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Freitag, 9. September 1836
Richmond, Virginia

John Duvoisin sah zu, wie sich die Raven langsam vom Anleger entfernte. Als die Schlepper die Leinen lösten, verlor das Schiff plötzlich an Geschwindigkeit und schien einen Moment lang unentschlossen innezuhalten. Im nächsten Augenblick bauschten sich die Segel im Wind, und ein Stöhnen ging durch den Rumpf, als der Bug in die Strömung des James River eintauchte und auf sein Ziel zusteuerte – auf drei kleine Inseln namens Les Charmantes, die in den Gewässern der nordöstlichen Westindischen Inseln lagen. Die Inseln galten gemeinhin als Grundstock des Reichtums der Duvoisins. Für John bedeuteten sie jedoch weit mehr als nur das. Er behielt den Segler fest im Blick, während sein Herz dem gewundenen Lauf des Flusses folgte. Inzwischen war die Raven nur noch so groß wie ein Spielzeug, doch John starrte ihr unverwandt nach, als ob er sich durch bloßes Hinsehen auf ihr Deck versetzen könnte. Eine bittere Enttäuschung hatte ihn am heutigen Morgen daran gehindert, das Schiff zu besteigen – und nun machte er sich Vorwürfe, weil er nichts unternommen hatte. Der Kampf in seinem Inneren erreichte seinen Höhepunkt, als die Raven nach der Flussbiegung außer Sicht geriet. Mit steifen Fingern fuhr er durch sein zerzaustes Haar, als ob die Geste seine Gedanken ordnen könnte, dann drehte er sich um, ohne das geschäftige Leben am Kai überhaupt wahrzunehmen. Er bestieg sein Pferd, trieb es zwischen den Menschen hindurch und ließ die Gedanken an die Raven und die Inseln im Hafen zurück.


»Wir bewegen uns! Endlich!«, rief Charmaine, während sie durch das Bullauge der kleinen Kabine nach draußen starrte. Mit triumphierendem Lachen drehte sie sich zu Loretta um, die zufrieden auf einem am Boden festgeschraubten Sessel thronte. »Wollen Sie sich das nicht ansehen?«

»Nein, danke, Liebes.« Loretta lächelte. »Ich verlasse mich darauf, dass das Schiff seinen Weg allein findet, und hoffe, dass mein Magen sich anständig benimmt.« Die Seekrankheit war der einzige Einwand, den sie gegen diese Reise vorzubringen hatte. Aber Charmaine nahm alle Unannehmlichkeiten in Kauf, die während der nächsten vier oder fünf Tage vielleicht auf sie zukamen. Tatkräftig, wie sie war, wandte sich Loretta dem Nächstliegenden zu. »Was hältst du davon, wenn wir dein Vorstellungsgespräch ein wenig üben, Charmaine? Es würde mich außerdem von der Schaukelei ablenken.«

»Aber ich fühle mich bestens vorbereitet«, antwortete Charmaine. Trotzdem nahm sie den Vorschlag an und setzte sich zu der Frau, die ihr in den letzten Jahren zur zweiten Mutter geworden war …

Es war fast drei Jahre her, seit die Harringtons sie bei sich aufgenommen hatten. Als Marie Ryan einsehen musste, dass sie ihre Tochter nicht davon abhalten konnte, ihr Elternhaus zu verlassen, redete sie mit den Harringtons. Joshua Harrington mochte das lebhafte Mädchen sofort. In den großen braunen Augen erkannte er eine Willenskraft, wie sie bei Fünfzehnjährigen selten war, und aus ihren Worten schloss er, dass sie sehr genau zwischen Gut und Böse unterscheiden konnte. Bereits nach dem ersten Treffen war er sicher, dass er die richtige Gesellschaft für seine Frau gefunden hatte. Vielleicht konnte ihr das Mädchen sogar die Tochter sein, die sie nie gehabt hatte.

Es dauerte keine zwei Wochen, bis alles abgemacht war und Charmaine Ryan ihr altes Leben zurückließ und ein neues begann. Mit all ihren Habseligkeiten zog sie in das hübsche, weiß verputzte Haus der Harringtons, das im Villenviertel von Richmond lag, wo sie die Woche über lebte. Ihre Eltern besuchte sie nur noch an den Wochenenden.

Dass ihre Mutter von nun an ganz allein für sich sorgen musste, war das Einzige, was Charmaine auch weiterhin bedrückte. Aber Marie verbrachte mehr und mehr Zeit in St. Jude, fand Trost in ihrer Arbeit und war froh und glücklich, wenn sie sich die Sorgen fremder Menschen anhören konnte. Als ihre Mutter an einem Wochenende ungewöhnlich schweigsam war, vermutete Charmaine, dass etwas Marie bedrückte, doch die gab keine Einzelheiten preis. »Ich habe immer gedacht, dass nur die Armen leiden. Aber das war ein Irrtum. Vielleicht gilt ja sogar der Satz: Je größer der Reichtum, desto tiefer der Schmerz.«

Es dauerte keinen Monat, bis John Ryan der »Wohltätigkeitsarbeit« von Charmaine einen Riegel vorschieben wollte. Doch Charmaine war entschlossen, seine Pläne zu durchkreuzen. Sie dankte dem Himmel, dass ihr Lohn höher war, als ihr Vater erwartet hatte, und dass sie so schlau gewesen war, heimlich die Hälfte davon zu sparen. In dieser bedrohlichen Lage bestand sie darauf, dass ihre Mutter das Geld annahm. »Mach ihm weis, dass die Kirche deine Arbeit bezahlt«, riet sie ihr in verschwörerischem Ton. »Dann wird er einverstanden sein, dass du auch weiterhin dort arbeitest.« Und so war es. Kaum dass die Münzen in seiner Hand klimperten, verstummten die Beschwerden.

Unter dem Dach der Harringtons fühlte Charmaine sich geborgen und konnte aufatmen. Mr. Harrington behandelte seine Frau mit Respekt und Bewunderung. So wie er sollten eigentlich alle Männer sein, dachte Charmaine. Entsprechend treu ergeben war ihm seine Frau. Nie kam ein hartes Wort über ihre Lippen, und unter ihrer Zuneigung und Fürsorge blühte Charmaine sichtlich auf.

»Für mich bist du weit mehr als nur eine Gefährtin«, hatte Loretta noch vor Ablauf des ersten Jahres zu Charmaine gesagt. »Für mich gehörst du zu unserer Familie.«

Charmaine glaubte das von Tag zu Tag mehr. Doch wenn die Söhne zu Besuch kamen, bedrückte es sie, den liebevollen Umgang zwischen den Männern und ihren Frauen, zwischen Kindern und Eltern und Vätern und Töchtern zu beobachten. Obwohl sie wie selbstverständlich dazugehörte, fühlte sie sich fremd. Solange ihre Eltern lebten und sie daran erinnerten, wer sie war, gehörte sie nicht wirklich zu dieser liebenvollen Familie.

Zwei Jahre lang verschwieg Charmaine den Harringtons ihre Herkunft, weil sie fürchtete, ihre Sachen packen zu müssen, wenn alles ans Licht kam. Marie Ryan war zwar eine Seele von Mensch, aber nichtsdestotrotz war sie nur eine Waise, deren einziges Glück im Leben darin bestanden hatte, vor dem Waisenhaus von St. Jude aufgefunden und in diesem Haus erzogen worden zu sein. Maries Eltern waren vermutlich um kein Haar besser als die Eltern ihres Mannes – und für die vornehmen Bürger von Richmond zählte John Ryan zu dem weißen Abschaum.

Loretta und Joshua Harrington fragten sich oft, warum Charmaine nach den Tagen, die sie bei ihrer Familie verbrachte, so nachdenklich und schweigsam war. Sie spürten, dass Charmaine litt, doch sie wollten dem Mädchen Zeit geben, um ihre Scheu zu überwinden. Aber die Zeit war nicht auf Charmaines Seite.

An einem Wochenende herrschte John Ryan seine Tochter plötzlich an: »Du arbeitest jetzt seit zwei Jahren für die Harringtons. Wann zahlen die dir denn endlich mehr Lohn?«

Charmaines Lohn war längst erhöht worden, doch da sie das Geld nach wie vor mit ihrer Mutter teilte, hatte sie den zusätzlichen Betrag für sich selbst gespart.

»Ich werde mit ihnen reden«, versprach Charmaine, ohne lange nachzudenken, was ihren Vater zu beruhigen schien.

Aber dem war nicht so, denn die Antwort hatte sein Misstrauen geweckt. Fast eine Woche lang dachte John Ryan nach, und am Freitagabend beschloss er, der Sache auf den Grund zu gehen. Mit einer Flasche Whisky trank er sich Mut an, bevor er auf unsicheren Beinen zum Haus der Harringtons schwankte und mit den Fäusten gegen die Tür hämmerte. Als das Hausmädchen öffnete, drängte er sie zur Seite und verlangte, Joshua Harrington zu sprechen.

»Ich will wissen, wie viel Sie meiner Tochter zahlen«, lallte er, als der Hausherr erschien. »Außerdem hole ich von heute an das Geld persönlich ab. Ich lasse mich nicht länger um mein Recht betrügen!«

»Sie sind ja betrunken, Mann!«

»Da haben Sie ausnahmsweise recht. Aber ich verrate Ihnen eines: Ein Mann sieht nur klar, wenn er betrunken ist. Ich weiß genau, dass Haley ihren Dad bescheißt. Aber nicht mit mir! Verstanden?«, rief er.

»Gehen Sie nach Hause, Mann, und schlafen Sie Ihren Rausch aus«, schimpfte Joshua. Er packte John Ryan am Ellenbogen und zog ihn zur Tür. »Wenn Sie nüchtern sind, können wir gern weiterreden.«

»O nein, nicht mit mir«, protestierte Ryan und riss sich los. »Ich weiß, was Sie planen. Diese Verschwörung ist vermutlich Ihre Idee. Ich will das Geld, das man mir vorenthält – und zwar sofort!« Er wollte Harrington an den Rockaufschlägen packen, doch er verlor das Gleichgewicht und stolperte gegen die Wand.

Mr. Harrington riss die Haustür auf und sagte leise und schneidend: »Ich halte keinen Lohn zurück. Natürlich muss mit Ihrer Tochter geredet werden, doch dies ist weder die Zeit noch der Ort dafür. Charmaine schläft bereits, und ich bitte Sie noch einmal höflich, nach Hause zu gehen und Ihren Rausch auszuschlafen.« Er wies ihm die Tür.

»Wenn Sie nichts damit zu tun haben, steckt sicher meine Frau dahinter. Ich hätte wissen müssen, dass sie mich belügt«, brummelte John Ryan vor sich hin, während er sich schlurfend aus dem Staub machte.

Charmaine hatte nichts von der unerfreulichen Szene mitbekommen, und Joshua Harrington beschloss, ihr diesen Kummer zu ersparen. Doch als der nächste Montag kam und Charmaine nicht vom Besuch bei den Eltern zurückkehrte, bereute er seinen Entschluss. Auch Loretta sorgte sich, weil sie nicht einmal wussten, wo die Ryans wohnten oder wie sie die Familie erreichen konnten. Als ein weiterer Tag ohne Nachricht von Charmaine vergangen war, suchte Joshua Father Michael in St. Jude auf. Schließlich hatte der Priester die Begegnung zwischen Marie und den Harringtons vermittelt. Aber Father Michael wusste auch nicht, wo die Ryans wohnten. Als Mr. Harrington ihm von den Beschimpfungen des Betrunkenen berichtete, wuchs seine Sorge. Marie war seit vier Tagen nicht mehr in St. Jude erschienen. Der Priester vermutete schon länger, dass Maries Ehe nicht glücklich war, doch wenn er sie wegen der blauen Flecken befragte, die sie sich häufig über Nacht zuzog, wischte sie seine Bedenken mit Ausflüchten beiseite. »Ich bin nur gefallen … Ich bin wirklich sehr ungeschickt.« Father Michael befürchtete zwar, dass dies nicht der Wahrheit entsprach, doch was konnte er tun? Heute jedoch schob sein Zorn das Gelübde beiseite, das er vor fünfundzwanzig Jahren abgelegt hatte. Falls dieser John Ryan Marie und Charmaine etwas angetan hatte …

Am späten Mittwochabend fasste sich Charmaine ein Herz und kehrte zu den Harringtons zurück. Ihre Mutter war tot. Stockend beschrieb sie das erbärmliche Leben, das sie unter dem Dach ihres Vaters gefristet hatte, und wie sie am vergangenen Wochenende ihre Mutter bewusstlos auf dem Boden vorgefunden hatte. Obgleich ihr Vater nirgends zu finden war, wusste Charmaine sofort, was passiert war. Sie war aus dem Haus gerannt und hatte um Hilfe geschrien, und Nachbarn hatten sich ihrer erbarmt und den Arzt gerufen. Drei Tage lang hatte sich Marie noch ans Leben geklammert, hatte ab und zu schreckliche Laute hervorgestoßen und ihren Mann angefleht, endlich aufzuhören. Und Charmaine hatte geweint, als sie begriffen hatte, dass ein Streit über ihren Lohn der Anlass für die verhängnisvollen Prügel gewesen war.

Gleich am nächsten Morgen suchte Joshua den Sheriff auf und verlangte, John Ryan zu verhaften. Da Mr. Harrington zu den angesehenen Bürgern der Stadt gehörte, war der Haftbefehl nur eine Frage der Zeit. Falls sich John Ryan noch in der Gegend aufhielt, würde man ihn fassen.

Tags darauf wurde Marie nach einer Trauerfeier, der nur die Harringtons und Maries Freunde aus St. Jude beiwohnten, beigesetzt. Viele der Anwesenden weinten. Father Michael ebenfalls. Gebete wurden gesprochen, und als sich die kleine Schar zerstreute, zog der Pastor Charmaine zur Seite. »Es tut mir sehr leid, Charmaine«, murmelte er. »Wir werden deine Mutter sehr vermissen. Falls du jemals in Not gerätst, dann zögere nicht und komm zu mir.«

»Ich habe große Hoffnung, dass es mir in Zukunft gutgeht. Die Harringtons haben mir angeboten, für immer bei ihnen zu bleiben. Trotzdem danke ich Ihnen für Ihr Angebot.«

Die erste Woche ging ins Land, dann eine weitere und schließlich die dritte – und dementsprechend stieg die Gewissheit, dass sich John Ryan nicht mehr in Richmond aufhielt. Und falls doch, so hatte er ein gutes Versteck ausfindig gemacht. Die Wahrscheinlichkeit, dass er für das grausame Verbrechen bezahlen musste, wurde von Tag zu Tag geringer. Charmaine lag Nacht für Nacht wach und fürchtete, dass ihr Vater ihr auflauern könnte. Obgleich die Harringtons versicherten, dass John Ryan es nie mehr wagen würde, sich zu zeigen, ängstigte sich Charmaine vor jedem Schatten, sobald sie in der Stadt unterwegs war. Lauerte ihr Vater womöglich in einem Hauseingang oder irgendwo zwischen den Häusern und beobachtete sie? Um ihre Ängste zu bekämpfen, betete sie für ihre Mutter, denn sie war überzeugt, dass Marie im Paradies endlich Frieden gefunden hatte und von oben heruntersah und über ihre Tochter wachte.

Ein Jahr ging ins Land, und allmählich wurde Charmaine ruhiger. Inzwischen war sie Loretta wie eine Tochter ans Herz gewachsen. Seit die Harringtons die Wahrheit über Charmaines Herkunft kannten, liebten sie das Mädchen nur noch mehr.

Voll Eifer nahm Loretta Charmaine unter ihre Fittiche und beschloss, eine elegante Lady aus ihr zu machen. Eine bessere Stellung in der Gesellschaft zu erlangen, das wäre dem Selbstbewusstsein des Mädchens sicher förderlich. Loretta waren gute Manieren überaus wichtig, also musste Charmaine nur dem Beispiel von Loretta folgen – und schon wurden ihr freundliches und würdevolles Benehmen von ganz allein zur zweiten Natur. Ergänzend zu der Schulbildung, die Charmaine in St. Jude erworben hatte, machte Loretta das junge Mädchen mit Literatur, Musik und den schönen Künsten bekannt. Charmaine lernte tanzen und nähen und verbrachte zusammen mit ihrer Lehrmeisterin so manche Stunde am knisternden Kaminfeuer und stickte.

Am besten gefiel Charmaine jedoch der Musikunterricht, wo sie es durch fleißiges Üben am Pianoforte sogar zu einer gewissen Meisterschaft brachte. Dabei unterstützten nicht nur die Melodien ihren Eifer, sondern ebenso das Glücksgefühl, das sie jedes Mal durchflutete, wenn sie eine besonders schwierige Stelle gemeistert hatte. Charmaines Fortschritte blieben nicht unbemerkt, und eines schönen Tages überraschte Mr. Harrington das Mädchen und seine Frau mit einem außergewöhnlichen Geschenk – und zwar mit einem »verbesserten« Pianoforte, einem sogenannten Piano, das man als Erfindung des Jahrhunderts bezeichnete. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger verfügte dieses Instrument über zusätzliche Oktaven und eine tiefere und weichere Resonanz. Loretta war in ihrem Element, und Charmaine ließ sich anstecken und vervollkommnete ihre Fertigkeiten. Mit der Zeit konnte sie sich sogar zu ersten Erfolgen gratulieren, denn jedes Mal, wenn die Söhne der Harringtons mit ihren Familien zu Besuch kamen, scharten sich die Kinder um das Piano und verlangten, dass sie ihnen etwas vorspielte.

Charmaine freute sich auf diese Besuche, auch wenn sie jedes Mal gewisse Sehnsüchte in ihr weckten. Als gute Beobachterin erspürte Loretta, dass Charmaine sich um ihr zukünftiges Leben Gedanken machte. »Sie braucht einen Mann«, erklärte sie deshalb eines Abends, als sie mit ihrem Mann allein war. »Siehst du denn nicht, wie sehnsüchtig sie unsere Jungen und die Kinder ansieht?« Als Joshua schnaubte, spann sie den Faden weiter: »Wenn doch wenigstens einer unserer Söhne noch nicht verheiratet wäre …«

Von diesem Tag an lud Loretta ständig junge Männer in ihr Haus ein, doch keiner von ihnen konnte Charmaines Aufmerksamkeit fesseln. Loretta war überzeugt, dass ihre Absichten unbemerkt geblieben waren, doch eines schönen Tages machte Charmaine dem Versteckspiel ein Ende. »Mrs. Harrington, ich habe kein Interesse an den jungen Männern, die Sie mir zuliebe einladen.« Loretta spielte die Unschuldige, doch Charmaine ließ sich nicht beirren. »Ich glaube nicht, dass ich jemals heiraten werde. Jedenfalls möchte ich nie so leben wie meine arme Mutter.«

Loretta war äußerst ungehalten. »Aber Charmaine, es sind doch nicht alle Männer so wie dein Vater. Denk nur an Joshua. Er ist ein liebenswerter und freundlicher Mann. Auch du kannst einen solchen Mann finden. Aber das wird nie passieren, wenn du in jedem immer nur deinen Vater siehst.«

»Ich halte es für besser, mich an ihn zu erinnern, statt die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen. Ich habe die Not und die Ängste meiner Mutter immer gespürt – und damit gelebt. Das kann ich nicht so leicht vergessen.«

»Aber du bist zu jung, um schon die Flinte ins Korn zu werfen. Irgendwo dort draußen gibt es auch einen Mann für dich. Doch den findest du nur, wenn du dein Herz öffnest.« Ein Blick auf Charmaines Miene sagte ihr, dass es mehr als nur einiger weniger Worte bedurfte, um das Mädchen zu überzeugen.

Seit diesem Tag sah sie es als ihre größte Aufgabe an, Charmaines Ansichten zu ändern und sie allmählich aus dem sicheren Hafen ihres Hauses ins wahre Leben zu entlassen. Allerdings war das leichter gesagt als getan. Doch bevor Loretta an ihrem Plan verzweifeln konnte, bot sich aus heiterem Himmel eine günstige Gelegenheit.

Zufällig hatte Lorettas Schwester in ihrem letzten Brief erwähnt, dass Frederic und Colette Duvoisin eine Gouvernante für ihre drei kleinen Kinder suchten. Loretta war der Name bestens bekannt. In Virginia besaßen die Duvoisins ausgedehnte Ländereien, und auf ihrer Insel in der Karibik, wo die Familie lebte, war Lorettas Bruder als Oberaufseher ihrer Ländereien angestellt. Die Insel musste ein wahres Paradies sein. Loretta hatte sie zwar noch nie mit eigenen Augen gesehen, doch ihre Schwester hatte hin und wieder die landschaftlichen Schönheiten erwähnt. Je länger Loretta darüber nachdachte, desto sicherer war sie, dass Les Charmantes genau das war, was Charmaine in diesem Augenblick brauchte: ein neues Heim, weit genug von ihrem früheren Leben entfernt, dazu Kinder, neue Bekanntschaften und mit Gottes Hilfe auch eine Zukunft!

Nachdem ihr Plan feststand, näherte sich Loretta dem Thema mit großer Vorsicht. »Ich habe einen Brief von meiner Schwester Caroline bekommen«, sagte sie, als sie abends im vorderen Salon beisammensaßen. Charmaine sah von ihrer Stickerei auf, doch Loretta sprach ungerührt weiter. »Unter anderem ist darin auch von der Familie Duvoisin die Rede.«

»Von der Familie Duvoisin?«, fragte Charmaine, woraufhin Loretta unwillkürlich die korrekte französische Aussprache wiederholte: Dü-woa-san.

»Wie es aussieht, suchen Frederic und Colette Duvoisin eine Gouvernante für ihre Zwillinge und ihren kleinen Sohn. Nach Carolines Brief zu schließen, soll die Bewerberin jung sein. Wäre dies nicht eine willkommene Gelegenheit, um in einem großen Haus für eine angesehene Familie zu arbeiten? Eine solch anspruchsvolle Stellung bietet sich meistens nur ein einziges Mal im Leben – wenn überhaupt.« Als Loretta aufsah, begegnete sie dem eindringlichen Blick der jungen Frau.

Charmaine wusste, dass Loretta dieses Thema nicht zufällig angeschnitten hatte. »Und Sie meinen, dass ich mich um diese Stelle bewerben soll?«

»Genau das meine ich.«

Joshua Harrington räusperte sich. »Ich weiß nicht, ob das ratsam ist, meine Liebe.«

»Und warum nicht?« Wenn er auch nur noch ein einziges Wort sagt und mir in die Quere kommt, so wird er das bereuen!

»Die Männer dieser Familie sind ziemlich ungestüme Gesellen«, bemerkte Joshua trotz des warnenden Blicks, den seine Frau ihm zuwarf.

»Als Gouvernante muss sich Charmaine nur um die drei kleinen Kinder kümmern.«

»Wegen der Kinder habe ich auch keine Bedenken«, sagte Mr. Harrington.

Doch Loretta schüttelte den Kopf. »Aber Joshua, wir leben doch nicht mehr im Mittelalter! Außerdem habe ich mir überlegt, dass wir Charmaine auf die Insel begleiten. Wenn uns die Stellung unpassend erscheint, so muss sie diese ja nicht antreten.«

»Auf die Insel?«, fragte Charmaine. »Aber ich dachte …«

»Les Charmantes«, erläuterte Loretta. »Oder einfach nur Charmantes, wie die Einwohner die größte Insel nennen. Ich habe sie schon öfter erwähnt. Caroline, Harold und meine Nichte Gwendolyn leben seit zehn Jahren dort. Les Charmantes ist die Heimat der Duvoisins.«

»Aber ja, ich weiß, wo Ihre Schwester mit ihrer Familie lebt. Aber ich dachte, dass diese Stelle hier in Virginia zu vergeben sei.« Sie holte tief Luft. »Diese Insel … nun, sie scheint ziemlich weit entfernt zu sein.«

»Allerhöchstens einen Brief weit. Außerdem verkehren die Schiffe der Duvoisins regelmäßig zwischen Richmond und den Inseln. Die Familie gehört zu den ganz Großen im Zucker- und Tabakgeschäft.« Loretta legte eine kleine Pause ein, bevor sie weitersprach. »Natürlich ist es allein deine Entscheidung, liebe Charmaine, und es besteht auch kein Grund zur Eile. Lass dir die Sache in Ruhe durch den Kopf gehen. Habe ich nicht recht, Joshua?«

»Absolut«, murmelte Joshua schmunzelnd, da er die Taktik seiner Frau durchschaute.

Einige Tage vergingen, ohne dass von der Insel oder der Stellung die Rede gewesen wäre. Umso häufiger dachte Charmaine über die Reise nach. Gouvernante von drei kleinen Kinder. Jedenfalls besser als Hausmädchen oder Haushälterin. Und bei Loretta konnte sie auch nicht für immer bleiben. Wo sie wohl in zwanzig Jahren lebte? Diese Gelegenheit war greifbar nahe und würde sich ihr vermutlich nie wieder bieten. Und was noch wichtiger war: Falls sie von hier fortging, musste sie sich nicht länger vor ihrem Vater ängstigen.

Sobald Loretta spürte, dass die junge Frau zu einer Entscheidung bereit war, brachte sie die Sache noch einmal unter einem anderen Blickwinkel zur Sprache. »Du bist noch unglaublich jung, Charmaine.«

»Unglaublich, fürwahr«, spottete Charmaine.

»Solche Reden will ich nicht wieder hören«, schimpfte Loretta. »Das Beste an dir ist dein großes Herz und dein liebevolles Wesen. Doch wenn du so redest, als ob du eine solche Stellung nicht verdientest, bewahrheitet sich das womöglich noch.«

Die Heftigkeit der Antwort beeindruckte Charmaine. Sie musste Loretta recht geben. Dies war eine außergewöhnliche Gelegenheit. Und womöglich wartete ja tatsächlich etwas Besonderes auf sie. Es konnte nicht schaden, nach Les Charmantes zu reisen und sich dort umzusehen. Womöglich wachte ihre Mutter ja wirklich über ihr Schicksal. Am besten legte sie ihre Entscheidung in Gottes Hand.

Noch bevor die Woche vorüber war, schrieb Loretta ihrer Schwester und kündigte ihren Besuch an, und am Ende des Monats bezahlte Joshua Harrington die Überfahrt für drei Personen auf der Raven, die zur Flotte der Duvoisins gehörte und Versorgungsgüter auf die Inseln transportieren sollte.

Noch am Vorabend der Abreise hatte Charmaine heftig mit ihrer Entscheidung gehadert, doch als das Schiff unter dem blauen Himmel ruhig auf dem Fluss dahinglitt, erwachte ihre Vorfreude. Sie war plötzlich froh, dass sie sich überwunden und sich für das Wagnis statt für die Selbstzufriedenheit oder, besser noch, für das Neue statt für das Altgewohnte entschieden hatte. Wenn Mrs. Harrington der Ansicht war, dass sie sich um die Stellung einer Gouvernante bewerben konnte, war sie dazu bereit. Und so saß sie nun in der kleinen Kabine und übte die Antworten auf allerlei Fragen, die man ihr vermutlich während ihres Vorstellungsgesprächs stellen würde.

»Das war schon sehr gut.« Loretta lächelte. »Und denk immer daran, Charmaine: Du musst nicht alles erzählen.«

»Aber was soll ich antworten, wenn sie nach meiner Familie fragen?«

Loretta tätschelte ihre Hand. »Zum Beispiel: ›Meine Mutter – Gott schenke ihrer Seele Frieden – ist vor ungefähr einem Jahr gestorben. Mein Vater hat uns leider schon vor langer Zeit verlassen.‹«

»Ist das denn annehmbar? Werden sie damit zufrieden sein?«

»Wie ich dir bereits gesagt habe, werde ich schon dafür sorgen.«


»Alles ist in bester Ordnung!« Joshua Harrington strahlte
über das ganze Gesicht, als er sich übermütig wie ein Junge in den Sessel plumpsen ließ, den seine Frau soeben erst verlassen hatte.

Loretta und Charmaine sahen von dem schmalen Bett auf und vergaßen sogar den Rock, an dem sie gerade nähten, so sehr staunten sie über die Verwandlung, die mit dem leicht untersetzten Joshua geschehen war. Offensichtlich hatte er die letzten fünf Stunden an Deck der Raven auf dem Weg zum Atlantik von Herzen genossen.

»Jonah Wilkinson erwartet keinerlei Komplikationen auf unserer Überfahrt. Außerdem rechnet er damit – was dich sicher besonders freut, meine Liebe –, dass wir die Inseln in weniger als vier Tagen sichten werden, immer vorausgesetzt natürlich, dass der Wind günstig ist.«

»Das sind wahrlich gute Neuigkeiten«, bestätigte Loretta.

»Wie du weißt, ist deine gelegentliche Unpässlichkeit nicht wirklich als Seekrankheit zu bezeichnen, meine Liebe. Immerhin war dir niemals wirklich …«

»Bitte, Joshua«, flehte Loretta, »lass uns nicht davon sprechen.«

»Wie gedankenlos von mir. Wäre es dir lieber, wenn ich dir von der Abreise berichtete?«

»Das wäre wunderbar«, entgegnete sie begeistert und zwinkerte Charmaine zu.

»In dem Moment, als wir Segel setzten und die Raven sich vom Kai entfernte, wusste ich, dass dies eine ganz außergewöhnliche Reise werden würde«, begann er. »Und nicht nur wegen des kräftigen Winds. Das Glück war vom ersten Augenblick an mit uns. Ursprünglich hatte Captain Wilkinson damit gerechnet, dass John Duvoisin uns noch aufhalten könnte. Doch im letzten Moment kam die Nachricht, dass er die Ladung der Raven nicht, wie ursprünglich geplant, noch einmal inspizieren würde. Ich muss nicht betonen, dass uns das wertvolle Zeit gespart hat. Das eigentliche Glück liegt jedoch darin, dass uns Mr. Duvoisins unmögliches Betragen und seine höhnischen Bemerkungen erspart geblieben sind.«

»Joshua!«

»Wie dem auch sei. Ich habe den fragwürdigen Charakter dieses Mannes schon früher erwähnt. Jedermann in Virginia weiß: Wo auch immer John Duvoisin hingeht, folgt ihm der Spott auf dem Fuße. Ich sage dir eines, wenn er auf der Insel leben würde, hätte ich ernsthafte Bedenken, unsere Charmaine dort zurückzulassen.«

John … dachte Charmaine … Wie sehr ich diesen Namen verachte!

Samstag, 10. September 1836

Zufrieden vermerkte Jonah Wilkinson den Kurs seines Schiffes auf der Seekarte. Bei diesem schönen Wetter würde die Raven die Strecke in Rekordzeit zurücklegen – außer sie träfen doch noch auf einen der Tropenstürme, die sich mit Vorliebe im späten August und im September in diesen Gewässern zusammenbrauten. Wenn er allerdings den gestrigen Wind als Vorzeichen nahm, so würde die Reise nach Les Charmantes ohne besondere Zwischenfälle verlaufen und in weniger als vier Tagen beendet sein. Von den Inseln würde ihn seine Reise zunächst nach New York, dann weiter nach England und vermutlich nach vier Monaten wieder zurück nach Virginia führen. Obgleich ihm die Planken nicht gehörten, auf denen er das Kommando führte, hatte ihm Frederic Duvoisin von Beginn an das Gefühl gegeben, dass er allein Herr auf der Raven war. Schon aus diesem Grund würde er für keinen anderen Mann arbeiten.

Als Charmaine das Deck betrat, sah Wilkinson gerade mit prüfendem Blick auf die Seekarte hinunter. Obgleich ihm dieser Teil des Atlantiks vertraut war, war es ihm hin und wieder ein Bedürfnis, sich in gebieterischer Pose über die Karten zu beugen und seine Aufzeichnungen zu studieren. Das Rascheln ihres Kleids ließ ihn aufblicken, und er drehte sich zu seiner Besucherin um. Im Durcheinander der Abreise war er der jungen Frau zwar vorgestellt worden, aber bis zu diesem Augenblick hatte er nicht mehr an sie gedacht.

Die junge Frau war keine hinreißende Schönheit, wie er sie bei seinen Reisen hin und wieder kennenlernte. Doch ihr Gesicht hatte etwas Fesselndes, wenn man nur genau hinsah. Sanft geschwungene Brauen wölbten sich über gleichmäßigen Zügen, und die dunkelbraunen Augen wurden von rauchschwarzen Wimpern eingerahmt. Ihre Nase war lang und schmal und wies an der Spitze ein klein wenig nach oben. Die Lippen waren weder dick noch dünn und bewegten sich lebhaft bei jedem Wort. Als Jonah sie ansah, schoss ihm plötzlich der Gedanke durch den Kopf, dass ihre Schönheit gar nicht richtig zur Geltung kam, solange sie die dunklen Locken in diesem strengen Knoten fesselte. Andererseits war das gut so, genau wie das einfache Gewand, das von ihrer hübschen Gestalt ablenkte, denn jede Zurschaustellung weiblicher Reize hätte nur seine ungehobelten Matrosen aufmerksam werden lassen.

»Guten Tag, Kapitän.« Charmaine lächelte zu ihm empor, woraufhin seine mittelgroße Gestalt sofort ein ganzes Stück zu wachsen schien. »Ich wollte Sie nicht stören, aber Mr. Harrington hat mich ermutigt, ein wenig an Deck zu gehen, während er sich um seine Frau kümmert.«

»Wie geht es denn seiner lieben Frau?« Er erinnerte sich, gehört zu haben, dass einem seiner Gäste sogar dieser ruhige Seegang nicht bekam.

»O danke, sie fühlt sich schon sehr viel besser. Der erste Tag war am schlimmsten. Wenn sie sich ablenkt, geht es ihr gleich besser.«

»So ergeht es vielen, bis ihnen die Seemannsbeine wachsen. Und wie steht es mit Ihnen, Miss …?«

»Ryan«, ergänzte Charmaine.

»Miss Ryan.« Wilkinson lächelte. »Ihnen scheint die Jungfernfahrt nichts anzuhaben. Es stimmt doch, dass dies Ihre erste Seereise ist, nicht wahr?«

»So ist es, aber ich bin viel zu aufgeregt, um mich zu fürchten.« Ein mitreißendes Lächeln glitt über ihr Gesicht. Aufseufzend griff sie nach der Reling und blickte über die endlose Weite.

»Dieser Anblick raubt einem den Atem, nicht wahr?« Er sah ebenfalls zum Horizont und freute sich über die unverhüllte Bewunderung der jungen Frau.

»Angesichts der Weite wird mir klar, wie klein ich in Wirklichkeit bin.«

»So wie die Wellen lange vor Ihrer Geburt auf den Strand rollten, so werden sie auch noch lange nach Ihrem Tod anbranden. Unser Leben ändert die Welt nicht.«

Diese Worte missfielen Charmaine. »Denken Sie das wirklich?«

»Viele Menschen sind anderer Meinung. Gehören Sie etwa auch zu ihnen?«

»Mir gefällt der Gedanke, dass jeder Mensch durch sein Leben eine Änderung bewirkt, und sei sie auch noch so klein.«

Kapitän Wilkinson dachte einen Moment lang über diese philosophische Äußerung nach. Das Mädchen war sicher nicht älter als achtzehn Jahre. »Wenn Sie erst so alt sind wie ich, werden Sie womöglich auch anders darüber denken. Aber heute ist das ohne Belang. Erlauben Sie, dass ich Ihnen meinen ganzen Stolz und meine Freude zeige.«

Als sich der Kapitän dem Heck des Segelschiffs zuwandte, begriff Charmaine, dass er sein Schiff meinte. Sie ermutigte ihn mit einem Nicken, und dann spazierten sie eine gute Stunde lang über die Raven, und Charmaine lernte, vom Vorderdeck über das Mitteldeck bis zum Achterdeck alles beim richtigen Namen zu nennen. Sie erfuhr, dass der Segler mit einer Länge von einhundertfünfundzwanzig Fuß in Britannien gebaut worden war und seit seiner Jungfernfahrt vor über dreißig Jahren stets unter Kapitän Wilkinsons Kommando über die Meere gekreuzt war. Der Kapitän zeigte ihr alles, vom Ruder bis zum Ankerspill, und erläuterte, wie viele Männer nötig waren, um die mächtige Kette und den Anker der Raven einzuholen. Die Masten waren rahgetakelt und die Rahen in einem bestimmten Winkel gesetzt, um den Wind am besten nutzen zu können. Charmaine beschattete ihre Augen und sah zu den drei Mastspitzen empor, die am Himmel zu kratzen schienen, und anschließend bedachte sie den Kapitän mit höflichen Komplimenten, während er ihr die einzelnen Segel – vom Außenklüver am Bugspriet, der ihnen voranflatterte, bis zum Besansegel, das den Kurs hielt – erläuterte. Unglücklicherweise deutete der Kapitän Charmaines Lächeln als Interesse und konnte in seiner Begeisterung kein Ende finden.

Charmaine seufzte erleichtert, als sich irgendwann Jo-shua Harrington zu ihnen gesellte, und wollte sich in ihre Kabine zurückziehen. Doch als sich die Unterhaltung unverhofft den Duvoisins zuwandte, war ihr Interesse geweckt, und sie lehnte sich gegen die Reling.

»… sehr vermögend«, sagte der Kapitän soeben. »Zehn Schiffe, drei Inseln, einige tausend Morgen Land und dazu Gott weiß wie viele Unternehmungen. Aber solches Vermögen hat einen hohen Preis. Frederic und seinen Söhnen wurde ein gerüttelt Maß an Schwierigkeiten beschert – eine schwere Last, wie ich sie nicht gern tragen wollte …«

Je größer das Vermögen, desto tiefer der Schmerz dachte Charmaine.

»… Es gibt viele, die den Duvoisins ihre Macht und ihr Geld neiden, aber genau diese Männer würden die Macht und den Reichtum missbrauchen. Die Duvoisins haben ihr Vermögen immerhin ehrlich verdient, und zwar mit harter Arbeit und großer Geschäftstüchtigkeit.«

Joshua Harrington hielt sich zurück. Während der letzten beiden Tage hatte er den Kapitän als besonnenen Mann kennengelernt, sodass er geneigt war, seine Meinung zu respektieren. »Sie äußern sich sehr lobend über die Familie«, bemerkte er schließlich mit etwas zweifelndem Unterton.

»Ich hebe Frederic Duvoisin keineswegs auf ein Podest, aber er ist ein gerechter Mann. Gerechter jedenfalls als jeder andere, den ich kenne. Diesen Wesenszug hat er seinen Söhnen vererbt.«

»Auch John?« Joshua schien nicht überzeugt zu sein. »Als ich im letzten Jahr seine Bekanntschaft machte, kamen mir viele Bezeichnungen in den Sinn. ›Gerecht‹ war allerdings nicht darunter.«

Jonah lachte leise. »Das überrascht mich nicht. John kann zuweilen äußerst zynisch sein, und seine Zunge ist so schnell wie seine Gedanken. Aber öfter, als man gemeinhin annimmt, ist er gerecht. Sein Sarkasmus ist nur ein Schutz.«

»Ein Schutz wovor?«

»Nun ja, vor der Wut und dem Schuldgefühl«, erklärte der Kapitän. »Angeblich war John der Grund für den schweren Anfall, der seinen Vater zum Krüppel gemacht hat. Der Schlaganfall, oder was auch immer es war, hat Vater und Sohn gleichermaßen getroffen. Frederic war einst ein starker, kraftvoller Mann, doch heute verlässt er seinen Besitz nicht mehr. John leidet ebenso wie sein Vater. Er ist vor drei Jahren von den Inseln geflüchtet und seitdem nicht mehr zurückgekehrt. Soweit ich weiß, hat er keinen Kontakt zu seinem Vater, auch wenn er weiterhin für alle geschäftlichen Belange in Virginia und für den Frachtverkehr von und nach Richmond verantwortlich ist. Frederics anderer Sohn Paul wurde mit den Geschäften auf Les Charmantes betraut, was in der Folge leider neue Probleme aufgeworfen hat.«

»Wie soll ich das verstehen?«, fragte Joshua gespannt.

»Die Brüder haben unterschiedliche Ansichten. Zuweilen handeln sie sogar völlig entgegengesetzt und muten ihren Mitarbeitern damit eine Menge zu. Auf einem Schiff kann es jedoch nur einen Kapitän geben, wenn es nicht untergehen soll.«

»Demnach wetteifern die Söhne sozusagen um die Vorherrschaft?«

»Dieser Streit reicht bereits bis in die Kindheit der Jungen zurück. Paul verbindet ein enges Band mit seinem Vater, was John als gesetzlichem Erben nie vergönnt war.«

»Weshalb gesetzlich?«

Kapitän Wilkinson räusperte sich. Er hatte zu viel geredet. Doch diesen Punkt musste er genauer erklären. »Frederic hat Paul als kleines Kind adoptiert und wie einen eigenen Sohn großgezogen, obgleich Paul außerehelich geboren wurde. Aber Paul ist Frederics Sohn«, fügte er schnell hinzu, um der nächsten Frage zuvorzukommen. »Dessen bin ich sicher.«

»Aber weshalb sollte ein Mann seinen Bastard dem ehelich geborenen Erben vorziehen …«

Der ungehörige Ausdruck war Mr. Harrington schneller entwischt, als er sich beherrschen konnte. Er errötete und sah zu Charmaine hinüber, doch sie sah so freundlich drein wie immer. Offenbar hatte sie ihn nicht verstanden.

Der Kapitän war mit Mr. Harringtons Vorwurf ganz und gar nicht einverstanden. »Frederic Duvoisin respektiert seine beiden Söhne gleichermaßen. Doch Paul arbeitet härter als sein Bruder, was meiner Meinung nach auch die engere Beziehung zwischen Vater und Sohn erklärt.«

Joshua Harrington kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. »Und Johns Mutter? Wie steht sie zu dem Ganzen?«

»Elizabeth Duvoisin ist vor mehr als fünfundzwanzig Jahren im Kindbett gestorben. Einige sagen, dass Frederic John für ihren Tod verantwortlich macht, aber das ist Unsinn. Diese Gerüchte wurden von der Tatsache genährt, dass Frederic viele Jahre lang um seine Frau getrauert hat.«

Inzwischen verstand Charmaine nichts mehr. »Aber ich dachte …« Sie unterbrach sich. »Demnach ist Colette Duvoisin also seine zweite Frau?«

»Ja. Frederic Duvoisin hat vor zehn Jahren zum zweiten Mal geheiratet«, antwortete der Kapitän fast barsch.

Dass Frederic viele Jahre lang um seine Frau getrauert hat …

Verwirrt senkte Charmaine den Kopf. Sie spürte, dass der Kapitän ihr auswich, aber den Grund dafür konnte sie nicht benennen. Frederic Duvoisin war also ein älterer Mann mit zwei erwachsenen Söhnen, die von seiner ersten Frau und von seiner Geliebten stammten. Darüber hinaus hatte er noch drei weitere Kinder von seiner zweiten Frau, von denen das Kleinste noch ein Baby war.

»Stammt sie von den Inseln?«, fragte Charmaine.

»Wer? Miss Colette? Himmel, nein!« Der Kapitän lachte in sich hinein. »Miss Colette ist Französin. Eine waschechte Aristokratin. Soweit ich weiß, hat ihre Mutter diese Ehe eingefädelt«, fügte er hinzu. Doch als er Charmaines gerunzelte Stirn sah, wurde ihm unbehaglich. Am liebsten wäre er den heiklen Fragen ausgewichen, die nun auf ihn zukamen.

»Ihre Mutter?«

»Colette war damals noch sehr jung.«

»Wie jung?«

Im Lauf der letzten Stunde war Jonah Wilkinson immer gesprächiger geworden, doch plötzlich gab er nur noch einsilbige Antworten. Und zu Charmaines Verzweiflung schlug sich auch noch Mr. Harrington auf seine Seite. »Derartige Arrangements waren in besseren Kreisen schon immer üblich, nicht wahr?«

»So ist es«, pflichtete ihm der Kapitän eilig bei.

Trotz der heißen Sonne erschauerte Charmaine. Sie war immer der Meinung gewesen, dass die Reichen unbegrenzte Freiheiten genossen. Doch wie es schien, lebte hier auf der Insel eine junge Frau wie sie, deren Freiheit beschränkter war, als ihre es jemals sein würde.

»Ein Arrangement?« Charmaine überlegte. »Gefangenschaft wäre eigentlich das passendere Wort.«

»Gefangenschaft?« Das Lachen des Kapitäns klang unecht. »Miss Colette hat ihrem Mann zwar drei Kinder geboren, aber ich kann versichern, dass sie ein höchst angenehmes Leben führt«, erklärte er mit fester Stimme, als ob das einen solchen Handel erträglicher machte.

Charmaine nagte an ihrer Unterlippe. Sie war völlig durcheinander, und ihre Gedanken eilten zu der Insel. Eine Ehe ohne Liebe. Ihre Mutter hatte eine solche Ehe erduldet. Im Vergleich dazu war ihr eigenes Leben mit einem Mal gar nicht mehr erdrückend und eng. Im Gegenteil. Sie hatte nicht gewusst, wie frei sie in Wirklichkeit war.


Am Abend lud Kapitän Wilkinson Charmaine und die Harringtons zum gemeinsamen Mahl in seine Kabine ein. Obgleich die Speisen nur mittelmäßig waren, wurde es ein angenehmer Abend. Selbst Mrs. Harrington aß mit Appetit und war in kürzester Zeit von ihrem warmherzigen Gastgeber äußerst angetan. Charmaine hatte ihr haarklein berichtet, was sie am Nachmittag erfahren hatte, und Loretta stellte nun ohne Zögern eigene Fragen. Geschickt, wie sie war, wandte sie sich zuerst der weiter zurückliegenden Geschichte der Duvoisins zu, die mit einem Netz von Geheimnissen umwoben schien. Und der Kapitän, der auf so manchen Abend in Gesellschaft von drei Generationen dieser Familie zurückblicken konnte, kam Lorettas Wunsch nur zu gern nach …

Zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts hatte ein gewisser Jean Duvoisin seine französische Heimat verlassen und war in die Amerikanischen Kolonien aufgebrochen. Als jüngerer Sohn einer wohlhabenden und einflussreichen Familie wollte er in der Fremde sein Glück machen, wobei er auf eine größere Summe Geldes, ein schnelles Schiff und die Segenswünsche seines Vaters zählen konnte. Zu Anfang ließ sich Jean im damaligen Newport’s News in Virginia nieder, wo sich an der Mündung des James River eine aufstrebende Siedlung und ein Schiffsbauzentrum entwickelten. Als er erfuhr, dass William Byrd II. ungefähr neunzig Meilen nordwestlich von Newport’s News eine neue Stadt gründen wollte, zog er mit seiner jungen Familie im Jahr 1737 dorthin. Die Stadt erhielt den Namen Richmond im ehrenhaften Angedenken an Richmond an der Themse, und Jean Duvoisin gehörte zu ihren Begründern. William Byrds Handelsniederlassung und sein Lagerhaus, oder Shocco, wie die Indianer es nannten, waren auf regelmäßige Schiffslieferungen angewiesen. Weitsichtig erkannte Jean Duvoisin die finanziellen Möglichkeiten, die in einer solchen Unternehmung schlummerten, und gab in Newport’s News ein weiteres Schiff in Auftrag. William Byrd schätzte Jeans Wagemut und sicherte letztlich seinen Erfolg, indem er ihm ausgedehnte Gebiete westlich von Richmond übereignete. Es dauerte keine zehn Jahre, bis das gesamte Gebiet gerodet war und Tabakpflanzen angebaut worden waren. Obendrein besaß Jean Duvoisin inzwischen drei Handelsschiffe, die ihrem Besitzer nicht nur ein Vermögen einbrachten, indem sie die Versorgungsgüter aus Europa heranschafften, sondern im Gegenzug seinen Tabak auch zu Vorzugspreisen transportierten. Als Jean Duvoisin mehr als zwanzig Jahre später starb, hatten die beiden Unternehmungen seine kühnsten Erwartungen übertroffen. Die Tabakplantage war um das Dreifache gewachsen, außerdem hatte er weiteres Land in Virginia erworben und das Schifffahrtsgeschäft bereits seinem ältesten Sohnes übereignet.

Jean Duvoisin II. trat in die Fußstapfen seines Vaters und vergrößerte das Familienimperium, indem er das Geschäft auf dem Ozean ausweitete. Seine ganze Leidenschaft gehörte dem Schifffahrtsunternehmen und dessen Zukunft, sodass er nach dem Tod des Vaters die Tabakplantage in andere Hände übergab. Inzwischen hatte er drei beinahe unbewohnte Inseln in seinen Besitz gebracht und ihnen den Namen Les Charmantes gegeben, was in der Muttersprache seines Vaters »Die Hübschen« bedeutete. Durch ihre günstige Lage inmitten der Handelsrouten seiner Flotte bot sich die größte der Inseln als idealer Stützpunkt an. Jean II. machte die Insel urbar und baute einen ersten Anleger, und als Ruhepol für sich selbst ließ er in der unberührten Einsamkeit im Westen der Insel eine prächtige Villa errichten. Es ging das Gerücht um, dass Haus und Insel in Wahrheit nur als Gefängnis für seine hübsche Frau dienten, was ihm schnell den Titel eines GentlemanPiraten eintrug. Angeblich hatte er das Mädchen einem Rivalen in Richmond unter der Nase weg entführt und befürchtete, sie zu verlieren, sobald er sich auf See wagte. Also hatte er sie in dieses abgelegene Paradies gebracht, damit sie immer bei ihm bleiben musste.

Diese Frau war die Erste, die ihre Kinder auf Charmantes zur Welt brachte, wie die größte Insel inzwischen genannt wurde – und zwar sechs an der Zahl. Die drei mittleren Söhne kamen bei einem großen Feuer um, das nur den Ältesten, Jean III., seine Schwester Eleanor und Frederic verschonte, der zwölf Jahre jünger war als sein ältester Bruder. Viele Jahre später gingen die beiden Brüder nach Virginia, um sich um die Geschäfte der Familie in Richmond zu kümmern.

Als Jean Duvoisin II. im Jahr 1796 erkrankte, kehrte sein Ältester nach Charmantes zurück, wo er in die Unruhen zwischen den westindischen Inseln, die in amerikanischem und französischem Besitz waren, involviert wurde und dabei sein Leben verlor. Innerhalb eines Jahres starb auch Jean III., woraufhin Frederic das gesamte Vermögen der Duvoisins in den Schoß fiel. Zu diesem Zeitpunkt war er gerade dreiundzwanzig Jahre alt. Da er von Richmond aus das Geschehen auf den Inseln nicht im Blick hatte und ihren Verlust befürchten musste, kehrte er nach Les Charmantes zurück und vereinigte die kleinen Farmen seines Vaters zu einer großen Zuckerrohrplantage, die er von Sklaven und persönlich ausgewählten Pächtern bewirtschaften ließ.

Frederic war bereits in den Dreißigern, als er eine um fünfzehn Jahre jüngere Engländerin mit Namen Elizabeth Blackford ehelichte. Die junge Frau verließ ihre Familie – Mutter, Vater, Bruder und Schwester – und fuhr von Liverpool aus auf die Inseln, um zusammen mit ihrem Mann ein neues Leben zu beginnen. Leider starb sie jedoch kein Jahr später im Kindbett.

»Im Lauf der Jahre hat sich die Insel ständig weiterentwickelt«, fuhr der Kapitän fort. »Das Zuckergeschäft führte zur Anlage eines Hafens, wo die Schiffe Vorräte und Versorgungsgüter entladen und im Gegenzug Rohzucker an Bord nehmen konnten. Um den Hafen herum entstand nach und nach eine Siedlung, deren Häuser von befreiten Gefangenen errichtet wurden. Nach Verbüßung ihrer Strafe ermutigte Frederic die Besten unter ihnen, auf den Inseln zu bleiben und gegen regelmäßigen Lohn in seine Dienste zu treten. Diese Männer waren die ersten Siedler auf Charmantes, und einige von ihnen ließen sogar ihre Familien nachkommen. Etliche Geschäftspartner, die Frederic nahestanden, hielten ihn für übergeschnappt und seine Idee für reine Narretei. In Europa galten diese Männer als Verbrecher, dabei waren die meisten nur wegen lächerlicher Taten verurteilt worden. Armut bringt eben so manchen Mann auf dumme Gedanken. Auf Charmantes bot sich ihnen jedoch die Gelegenheit, noch einmal von vorn zu beginnen – und die meisten ergriffen die Gelegenheit voll Eifer. Es sind wilde Gesellen darunter mit Ecken und Kanten, und dennoch gibt es so gut wie keine Verbrechen auf der Insel, weil diese Männer, wenn man so will, für den Frieden bürgen. Als die Bevölkerung zunahm, sorgte Frederic dafür, dass sich weiteres Gewerbe auf der Insel ansiedelte. Als Erstes wurde Thompson’s Handelshaus gegründet, wo sich die Bewohner mit Waren aller Art versorgen können. Dann eröffnete ein Böttcher sein Geschäft und fertigt seitdem die wasserdichten Fässer, die für den Transport des Rohzuckers unerlässlich sind. Das Dulcie’s folgte wenig später.«

»Das Dulcie’s?«, fragte Loretta.

»Der Saloon«, erklärte Jonah Wilkinson und legte eine Pause ein, um einen Schluck Kaffee zu trinken. »Später kam noch ein Mietstall dazu und dann ein Versammlungshaus, das an Sonntagen auch als Kirche dient. Das ist jetzt zehn Jahre her. Miss Colette ist eine strenge Katholikin und bestand darauf, dass die Bevölkerung diese Möglichkeit bekam.«

»Gibt es tatsächlich einen Reverend auf der Insel, der regelmäßig die Messe liest?«, fragte Loretta erstaunt. »Ich dachte, dass meine Schwester übertreibt, als sie mir in einem Brief davon schrieb.«

»Nein, nein, das war keineswegs übertrieben. Der Mann ist römisch-katholischer Priester und lebt schon seit vielen Jahren auf Charmantes.«

»Ist das denn nicht ungewöhnlich? Soweit ich weiß, schickt die Kirche doch keine Priester auf solch kleine, entlegene Inseln.«

»Ich fürchte, da unterschätzen Sie die Größe und die Bedeutung von Charmantes«, erwiderte Jonah Wilkinson. »Es gibt dort sogar eine Bank, die einer von Frederics Freunden aus Virginia leitet. Viele einflussreiche Leute stecken ihr ganzes Vermögen in die Unternehmungen der Duvoisins – vor allem in das Schifffahrtsunternehmen. Und am Stadtrand kaufen viele Inselbewohner Land, auf dem sie dann ein Haus oder ein Geschäft errichten müssen. Der Wohlstand der Duvoisins ermutigt die Menschen und weckt ihren Appetit. Sie haben das Gefühl, an Frederics Vermögen teilzuhaben, sofern sie nur ein Stück seiner Insel besitzen.«

Joshua Harrington sah skeptisch drein. »Und sind sie damit erfolgreich?«

»Wenn wir in einem oder zwei Tagen ankommen, können Sie sich mit eigenen Augen ein Bild machen und dann selbst entscheiden, ob die Menschen ein gutes Leben führen oder nicht.«

Loretta beugte sich vor. »Ich weiß, dass meine Schwester und ihr Mann sehr glücklich über ihre Übersiedlung in die Karibik sind, und nach Ihrer lebhaften Beschreibung kann ich unsere Ankunft kaum abwarten. Das klingt doch alles ganz wunderbar, nicht wahr, Charmaine?«

Das Mädchen war jedoch in Gedanken versunken und hörte gar nicht zu.

»Charmaine?«

»Oh, tut mir leid – was haben Sie gesagt?«

»Es sieht ganz so aus, als ob Charmantes wunderschön sei und jedermann gern dort lebe«, sagte Loretta. »Aber du bist mit deinen Gedanken ja ganz woanders.«

Charmaine rieb sich über die Stirn. »Nein«, murmelte sie, »ich habe zugehört.«

Aber Loretta wusste es besser. Den ganzen Nachmittag über hatte sich das Mädchen über die Brautwerbung zwischen Colette und Frederic Duvoisin ereifert und sich die wildesten Szenarien ausgemalt, ohne andere Möglichkeiten überhaupt in Betracht zu ziehen. Loretta wollte unbedingt die Wahrheit erfahren, bevor Caroline sie mit ihrem Gerede beeinflussen konnte.

»Mr. Wilkinson« – sie wandte sich an den Kapitän –, »wenn es nicht zu unverschämt ist, würde ich auch gern ein wenig über Colette Duvoisin erfahren.«

Auf sein Stirnrunzeln hin lenkte Loretta geschickt ein. »Wissen Sie, meine Schwester plappert gern, aber mit dem Schreiben hat sie es nicht so. Ich bekomme nur selten Post von ihr, und wenn doch, sind die Briefe meistens kurz. Da sich Charmaine bei den Duvoisins bewerben möchte, verstehen Sie sicher, dass ich gern so viel wie möglich über ihre zukünftige Herrschaft erfahren würde.«

Mr. Wilkinson war einverstanden. Schließlich ließ sich nicht verschweigen, was sie ohnehin erfahren würden. »Und was genau möchten Sie wissen?«

»Charmaine hält Miss Colette für so jung, dass sie Frederic Duvoisins Tochter sein könnte.«

»So ist es. Um genau zu sein, ist sie sogar jünger als seine beiden Söhne.«

Charmaine warf Loretta einen vielsagenden »Habe ich es nicht gesagt«-Blick zu.

Der Kapitän bemerkte den Blick und verschränkte die Arme vor der Brust. »Miss Colettes Familie befand sich damals in finanziellen Schwierigkeiten, und Frederic hat ihnen geholfen. Außerdem gab es einen Bruder, der lange Zeit ernstlich krank war, und Frederics Vermögen hat auch diese Kosten getilgt. Nun ja. Manch einer mag eine solche Übereinkunft als Gefängnis bezeichnen, aber ich bin sicher, dass Miss Colette dieses Wort nie benutzen würde.«

Charmaine war so entsetzt, dass sie den letzten Satz überhörte. Das Leben ihrer Mutter war grauenhaft gewesen, aber zumindest hatte sich Marie dieses Leben selbst erwählt. Dagegen war Colette Duvoisin wie ein Stück Vieh gegen Geld verschachert worden. Charmaine empfand tiefstes Mitleid mit dieser Frau.

Jonah Wilkinson lehnte sich zurück. »Miss Colette ist keineswegs so unglücklich, wie Sie sich das vielleicht vorstellen, Miss Ryan.«

»Ich denke, dass ich mir selbst ein Bild machen möchte, Mr. Wilkinson.«

Loretta tätschelte Charmaines Hand. Ihrer Meinung nach hatte der Kapitän vermutlich recht. »Zumindest steht dir die Herrin des Hauses im Alter sehr nahe«, meinte sie versöhnlich. »Vielleicht könnt ihr euch sogar anfreunden.«

Auf den Gedanken war Charmaine noch gar nicht gekommen, doch nun hoffte sie, dass das wahr werden würde.

Montag, 12. September 1836

An ihrem vierten Tag auf See erwachte Charmaine bereits früh am Morgen. Der Kapitän ging davon aus, dass sie die Inseln in der Morgendämmerung sichteten, und diesen Moment wollte sie auf keinen Fall verpassen. Nach kurzem Nachdenken schlüpfte sie in ihr bestes, blassgrünes Kleid und bürstete gerade die letzten Knoten aus ihrer widerspenstigen Lockenmähne, als der lang ersehnte Ruf über das Deck schallte. »Land in Sicht!«

Einen Moment lang hielt Charmaine inne, aber dann warf sie ihre Haare, die ihr fast bis zur Taille reichten, kurz entschlossen über die Schulter zurück. Der strenge Knoten musste warten, da sie den lang ersehnten Anblick nicht verpassen wollte. Sollte doch der Wind ihre Haare zausen, wie er wollte – sie wollte sich jedenfalls nicht den Tag verderben lassen, an dem vielleicht ihr neues Leben begann. Nach einem letzten Blick in den Handspiegel lächelte sie zufrieden und verließ eilig ihre Kabine.

Kapitän Wilkinson nahm Charmaine gar nicht wahr, als sie das Oberdeck betrat, weil seine Blicke auf die Takelage gerichtet waren, wo einige Männer an der Webeleine nach oben kletterten, um die Segel auszurichten und die Raven auf das Anlegemanöver vorzubereiten. Sie ging davon aus, dass Mr. Harrington noch in seiner Kabine weilte, und suchte sich einen ruhigen Platz an der Reling.

Ein paar Männer, die mit Teerarbeiten beschäftigt waren, beäugten sie, und als erste zotige Bemerkungen an ihr Ohr drangen, sah Charmaine verwundert an sich hinunter. Auch wenn ihr die Männer während der Reise hin und wieder nachgepfiffen hatten, waren sie doch nie aufdringlich geworden. War sie etwa unziemlich gekleidet? Da sie nichts feststellen konnte, wandte sie den Blick wieder dem Ozean zu, um endlich das Land zu erspähen. Als das Schiff plötzlich in den steifen Gegenwind drehte, wirbelten die Böen Charmaines offenes Haar durcheinander und pressten die Röcke eng gegen ihre Beine.

Als einer der Männer pfiff, sah Mr. Wilkinson zur Reling hinüber. Verstohlen grinste er in sich hinein. Die Kleine gab sich ja redliche Mühe, die Grobiane nicht zu beachten. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und ging zu ihr hinüber. »Guten Morgen, Miss Ryan.«

Erleichtert sah Charmaine ihm entgegen.

Ihr strahlendes Lächeln, die erwartungsvoll leuchtenden Augen und die ungebärdigen Locken enthüllten Charmaines Schönheit, die dem Kapitän bisher entgangen war. Kein Wunder, dass seine Matrosen sich so aufführten.

»Ich habe gehört, dass Land gesichtet wurde. Aber ich sehe es nicht! Oder sind die Inseln noch so weit entfernt, dass ich ein Fernglas brauche?«

»Aber nein, Miss Ryan. Sie suchen sie nur auf der falschen Seite.«

Verblüfft senkte Charmaine den Blick, doch Mr. Wilkinson nahm nur wortlos ihren Arm und führte sie zur Reling an der Steuerbordseite hinüber, wo er nach Südosten wies. Dort am Horizont war Land zu sehen.

Der Kapitän kehrte an seine Arbeit zurück. Charmaine rührte sich nicht von der Stelle und beobachtete, wie der dunkle Fleck langsam größer wurde, bis blendend weiße Strände von einer Ausdehnung erkennbar wurden, die für eine einzige Insel viel zu groß zu sein schienen. Jenseits der Strände erstreckte sich Buschwerk und hohes Gras bis in die Schatten unter den hohen Palmen, Weiden und dem dichten Laubwerk. Charmaine bewunderte die Schönheit der unberührten Landschaft, als ihr plötzlich auffiel, dass sie noch kein Anzeichen einer menschlichen Siedlung gesehen hatte. Weder einen Hafen noch Häuser und erst recht keine Menschen. Sie sah sich um, weil sie den Kapitän fragen wollte, doch der war nirgendwo zu sehen. Also musste sie ihre Ungeduld noch etwas bezähmen. Inzwischen segelten sie parallel zum Strand an einer offensichtlich unbewohnten Insel entlang. Charmaine konnte sich lebhaft vorstellen, was Jean Duvoisin II. bei der Entdeckung dieses Paradieses gedacht hatte – herrlich unberührtes, freies Land. Ein friedlicherer Ort ließ sich auf Erden kaum vorstellen, dachte Charmaine und schloss daraus, dass dies unmöglich die größte Insel sein konnte. Eher war es eine der beiden anderen, die noch nicht besiedelt waren.

Nach und nach wurden die Strände felsiger. Und bald begleiteten Klippen die Küste, die, je weiter sie in östlicher Richtung segelten, immer höher emporwuchsen. Anbrandende Wellen schleuderten die Gischt so hoch in die Luft, dass ihre feuchten Schleier bis auf das Deck der Raven wehten. Sie näherten sich einem Leuchtturm, der den nördlichsten Punkt der Insel markierte, und als sie die Stelle passiert hatten, glitt Charmantes Blick zu den Klippen, die sich in weitem Bogen nach rechts erstreckten und sich in der Ferne verloren.

Es verging fast eine ganze Stunde, bis der Kapitän zusammen mit Joshua Harrington wieder an Deck erschien. »Wir umrunden gerade Charmantes«, erklärte er, »und werden in Kürze die Bucht erreichen.«

»Welche Bucht?«, fragte Charmaine.

»Der Hafen wurde in einer Bucht angelegt, und zwar an der Ostküste der Insel. Die meisten Inseln in der Karibik verfügen über einen leeseitigen oder westlichen Hafen, wo man vor den Wirbelstürmen sicher ist. Charmantes dagegen besitzt ein natürliches Hafenbecken an der Ostküste, das von einer schützenden Halbinsel umgeben ist. Jean Duvoisin II. konnte also den Anleger im Osten errichten und die ruhige Westseite mit den wunderbar sandigen Stränden zum Bau des Herrenhauses nutzen. Sobald wir das Ende der Halbinsel erreichen, verwandelt sich die unberührte Landschaft in die geschäftige Stadt, von der ich gestern Abend gesprochen haben.«

Er deutete zum östlichen Horizont hinüber. »Wenn Sie genau hinsehen, können Sie dort drüben die beiden anderen Inseln von Les Charmantes ausmachen.« Charmaine beschattete ihre Augen und konnte in der Ferne tatsächlich zwei kleine Landrücken erkennen.

Kurz darauf wich das Land plötzlich zurück, und die Raven machte eine Kursänderung nach Süden, um die Halbinsel zu umsegeln. Mr. Harrington schloss sich dem Kapitän an, als dieser auf seinen Posten zurückkehrte, und Charmaine war erneut sich selbst überlassen. Seevögel tauchten aus dem Nichts auf, flogen durch die Takelage hindurch und glitten tief über die Wellen. Dabei kreischten sie so laut, als ob sie das ankommende Schiff begrüßen wollten.

Als die Raven das Ende des Kaps erreichte, richtete sich Charmaines Blick auf die Takelage. Die Leinen knarzten, als die dreieckigen Segel gesetzt wurden, und im nächsten Augenblick fingen sie den Wind ein und wölbten sich nach vorn. Das Heck kam herum, und das Schiff legte sich hart nach Steuerbord, bis es einen vollkommenen Halbkreis beschrieben hatte. »Das Schiff spannt alle seine Kräfte an«, bezeichnete dies der Kapitän, und Charmaine konnte nur staunen, wie zielsicher der Handelssegler nach Norden drehte und in die Bucht von Charmantes einlief. Überrascht schnappte sie nach Luft, als statt der wilden Einsamkeit mit einem Mal ein geschäftiger Hafen und eine kleine Stadt ins Blickfeld rückten.

Während der Kapitän den Segler mit großem Geschick längsseits des größten der drei Kais manövrierte, glitten Charmaines Blicke über die Gebäude der Insel, die sich in alle Richtungen erstreckten. Dann konzentrierte sie sich auf die Menschen. Ganz normale Menschen, wie sie schnell feststellte. Wie hatte sie nur denken können, dass sie irgendwie anders aussehen würden?

Die Menschenmenge am Kai vergrößerte sich ständig. Offenbar war die Ankunft eines so großen Handelsschiffs von besonderem Interesse. Menschen aller Hautfarben – weiß, schwarz und alle anderen Schattierungen – sammelten sich am Anleger. Alle waren anständig gekleidet. Von Ärmlichkeit keine Spur. Es waren auch Frauen darunter, die Kinder an die Brust drückten und ihren Männern an Bord des Seglers zuwinkten. Demnach waren die Matrosen der Raven keine heimatlosen Seeleute, wie Charmaine gedacht hatte, sondern hatten Familien, die auf ihre Heimkehr warteten.

In einem wahren Begeisterungstaumel wurden die Leinen in kürzester Zeit von zahllosen Händen an den Pollern am Kai festgezurrt. Als Letztes wurde die Gangway herabgelassen, und im nächsten Augenblick strömten die Wartenden an Deck. Freunde, die sich seit vielen Monaten nicht mehr gesehen hatten, schlugen sich mit schwieligen Händen auf die Schultern, Verabredungen für den abendlichen Besuch im Saloon wurden getroffen, und die verheirateten Matrosen rannten auf den Kai hinunter, um Frauen und Kinder in die Arme zu schließen. Für einige Augenblicke war die Arbeit vergessen, und alle begrüßten und umarmten sich und tauschten die letzten Neuigkeiten aus.

Erst als ein dunkelhaariger Mann die Gangway erklomm und plötzlich inmitten der Menge stand, trat Stille ein. Der Mann hatte eine so starke Ausstrahlung, dass er die Blicke aller auf sich zog. Auch Charmaines Blick haftete auf ihm, und sie bewunderte ihn, wie sie noch nie zuvor einen Mann bewundert hatte. Sein Gesicht war gebräunt, was den langen Stunden unter tropischer Sonne geschuldet war. Der eindringliche Blick seiner Augen ließ einen scharfen Verstand erahnen. Kastanienbraune Locken fielen ihm bis auf die Brauen, und unter der geraden Nase erkannte sie einen Schnurrbart, volle Lippen und ein energisches Kinn. Der Mann bewegte sich leichtfüßig, und doch war seine Haltung stolz und selbstbewusst – ja, aristokratisch. »Na los, Männer!«, rief er über die Decks, dass seine weißen Zähne nur so blitzten. »Je schneller wir die Ladung löschen, desto eher könnt ihr euren Durst auf meine Kosten im Dulcie’s löschen.«

Laute Jubelrufe waren die Antwort, und gleich darauf entstand ein unglaubliches Durcheinander, als die Männer sich an die Arbeit machten. Der hochgewachsene Fremde stand mit gespreizten Beinen an Deck und brüllte einen Befehl nach dem anderen. Die Abdeckung der großen Luke wurde geöffnet, Gerätschaften wurden herangerollt, und es dauerte nicht lange, bis ein Flaschenzug und ein Ladebaum errichtet waren. Der Mann grinste über das ganze Gesicht, während er die Geschäftigkeit um sich herum beobachtete.

Charmaine konnte ihre Augen kaum abwenden und hoffte nur, dass der Mann ihre Blicke nicht bemerkte.

Mit einer ausholenden Bewegung wischte er sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn, bevor er sich das Hemd über den Kopf zog und genau wie Matrosen und Schauerleute eine behaarte Brust und breite Schultern sehen ließ. Rasch hängte er das Hemd über die Reling und legte dann bei den Arbeiten selbst mit Hand an.

Charmaines Herz geriet aus dem Takt. In Richmond zogen sich die Männer niemals das Hemd aus. Staunend betrachtete sie das Spiel der Muskeln auf seinem gebräunten Rücken und den Armen. Offenbar scheute er sich nicht vor harter Arbeit. Ja, er schien sie geradezu zu genießen. Das Blut stieg ihr in die Wangen, während ihr Blick über den verschwitzten Rücken bis hinunter zu den muskulösen Beinen unter der eng anliegenden Hose glitt. Überwältigt musste sie den Blick abwenden. Sie konnte kaum mehr atmen. Dies war bei weitem der attraktivste Mann, den sie je zu Gesicht bekommen hatte.

»Charmaine!«, rief Joshua, als er sich einen Weg durch das Durcheinander bahnte. »Ich habe Harold und Caroline Browning bereits erspäht.«

»Sind sie denn hier?«

»Ja, sie warten unten auf dem Kai.« Er ergriff ihren Arm und führte sie zum Achterdeck. »Offenbar haben sie uns an Bord der Raven vermutet, als sie hörten, dass sie aus Richmond kommt.«

Charmaine nickte, doch ihr Blick ruhte noch immer auf dem Fremden, der zusammen mit drei anderen Männer die ersten Fässer, immer eines nach dem anderen, quer über das Deck rollte.

»Wer ist dieser Mann?«, fragte sie.

»Das ist Paul Duvoisin«, bemerkte Joshua Harrington schroff, als er die Röte auf Charmaines Wangen bemerkte. »Wir wurden einander bereits vorgestellt.«

»Wann denn?«

»Vor ein paar Augenblicken. Komm jetzt, Charmaine, wir müssen uns beeilen. Die frische Brise ist abgeflaut, und ich habe nicht die Absicht, noch länger in dieser Hitze auszuharren. Wenn die Sonne höher steigt, wird es noch schlimmer.«

Als sie sich der Gangway näherten, deutete Joshua auf ein Paar, das ihnen vom Kai aus zuwinkte. »Ich muss noch Loretta holen. Geh du doch schon nach unten und mach dich mit ihrer Schwester bekannt.«

»Aber ich muss meine Sachen holen«, entgegnete Charmaine. »Sie sind noch in meiner Kabine.«

»Mach dir keine Sorgen. Ich bringe sie mit.«

»Aber nein, Mr. Harrington, das kann ich unmöglich annehmen. Kümmern Sie sich um Ihre Frau, und wir treffen uns in zehn Minuten bei den Brownings auf der Pier.«

Rasch verschwand Joshua Harrington unter Deck. Doch Charmaine blieb mit klopfendem Herzen stehen und schaute erneut zu Paul Duvoisin hinüber. Ihr wurde bewusst, welches Vermögen in den Händen dieses jungen, gut aussehenden Mannes ruhte. Besser, sie dachte nicht darüber nach. Rasch lief sie nach unten, um ihr Gepäck zu holen.

Als Charmaine an Deck zurückkehrte, war Mr. Harrington nirgends zu sehen. Vermutlich war sie vor ihm mit dem Packen fertig geworden. Also machte sie sich auf die Suche nach Mr. Wilkinson, weil es unhöflich gewesen wäre, das Schiff zu verlassen, ohne sich von ihm zu verabschieden und ihm zu danken.

Von einem Matrosen erfuhr sie, dass sich der Kapitän in seiner Kabine auf dem Achterdeck befand. Sie hatte noch kaum geklopft, als Mr. Wilkinson auch schon »herein« rief. Der Kapitän saß am Schreibtisch, und Paul Duvoisin beugte sich über seine rechte Schulter. Keiner der beiden Männer hob den Kopf. Stattdessen starrten sie auf einige Blätter hinunter, die vor ihnen ausgebreitet waren. Der Kapitän machte eine ungeduldige Handbewegung. »Na los, Junge! Gib sie her!«

Vor Überraschung brachte Charmaine kein Wort heraus.

Der Kapitän sah auf. »Oh, Miss Ryan, ich bitte um Entschuldigung. Ich habe Sie für Wagner gehalten. Er sollte mir einige Papiere holen.«

Als Paul Duvoisin den Namen hörte, richtete er sich auf. Seine Aufmerksamkeit war augenblicklich geweckt. Seltsam – ein hübsches Mädchen: wehende Locken, ein nettes Gesicht und eine kurvenreiche Figur. Wie kam sie auf die Raven? Er schluckte. Er hatte sie noch nie gesehen. »Ist das die hübsche Nichte, die Sie mir schon die ganze Zeit über vorenthalten, Jonah?«

»Sie wissen doch genau, dass ich keine Verwandten habe, Paul.«

»Das behaupten Sie jedes Mal!« Paul lachte, auch wenn ihm die Antwort nicht gefiel.

Sein Blick ruhte auf der jungen Frau, doch noch bevor er die nächste Frage stellen konnte, kam der Kabinenboy herein. Ungeduldig griff Paul nach den Schriftstücken und fing sofort an zu lesen.

Diese Missachtung ärgerte Charmaine zwar, aber trotzdem dankte sie dem Kapitän für seine Gastfreundschaft. Er wiederum küsste ihr die Hand und wünschte ihr alles Gute. Mit einem letzten Blick in Richtung Schreibtisch verließ Charmaine wortlos die Kabine.

Inzwischen hatte sich die Hitze merklich gesteigert. Sie hob den Koffer hoch und steuerte auf die Gangway zu, wo die Harringtons sicherlich bereits warteten.

Mr. Harrington erspähte sie schon von weitem. Er kehrte an Bord zurück, nahm ihr den Koffer ab und fasste sie am Ellenbogen. Kurz darauf hatte Charmaine wieder festen Boden unter den Füßen, und doch schwankte sie, als ob sie sich noch immer auf dem Schiff befände.

»Du bist also Charmaine«, sagte Caroline, nachdem sie einander vorgestellt worden waren, und ihr Mann lächelte erfreut. »Du bist genauso hübsch, wie meine Schwester dich beschrieben hat.«

»Ich fürchte, Mrs. Harrington hat übertrieben.«

»Unsinn«, versicherte die rundliche Frau. »Du bist ja beinahe so schön wie meine Gwendolyn.«

Carolines Mann räusperte sich, doch sie brachte ihn mit einem kühlen Blick zum Schweigen.

Charmaine war froh, als sie endlich in den Wagen der Brownings steigen konnte. »Ist es hier immer so heiß?«, fragte sie und betupfte ihre Brauen.

»Eigentlich geht immer eine leichte Brise«, antwortete Mr. Browning. »Und mit der Zeit gewöhnt man sich an die Hitze.«

»Schwerlich, wenn man das Haar offen trägt«, bemerkte Caroline.

Charmaine hob die Haare im Nacken an. »Ich wollte sie eigentlich zu einem Knoten aufstecken …«

»Es ist hübsch, so wie es ist«, fiel ihr Loretta ins Wort und drückte ihre Hand.

Caroline Browning reckte die Nase in die Luft, doch im nächsten Moment wandte sie ihre Aufmerksamkeit der Straße zu. »Sieh nur – dort drüben!«, rief sie und wies quer über das Durcheinander. Gleichzeitig bedeutete sie ihrer Schwester, sich zu ihr herüberzubeugen. »Das ist das Dulcie’s! Oh, dort wird so einiges geboten! Aber Männer sind nun einmal Männer. Habe ich recht, Harold?«

»Woher soll ich das wissen«, murmelte dieser und hielt den Blick auf seinen Schoß gerichtet.

»Was hast du gesagt?«

Diesmal sagte er es laut und deutlich. »Ich sagte, dass nur du das weißt.«

Misstrauisch beäugte sie ihn, aber als die Häuser an ihnen vorbeizogen, vergaß sie die Sache rasch. »Dort drüben ist der große Laden, wo man alles bekommt, was man zum Leben braucht. Das Angebot kann sich durchaus mit größeren Läden in den Staaten messen. Doch an den Wochenenden kann man dort nicht hingehen, denn dann bekommen die Sträflinge ihre Löhne und kaufen ein. Da sind wirklich ekelhafte Gesellen darunter!«

»Aber Caroline«, widersprach ihr Mann entrüstet. »Die meisten sind anständige Leute.«

»Wie kannst du so etwas nur sagen?« Sie war mindestens so entrüstet wie ihr Mann. »Das sind allesamt Mörder – und sonst gar nichts.«

»Sie sind keine Mörder, und das weißt du genau. Sonst dürften sie gar nicht hier arbeiten. Die meisten sind arme Schlucker, die wegen einer Bagatelle hier gelandet sind.«

»Oh, sei doch nicht so verbohrt«, schimpfte sie. »Es sind ganz gewöhnliche Verbrecher. Warum nimmst du sie nur ständig in Schutz?«

»Ich kenne die Männer, oder hast du vergessen, dass ich die Arbeit der meisten beaufsichtige?«

»Psst«, zischte sie, denn ihre Scham war noch größer als ihre Entrüstung. »Muss denn jedermann erfahren, dass du dich mit diesen Leuten abgibst?«

»Ich verberge nicht, womit ich auf der Insel mein Brot verdiene«, entgegnete er hastig. »Erst recht lüge ich nicht, wie du das tust.«

»Harry, bitte!«, sagte sie nervös. »Doch nicht vor der ganzen Familie!«

Sie starrte aus dem Fenster – und schon ging das Klagen weiter. »Sieh nur, was du angerichtet hast! Jetzt sind wir in den Außenbezirken und haben alle wichtigen Gebäude verpasst!«

Sie schimpfte noch eine Weile, bevor sie sich für ein neues Thema erwärmte. »Es ist wirklich eine Schande, dass du Paul Duvoisin verpasst hast, Loretta. Ein feiner Mensch – aber auch ein Schwerenöter, wenn du weißt, was ich damit meine. Außerdem wirft er gern ein Auge auf die Ladys. Angeblich fällt der Apfel ja nicht weit vom Stamm. Was das angeht, so tritt er in die Fußstapfen seines Vaters …«

»Caroline!«, fiel Harold ihr ins Wort.

»Aber so ist es doch«, entgegnete sie sehr viel sanfter. Dennoch war sie verärgert, dass ihr Mann wagte, den Klatsch zu unterbinden, der doch unbedingt erzählt werden musste. »Stellt euch nur vor: So viele Jahre war der Mann Witwer – und dann heiratet er mir nichts, dir nichts ein Mädchen, das seine Tochter sein könnte! Wenn ich mir vorstelle, dass Colette …«

»Caroline!« Ihr Mann explodierte. »Halt jetzt endlich den Mund!«

»Aber Harold«, entrüstete sich Caroline angesichts dieses seltenen Wutausbruchs.

Doch Harolds Zorn kühlte ebenso rasch ab, wie er aufgeflammt war, und er zerrte verlegen an seinem Kragen. »Es tut mir leid«, entschuldigte er sich leise. »Aber meine Frau sollte keine Gerüchte verbreiten.«

Caroline schnalzte mit der Zunge. »Das sind keine Gerüchte, mein lieber Mann, sondern Fakten.«

Die restliche Fahrt über wurde geschwiegen. Charmaine überlegte, wie verschieden die beiden Schwestern doch waren. Außerdem kehrten ihre Gedanken immer wieder zu Colette Duvoisin zurück und suchten nach Antworten. War die junge Frau gern mit einem Mann verheiratet, der alt genug war, um ihr Vater zu sein? Welche Überraschungen und Erkenntnisse brachten wohl die nächsten Tage für sie?

Als der Wagen vor dem Landhaus der Brownings hielt, erschien ein Mädchen von ungefähr fünfzehn Jahren. Sie war genau wie ihre Mutter ein wenig untersetzt, aber sie rannte mit einem strahlenden Lächeln auf den Wagen zu. »Tante Loretta? Onkel Joshua?«

»Gwendolyn?« Loretta konnte es nicht fassen. »Mein Gott, Kind, wie groß du geworden bist!«

Während sie einander umarmten, zog Harold Browning seine Frau beiseite und flüsterte hitzig auf sie ein. »Wenn ich nur noch eine einzige Silbe über Frederic und Colette von dir höre, kannst du augenblicklich deine Sachen packen. Das schwöre ich!« Carolines Kinn sank herab. »Oder willst du vielleicht, dass ich meine Stellung auf der Insel verliere? Dass man mich wie Clayton Jones davongejagt? Erinnerst du dich noch, wie es ihm ergangen ist?«

Carolines Augen wurden so groß wie Untertassen. »Ja … aber nein … natürlich nicht.«

»Oder wärst du lieber die neue Alma Banks? Dann hätten die Leute in der Stadt wahrlich etwas zu tratschen!«

Carolines Gesichtsausdruck spiegelte ihr Entsetzen wider.

»Nun gut.« Harold lächelte und nickte zufrieden. »Denk daran, bevor du beim nächsten Mal deine Zunge wetzt. Frederic Duvoisin ist vielleicht krank, aber ich weiß aus sicherer Quelle, dass er nicht handlungsunfähig ist, wie jedermann zu glauben scheint. Außerdem habe ich genauso viel Respekt vor Colette wie vor ihrem Mann. Wenn die beiden nicht gewesen wären … Wer weiß, wo wir heute stünden? Das ist doch wahrlich Grund genug, um das Getratsche endlich einzustellen!«

Caroline nickte beklommen. Es dauerte einen Moment, bis sie sich wieder in der Gewalt hatte und dann endlich ihre Besucher ins Haus bat.