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Donnerstag, 12. Oktober 1837

Mitternacht

 

Paul fuhr sich mit der Hand durchs Haar und atmete noch einmal tief ein, bevor er die Räume seines Vaters betrat. Der alte Mann war noch genauso verzweifelt, wie er ihn vor ein paar Stunden verlassen hatte. Er hatte sich nicht aus seinem Sessel wegbewegt und trug noch immer dieselbe Kleidung wie an dem Tag, als der Unfall geschehen war. Seine geröteten Augen starrten blicklos vor sich hin, und sein Kinn war von Bartstoppeln bedeckt. In diesem Augenblick spiegelten sich Johns Züge in den seinen.

Paul durchquerte den Raum und suchte seinen Blick. »Er ist tot«, sagte er heiser und musste gegen den Schmerz in seiner Kehle ankämpfen.

Abrupt ließ Frederic den Kopf sinken.

Als Paul merkte, dass sein Vater weinte, wollte er sich zurückziehen.

»Und John?« Die Stimme brach.

»Er hält sich tapfer.«

Wieder wollte Paul gehen. Nach den Ereignissen der letzten Tage konnte er sich nicht auch noch die Verzweiflung seines Vaters auf die Seele laden. Aber diesmal ließ ihn ein Blatt Papier auf dem Boden innehalten. Er hob es auf und überflog es, während er es zu zwei weiteren Kopien auf den Schreibtisch legte. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte er verwundert.

Frederic hob den Kopf. »Das ist mein Vermächtnis an John – zu wenig und zu spät.«

»Du hast ihm das Sorgerecht für die Mädchen und Pierre übertragen?«

»Das ist doch jetzt unwichtig, nicht wahr?«

»Aber warum auch für Yvette und Jeannette?«

»Am Samstag hat John mich um das Sorgerecht für alle drei Kinder gebeten. Aber ich mochte nicht in mich gehen – und habe seine Bitte abgelehnt. Als ich es mir überlegt hatte, war es zu spät.«

Frederics Gesicht war eine Maske des Kummers. »Wegen mir musste mein Enkelsohn sterben. Vergib mir, Colette, er ist nur wegen mir gestorben.«

Das Mondlicht fiel ins Zimmer und auf den Teppich, das Fußende des Betts und auch auf den Mann, der keinen Schlaf fand. Erschöpft grübelte John über sein sinnloses Leben und starrte zu den Spinnweben an den Deckenbalken empor.

Diesmal hatte er sich mit der Strömung treiben lassen, aber das Ergebnis war noch schrecklicher als sonst, wenn er das Schicksal zu seinen Gunsten zu beeinflussen suchte. Er war ein dämlicher Narr! Wann würde er begreifen, dass er immer nur Unglück brachte? Niemals! Er hatte Gott, hatte seinen Vater herausgefordert, und als Ergebnis war Pierre tot. Pierre und …

Die Nachtluft trug einen zarten Lilienduft ins Zimmer. Sie war gekommen, und ihre Gegenwart war so lebendig wie in der Vergangenheit. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihn in den Stunden vor der Dämmerung besuchte. Also war klar, dass er träumte.

Zauberhafte Colette … auf seiner Schwelle, in erregter Erwartung einer Liebesstunde, mit gelöstem Blondhaar und Augen so blau wie das Meer, die leicht geöffneten Lippen, die seinen Kuss ersehnten. Das Mondlicht enthüllte ihren nackten Körper unter dem hauchdünnen himmelblauen Gewand.

Stöhnend schloss er die Augen, doch sie schwebte auf ihn zu, als ob sie sicher sei, dass er nicht widerstehen könne. »John«, flüsterte sie, »mein liebster John.«

Bisher hatte sie nie etwas gesagt. Wie vom Donner gerührt sprang er auf. Mit ausgestreckter Hand berührte er sacht ihren Arm und erwartete, dass die Erscheinung sich auflöste. Als sie es nicht tat, packte er ihre Schulter und grub zornig die Finger in ihr Fleisch. »Lass mich in Ruhe! Du hast mich lange genug gequält!«

Sie lehnte ihren Kopf an seine Brust und umschlang ihn. »Schick mich nicht fort«, bat sie.

»Ich soll dich nicht wegschicken? Dabei warst du es doch, die mich verlassen hat!« Er schüttelte sie, bis ihr Kopf nach hinten sank und Tränen aus ihren Augen quollen. »Geh weg! Du bist tot. Verdammt. Du bist tot!«

»Nicht, solange du leidest. Ich wollte, dass du nach Charmantes kommst, John, aber was geschehen ist, wollte ich nicht. Du weißt, was du tun musst, worum ich dich gebeten habe.«

Tod … eine einfache Lösung …

John zog sie an sich, und seine Lippen löschten ihren Wunsch. Er hob sie auf seine Arme und trug sie zum Bett. Dann zog er den dünnen Schleier zur Seite und liebte sie heftiger als je zuvor. Er küsste das verlockende Grübchen an ihrem Hals, das er nur ein einziges Mal berührt hatte. Ihr leises Keuchen und ihre zarten Koseworte beflügelten seine Leidenschaft. Sie war so ganz anders als die Frau, an die er sich erinnerte, und er ergötzte sich an der ungewohnten Unschuld ihrer Berührungen.

Der frische Duft der Dämmerung betörte seine Sinne, und eine leichte Brise trieb den schweren Duft der Lilien aus dem Raum. Er küsste ihr Kinn, und sein Mund legte sich auf ihre leicht geöffneten Lippen. Ihre Unschuld befeuerte seine Sinne, und er nahm sie wieder und hielt den Atem an, als er den Kopf hob und sie ansah.

»Charmaine …«, flüsterte er heiser und völlig verwirrt. Ihre Arme lösten sich von ihm, und obgleich er sie fester an sich zog, verschmolz sie mit den Laken, und er erwachte.

»Verdammt!« Er setzte sich auf und barg sein Gesicht in den Händen. Sein Kopf schmerzte, und seine Augen brannten wie glühende Kohlen. »Verdammt!« Von wem hatte er geträumt … von Colette oder von Charmaine?

Unentschlossen stand Paul im leeren Korridor. Er hatte schon mehrmals die Hand gehoben, um an die Tür zum Gästezimmer zu klopfen, doch jedes Mal hatte er sie wieder sinken lassen. Vermutlich schläft sie. Dann sollte ich sie nicht stören. Aber vielleicht ist sie ja wach und braucht eine Schulter, um sich auszuweinen?

Er wollte für Charmaine da sein, wollte sie trösten. Gestern Nacht wollte er sie schon in den Arm nehmen, aber Rose hatte ihn davon abgehalten.

Ein paar Stunden später, er erinnerte sich, hatte Charmaine aufrecht und mit trockenen Augen hinter seinem Bruder gestanden. Nach ihrem ersten Ausbruch beim Tod des Kleinen griff ihm jetzt ihre Stärke ans Herz. Er wusste, dass sie die Kraft nur für John aufbrachte, damit er in das Zimmer zurückkehren und von seinem Sohn Abschied nehmen konnte. Aber wer war für sie da? Mit neuer Entschiedenheit öffnete er die Tür und betrat das Zimmer.

Agatha saß am Frisiertisch und betrachtete ihr Spiegelbild. Trotz ihres Alters war sie noch immer hübsch. Lächelnd sah sie, wie ihr Hals von dem breiten Kragen des schlichten schwarzen Kleides eingerahmt wurde. Etwas zu schlicht, entschied sie und öffnete die Schatulle, um eines der wenigen verbliebenen Schmuckstücke auszuwählen. Mit Colettes und Elizabeths Schmuck hatte sie den Erpresser bezahlt und nur ab und zu ihren Unterhalt angreifen müssen. Dadurch war das Vermögen, das sie von ihrem verstorbenen Mann geerbt hatte, noch immer unberührt. Eine kluge Entscheidung! Sie runzelte die Stirn. Wohl oder übel musste sie sich mit dem Verlust eines Teils ihres hart erarbeiteten Vermögens abfinden. Für sie war das eine Investition, und heute sollte sie sich auszahlen. Das alles wird bald hinter dir liegen, meine Liebe. Sie steckte eine mit Diamanten besetzte Brosche an ihr Trauerkleid und strich einige feine Härchen von den Schläfen zurück. Zuletzt versteckte sie ihre Zufriedenheit hinter einer Maske aus Zerknirschung und nahm ihre nächste vielversprechende Rolle in Angriff.

Charmaine regte sich und drehte sich auf ihren schmerzenden Rücken. Weil sie so lange geweint hatte, tat ihr sogar das Atmen weh. Außerdem hatte sie Kopfschmerzen. Trotzdem lächelte sie, als sie die Augen aufschlug. Sie hatte geträumt, aber zum Glück war es nur ein schrecklicher Albtraum gewesen.

Sie starrte zur Decke empor und wandte dann den Kopf zur Seite. Dies ist nicht mein Zimmer. Verunsichert zog sie die Decke bis ans Kinn. Kein Traum. Guter Gott … es war kein Traum! Vor dem gewaltigen Schmerz schloss sie die Augen, doch Sekunden später riss sie sie wieder auf und nahm den Mann wahr, der am anderen Ende des Raums auf einem Sessel saß und schlief. Paul.

Sie drehte das Gesicht zur Seite und stöhnte in ihr Kissen. Schreckliche, untilgbare Bilder bedrängten sie. Das Sterbezimmer, Pierre, die Kapelle, John … keines ließ sich vergessen. Und doch musste sie es versuchen, wenn sie den Tag überstehen wollte.

Ganz langsam überwand sie ihre Angst und zwang sich zum Aufstehen. Sie ging zu dem schlafenden Mann hinüber und kniete geräuschlos neben dem Sessel nieder. Sie legte ihm die kühle Hand auf die Stirn, die er im Schlaf gerunzelt hatte, und strich ihm eine Locke aus der Stirn. Paul rührte sich nicht und atmete tief und ruhig weiter. Im ersten Licht der Morgendämmerung betrachtete sie seine jungenhaften Züge und die dunklen Wimpern. Sie tätschelte seinen Arm und dankte ihm flüsternd für seine schützende Gegenwart. Dann zog sie sich zurück, um sich anzukleiden.

»Hast du mich gehört?«

»Ja, Agatha, ich habe dich gehört.« Frederic stand an den Verandatüren und wandte seiner Frau nur leicht den Kopf zu. Das erste Morgenlicht beleuchtete sein Profil. Er hatte gerade eben gebadet und war dabei, sich für diesen schrecklichen Tag anzukleiden … und schon ging ihm seine Frau auf die Nerven. »Auf Charmantes existiert kein gesellschaftliches Leben«, wiederholte er mechanisch. »Ich sollte mir Gedanken machen, ob wir die Mädchen vielleicht in ein Internat nach London geben sollen.«

In Gedanken war er weit weg, weil er kaum geschlafen hatte. Als Erstes muss ich meine Töchter besuchen. Dieses Mal sollen sie nicht allein trauern müssen …

»… und du, mein liebster Mann, wirst viel ruhiger sein, wenn du deine Töchter in guten Händen weißt.«

»Agatha, bitte! Ich will das jetzt nicht diskutieren …«

»Ich weiß«, unterbrach sie ihn. »Du hast im Augenblick Wichtigeres zu bedenken. Aber heute wird John dir zum letzten Mal wehtun.«

Mit gerunzelter Stirn sah Frederic seine Frau an. »Wovon redest du?«

»John ist es nicht wert, dein Sohn genannt zu werden«, erklärte sie. »Sicher siehst du das jetzt auch so.«

»Ich sehe überhaupt nichts.«

»Dann bist du blind«, sagte sie und machte sich auf einen Wutanfall gefasst. »Der Junge war ihm anvertraut, aber John hat ihn wegen seines Pferdes vernachlässigt! Er wusste genau, wie verzweifelt der Junge war. Aber hat es ihn gekümmert? Nein. Er hat sich sogar noch lustig gemacht.«

Angesichts dieser Unterstellung war Frederic sprachlos. »Bist du verrückt, Frau? John hat den Jungen geliebt … und er trauert über die schreckliche Tragödie.«

»Eine Tragödie, die man leicht hätte verhindern können! Mag sein, dass John nicht voraussehen konnte, dass der Junge zum See gehen würde, aber du kannst sicher sein, dass er darauf gehofft hat, dass der Kleine beim Aufwachen heulen und schreien und die Familie erneut in Aufregung versetzen würde. Er hat die Kinder mit Absicht ausgenutzt. Pierre ganz besonders.«

»Das ist infam. Ich allein bin für alles verantwortlich und niemand sonst.«

»Ach ja?«, fragte Agatha treuherzig. »Man hat dich getäuscht und dich dazu gebracht, alle Schuld auf dich zu nehmen. Mag sein, dass man dich zu einem Wutanfall gereizt hat, aber deswegen bist du doch nicht schuldig … naiv vielleicht, aber nicht schuldig. Ich dagegen habe mich zurückgelehnt und beobachtet, und was ich über die Jahre zu sehen bekam, war nur schwer zu verdauen. Das letzte Dinner ist dafür ein perfektes Beispiel. John hat uns allen den Abend verdorben, weil er von Beginn an feindlich gesinnt war. Er hat seine Mutter ins Gespräch gebracht und sowohl deine Liebe zu ihr als auch mich lächerlich gemacht.« Voller Abscheu hielt sie inne. »Wie konnte er sich vor der ganzen Familie und der Dienerschaft nur so gebärden?«

»Er hat jedes Recht, mich zu hassen«, entgegnete Frederic müde.

»Im Gegenteil«, widersprach Agatha. »Du bist viel zu nachsichtig. Wie lange willst du seine Missetaten noch mit deiner Liebe zu Elizabeth entschuldigen? Sie ist seit dreißig Jahren tot … und sie lebt nicht weiter, jedenfalls nicht in ihrem Sohn!«

Frederics Blicke verdunkelten sich, doch Agatha war nicht zu beeindrucken. »Du hast selbst gesagt, dass er Elizabeth nicht ähnlich ist. Aber was ist er denn dann … nur die Saat eines Banditen?«

»Er ist mein Sohn«, erwiderte Frederic kalt. »Mein Sohn. Alles, was er ist, hat er unmittelbar von mir. Von seinem Vater.«

»Aber …«

Er funkelte sie an. »Behaupte nie wieder, dass an Johns Vaterschaft Zweifel bestehen! Ich glaube das schon lange nicht mehr. John ist mein Fleisch und Blut!«

»Aber das ist unmöglich!«

»Das habe ich auch geglaubt, doch das ist vorbei.«

»Du kannst nicht sicher sein«, widersprach sie hitzig.

»Ich bin es aber. Du musst John nur ansehen. Du hast selbst gesagt, dass ich blind war. Nun, das war ich, und es hat mich eine Menge gekostet. Ich habe deinem Bruder geglaubt, als er bei Johns Geburt wegen der Größe des Babys besorgt war und mich überzeugen wollte, dass John einen Monat zu früh geboren sei. Ich glaubte ihm auch, als er das Kind für den Tod der Mutter verantwortlich machte. Gott möge mir verzeihen. Ich habe ihm auch geglaubt, als er das Datum der Empfängnis berechnet und – obgleich er wusste, dass Elizabeth und ich schon vor ihrer Entführung ein Liebespaar waren – daraus geschlossen hat, dass John unmöglich mein Sohn sein konnte, sondern die Frucht eines heimtückischen Verbrechens war. Aber ich glaube ihm nicht länger, Agatha. Ich habe den Unsinn endgültig satt.«

»Aber, Frederic, Robert würde dich doch nicht belügen! Du tust ihm bitter Unrecht.«

»Es gibt nur einen Menschen in diesem Haus, dem Unrecht geschehen ist, und das ist mein Sohn. Zehn Jahre seines Lebens habe ich ihn missachtet, und als ich gemerkt habe, was ich tat, war es zu spät. Heute weiß ich das, und ich weiß auch, dass es für John und mich für immer zu spät sein wird. Ich habe nicht das Recht, Vater genannt zu werden, und er hat jedes Recht, mich zu hassen. Doch ich werde nie wieder etwas tun, das ihn verletzen könnte.«

»Dafür erlaubst du ihm, dich zu verletzen! Hat Colette deshalb dieses Kind empfangen? Warst du so sehr damit beschäftigt, deinen Sohn nicht zu verletzen, dass du nicht gemerkt hast, als er deine Frau verführt hat? Was kommt als Nächstes?«

Frederics Augen verdüsterten sich. »Woher weißt du das?«, herrschte er sie an.

Agatha verzog das Gesicht. »Demnach hat Robert recht.«

»Robert … immer nur Robert!«

»Was sollte er denn sonst denken? Er hat mir von der Geburt der Zwillinge erzählt und davon, wie Colette ständig nach John gerufen hat! Sind die Mädchen etwa auch seine Kinder?«

»Nein, Agatha, es sind meine Kinder.«

»Wie kannst du dann sicher sein, was Pierre angeht?«

»Sagen wir es einfach so: Ich bin sicher.« Er lächelte zynisch. »Wie du siehst, hat John niemanden ausgebeutet. Er hat Pierre geliebt und wollte ihm nur ein guter Vater sein.«

»Das glaube ich nie und nimmer. Aber ich bewundere Johns schauspielerische Leistung. Wahr ist, dass er dich hasst und dass du seine Liebe nie mehr gewinnen wirst. Er ist entschlossen, die Familie zu zerstören.«

»Und wie will er das anstellen?«

»Indem er dich deinen Kindern entfremdet«, erklärte sie. »Du siehst tatenlos zu, wie er seine Eifersucht auf seine Geschwister und auf Colette nährt. Er wird nicht ruhen, bevor du im Grab liegst. Sieh doch nur, wie er Paul behandelt! Er beneidet euch um das Band, das euch verbindet. Seit Paul Espoir besitzt, ist sein Neid noch gewachsen. Aber hat er zumindest versucht, sich so respektvoll wie sein Bruder zu benehmen? Niemals!« Sie unterstrich die Bemerkung mit einer emphatischen Geste. »Stattdessen sät er Unfrieden, wo immer er kann. Du magst gern glauben, dass er nach Charmantes gekommen ist, um Pierre ein Vater zu sein, aber ich sage dir, dass er nur gekommen ist, um dich leiden zu sehen. Warum siehst du das nicht? Du bist zu gut, Frederic! Er hatte zwei Monate Zeit, um sich mit den Kindern vertraut zu machen, und die ganze Zeit über hat er deine Gegenwart ertragen. Und plötzlich kann er das nicht mehr? Wie naiv ist er eigentlich?

Er hat alles getan, um dich in ein schlechtes Licht zu rücken – angefangen mit dem Ausflug ins Dulcie’s. Warum, um alles in der Welt, hat er die Kinder ausgerechnet dorthin ausgeführt? Er wollte nicht Yvette vorführen, sondern dich! Und du hast den Köder geschluckt! Er hat nur auf deine Bemerkung im Foyer gelauert, um dann mit gesenktem Kopf davonzurennen. Mein Gott, welch ein Schauspieler! Alles ist so gekommen, wie er es geplant hat. Am Tag darauf hat jeder auf Charmantes gewusst, dass sein tyrannischer Vater ihm das Leben unerträglich macht und er seine Schwestern und seinen eigenen Sohn verlassen muss. Ich kann mir genau vorstellen, was er gesagt hat: Ich wünschte, ich könnte bleiben, aber ich bin nicht länger willkommen. Mein Vater hasst mich. Nein, du kannst leider nicht mitkommen, Pierre. Er würde das nicht erlauben.

Aber du warst bereit, ihm den Jungen zu geben, nicht wahr? Das war der Grund für unsere Reise nach Espoir. Du hast John diese fünf Tage eingeräumt. Fünf Tage, um Pierre mitzunehmen. Im Hafen lag sogar ein Schiff. Wenn er Vater sein will, warum hat er den Jungen nicht einfach mitgenommen? Erzähle mir jetzt nicht, dass er Pierre nicht das Herz brechen wollte! Vor vier Tagen beim Dinner hatte er keine Gewissensbisse, genau das zu tun, nicht wahr?«

Als Frederic schwieg, schüttelte sie indigniert den Kopf. »Pierre war vielleicht zu jung, um es zu verstehen, aber John hat dafür gesorgt, dass deine Töchter nur zu gut verstanden haben. Es ist sehr traurig, dass sie in dir den Schuldigen sehen. Vor einigen Monaten hattest du es satt, der finstere Patriarch zu sein. Aber vielleicht gewöhnst du dich besser daran, mein lieber Mann. Irgendwann wird man dir vielleicht sogar noch Pierres Tod anlasten.« Sie gab vor, einen schlechten Geschmack im Mund zu haben. »Aber nicht mit mir! Ich habe genug von diesem Theater. Du meinst, dass ich John hasse? Das stimmt. Und zwar für alle Nöte, in die er dich gestürzt hat. Aber das gleicht sich aus, denn er hasst mich genauso. Und warum? Weil ich ihn durchschaue!

Denk, was du willst, Frederic. Glaube ruhig, dass er dein Sohn ist, aber wenn er dir ein Messer in den Rücken sticht, dann beklage dich nicht! Denk an Colette und wie er sich den Weg in ihr Bett erschlichen hat. Ihn hält nichts auf. Nichts, hörst du? Beschütze ihn nur weiter und binde ihn mit der Erbschaft an dich, aber beklage dich nicht, wenn er deine Familie zerstört. Dir wird nichts bleiben. Und John? Er wird alles haben … das triumphierende Grinsen und dein Vermögen … einfach alles. Denke daran, dass ich dich gewarnt habe.«

Frederic räusperte sich, um den Kloß in seiner Kehle zu beseitigen, und drehte sich wieder zu den Verandatüren um. »Schick bitte Miss Ryan zu mir, sobald sie wach ist«, sagte er, als Agatha gehen wollte.

Sie war erstaunt. Und neugierig. Vielleicht konnte er wenigstens heute eine Sache richtig machen. Eine Sache, die alle freute, sogar seine Frau. Dazu musste er jedoch wissen, ob die Gouvernante gewillt war, zusammen mit seinen Töchtern für einen Besuch nach Richmond zu reisen.

Agatha lehnte sich gegen die Tür und seufzte erleichtert. Das Gespräch war nicht ganz so wie geplant verlaufen, doch ein Fenster der Hoffnung stand noch offen. Frederic wollte mit der Gouvernante sprechen. Das war ihre Gelegenheit.

Denke nach und lass dir Zeit!

Sie kehrte über den Korridor in ihre Räume zurück. Es war noch früh, und sie hatte noch genügend Zeit, um einen Plan zu schmieden. Während ich die Einzelheiten überlege, wird Frederic über meine Argumente nachdenken.

Ein heimtückisches Lächeln spielte um ihre Lippen. Auch wenn sich ihr Mann nach Frieden mit seinem Sohn sehnte, so war doch dessen schlechter Charakter eine Tatsache. Wenn John seinen Vater reizte, würde dessen hitziges Temperament den Rest erledigen.

Roberts Verdacht hatte sich also bestätigt: Colette war ein Flittchen gewesen. Agatha war entzückt. Am Morgen nach Johns Ankunft hatte sie versucht, diesen Verdacht ihres Bruders zu beweisen, indem sie heimlich in Johns Zimmer geschlichen war und in seinen Schubladen gekramt hatte. Dabei hatte sie Colettes Brief gefunden, über den das gesamte Haus redete. Aber leider war die lästige Gouvernante genau in diesem Moment ins Zimmer gekommen, sodass sie gerade noch über die Veranda flüchten konnte. Als sie ihr Abenteuer einige Tage später wiederholte, war der Brief jedoch verschwunden. Über die Wochen hatte sie sich die Geschichte zusammengereimt … und heute nun hatte sich der Verdacht endlich bestätigt.

Fürwahr, John hatte Grund genug, seinen Vater zu hassen. Sie musste nur den Kessel ihrer Feindschaft schüren, damit er im entscheidenden Moment überkochte. O ja, lieber Neffe, noch heute lege ich die Schlinge aus, in der du dich verfangen wirst! Die Bühne war vorbereitet, nun musste sie noch die Akteure arrangieren und das Stichwort geben. Dann konnte sie sich zurücklehnen und das Schauspiel genießen.

Frederic sank schwer in seinen Sessel. O Gott, Elizabeth, was habe ich getan!

Die Jahre lösten sich in nichts auf. Elizabeth stand wieder vor ihm und bebte vor Angst davor, dass sie die Koffer packen müsse. Aber genau das war sein Ziel. Nach einiger Überlegung war er zu der Meinung gelangt, dass sie in England am besten aufgehoben war. Aber hier stand sie und bot sich ihm an, damit er sie bleiben ließ. Seine jämmerliche Ausflucht, dass sie zu jung sei, überlebte die Nacht nicht. Sie schenkte ihm alles, sogar ihr Herz, und erwartete nichts dafür außer Geborgenheit in seinen Armen und ein Heim auf Charmantes.

Selbst am nächsten Tag ahnte sie noch nicht, welchen Eindruck sie auf ihn gemacht hatte. Ihre Augen schwammen in Tränen, als er verlangte, dass sie die nächtliche Episode vergaß. Im Grunde hätte er dankbar sein müssen, dass sie befürchtete, ihm nichts zu bedeuteten. Schließlich brachte er sie zu ihrer Familie zurück. Er hatte andere Pläne, die sie nicht einschlossen, und musste ein Versprechen halten.

Aber das Schicksal wollte es anders. Während der Reise wuchs seine Zuneigung von Tag zu Tag, und statt Elizabeth aus dem Weg zu gehen, suchte er ihre Gesellschaft. Als sie England erreichten, hielt sie sein Herz in ihren Händen. Er liebte sie.

Wenn er gewusst hätte, was sie erwartete, hätte er das Mädchen auf der Stelle nach Charmantes zurückgebracht und sich dort mit ihr versteckt. Aber sich vor ihrer Familie zu verstecken, das war keine Lösung. Außerdem wollte er Elizabeth heiraten und brauchte einen Priester. Sie wählten also den ehrbaren Weg, doch bevor die Gelübde gesprochen waren, wurde ihre Zukunft unwiderruflich beschmutzt.

In den letzten Januartagen wurde Elizabeth das Opfer einer Entführung und von den Banditen brutal vergewaltigt. Eine ganze Woche war sie wie vom Erdboden verschwunden. Wie ein Verrückter hatte er die Umgebung abgesucht und sogar gebetet. Und genauso hatte er den Engeln gedankt, als sie ihm wie durch ein Wunder wieder geschenkt wurde. Was die Kerle ihr angetan hatten, war für ihn ohne Bedeutung, solange sie nur am Leben war.

Viele Wochen lang war Elizabeth sehr verzagt, sodass man die Hochzeit hinausschob. Frederic wich ihr nicht von der Seite, bis sie sich ganz langsam erholte. Währenddessen änderte sich auch die Meinung der widerspenstigen Eltern. Wenn Frederic ihre Tochter heiratete und mit nach Charmantes nahm, würde die Schande der Vergewaltigung bald vergessen sein. Ende März wurden die beiden endlich getraut und kehrten nach Charmantes zurück.

Anfang April teilte Elizabeth ihrem Mann mit, dass sie ein Kind erwartete. Eigentlich hätte Frederic überglücklich sein müssen, doch ihr sorgenvoller Blick bestätigte seine Befürchtungen: Das Kind war womöglich nicht von ihm. Kurz nach Mitternacht am 29. September 1808, acht Monate nach der Entführung, wurde John geboren. Seine Eltern waren gerade einmal sechs Monate verheiratet, und dennoch war er nach den gesellschaftlichen Regeln ein eheliches Kind.

Obwohl das Baby nicht groß war, war die Geburt lange und schwer, und die Blutungen waren kaum zu stillen. Das Kind hatte seiner Mutter letztlich das Leben gestohlen. Als Frederic in die verschwitzten Laken weinte, fühlte er Elizabeths Hand in seinem Haar und hörte ihre kraftlose Stimme, ihren letzten Wunsch, den Jungen nach ihrem verstorbenen Bruder John zu nennen. Dann verließ sie ihn, ließ ihn mit dem Wunder, einen Sohn bekommen zu haben, allein und in tiefster Verzweiflung zurück.

Anschließend richtete sich seine ganze Wut auf Robert Blackford, indem er ihn für Elizabeths Tod verantwortlich machte. Der Mann bebte vor Angst, bis Rose mit dem Kind zwischen die beiden trat und Robert bat, die Gesundheit des Babys zu überprüfen. Ein paar Minuten später schnalzte der Arzt leise mit der Zunge. »Mit Sicherheit ist der Junge keine neun Monate lang getragen worden. Zu denken, dass sie Elizabeth doch noch getötet haben …«

»Wer? Wer hat sie getötet?«

»Die Banditen. Es tut mir leid, Frederic, aber der Junge ist viel zu klein, um dein Sohn …«

Es verging mehr als eine Woche, bis Frederic das Kind überhaupt ansah und sich dann angeekelt abwandte. Wenn du nicht zur Hälfte von Elizabeth wärst, würde ich dich den Hunden vorwerfen. Sein Hass stieß ihn ab, und doch konnte er ihn nicht beherrschen, und er wies den Jungen zurück.

Pauls Gegenwart machte die Sache nur schlimmer. Bei ihm wusste Frederic, dass er der Vater war. Manchmal hielt er den Jungen sogar für Elizabeths Sohn und erinnerte sich gern an die Momente, als sie den kleinen Kerl in den Wochen vor ihrem Tod bemuttert hatte. Paul war ein glückliches Kind, das zu einem wunderbaren Mann heranwuchs. John dagegen war eher widerborstig und führte alle Welt gar zu gern an der Nase herum. Wenn Frederic ehrlich war, so hatte es durchaus Augenblicke gegeben, in denen er sich John plötzlich sehr nahe gefühlt hatte und auch sehr zerknirscht gewesen war. Doch seine Bitterkeit hatte die schwache Flamme regelmäßig ausgelöscht. Wenn John nicht gewesen wäre, wäre Elizabeth noch am Leben.

So vergingen die Jahre, und irgendwann war John ein junger Mann. »Ein so gut aussehender Junge!«, lobte ihn Frederics ältere Schwester Eleanor, die normalerweise in den Staaten lebte und zu Besuch nach Charmantes gekommen war. »Er sieht genau aus wie du in diesem Alter, Frederic … ganz genau wie du …«

Ja, Frederic war blind gewesen, aber der Schaden war geschehen, und John hasste seinen Vater bitterlich.

Unsicher sah Joseph zu John empor und betete, dass Yvettes Bemerkung über ihren Bruder richtig war. »Er spielt nur Theater, um die Leute zittern zu lassen. In Wahrheit ist er ein Feigling. Das hat er selbst gesagt.«

Theater oder nicht, jedenfalls blickte Master John mit finsterer Miene auf Joseph hinunter und schien gar nicht bemerkt zu haben, dass der Junge ihm sein Bad vorbereitet hatte.

»Das ist alles, Joseph«, murmelte er, während er in das heiße Wasser stieg. »Oh, noch etwas. Miss Ryan schläft im Gästezimmer nebenan und darf nicht gestört werden, bis sie läutet.«

»Aber sie ist doch schon lange auf, Sir.«

Mit geröteten Augen sah John den Jungen an. »Das kann ich mir vorstellen.«

»Sir?«

»Nichts, Joseph. Gar nichts.«

»Sir?«, begann der Junge nun etwas mutiger, als er Johns geschwächten Zustand bemerkte. »Ich wollte nur sagen, dass es mir leidtut, was mit Ihrem kleinen Bruder …«

John schloss die Augen.

»… Sie haben ihn sehr geliebt. Das wussten wir alle. Nun ja, ich wollte nur sagen, wie traurig wir sind …«

John konnte kein Wort herausbringen. Wie sollte er diese Beileidsbekundungen überleben, diese ständigen Erinnerungen, die ihm ans Herz griffen?

»Joseph …«, stieß er mit rauer Stimme hervor, als der Junge schon an der Tür war.

»Ja, Sir?«

»Vielen Dank.«

»Ja, Sir.« Der Junge nickte. Dann verließ er den Raum, und John griff zu Bürste und Seife.

»So ist es richtig, Jeannette. Weine nur, bis du alle Tränen vergossen hast. Dann geht es dir besser.«

»Es wird mir nie mehr besser gehen!«, schluchzte das Mädchen.

Aber Charmaine tröstete sie. »Das denkst du jetzt, aber später wirst du auch wieder lachen, wenn du dich an Pierre erinnerst, wenn du an die glücklichen Tage denkst, die wir zusammen erlebt haben …«

John presste die Stirn gegen die geschlossene Tür. Er sollte eigentlich hineingehen und seine Schwestern trösten, wie Charmaine das tat, aber er brachte es nicht über sich. Sein eigener Schmerz war noch zu groß, noch zu frisch …

»Aber warum musste er sterben?«, schluchzte Jeannette.

»Vielleicht hat Gott ihn bestraft, weil er sich am Sonntag nur krank gestellt hat.«

»Yvette!«, mahnte Charmaine. »Du weißt, dass das nicht wahr ist!«

Das Mädchen brach in Tränen aus. Eine Weile war nichts zu hören, und dann hörte er Charmaines Stimme, konnte die Worte jedoch nicht verstehen, obwohl er sich Mühe gab.

Dann wieder Jeannette: »Warum hat Gott uns das angetan? War ihm Mama denn nicht genug?«

»Oh, Jeannette, darauf gibt es keine Antwort. Aber ihr habt doch noch euch, und ihr habt mich. Und ihr wisst, dass ich euch sehr, sehr liebe, nicht wahr?«

»Ja«, antworteten zwei bebende Stimmchen.

»Und ihr habt John. Er braucht eure Liebe jetzt mehr denn je.«

»Warum?«

»Weil er Pierre lieb hatte und genauso traurig ist wie ihr. Wenn wir einander beistehen, wird die Wunde eines Tages heilen, und der Schmerz wird vergehen. Dann lacht ihr, wenn ihr an euren Bruder denkt. Wisst ihr noch, als er John beim Picknick am Strand Sand auf den Kopf gestreut hat?, werdet ihr sagen, oder …« Charmaines Stimme brach ab.

»Es ist schon gut, Mademoiselle«, hörte er Jeannette sagen. »Sie haben Pierre genauso sehr geliebt wie wir. Wegen uns müssen Sie jetzt nicht tapfer sein.«

»Sie müssen auch weinen«, sagte Yvette.

»Aber nein, ich habe schon viel zu viel geweint.«

Mit gesenktem Kopf löste sich John von der Tür und schlich davon.

»Sie sind entlassen, Miss Ryan. Ihre Dienste werden nicht länger benötigt.«

Mit offenem Mund starrte Charmaine Mrs. Duvoisin an.

»Tun Sie doch nicht so überrascht, meine Liebe! Und schließen Sie den Mund. Das sieht höchst unvorteilhaft aus.«

»Aber … warum?«

»Das fragen Sie nicht im Ernst, oder? Es liegt doch auf der Hand. Pierre ist tot.«

Charmaine zuckte zusammen. Über den Tod des Jungen zu sprechen, war eine Sache, aber es aus anderem Mund zu hören, war herzlos. »Wann soll ich gehen?«

»Sie haben Zeit bis zum Wochenende.«

»Aber das … das ist …«

»Morgen«, ergänzte Agatha ungerührt.

»Und wenn ich mich weigere?«, fragte Charmaine, als sie den ersten Schrecken überwunden hatte.

»Weigern? Meine Liebe, in dieser Beziehung haben Sie, fürchte ich, nichts zu sagen.«

»Und wer hat etwas zu sagen, Mrs. Duvoisin? Sie etwa? Weiß sonst noch jemand von dieser Entscheidung? Ihr Mann vielleicht? Oder Paul? Sollte ich das nicht lieber mit ihnen besprechen?«

»Glauben Sie wirklich, dass Paul die Autorität seines Vaters wegen einer kleinen Schlampe wie Ihnen anzweifelt, Miss Ryan? Inzwischen hat er Sie doch längst satt.«

»Sie sind eine niederträchtige Person!«

»Und Sie eine Närrin«, zischte Agatha. »Aber Sie haben zum letzten Mal so mit mir geredet! Sie haben den Tod eines unschuldigen Kindes auf dem Gewissen! Mein Mann hat seinen Irrtum endlich eingesehen. Die Zwillinge kommen in ein englisches Internat und brauchen keine Gouvernante mehr.«

»Das ist nicht Ihr Ernst.«

»O doch, Miss Ryan. Mein Mann hatte drei Tage lang Zeit, um über das Wohlergehen seiner Kinder nachzudenken. Er hat alle Möglichkeiten gründlich durchdacht. Als ich heute Morgen mit ihm sprach, hat er darum gebeten, dass Sie ihn aufsuchen. Er möchte mit Ihnen sprechen.«

Charmaine riss die Augen auf.

»Ja, Miss Ryan, es ist seine Entscheidung, nicht meine«, erklärte sie mit hochgezogenen Brauen. »Ich warne Sie, er ist nicht mit Ihnen zufrieden. Ganz und gar nicht.«

Charmaine erbleichte.

Die Tür fiel ins Schloss, und Agatha war wieder allein. Sie lächelte zufrieden. Sie hatte alles richtig gemacht, hatte genau die wundesten Punkte getroffen. Im Augenblick stand Charmaine voller Wut über diese ungerechte Behandlung vor Frederic und würde, so Agatha das Glück hold war, ihre Grenzen überschreiten und ihr Schicksal selbst besiegeln. Aber was noch wichtiger war: Sie konnte endlich die entscheidende Konfrontation zwischen Vater und Sohn in Gang setzen.

Doch einen Augenblick zögerte sie noch. Was, wenn Frederic einen neuen Anfall erlitt? Schlimmer noch – wenn die Sache ein fatales Ende nahm? Im nächsten Moment wischte sie die Bedenken entschlossen beiseite. Dieses Risiko musste sie eingehen.

Ihr Blick wurde hart. Sie durfte keine Zeit verlieren. Miss Ryans Unterredung mit Frederic dauerte nicht ewig. Jetzt zählte jede Sekunde. Es war an der Zeit, mit den Zwillingen zu reden. Vor allem mit Yvette. Sicher war sie entsetzt, wenn sie erfuhr, dass ihr Vater ihre geliebte Mademoiselle zu sich gerufen hatte, um sie zu entlassen – und natürlich würde sie sofort zu John rennen und ihn zu unüberlegten Aktionen veranlassen … Vorsorglich hatte sie sichergestellt, dass John sich im Haus befand. Wenn er in die Räume seines Vaters stürmte, war die Frage nach der Wahrheit gegenstandslos. Dann zählte allein der Hass, der ihr nur zu vertraut war. Und Frederic würde trotz seiner guten Vorsätze den entscheidenden Schlag führen …

Charmaines Hände waren feucht, und ihr Magen schmerzte. Wo war nur ihre Wut? Als sie das Zimmer des Hausherrn betrat, löste diese sich gänzlich in Luft auf. So, wie Tautropfen in der Glut der Hölle verdampften. Ihr verfluchtes Temperament! Agatha hatte sie hereingelegt.

Doch der Mann, dem sie gegenüberstand, hatte keine Ähnlichkeit mit dem Teufel. Und Hörner oder Klauen besaß er auch nicht. Nur eine Krücke, um sich fortzubewegen. Sein Körper schien geschrumpft zu sein. Dies war kein Mann, der aus Verachtung einen Sohn von sich stieß und den anderen in seine Arme schloss. Der Verstand sagte ihr, dass beide Seiten Schuld auf sich geladen hatten und auch John gefehlt hatte. Aber John hatte auch geliebt … Doch wo war Frederics Liebe?

Sofort bedauerte Charmaine ihr schnelles Urteil. Frederic hatte Pierre geliebt! Um das zu wissen, musste sie ihn nur ansehen. Er konnte zwar nicht mit dem Jungen herumtoben, aber er hatte ihn geliebt und große Ängste durchlebt, dass John ihn einfach mitnehmen könnte. Mit einem Mal machte alles Sinn. Frederic hatte nie mit dieser Liebe geprotzt, um sich seinen Sohn nicht noch mehr zu entfremden, und sie in seinem Herzen verschlossen. Ob John das jemals begreifen würde? Frederic schien ausgerechnet diejenigen vor den Kopf zu stoßen, die ihm eigentlich am nächsten stehen sollten, doch nun hatte sich der alte Mann in eine Ecke manövriert, aus der es keinen Ausweg gab.

Frederic betrachtete Charmaine genauso eindringlich, wie sie ihn ansah, und suchte in ihrem Gesicht nach Spuren ihrer Trauer. Es dauerte einen Augenblick, bis sie merkte, dass er sie angesprochen hatte. »Wie geht es Ihnen?«

Der besorgte Ton der Frage überraschte sie.

»So gut, wie das unter diesen Umständen möglich ist«, murmelte sie und war froh, dass er nicht ahnte, was sie inzwischen über Pierres Herkunft wusste. »Das alles tut mir entsetzlich leid.«

»Sie müssen sich nicht entschuldigen, Charmaine. Es war ein grauenhafter Unfall, und niemand, am wenigsten Sie, sind daran schuld. Ihr Mitgefühl nehme ich allerdings gern entgegen.«

Sie nickte, dann räusperte sie sich und kam direkt auf ihr Anliegen zu sprechen. »Gibt es einen Grund, weshalb Sie mich sprechen wollten, Sir?«

»Ja, den gibt es. Aber dazu wollen wir uns lieber setzen.« Er deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch, und während er um den Tisch herumging und sich setzte, trat Charmaine vorsichtig näher.

Von Fatima hörte George, dass sie John das Frühstück im Arbeitszimmer serviert hatte. Dort fand er den Freund hinter einem Berg von Papieren vergraben. Er sagte nichts, sondern legte ihm nur stumm die Hand auf die Schulter und goss ihm eine Tasse Tee ein.

»Ich habe Paul heute Morgen noch nicht gesehen«, sagte John. »Ist er schon fort?«

»Nein, er ist oben.«

»Ich habe jedes Zeitgefühl verloren. Ich weiß nicht einmal, wann der nächste Segler Charmantes verlässt.«

»Und warum ist das so wichtig?«

»Gleich nach der Beisetzung fahre ich nach Richmond zurück.«

George senkte den Kopf, weil seine Brust spannte und seine Augen brannten. In der plötzlichen Stille war nur das Rascheln der Papiere zu hören, die John in seinen Koffer legte.

Im nächsten Augenblick flog die Tür auf, und Yvette stürmte herein, gefolgt von einer heulenden Jeannette und einem besorgt dreinschauenden Paul.

»Johnny!«, rief sie schon von weitem. »Vater schickt uns in ein Internat. Er hat Mademoiselle zu sich gerufen. Er will ihr kündigen!«

»Wie bitte?« Johns Miene verfinsterte sich, und er eilte zur Tür.

»John!«, rief Paul ihm nach, aber George hielt ihn am Arm zurück.

»Lass ihn.«

»Aber sie gehen sich gegenseitig an den Kragen …«

»Lass ihn trotzdem gehen«, sagte George kühl. »Sie müssen es ein für alle Mal austragen. Du kannst sie nicht ständig voreinander beschützen. Zum Schluss machen sie dir noch Vorwürfe, dass du dich eingemischt hast.«

Frederic wartete, bis Charmaine Platz genommen hatte. »Wie geht es meinen Töchtern? Ich nehme an, dass sie inzwischen alles wissen?«

»So ist es, Sir.« Sie sah auf ihre Hände hinunter und dachte wieder an die ungläubigen Blicke und das Entsetzen, das sich auf ihren Gesichtern gespiegelt hatte, als sie vom Tod des kleinen Bruders erfahren hatten, der nun nicht mehr Teil ihres Lebens war. »Letzte Nacht haben sie geschlafen«, flüsterte sie kaum hörbar, »aber als sie aufgewacht sind, war ich bei ihnen. Sie waren völlig außer sich und haben den ganzen Morgen lang geweint. Ich darf nicht zu lange wegbleiben.«

Frederic nickte. An diesem trüben Morgen war Charmaine Ryan der einzige Lichtblick. In seiner Gnade hatte Gott sie seiner Familie geschickt. »Dieses Mal bleiben die Mädchen nicht allein mit ihrem Kummer«, versprach er. »Sie sollen wissen, dass ich dieses Mal für meine Töchter da sein und sie trösten werde.«

Im Stillen dankte Charmaine ihrem Schöpfer. »Das wird ihnen sehr helfen, Sir, und ihnen guttun.«

»Wollen Sie die Kinder zu mir bringen, oder halten Sie es für besser, wenn ich ins Kinderzimmer komme?«

Charmaine fasste neuen Mut. »Also wollen Sie mich nicht entlassen, Sir?«

Er zog die Brauen in die Höhe. »Weshalb fragen Sie das?«

»Mrs. Duvoisin sagte, dass Sie die Mädchen nach Europa in ein Internat schicken wollen.«

Mit Mühe hielt Frederic seinen Zorn im Zaum. »Das ist ihre Idee, nicht meine«, brummte er. »Ein Internat ist der letzte Platz, wohin meine Töchter im Augenblick gehören! Sie brauchen ihre Familie, und sie brauchen Sie, Charmaine. Trotz ihrer jungen Jahre mussten die Mädchen bereits zwei schreckliche Tragödien durchmachen. Ich will, dass sie eines Tages wieder glücklich sind.«

»Das liegt auch mir am Herzen, Sir.«

»Und das bringt mich wieder auf das Thema, weshalb ich Sie heute Morgen sprechen wollte. John kam am Samstag zu mir und bat mich …«

Der Satz blieb unvollendet in der Luft hängen, weil Charmaine das Gesicht verzog. »Was ist los, Miss Ryan?«

»Nichts, Sir«, log sie. Mit aller Kraft unterdrückte sie ihre Tränen und das Zittern, das sie plötzlich überfiel.

Aber Frederic überzeugte das nicht. »Haben Sie John heute Morgen schon gesehen?«, fragte er und fürchtete gleichzeitig ihre Antwort.

»Heute Morgen nicht, Sir.« Ihre Sorge wuchs, weil sie keinesfalls über John sprechen wollte.

»Und gestern Abend?«

»Ja, Sir.« Im Geiste war sie wieder in der Kapelle, lag wieder in seinen Armen und durchlebte seinen schrecklichen Schmerz von Neuem.

Charmaines mitfühlender Ton rührte Frederic. »Möchten Sie darüber sprechen?«

»Er spricht sich selbst schuldig!«, brach es aus ihr hervor. »Er nimmt alle Verantwortung auf sich.« Sie begann zu weinen …

Frederic war äußerst besorgt, doch bevor er Charmaine trösten konnte, gab es Unruhe auf dem Korridor. Im nächsten Augenblick stürmte John herein und knallte die Tür hinter sich ins Schloss.

»Du Mistkerl!«, schrie er, als er Charmaines tränennasses Gesicht gewahrte. »Weidest du dich an ihrem Unglück? Wie grausam du bist!«

Frederic runzelte die Stirn. »Wovon, um alles in der Welt, redest du?«

»Das solltest besser du mir sagen! Warum hast du kein Wort davon erwähnt?«

Charmaine sprang auf. »John, hören Sie mir zu!«

Ihre Bitte traf auf taube Ohren. Vor Wut schien er sie gar nicht zu sehen. »Es macht dir offenbar Freude, Frauen weinen zu sehen! Du fühlst dich dann mächtiger, was?«

Mit geballten Fäusten schoss Frederic in die Höhe. Agathas Sätze hallten in seinem Kopf wider. »Ich weiß nicht, was du mir unterstellst, John, aber …«

»Aber was, Vater? Was verstehe ich nicht? Ich sage dir, was ich nicht verstehe … Wie kannst du deinen Kindern nur alle Zuneigung und Liebe rauben? Willst du die Mädchen verletzen? Oder soll es mich treffen? Ist das dein Ziel? Mit Pierre ist es dir ja schon gelungen, nicht wahr? Verdammt.«

Frederic wurde leichenblass. Gegen Johns hasserfüllte Miene waren selbst diese ungeheuerlichen Worte unwichtig. »John, es tut mir entsetzlich leid, dass Pierre … Ich wollte doch niemals …«

»Sprich es bloß nicht aus! Sag einfach gar nichts! Ich glaube dir kein Wort! Pierre war auch nur ein Stein in deinem raffinierten Spiel um Macht und …«

»Bitte, John, das ist alles nur ein Missverständnis!«, unterbrach ihn Charmaine und trat mutig zwischen Vater und Sohn.

John schien sie zum ersten Mal wahrzunehmen. »Nein, Charmaine, das verstehen Sie nicht! Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass mein Vater ein Meister der Manipulation ist. Pierre war ein wertvoller Stein in seinem Spiel, ein überaus wertvoller Stein, weil er mein …«

»Pass auf, was du vor der Gouvernante sagst, John!«

»Und weshalb, Vater? Hast du Angst, dass sie merkt, für was für einen Teufel sie arbeitet?«

»John!« Charmaine schnappte nach Luft. »Bitte, sagen Sie nichts …«

»Außerdem kennt sie längst die ganze Geschichte«, kam John ihrem Protest zuvor.

»Du hast also deine intimsten Geheimnisse mit einer Angestellten diskutiert?«

John lachte leise. »Da diese Angestellte größeres Mitgefühl besitzt als die eigene Familie – ja. Charmaine weiß, dass Colette einen Ehemann und gleichzeitig einen Liebhaber hatte. Aber sie weiß nicht, dass der Liebhaber eigentlich der Ehemann hätte sein sollen!«

»Es reicht!«, fuhr Frederic auf. »Ich will, dass du mein Zimmer verlässt. Und zwar sofort.«

»Ich denke nicht daran. Zuvor will ich wissen, warum Charmaine entlassen wurde. Warum, verdammt?«

»Aber ich wurde doch gar nicht entlassen«, widersprach Charmaine überrascht.

Aber John hörte sie nicht. »Mir wolltest du die Mädchen nicht geben, als ich dich darum gebeten habe, aber ein Internat ist gut genug für sie! Ist das die Liebe und Zuneigung, die sie von dir zu erwarten haben? Oder ist das wieder eine Möglichkeit, um Colette zu bestrafen? Willst du sie immer noch strafen, obwohl sie längst im Grab liegt? Verdammt! Du sollst zur Hölle fahren!«

»John, hör auf! Ich bitte dich, hör auf!«

»Nicht, bevor du mir antwortest! Du hast Colette an dich gefesselt, weil du ihre Töchter nicht gehen lassen wolltest. Mit mir hast du dasselbe versucht … und nun schickst du sie einfach weg? Wirfst sie weg, weil sie dir nicht länger von Nutzen sind?«

»John, ich habe nie die Absicht gehabt, sie wegzuschicken. Ich wollte …«

»Lügner! Du lügst, sobald du den Mund aufmachst. Gott, wie ich diese Lügen hasse! Wie ich dich hasse! Wie kannst du nur immer weiter lügen … mich belügen … Colette belügen?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst!«

»Ach nein? Colette hat mich geliebt. Mich! Wir wollten heiraten! Aber irgendwie ist es dir gelungen, dass sie ihr Versprechen gebrochen hat!«

Charmaine schnappte nach Luft.

»Das ist die Wahrheit, Charmaine. Ich kannte Colette als Erster, aber mein Vater hat ihr eingeredet, dass ich nichts tauge, dass ich kein Vermögen besitze außer dem, was er mir eines Tages vererbt. Der große Frederic Duvoisin dagegen konnte ihre Familie unterstützen, sie aus der Armut erlösen. Colette hat sich für ihren verkrüppelten Bruder geopfert. Aber was hat sie davon gehabt … außer einem verkrüppelten Ehemann?«

»Es ging nicht nur ums Geld, John«, entgegnete sein Vater betrübt.

»Worum denn dann? Etwa um Liebe? Erzähl mir nicht, dass sie dich geliebt hat! Als ich in ihr Leben zurückkam, war sie nur noch traurig. Sie hatte sogar das Lächeln verlernt. Für mich hat das nicht nach Liebe ausgesehen!«

»Was verstehst du denn schon von Liebe!«

»Nichts, was ich jemals von dir gelernt hätte.« Die Bemerkung traf seinen Vater bis ins Mark. »Du behauptest ja auch, dass du meine Mutter geliebt hast, aber das glaube ich nicht, denn dann hättest du mich nie so behandelt. Im Gegensatz zu dir habe ich meinen Sohn geliebt. Und nun ist er tot … und das nur, weil du mich hasst.«

Zutiefst verletzt schnappte Frederic nach Luft. Agatha hat recht. John hasst mich, und das wird sich nie ändern.

Aber John war noch nicht fertig. »Du hast mir alles genommen. Alles … alles, was ich jemals geliebt habe, hast du mir aus den Händen gerissen!«

»John«, versuchte es Frederic noch einmal, »es tut mir leid.«

»Lass es! Lass diese Entschuldigungen, Vater! Ich werde dir nie vergeben! Ich bin froh, dass Colette zu mir zurückgefunden hat, dass sie endlich auf ihr Herz gehört hat. Wenn sie dich jemals gemocht hat, so nur aus Mitleid. Wenn du zuerst gestorben wärst, dann wäre die Lady heute meine Frau!«

Charmaine wich zurück, so sehr griff ihr Frederics schmerzvoller Gesichtsausdruck ans Herz.

Aber der Mann war durchaus gerüstet. »Diese Lady, wie du sie nennst, war diesen Titel nicht wert. Du machst mich für ihren Tod verantwortlich. Dabei weißt du gar nicht, woran sie gestorben ist – nämlich an der Fehlgeburt eines Kindes, das nicht von mir stammte.« Sichtlich genoss er den verdutzten Blick seines Sohnes. »Ja, John, deine Colette hat dich so sehr geliebt, dass sie noch einen anderen Liebhaber erhört hat.«

Nachdem John sich von dem ersten Schrecken erholt hatte, lachte er los. »Wer hat dir denn diesen Blödsinn erzählt?«

»Blackford …«, sagte Frederic. »Frag Blackford.«

»Nein, den frage ich ganz bestimmt nicht! Blackford ist ein verdammter Lügner, der alles behaupten würde, um seine Unfähigkeit zu vertuschen! Falls er dir das überhaupt gesagt hat …«

Johns Schlussfolgerung blieb nicht ohne Auswirkung auf Frederic. Plötzlich konnte er nur noch schwer atmen.

Als Frederic schwieg, fuhr John in ernstem Ton fort: »Ich habe Colette geliebt, Vater. Ich habe sie geliebt, weil sie ein zutiefst anständiger, liebenswerter Mensch war. Du tust mir leid, wenn du das nicht verstehst. Ich habe sie geliebt, und im Gegensatz zu dir habe ich nur ein einziges Mal an ihr gezweifelt. Diese Lüge fällt also auf taube Ohren.« Er schüttelte den Kopf. »Was Colette betraf, so hast du immer das Schlimmste geglaubt, nicht wahr? Als ich sie zum ersten Mal nach Charmantes brachte, warst du ihr gegenüber sehr herablassend. So sehr, dass sie es gespürt hat und sich deswegen gesorgt hat. Ich habe ihr geraten, sich nicht darum zu kümmern. Das würde sich geben. Ich hatte ja keine Ahnung. Ich denke, dass deine Meinung über sie feststand, als sie deinen Heiratsantrag angenommen hat. Du warst überzeugt davon, dass sie es allein auf das Vermögen der Duvoisins abgesehen hatte. Dabei hat sich Colette immer nur um ihre Familie, besonders um ihren Bruder, gesorgt und dich deshalb geheiratet. Welch ein Narr war ich, sie nur wegen ihres verdammten Pflichtgefühls zu verlassen – und das sogar noch ein zweites Mal! Ich hätte wissen müssen, dass du sie zerstörst! Ich hätte sie beschützen müssen!«

»John, es ist mir nie in den Sinn …«

»Wenn ich es doch nur wiedergutmachen könnte!«, redete John einfach weiter. »Ich würde sie nie mehr allein lassen. Es wäre mir gleichgültig, ob du mich enterbst. Geld ist mir einerlei. Im Gegenteil. Ich würde alles Geld der Welt geben, wenn ich sie nur für eine Sekunde wieder lebendig machen könnte!«

Angesichts dieser tiefen Gefühle senkte Frederic den Kopf und dachte an die beiden letzten Nächte zurück, in denen er Colette im Arm gehalten hatte. Tränen stiegen ihm in die Augen. »Ich weiß, dass du mir das niemals glauben wirst, mein Sohn, aber auch ich würde mit Freuden alles hingeben.«

»Du hast recht, Vater. Ich glaube dir nicht. Es klingt zwar gut, aber es ist nichts weiter als eine neue Lüge.«

Mit einem Mal wurde Frederic alles klar: Der eine Betrug vor knapp zehn Jahren war der Auslöser für alles. »Es gab nur eine einzige Lüge, John«, flüsterte er. »Ich dachte, dass du das wüsstest. Ich dachte, dass Colette dir in den letzten Jahren die Wahrheit gesagt hätte.«

John war verwirrt. »Dass sie mir was gesagt hätte?«

Unbehaglich sah Frederic kurz zu Charmaine hinüber, aber dann sprach er weiter. »Als Colette nach Charmantes kam, fühlte ich mich von ihr angezogen.« John schnaubte ungehalten, aber Frederic ignorierte ihn. »Doch ich habe ihre Koketterie missdeutet und sie eines Abends verführt.«

»Das glaube ich nicht!«, fuhr John auf. Ein flüchtiges Bild schoss ihm durch den Kopf, als Colette einmal mit seinem Vater geflirtet hatte, und vergiftete sein Inneres. »Verführt oder vergewaltigt?«, fragte er mit hohler Stimme.

Totenstille breitete sich aus. Je länger die Antwort auf sich warten ließ, desto bleicher wurde John, bis seine Erinnerung schließlich einer hässlichen Wahrheit Platz gemacht hatte. »Du hast sie dazu gezwungen! Du sollst zur Hölle fahren! Colette war rein und unschuldig … und du hast sie vergewaltigt!«

Er stürzte sich auf seinen Vater, doch Charmaine warf sich dazwischen und packte seine Arme. »Nein, John! Hören Sie auf! Auf diese Weise ändern Sie gar nichts! Hören Sie auf!«

Der drängende Appell verfehlte seine Wirkung nicht. John sah auf die Hände hinunter, die ihn festhielten, dann auf Charmaines verzweifeltes Gesicht. Dann sah er sich um, doch sein Vater war wie ein geschlagener Mann auf dem Sessel zusammengesunken und hielt den Kopf gesenkt.

John trat einen Schritt zurück. Als Charmaine ihn losließ, ergriff er eine ihrer Hände und zog sie aus dem Zimmer und weiter durch den Korridor, ohne die Versammlung vor der Tür überhaupt wahrzunehmen.

Als Nächstes bemerkte Charmaine, dass sie sich im Kinderzimmer befanden. Den Leichnam hatte man inzwischen fortgebracht. Die Glastüren standen offen, um die frische Brise hereinzulassen und die dunklen Erinnerungen an die letzten Tage zu tilgen. Alles war so aufgeräumt und sauber, als ob die Klarheit dem Aufruhr in ihrem Inneren spotten wollte.

John lehnte sich gegen den offenen Türrahmen und starrte auf die Wiese hinunter. Schließlich ergriff Charmaine das Wort: »Ihr Vater hat überhaupt nicht vor, die Mädchen nach England zu schicken. Er hat mich auch nicht zu sich gerufen, weil er mich entlassen wollte.«

John sah über die Schulter zurück. »Sie hätten dem allen nicht ausgesetzt werden dürfen.«

»Ich hätte das Zimmer verlassen sollen.«

Aber John hörte nicht zu. »Vergewaltigung«, stieß er hervor. »Aber warum? Hat er mich so sehr gehasst? Oder ist er einfach nur böse? Nie wäre ich in all den Jahren auf die Idee gekommen, dass Colette mich deshalb verlassen hat. Mein Gott! Ich habe ihr so oft Unrecht getan, sie bestraft, und doch hat sie mich geliebt. Weil sie wusste, dass mich die Eifersucht zerfressen hätte, hat sie mir nie die Wahrheit gesagt. Warum nur ließ sie mich das Schlimmste denken – dass sie das Geld der Duvoisins mir vorgezogen hätte und dass sie die Schuldige sei?«

»Ich wusste gar nicht, dass Sie Colette zuerst kennengelernt haben. Waren Sie tatsächlich verlobt?«, fragte Charmaine.

Sie wartete, während er stumm nach draußen starrte. Als er endlich zu sprechen begann, entfaltete sich die ganze Geschichte.

»Im Jahr 1827 gingen George, Paul und ich in Frankreich auf die Universität. Wir waren damals wilde Gesellen – zumindest ich.« Er lachte in sich hinein. »Wir hatten kaum Zeit für die Bücher, dafür umso mehr fürs Trinken. Das Frühjahrssemester war zur Hälfte vorbei, als ich die junge Frau kennenlernte, die Paul von einer Soirée zur nächsten schleppte. Sie war sehr hübsch«, flüsterte er träumerisch, »und in der Sekunde, als sie ihr aristokratisches Näschen rümpfte, wollte ich sie besitzen. Was schwieriger war als ich gedacht hatte. Kaum dass ich sie von meinem Bruder weggelockt hatte, merkte ich, dass sie, obwohl sie sich weltgewandt gab, in Wahrheit ein anständiges, unschuldiges Mädchen war. Aber da war es zu spät. Ich hatte mich längst in sie verliebt. Und sie sich in mich, wie ich glaubte. Was dann kam, war Folter. Da es mir nicht gelang, sie zu verführen, war klar, dass ich sie heiraten musste. Zugegeben, ich war jung. Aber wenn eine Frau mit siebzehn Jahren heiraten durfte, dann waren neunzehn Jahre für einen Mann durchaus zu vertreten.

Doch ihre Mutter war dagegen. Als Schwiegersohn war ich der Lady nicht willkommen, aber dank eines redseligen Freundes erfuhr sie vom Vermögen unserer Familie und dass ich der Erbe war und nicht der liebe Paul, wie sie anfangs geglaubt hatte. Derselbe Freund schlug vor, die Hochzeit auf Charmantes zu feiern, sodass Colettes Mutter meinen Vater in Augenschein nehmen und sich vergewissern konnte, dass ich auch wirklich der Erbe war. Ich war nicht sehr begeistert, aber Colette hat mich letztlich überredet. Ihre Freundin aus Kindertagen würde uns begleiten, und zusammen mit George und Paul würde es sicher eine romantische Reise werden. Ich wollte zwar nicht so lange warten, aber ich liebte sie, und so tat ich ihr den Gefallen.

Wir hatten unseren Spaß und unterstellten Colettes Mutter Absichten auf meinen verwitweten Vater. Ihr Mann hatte während der Revolution sein Vermögen eingebüßt, und nach seinem Tod musste Colettes Mutter auf alle Mittel zurückgreifen, unter anderem auch auf ihre Tochter, um sich selbst und ihren Sohn durchzubringen.

Unsere Vermutungen kamen der Wahrheit ziemlich nahe. Kaum auf Charmantes angekommen, machte sich Adèle Delacroix tatsächlich an meinen Vater heran, doch der war nicht interessiert … zumindest nicht an Colettes Mutter.« John schnaubte, als er an die wahren Absichten seines Vaters dachte.

»In den Jahren danach fragte ich mich öfter, ob Adèle nach ihrer Niederlage dafür gesorgt hat, dass Colette in den Armen meines Vaters landete. Hatte sie die Krankheit ihres Sohnes benutzt, um ihre Tochter davon zu überzeugen, mich für den direkten Zugang zu dem Vermögen der Duvoisins aufzugeben? Rein zufällig habe ich einige Gespräche mitangehört, die diese Möglichkeit andeuteten. Adèle beobachtete sehr genau, sodass ihr unser angespanntes Verhältnis nicht lange verborgen blieb. Sobald wir miteinander stritten, wuchsen ihre Sorgen. Mein Vater hielt mich für nicht reif und auch nicht für arbeitsam genug, um für eine Frau zu sorgen – doch ich wollte ihm unbedingt das Gegenteil beweisen. Damals habe ich angefangen, auf den Feldern zu arbeiten …« John schwieg, und während er sich erinnerte, verfinsterte sich seine Miene. »Unnötig zu sagen, dass Adèle sich um die Erbschaft sorgte, die mir entzogen werden könnte, falls ich mich nicht gut benahm. Auf jeden Fall hat sie ihre Tochter ständig mit Bemerkungen über Verantwortlichkeit und Familiensinn belastet und vor allem an Colettes Liebe und ihre Fürsorge für ihren kleinen Bruder appelliert.

Ich weiß nur, dass wir an einem Tag noch die Hochzeit planten und dass Colette mir am nächsten Tag den Laufpass gab. Sie wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Sie machte das sehr diplomatisch, sagte, dass sie mich gern habe, mich nicht verletzen wolle, dass sie das Theater aber inzwischen zu weit getrieben habe. Eigentlich sei sie nur auf der Suche nach einem reichen Mann. Da Paul nicht ins Schema passte, habe sie sich mir zugewandt. Schließlich müsse sie an ihre Familie und besonders an ihren behinderten Bruder denken, an die Arztrechnungen. Sie wollte ihrer Mutter Geld nach England schicken, um die Kosten endlich zu begleichen. Doch als ihr klar wurde, dass mein Vater noch alles Geld kontrollierte, habe sie ihre Zuneigung auf ihn konzentriert. Ich bat sie, unsere Liebe nicht so einfach zu opfern. Ich wollte härter arbeiten, um für alles zu sorgen, aber sie schüttelte nur den Kopf und sagte, dass das nicht reiche. Sie brauchte das Geld sofort. Als ich wissen wollte, wie sie es ertrug, unsere Liebe einfach wegzuwerfen, brach sie zusammen und weinte. Doch als ich sie umarmen und noch einmal mit ihr reden wollte, wandte sie sich ab. Sie schwor, dass sie mich nie geliebt hätte. Ich wurde wütend, weil ich ihre Worte lächerlich fand, und drohte ihr, meinem Vater zu erzählen, dass sie nur ein Flittchen, eine geldgierige Hure sei. Aber sie lachte nur und sagte: Er weiß genau, was ich bin, und ihm ist es egal. Er will mich trotzdem!

Damals bin ich fortgerannt und habe nicht aufgehört zu rennen. Ich bin über meine eigenen Füße gestolpert, weil ich immerzu an Colette und ihre rot geweinten Augen denken musste, aber vor allem an ihren Schwur, dass sie mich nie geliebt habe. Ich bestieg das nächstbeste Schiff und wartete, bis es ablegte. Selbst damals wollte ein Teil von mir noch umkehren, aber der andere Teil war wie tot. Also blieb ich, wo ich war, und schwor, nie mehr nach Charmantes zurückzukehren. Ich wollte Colette so schnell vergessen, wie sie mich vergessen hatte.

Ich ging nach Virginia und übernahm die Geschäfte meines Vaters, um mich endlich von dem verdammten Vermögen unabhängig zu machen, damit er mich nicht länger kontrollieren und mein Leben zerstören konnte. Während dieser Monate war ich von Wut und Hass zerfressen. Ich hasste Colettes Mutter, sogar ihren Bruder, und ich hasste meinen Vater für seine Einmischung, auch wenn er mich vielleicht davor bewahren wollte, an eine geldgierige Frau zu geraten. Am meisten hasste ich mich jedoch selbst, weil ich mich noch immer nach Colette sehnte, sie noch immer liebte. In diesen Tagen war ich meinem Vater nicht unähnlich. In manchen Nächten habe ich Colette im Traum vergewaltigt, um ihr und meinem Vater den Schmerz heimzuzahlen, den sie mir zugefügt hatten. Letztlich brach ich meinen Schwur und kehrte nach Charmantes zurück.

Damals waren Colette und er seit einem knappen Jahr verheiratet, und sie stand kurz vor der Geburt ihres Kindes. Sie begrüßte mich so herzlich wie einen lange verlorenen Bruder, als ob nichts geschehen sei und wir eine große glückliche Familie seien – mein Vater eingeschlossen. Am liebsten hätte ich mich übergeben. Doch das Theater hatte rasch ein Ende, als sie begriffen, dass ich nicht die Absicht hatte, ihr nettes Leben zu teilen. Eine ganze Woche lang haben wir nicht miteinander gesprochen, doch mein Hass wuchs ständig. Eines Abends habe ich Colette im Wohnraum abgepasst und meinem Herzen gründlich Luft gemacht. Voller Wonne habe ich sie zum Weinen gebracht und war entzückt, als sich mein Vater eingemischt hat. Wir hätten uns sicher auch geprügelt, wenn er nichts Besseres zu tun gehabt hätte, weil Colette mit den ersten Wehen auf das Sofa sank.

Ich bin auf der Stelle nach Virginia zurückgekehrt, ohne dass ich von der Geburt der Zwillinge erfahren hätte, und vier Jahre lang dortgeblieben. Bei meinem nächsten Besuch war schnell klar, dass sich etwas geändert hatte. Die Launen meines Vaters waren schlimmer denn je, und Colette lächelte nur selten. Ich war entzückt, denn sie bekam ja nur, was sie verdiente. Ich widmete mich hauptsächlich den Zwillingen, die süß und unschuldig waren und die ich leicht für mich gewinnen konnte. Außerdem bot sich mir so die Gelegenheit, grausam zu Colette zu sein. Ich schloss sie von allen Ausflügen aus und plante alles allein mit den Mädchen, und als mein Vater dieses Treiben verbot, schob ich Yvette und Jeannette gegenüber alle Schuld auf ihre Mutter. Colette wusste, was ich tat, aber sie wandte sich kein einziges Mal gegen mich. Das machte mich nur noch wütender. Es sollte ihr leidtun, dass sie das Geld meines Vaters geheiratet hatte. Also lud ich Frauen ins Haus ein und flirtete mit ihnen, was Colette zwar missbilligte, aber schweigend ertrug. Doch nach einiger Zeit ödete mich das Spiel an. Dann, eines Morgens …« Er holte tief Luft und ließ sie ganz langsam wieder entweichen. »… verließ ich die Insel erneut. Ich dachte, dass ich geheilt und die Entfernung groß genug sei, um mit meinem Leben fortzufahren. Aber das war ein Irrtum. Ich konnte nicht aufhören, an Colette zu denken, und ich begriff, dass es ihr noch schlechter ging als mir. Ich dachte an die glückliche Zeit in Frankreich zurück, als ihr strahlendes Lächeln einen ganzen Raum erhellen konnte. Mein Vater hatte ihr all dies genommen, und das war nicht gerecht. Also bin ich nach Charmantes zurückgefahren.

In diesem Sommer hatte mein Vater mit der Kultivierung von Espoir begonnen und war nur selten auf Charmantes. Die Begeisterung der Mädchen führte Colette und mich rasch zusammen, und es war kinderleicht, so zu tun, als ob mein Vater gar nicht existierte. Ich verliebte mich von Neuem, allerdings in eine völlig andere Frau. Während die Wochen vergingen, sagte mir mein Gefühl, dass auch sie mich noch immer liebte. Es waren ihre falschen Vorstellungen über Verantwortlichkeiten, die uns in diese Misere gebracht hatten. Ich hasste meinen Vater, obgleich Colette immer wieder versuchte, ihn von allen Vorwürfen freizusprechen. Er hätte ihrer Familie genauso gut ohne diese Gegenleistung helfen können, und wenn er mich geliebt hätte, hätte er genau das getan. Aber er wollte nicht, dass ich von seiner Großzügigkeit profitierte. Stattdessen stürzte er sich gierig auf alle Freuden, die ihm sein Geld ermöglichte, und machte Colette zu seiner Hure, indem er sich den Sohn vom Hals schaffte. Ihre Ehe war ein Skandal.

Als Colette sagte, dass sie von mir schwanger sei, bat ich sie, ihn zu verlassen. Ich hatte inzwischen mein eigenes Vermögen erworben, und wir konnten in New York leben, wo niemand von unserer Vergangenheit wusste. Aber mein Vater verweigerte ihr das Sorgerecht für die Mädchen, und Colette konnte sich nicht von den Kindern trennen. Das führte zu einer wilden Auseinandersetzung. Mein Vater und ich sagten beide Dinge, die wir einander nie wieder vergeben können. Ich erinnere mich vage, dass er irgendwann zusammenbrach, aber ich konnte nicht aufhören, ihn anzuschreien. Irgendwann rief Colette, dass ich das Haus verlassen und abreisen solle, und dann hat mich Paul aus dem Zimmer gezogen …

Ich liebte Colette, Charmaine, und ich werde sie immer lieben. Und nach all den Jahren kenne ich jetzt endlich die Wahrheit: Colette war nicht hinter dem Geld her, aber eine Heilige war sie auch nicht. Sie hat meinen Vater geheiratet, weil er ihr Gewalt angetan hat, und sie blieb wegen der Mädchen bei ihm … und wegen ihrer Schuld. Er hat ihre Gefühle benutzt, aber dafür hat sie ihn auch nicht geliebt.«

Mit brennenden Augen sah er Charmaine an. »Den Rest kennen Sie«, murmelte er mit rauer Stimme. »Sie hat sich geweigert, ihn zu verlassen, ihn jemals zu verlassen. Als mir klar wurde, dass er den Anfall überleben würde, kehrte ich nach Virginia zurück. Allein.« Er drehte sich wieder zu den französischen Türen um. »Zumindest wird mich die Vorstellung, wie sie vor ihm kniet und ihn um Verzeihung bittet, nicht länger verfolgen, weil ich endlich die Wahrheit kenne. Sie hat mich geliebt.«

Frederic umarmte Jeannette ein zweites Mal und sah dann zu Paul empor. »Bitte, bringe die Mädchen ins Kinderzimmer. Vielleicht kann Rose sich um sie kümmern, falls Miss Ryan nicht da ist.«

Paul nickte. »Es tut mir leid, Vater. Ich wollte Yvette noch beruhigen, aber da war sie schon davongerannt, um John zu suchen. Bist du sicher, dass es dir gut geht?«

»Ja, es geht mir gut. Du kannst jetzt Agatha zu mir schicken.«

Agatha zog sich einen Stuhl neben den Sessel ihres Mannes. »Es tut mir sehr leid«, flüsterte sie, »dass ich all das verursacht habe.«

Überrascht musterte Frederic ihr Gesicht und suchte nach einem sichtbaren Zeichen der Zerknirschung, die in ihrer Stimme mitschwang. »Warum hast du Miss Ryan gesagt, dass ich die Mädchen in ein Internat schicken will?«

»Wir haben doch darüber gesprochen.« Sie sah auf ihre Hände hinunter und spielte nachdenklich mit ihrem Ehering. »Ich weiß, die Sache war noch nicht entschieden, und ich hätte besser meinen Mund halten sollen. Aber Miss Ryan ist zuweilen sehr vorlaut, worauf es mir unvorsichtigerweise herausgerutscht ist. Es tut mir leid.«

»Und John … Du hast dafür gesorgt, dass ihm dieselbe Geschichte zu Ohren kommt, nicht wahr?«

Agatha straffte die Schultern. »Seit wann glaubt John denn, was ich sage?«

Frederic ließ sich Zeit. Agatha hatte recht. Es schmerzte ihn, dass John nur nach einer Entschuldigung gesucht hatte, um ihn anzugreifen. Und dass er das vor der Gouvernante getan hatte, machte die Sache noch schlimmer. Bestenfalls.

Bevor er weiter grübeln konnte, ergriff Agatha wieder das Wort. »Ich habe über alles nachgedacht, was ich heute Morgen zu dir gesagt habe, Frederic. Es war falsch, so etwas zu sagen. Ein unverzeihlicher Fehler. Du hast so schon viele Verletzungen von deinen liebsten Menschen um dich herum hinnehmen müssen, dass ich zutiefst bedauere, mich ihnen angeschlossen zu haben.«

»Agatha … bitte«, flehte er inständig und wehrte zugleich das Mitgefühl ab, das sie ihm offenbar zugedacht hatte. »Die Beisetzung findet in einer knappen Stunde statt, und ich brauche noch etwas Zeit für mich allein, um mich auf diesen qualvollen Augenblick vorzubereiten.«

»Wie du meinst, mein Liebster, ganz wie du meinst.« Damit verließ sie ihn ohne die Gewissheit, wie der Streit von diesem Morgen letztlich enden würde.