer nie mehr, auch nicht zu Bentos oder Mafaldas Begräbnis. Der dunkel gekleidete Mörder vor der Tür machte ihm Angst.

Nach Mafaldas Tod war Benjamin allein im Haus, in dem gespenstisches Schweigen herrschte. Nur ein alter Diener erschien jeden Tag gegen zwölf Uhr, schob ihm Nahrung durch eine Klappe in der Tür und leerte sein Nachtgeschirr. Durch die Klappe drang ein zäher und modriger Geruch aus der Kammer nach draußen.

In all diesen Jahren öffnete Benjamin nur einer einzigen lebenden Person die Tür. Es war im Herbst 1692. Der Besucher wurde von dem alten Diener ins Haus gelassen und flüsterte kaum hörbar seinen Namen durch die Klappe. Die von innen verriegelte Tür wurde aufgerissen. Benjamin hatte lange auf diesen Besuch gewartet.

Benjamin begann sogleich zu reden und erzählte dem Besucher, er habe seit neunzehn Jahren mit niemandem gesprochen. Die Nebel des Wahnsinns hätten ihn umschlossen und er sei unfähig gewesen zu verstehen, was ihm geschah. Er sei ziellos in diesem kleinen Raum herumgeirrt. Die Tage seien zu Jahren geworden, ohne dass er es gemerkt habe.

Aber im zwölften Jahr sei etwas Eigentümliches geschehen, das ihm eine Gänsehaut verursacht habe. Mitten am Tage wurde es vollkommen dunkel, und Balthasar von Uhrs offenbarte sich im Raum. Der Großmeister ging siebenmal um ihn herum und musterte ihn. Dann blieb er stehen, und sie betrachteten einander schweigend. Benjamin war von Uhrs vorher nie begegnet. Er reagierte darauf, dass ein schrecklicher Gestank aus dem Mund des Großmeisters drang, als dieser erklärte, ihr Verhältnis reiche viele Leben zurück und beruhe auf einem konflikterfüllten Geschehen zur Zeit Jesu in Galiläa. Er fügte noch hinzu, er habe nie etwas von dem bereut, was er gegen Benjamin getan habe, und sie würden sich in einigen hundert Jahren wiedertreffen. Dann verschwand von Uhrs, und der Italiener, der vor der Tür gewartet hatte, ging mit ihm.

In dieser Nacht wurde der Himmel klar, und der Mond erleuchtete das Zimmer. Als die Dämonen verschwunden waren, hob sich auch der Nebel in Benjamins Kopf. In dieser Nacht verstand er, dass eines Tages ein Mann kommen würde, um ihm den rechten Weg zu zeigen.

»Sieben Jahre habe ich auf diesen Mann gewartet«, sagte Benjamin, »immer habe ich versucht, an ihn zu denken als an einen Freund, einen Vertrauten, der Trost und Ruhe schenkt und mir hilft, den Sinn meines Lebens zu verstehen, zu verstehen, was das Ziel all der Entscheidungen war, die ich getroffen habe, oft aus Angst, manchmal aus Eitelkeit, selten aus Klugheit. Ich bin nicht einen Abend eingeschlafen, ohne mir ihn als jemanden vorzustellen, der auf mich gewartet hat, als einen Angehörigen, der am Bett eines Kranken gewacht und darauf gewartet hat, dass ich gesund würde und dessen würdig, ihm zu begegnen. Ich habe diesen Raum nicht verlassen, weil ich diese Begegnung als das unausweichliche Ziel meines Lebens gesehen habe.«

DAS GROßE GESCHENK

Der Besucher sagte lächelnd, der einzige auf der Welt, der ihn verstehen könne, sei Benjamin. Dann verriet er seinen Namen: Salman de Espinosa – auch der Wandernde Jude genannt. Seit über dreihundertfünfzig Jahren narre er den Tod, lange Reisen auf vier Kontinenten hätten ihn sechsunddreißig Sprachen gelehrt, zahlreiche Menschenalter hätten ihm enzyklopädisches Wissen geschenkt, welches er jetzt an Benjamin weitergeben wolle. Der Tod habe ihm alle genommen, die er geliebt habe, weshalb er dessen erbitterter Feind gewesen sei. Doch nunmehr seien sie versöhnt, der Tod und er, und in weniger als zweiundsiebzig Stunden würden sie endlich vereint sein. Er habe berechnet, wie man die Wirkung des Elixiers der Unsterblichkeit aufheben könne.

Benjamin bat ihn, alles, was er wisse, zu erzählen, denn die Zeit sei knapp.

Salman erzählte von Baruch, der als junger und unerfahrener Mann Moses begegnet war, einen Auftrag bekommen und sein Vaterhaus verlassen hatte, ein mächtiges Schwert auf dem Schlachtfeld geschwungen hatte und zum Leibarzt des portugiesischen Königs ernannt worden war; er erzählte, dass Baruchs Medizin alte Männer in virile Stiere verwandeln konnte und dass er zum Gedenken an die große Liebe seines Lebens die Pflanze Raimundo gezüchtet hatte.

Salman erzählte von dem großen Geheimnis, dem Elixier der Unsterblichkeit, das vom Vater auf den Sohn vererbt wurde: von Baruch auf Simon, von Simon auf Amos, von Amos auf Shlomo, von Shlomo auf Israel.

Salman erzählte von Israel, dem Leibarzt, der zwölf Töchter bekam, bevor sein ersehnter Sohn geboren wurde; der beinahe dreißig Jahre nicht mit seiner ältesten Tochter Leah sprach, weil sie hellseherisch war und einen Schandfleck auf dem Namen der Familie vorhergesagt hatte; der nach dem Tod seines Sohnes eine Geheimschrift entwickelte, um das Geheimnis seinem zweijährigen Enkel weitergeben zu können.

Salman erzählte von Chaim, dem jungen Arzt in Granada, der infolge einer moralischen Verirrung seinen Herrscher, den ehrfurchtgebietenden Sultan Muhammed II., vergiftete, in der Hoffnung, Leibarzt eines Tyrannen zu werden; dass der neue Sultan ihn brutal hinrichtete und sein Herz den Hunden zum Fraß hinwarf.

Salman erzählte von seinem Vater, dem Kabbalisten Moishe, der sich nichts aus dem Familienauftrag machte, das große Geheimnis zu hüten, sondern sein Leben der Erforschung der Geheimnisse des Universums und der Deutung des Widerscheins fremder Welten am Himmelsgewölbe widmete; der ein bahnbrechendes Werk über jüdische Mystik hinterlassen hatte.

Salman erzählte von seinem eigenen Leben als Mann, der weder Jude noch Muslim war; von der Flucht aus Granada nach dem Tod der Eltern; von der Begegnung mit dem Rabbiner Tibbon, dessen Leben er nicht retten konnte; warum er das verbotene Elixier zubereitete und davon kostete; was ihn dazu drängte, unsterblich zu werden; von seiner Ehe und seinem Leben in Sevilla; von den hundert Jahren, in denen er kreuz und quer durch Spanien wanderte; von dem missglückten Mordversuch am Großinquisitor Torquemada; wie er in Sevilla auf den Scheiterhaufen geworfen wurde, aber den Flammen entstieg, ohne dass ein einziges Haar auf seinem Kopf von den Flammen versengt worden wäre.

Salman erzählte, wie er als der hebräische Dolmetscher von Christoph Kolumbus – in der Nacht des Jahres 1492, in der die Juden aus Spanien vertrieben wurden – mit dem Schiff Santa Maria nach Westen segelte, um ein neues Land zu suchen, in dem Juden leben konnten; von der langen Reise über den Atlantik; von der Landung auf den Westindischen Inseln und der Begegnung mit den Eingeborenen, die fehlerfrei Hebräisch sprachen; von dem Spanier Hernán Cortés, der mit einer Truppe von vierhundert Mann das weitläufige Reich Montezumas eroberte; von der Jagd nach dem Gold Mexikos und dem grausamen Vorgehen der Konquistadoren, neben denen die Männer der Inquisition wie unschuldige Chorknaben gewirkt hätten.

Salman erzählte von seiner Rastlosigkeit; dass er nie länger als ein paar Monate an einem Ort geblieben sei; dass er als Rabbiner, Handwerker, Lehrer, Leibarzt, Buchdrucker, Künstler und königlicher Ratgeber gearbeitet habe; dass er die schneebedeckten Hochplateaus der Anden bestiegen, die Sandwüsten der Sahara durchquert, zusammen mit heiligen Männern im Ganges gebadet, seine Kleider im Chinesischen Meer gewaschen habe und der Liebhaber der jungen Frau eines gealterten russischen Gouverneurs in Sibirien gewesen sei; dass er alles Unglück, alles Leid, alle Krankheiten und Ungerechtigkeiten des Lebens, Erdbeben, Überschwemmungen, Hungersnöte, Pest und Cholera erfahren habe.

Salman erzählte, wie er aus der Distanz seinen eigenen Nachkommen aus Spanien nach Portugal und von dort weiter nach Holland gefolgt war; dass er, der Tage und Jahre überdrüssig, darauf gewartet habe, in der Familie Spinoza eine Person zu finden, die ihn verstehen und das schwere Erbe weiterführen könnte, das Moses der Familie einst überantwortet hatte.

»Ich biete dir kein ewiges Leben oder Erlösung an«, sagte Salman. »Ich biete dir Wissen an, das du bearbeiten und zusammenstellen, verwalten und weitergeben sollst. Ich habe an meinem Wissen viel Freude gehabt, auch wenn es mir nicht gelungen ist, die Welt zu verändern, die Dummheit und das Böse zu besiegen, den Menschen Würde und Gerechtigkeit zu geben, auch wenn ich nicht fähig war, Heldentaten zu begehen und einem Mitmenschen das Leben zu retten. Doch ich habe keinen Anlass zur Verzweiflung, denn ich weiß, dass du und diejenigen, die nach mir kommen, erfolgreicher sein werden. Nimm dies entgegen, Benjamin Spinoza, sodass ich in Frieden sterben kann.«

Aus seinem Beutel zog er die Schriften seines Vaters, das siebte Buch Mose, das er selbst verfasst hatte, und das Rezept für das Elixier der Unsterblichkeit, wie es von seinem Urgroßvater Israel aufgezeichnet worden war, und überreichte alles Benjamin.

»Es steht außer jedem Zweifel, dass dies Gottes heller Tag ist und kein Traum«, erwiderte Benjamin. »Ich nehme deine Gabe an, und lasse dieses Licht des Wissens in mich eindringen und jeden Teil meines Körpers erleuchten. Das warme und wohltuende Licht deiner Gabe hat mein Herz bereits schneller schlagen und mein Blut schneller fließen lassen.«

»Mein Sohn«, sagte Salman. »Eine Stunde bevor ich zu dir gekommen bin, habe ich sieben Tropfen des Elixiers der Unsterblichkeit getrunken, die ich sorgfältig präpariert hatte. Die zweite Kur hebt die erste auf. Ich bin nicht sicher, was geschehen wird, aber meinen Berechnungen zufolge wird sich dieser Körper, in dem ich mehr als dreihundertfünfzig Jahre zu Hause war, binnen zweiundsiebzig Stunden auflösen. Ich spüre, wie die Haut über dem Brustkorb so dünn geworden ist, dass man hindurchsehen kann. Jetzt muss ich dich verlassen. Wir sehen uns in der Ewigkeit wieder.«

Benjamins Augen füllten sich mit Tränen. Sie umarmten sich. Dann verließ Salman de Espinosa den kleinen Raum und brach zu seiner letzten Wanderung auf.

BENJAMINS LETZTE TAGE

Die letzten zehn Jahre seines Lebens widmete Benjamin der Niederschrift des Elixiers der Unsterblichkeit. Obwohl er sich dessen bewusst war, dass das Buch nur von wenigen Menschen gelesen werden würde, sparte er keine Mühe, weder im Gedanklichen noch im Stilistischen, um ein Meisterwerk zu schaffen.

Er widmete die Arbeit seinen vier Söhnen, auch wenn nur Aron, der älteste, es lesen durfte. Er schrieb: »Dies ist euer Hintergrund. Die Zukunft liegt bei euch.«

Wie starb Benjamin Spinoza?

Immanuel Kant macht geltend – in seinem Werk Träume eines Geistersehers –, dass er sich an einem Apfelbaum erhängte. Dagegen vertritt Bertrand Russell die Auffassung, er sei an den Folgen eines Oberschenkelhalsbruchs gestorben, und Isaiah Berlin schreibt in einem Brief an einen israelischen Kollegen, er sei in der Nordsee ertrunken. Marx und Engels behaupten, er sei im Gefängnis gestorben. Das Gleiche meint Lenin, der darüber hinaus erklärt, er sei von der Inquisition zu Tode gefoltert worden.

Über die Ursache von Benjamins Tod streiten die Gelehrten weiter.

ZWEI GEMÄLDE

Es hat zwei Ölgemälde gegeben, auf denen Benjamins Gesichtszüge für die Nachwelt abgebildet waren. Das eine Gemälde heißt Der Philosoph B. Spinoza und ist von dem Maler Michael Lukas Leopold Willman signiert, der ein großer Bewunderer Michelangelos war. Es wurde von der Universität in Freiburg bestellt und Anfang der 1670er Jahre geliefert; das genaue Datum ist unbekannt. Das Bild hing im linken Flügel der philosophischen Fakultät.

In den 1930er Jahren wehten neue Winde im Deutschland des Nationalsozialismus. Menschen mit jüdischem Hintergrund wurden nach und nach aus der Gesellschaft ausgeschlossen und ihrer Bürgerrechte beraubt. Im Jahre 1933 übernahm Martin Heidegger das Amt des Rektors der Universität Freiburg. Viele knüpften Hoffnungen an den großen Philosophen der abendländischen Metaphysik. Manch einer träumte davon, Freiburg könne ein Zufluchtsort für das freie Denken bleiben.

Wenige wussten, dass der neue Rektor eingetragenes Mitglied der nationalsozialistischen Partei war. Die Abende widmete Heidegger dem Verfassen von Traktaten über den Humanismus und die Sache des Denkens. Tagsüber setzte er sich für umfassende Veränderungen ein, die sich mit der Weltauffassung des neuen deutschen Führers Adolf Hitler deckten. Er entließ jüdische Hochschullehrer und unterzog die Professoren regelrechten Verhören bezüglich ihrer Ansichten und Loyalitäten und ihrer Kontakte mit Juden. Er ließ alle Porträts von Personen abnehmen, deren arischer Stammbaum nicht dokumentiert werden konnte. Systematisch wurden jüdische Bücher aus der Bibliothek entfernt. Die Bücher wurden zusammen mit den Bildern auf Scheiterhaufen verbrannt, als Geste der Huldigung an den reinen deutschen Geist.

Benjamins Porträt landete jedoch nicht auf dem Scheiterhaufen.

Mein Großonkel erzählte uns, dass ausgerechnet Hermann Göring Benjamin vor den Flammen bewahrt habe. Der Reichsmarschall liebte die Kunst und war einer der größten Sammler seiner Zeit. In seinem Sommersitz nördlich von Berlin, den er nach seiner verstorbenen schwedischen Ehefrau Carinhall nannte, waren die Wände über und über mit einzigartigen Kunstwerken geschmückt. Alles war gestohlen, hauptsächlich aus geplünderten jüdischen Häusern und Wohnungen im von den Nazis okkupierten Europa.

Benjamins Porträt hing zehn Jahre im Arbeitszimmer des Reichsmarschalls in Carinhall.

Nach dem Fall des »Tausendjährigen Reiches« landete das Bild auf verschlungenen Wegen in der Sowjetunion, wo es in der geräumigen Datscha des Generals Arkadij Bondartjuk am Schwarzen Meer auftauchte.

Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte Bondartjuk in Moskau Philosophie studiert. Mit großem Interesse hatte er die Ethik gelesen und viel Zeit auf die Beschäftigung mit Fragestellungen verwendet, die sich um Gut und Böse drehten. Er war ein großer Bewunderer von Bento Spinoza und glaubte, das Porträt stelle den Verfasser der Ethik dar.

Für seine Verdienste bei der Einnahme Berlins wurde der General später mit der höchsten Tapferkeitsmedaille des Arbeiterstaats dekoriert. Die Medaille wurde unter rauschendem Beifall während einer feierlichen Zeremonie im Kreml von Stalin verliehen, der Bondartjuk seinen »Lieblingsgeneral« nannte.

Vier Jahre später wurde der General verräterischer Kontakte zur CIA und des Diebstahls staatlichen Eigentums bezichtigt. Niemand widersprach, als Stalin seinen »Lieblingsgeneral« hinrichten ließ. Der Verräter, der eigentlich Aron Bronstajn hieß und ein Neffe dritten Grades von Trotzki war, hatte jüdische Wurzeln.

Der Tod des Vier-Sterne-Generals war auch der Auftakt zur letzten großen Säuberungsaktion des sowjetischen Diktators. Hunderte jüdische Ärzte wurden ermordet und die jüdische Kultur im Land wurde vernichtet, bevor Stalin selbst mit seinem Schreckensregime ins Grab sank.

Benjamins Porträt verschwand spurlos, zusammen mit anderen Kunstwerken, aus der Datscha des hingerichteten Generals.

Das zweite Gemälde hängt im Rijksmuseum in Amsterdam und ist Caravaggio in Gesellschaft der Familie Spinoza betitelt. Ganz unten rechts auf der Leinwand steht die Signatur des Künstlers: Rembrandt.

Hier ist Benjamin sieben Jahre alt. Er hat blaue Augen, sorgfältig gescheiteltes lockiges schwarzes Haar und eine unwahrscheinlich große Nase, die das Gesicht dominiert. Das warme Lächeln verrät eine Offenheit, als wollte das Kind allen Menschen erzählen, dass die Welt voller Freude und Schönheit sei.