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Samstag, 7. Oktober 1837

 

An diesem Morgen war Frederic noch schlechter gelaunt als am Abend zuvor. In seinen Räumen ließ sich seine jämmerliche Verfassung zwar verbergen, aber für ihn selbst wurden sie zunehmend zum Kerker. Ein Kerker voller Erinnerungen an sein Leben, an die vielen Gelegenheiten, die er versäumt, und an die Pläne, die er stattdessen geschmiedet hatte. Wieder war ein Plan fehlgeschlagen. Wann lernte er endlich, dass sich das Schicksal nicht beeinflussen ließ? Der Allmächtige war offenbar entschlossen, die Qual seines Versagens als Vater und als Ehemann noch zu verlängern.

Aus dem Garten drangen Stimmen herauf und lockten Frederic an die Türen zur Veranda. John hockte im Schneidersitz auf der Wiese und hatte den Arm um die Schultern des Jungen gelegt, der auf einem seiner Knie saß. »Lass mich mal sehen.« Er drehte Pierres Hand hin und her. »Wo ist denn der Splitter, den Mainie nicht sehen kann?«

»Da!« Pierre deutete auf eine Stelle, und Charmaine sah John über die Schulter.

»So groß ist er zum Glück nicht«, sagte John und hob die Hand näher an die Augen. »Angeblich sind die kleinen ja schlimmer als die großen.« Pierre sah zu seiner Gouvernante auf. »Du weinst jetzt aber nicht, wenn ich ihn herausziehe, oder?«, fragte John liebevoll.

Pierre schüttelte den Kopf, und John stand auf und nahm den Jungen auf den Arm. Dabei spielte die Sonne in seinem braunen Haar. Elizabeths Haar.

Sein Sohn war inzwischen ein Mann. Mit einem Mal fühlte sich Frederic in die Zeit zurückversetzt, als John im selben Alter wie Pierre dasselbe passiert war. Im brüllenden Sturm kämpfte sich das Schiff durch die Wogen, als plötzlich die Kabinentür aufflog und eine verzweifelte Nanny ihm seinen brüllenden Sohn brachte. Aber John war nicht zu beruhigen, dazu war die Nacht zu dunkel und der Sturm zu heftig. Man überließ ihn der Fürsorge eines Vaters, den er kaum kannte. Enterbt hatte er das Kind nicht, aber er konnte sich auch nicht dazu durchringen, John als Kind der Frau anzunehmen, die er noch immer von Herzen liebte. In dieser Nacht hielt er den Dreijährigen zum ersten Mal im Arm. Wenn er ihm auch nichts geben konnte, so war er doch stark genug, um ihn vor dem Sturm zu schützen und womöglich zu trösten. Als sie sich in die Koje legten, barg John seinen Kopf an der Schulter seines Vaters und atmete ruhig. Frederic fühlte, wie sich der kleine Körper in seine Arme schmiegte, und es gefiel ihm. Und im selben Moment dachte er daran, dass er Elizabeth genauso im Arm gehalten hatte, und wieder rannen ihm die Tränen aus den Augen.

»Verdammt!«, fluchte er. Das Bild verschwamm vor seinen Augen. Warum war John nicht einfach davongelaufen und hatte Pierre mitgenommen? Warum?

Schüchtern stand Yvette vor ihrem Vater, um ihre Strafe zu empfangen. Tröstlich war nur, dass Jeannette bei ihr war.

»Zwei Dinge fordere ich von dir«, begann Frederic mit energischer Stimme und sah Yvette von seinem Sessel aus eindringlich an.

Es gefiel ihm nicht, wie verschüchtert sie vor ihm stand. Dabei hatte er ihr den Wagemut selbst ausgetrieben, der ihm so gefiel. Wie dem auch sei, auf jeden Fall hatte sie Schlimmeres angestellt als John und Paul im selben Alter, und zu keiner Zeit geahnt, welche Gefahren ihr gedroht hätten, hätte er nicht eingegriffen.

»Erstens fordere ich dein Ehrenwort, dass sich das, was vergangene Nacht geschehen ist, nie wiederholt. Außerdem dürft ihr das Haus und das Grundstück nicht ohne meine Erlaubnis oder die eurer Gouvernante verlassen.«

»Ja, Sir.« Yvette sah ihn an. Offenbar war die wilde Wut verraucht, und prompt wurde sie mutiger. »Es wird nicht wieder vorkommen«, versprach sie.

Frederic nickte. »Ich will keine leeren Versprechungen. Ihr sollt zu eurem Wort stehen – und zwar nicht nur aus Angst, dass ich euch ertappen könnte. Ich möchte mich in Zukunft auf euch verlassen können.«

»Ich schwöre bei meinem Leben, dass ich nie wieder so etwas Böses tue.«

Er lächelte zum ersten Mal, und Yvette überlegte, was daran so lustig war. »Ich glaube dir.«

»Und zweitens?«, fragte sie bang.

»Zweitens möchte ich, dass ihr euch bei Miss Ryan entschuldigt. Stellt euch nur vor, wie sie sich aufgeregt hätte, wenn sie in euer Zimmer gegangen wäre und leere Betten vorgefunden hätte. Außerdem habe ich sie irrtümlich beschuldigt. Das hat sie nicht verdient.«

»Ist das alles?«, fragte Yvette, weil sie sicher war, dass ihnen das Schlimmste noch bevorstand.

»Ist das denn nicht genug?«

»Doch, aber … wolltest du mich nicht …?«

»Nein, Yvette«, unterbrach er sie und zog die Brauen in die Höhe. »So wütend ich auch war, als ich dich in dieser Spielhölle gefunden habe, hatte ich doch nie die Absicht, dich zu schlagen. Wenn sich das allerdings wiederholen sollte, werde ich nicht mehr so großmütig sein.«

»Also … also werde ich nicht bestraft?«

»Das habe ich nicht gesagt. Nach einigem Nachdenken bin ich jedoch zu dem Schluss gekommen, dass mein Erscheinen im Dulcie’s schon Strafe genug war.«

Yvette runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht.«

»Dann will ich es dir erklären.« Er griff in eine Schublade seines Schreibtischs und zog den Beutel hervor, in den das Mädchen keine zwölf Stunden zuvor einige Goldmünzen und Dollarnoten gestopft hatte.

Yvette war sichtlich erleichtert, als der Beutel vor ihrer Nase baumelte, und berechnete die Summe, die sich darin befinden musste.

»Es ist mehr Geld darin als deine zwanzig Dollar«, sagte er, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte. »Fast fünf Mal so viel, wenn George richtig gezählt hat.«

»Wieso George?«

»Er hat deinen Gewinn eingesammelt, und wenn du nicht so unartig gewesen wärst, müsste ich dich eigentlich beglückwünschen.« Dann wurde seine Stimme hart. »Allerdings spielt keine meiner Töchter im Saloon, und schon gar nicht mit verwahrlosten Matrosen – ist das klar?«

»Ja, Vater«, murmelte sie kleinlaut. Der Augenblick der Erleichterung war dahin und die Angst wieder da.

»Am besten lernt man seine Lektionen auf die harte Art. In deinem Fall, liebe Tochter, bedeutet das, dass du diesen Beutel verlierst.«

»Aber …«

»Ich werde das Geld den Armen spenden.«

»Nur den Gewinn, Papa! Bitte! Ich verspreche auch, dass ich nie mehr …«

»Nein, mein Kind, alles. Vergangene Nacht hat dich nur das Glück vor einem weit größeren Verlust bewahrt. Ist dir eigentlich klar, was diese Männer mit dir gemacht hätten, wenn du weiter gewonnen hättest? Du hattest Angst vor meinen Schlägen, aber diese Männer hätten dir weit Schlimmeres angetan. Sie hätten dich verfolgt und sich dich vorgenommen.«

Yvette schauderte. »Ja, Vater«, murmelte sie fast unhörbar.

Frederic sah seine andere Tochter an. »Und was machen wir mit dir, Jeannette? Hat ein Teil des Geldes dir gehört?«

»Ja, Papa. Die Hälfte. Yvette hat versprochen, dass wir den Gewinn teilen.«

»Dann wirst du jetzt genauso bestraft. So etwas darf nie wieder passieren.«

»Nein, nie mehr. Ich verspreche es.«

Dann sahen sie zu, wie er die unterste Schublade aufzog, ein Brett entfernte, den Beutel hineinlegte und das Fach wieder verschloss.

»Im Safe wäre das Geld vielleicht sicherer«, meinte Yvette.

»Nein, mein Kind, das Geld bleibt nicht lange im Haus. Demnächst werden einige Familien von deiner Großzügigkeit profitieren. Ich werde mit Paul darüber reden.«

Er lächelte. Seine Selbstzufriedenheit reizte Yvette bis aufs Blut, aber sie hütete sich, die Proteste, die ihr durch den Kopf schossen, laut auszusprechen, damit keine weiteren Strafen folgten.

»Das ist im Augenblick alles«, sagte Frederic.

Draußen im Korridor schimpfte Yvette los. »Warte nur, bis ich George finde. Er hat den Gewinn aufgesammelt und Vater gegeben. Warum hat er das gemacht?«

»Ich weiß es nicht.« Jeannette wollte ihre Schwester gern trösten. »Wenn Papa das Geld nicht haben würde, hätte er sich vielleicht eine schlimmere Strafe einfallen lassen.«

»Schlimmer? Was denn noch? Der schöne Gewinn – und wir durften das Geld nicht einmal zählen! Das ist unfair, sage ich dir.«

»Müde?«

Erschrocken sah Charmaine, die auf der Wiese saß, auf und musste blinzeln, weil sie gegen die Sonne nur die Silhouette eines Mannes erkennen konnte. Er trat einen Schritt nach vorn, und sie lächelte halbherzig zu Paul empor.

»Nein, müde bin ich nicht«, antwortete sie, als er sich neben sie setzte und die Arme um seine Knie schlang. »Eher ein wenig unzufrieden.«

»Sie machen sich wegen des nächtlichen Ausflugs doch hoffentlich keine Vorwürfe, oder?«

»Nicht wirklich. Im Moment warte ich auf die Mädchen.« Sie sah zu, wie Pierre schaukelte.

»Es wird schon nicht so schlimm werden«, sagte Paul, um sie zu trösten. Dabei verspürte er ein unerklärliches Ziehen in der Brust. »Charmaine, sehen Sie mich an.«

Sie gehorchte und war über seinen gefühlvollen Blick überrascht.

»Ich habe Sie sehr vermisst«, sagte er schlicht. Dabei ergriff er ihre Hand und drückte sie mitfühlend, was ihr neue Zuversicht verlieh. »Wie war Ihre Woche?«

John verließ die Terrasse und ging ins Haus. Charmaine war anderweitig beschäftigt und schien das Interesse an ihm verloren zu haben. Seine Woche war zu Ende. Hatte er das nicht schon gestern Abend bemerkt? Vermutlich war es klüger, die Tür zu schließen. Er rieb seine Stirn und schluckte.

Warum wurde er immer zurückgewiesen? Warum ließ er es zu? Er hörte wieder die Worte, die sanfte Bitte, die ihn nicht losließen: Nimm dich ihrer an, John, und sorge für sie … lebe wieder und liebe …

Im selben Moment fasste er einen Entschluss. Rasch durchquerte er die Halle und lief die Treppe hinauf. Dies war seine letzte Chance. Er hatte nichts zu verlieren. Also überwand er seinen Stolz und betrat das Allerheiligste seines Vaters.

Frederic sah vom Schreibtisch auf.

John merkte ihm die Überraschung an und kam ohne Umschweife zum Punkt. »Ich kehre morgen nach Virginia zurück und bitte dich um die Erlaubnis, Pierre und die Zwillinge mitzunehmen.«

Die klare Frage verblüffte Frederic zunächst. Aber Johns Auftritt beeindruckte ihn – besonders nach der hässlichen Szene am gestrigen Abend. War das nicht genau das, was er wollte? Eine ehrenhafte Übereinkunft?

»Für wie lange?«

»Für immer.«

»Und wer soll für sie sorgen, wenn du in Geschäften unterwegs bist?«

Denkt mein Vater tatsächlich über meinen Wunsch nach? Eigentlich hatte er ein klares »Nein« erwartet. »Miss Ryan, falls sie einverstanden ist. Sie hat in Richmond Freunde, so dass sie nicht allein wäre.«

Frederic holte tief Luft und erhob sich. Er ging zu den französischen Türen hinüber und erwog dabei die Vorteile und Nachteile einer solchen Lösung. Es war eine Möglichkeit, die Dinge mit John in Ordnung zu bringen, aber würde er sich dadurch den anderen Sohn entfremden?

»Was würde eine solche Entscheidung für Yvette und Jeannette bedeuten?«

»Was meinst du?«, entgegnete John aufgebracht. »Was würden sie vermissen? Etwa den schemenhaften Vater, der sich in seinen Räumen verkriecht und sich nicht um sie kümmert oder in einem fort nörgelt und wie ein Verrückter schimpft? Oder eine Stiefmutter, die sie verabscheut? Was meinst du, wo es ihnen besser gefällt?«

Wenn Frederic an seine verschüchterten Töchter dachte, konnte er den Einwand nicht einfach abtun. Diesen Fehler musste er ändern … um Colettes und auch um seiner selbst willen. Er drehte sich zu John um. »Warum bleibst du nicht einfach hier, John? Wäre es denn nicht einfacher, wenn du auf Charmantes bliebest?«

»Einfacher für dich. Aber ich will an diesem … diesem Theater nicht länger mitwirken. Du bindest die Kinder nicht an dich, indem du ihnen gibst, was sie brauchen, sondern indem du es ihnen vorenthältst.« Frederic schwieg. »Wie ich sehe, lautet deine Antwort nein. Ich wusste es. Ich komme zu dir, um einzufordern, was mir gehört, und bringe den Mut auf, den du mir nicht zutraust – und trotzdem lehnst du ab!« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich zum Gehen.

»Nicht alles, was du forderst, gehört auch dir«, rief Frederic ihm nach. Und dann sagte er zum leeren Türrahmen: »Ich kann meine Töchter nicht hergeben … jedenfalls nicht für immer.«

»Ich höre, John.« Paul war verärgert, als sein Bruder sich schweigend auf den Sessel setzte. »Du hast mich sicher nicht gerufen, damit ich dir beim Hinsetzen zusehe …«

»Nimm Platz, Paul«, unterbrach ihn John mit mildem Lächeln. »Ich habe einiges mit dir zu besprechen. Ich suche keinen Streit, sondern möchte in Ruhe mit dir reden.«

Paul fügte sich. »Und worum geht es?«

»Ich möchte mit dir über Charmaine reden.«

Paul wurde vorsichtig. »Was ist mit ihr?«

»Sie ist eine wirklich anständige Frau. Ein feiner Mensch.«

»Mir musst du das nicht sagen. Ich kannte sie lange vor dir, und ich habe dir genau das auch gesagt. Aber du hast lange gebraucht, um es zu begreifen und sie nicht ständig wegen ihrer Tugendhaftigkeit zu hänseln.«

»Immerhin habe ich es inzwischen geschafft. Ich gebe zu, dass ich Charmaine zu Beginn unterschätzt habe. Und du musst zugeben, dass Frauen wie sie selten sind.«

»Das will ich gar nicht bestreiten.« Pauls Brauen hoben sich. »Aber wohin führt das alles?«

»Hast du schon einmal daran gedacht, sie zu heiraten?«

»Zu heiraten?« Paul verschluckte sich beinahe. »Willst du mir das etwa vorschlagen?«

»Ja, wenn du es genau wissen willst. Ist der Gedanke denn so abwegig?«

Paul stützte das Kinn in die Hand und starrte John voller Misstrauen an. »Was soll das alles, John? Was steckt wirklich dahinter?«

»Ich schätze Charmaine, und ich will nicht, dass man sie verletzt.«

»Und du glaubst, dass eine Hochzeit das verhindert?«

»Genau das. Wie du weißt, liebt sie dich, und zwar tiefer, als du es für möglich hältst. In der Nacht, als ich zurückkam, hat sie dich mit aller Leidenschaft geküsst. Wie sehr ihr Herz daran beteiligt war, habe ich erst begriffen, als ich sie besser kennenlernte und über dich reden hörte. Sie hat es nicht verdient, verletzt zu werden – und zwar weder von mir noch von dir.«

Paul ärgerte sich, dass sein Bruder sich mit ihm auf eine Stufe stellte. »Warum heiratest du sie dann nicht?«

»Wie ich schon sagte, sie verdient es nicht, verletzt zu werden«, sagte John ernst. »Meine früheren Spielchen gebe ich gern zu, aber das ist vorbei. Von George weiß ich, dass die Raven in der Morgendämmerung wieder im Hafen eingelaufen ist. Von einem Sturm und einem gesplitterten Mast war die Rede. Wenn sie wieder Segel setzt, vermutlich morgen Nachmittag, werde ich an Bord gehen.«

»Wie bitte? Einfach so?«

»Ja, Paul, einfach so. Bevor ich es Charmaine und den Kindern sage, wollte ich zuerst mit dir sprechen.«

»Ich kann es nicht glauben«, stammelte Paul.

»Das wirst du wohl müssen, denn genauso ist es. Außerdem ist es so am besten.«

»Denkst du das wirklich? Du kommst hierher, bringst das Leben der Kinder durcheinander, sorgst dafür, dass sie sich an dich gewöhnen – und dann packst du einfach deine Sachen und verschwindest? Warum tust du das? Willst du Vater für den gestrigen Abend bestrafen, ihn als den unbarmherzigen Patriarchen darstellen, für den du ihn hältst?«

John zog die Brauen zusammen, aber er bezähmte seine Wut und bemühte sich um eine ruhige Antwort. »Nein, Paul, du kannst es glauben oder nicht. Meine Entscheidung hat nichts mit Vater zu tun, aber mit den Kindern. Auch ich habe mich an sie gewöhnt, wie du das so schön sagst. Aber ein solches Verhältnis darf nicht sein, nicht wahr? Was ich nicht mitnehmen darf, muss ich loslassen.« Er senkte den Kopf, dann sah er Paul eindringlich an. »Allein aus diesem Grund werde ich mich morgen auf der Raven einschiffen und nicht mehr zurückkommen.«

Paul war zutiefst verunsichert. »Und was hat das alles mit Charmaine Ryan und mir zu tun?«

John sagte nichts darauf, aber Paul dachte lange über die Frage nach, bis die Teile irgendwann ein Ganzes ergaben. »Du hast Angst, dass Vater Charmaine entlässt. Richtig? Richtig?«

»Nein, Paulie.«

»O doch, Johnny! Wie lässt sich das besser verhindern, als Charmaine mit mir zu verheiraten? Als Frau des Bruders wäre ihre Position im Haus gefestigt, nicht wahr? Das stimmt doch, verdammt noch mal?« Als John schwieg, fuhr er fort. »Du überraschst mich immer wieder. Mich zu benutzen, um eine solche Ungeheuerlichkeit in die Tat umzusetzen!«

Johns Blick wurde hart. »Du musst gerade den Stab über mich brechen, Paul, ausgerechnet du, der eine Frau nach der anderen verführt, ohne sich jemals Gedanken zu machen.«

»So, so. Aber im Gegensatz zu dir habe ich noch nicht die Frau eines anderen aus Rache verführt!«

John gefror das Blut in den Adern. »So also siehst du das? All diese Jahre … und du glaubst noch immer, dass es wirklich so war? Kein Wunder, dass du dich auf Vaters Seite geschlagen hast.«

Einen Augenblick lang war Paul verunsichert, aber er erholte sich rasch. »Halte mich nicht für einen Idioten, John. Wir wissen doch beide, wie sehr du Vater hasst. Das hast du mehr als deutlich gemacht. Zeige jetzt nicht mit dem Finger auf mich, nur weil ich nicht bei deinen Plänen mitmache. Weißt du, was? Du kannst einem leidtun!«

»Ich tue dir leid?«, wiederholte John empört. »Das sagst ausgerechnet du? Dabei ist niemand bedauernswerter als du. Ja, mein lieber Bruder. Sieh dich doch an, wie du wie ein treues Hündchen an Vaters Tisch sitzt und nur darauf wartest, dass ein Bröckchen für dich abfällt! Wie ein treuer Hund lässt du dich von ihm missbrauchen, ja, du verteidigst ihn sogar, um deine Anhänglichkeit zu beweisen und zu zeigen, wie fleißig und gewissenhaft du arbeitest, damit er deine Mühen eines Tages vielleicht belohnt. O ja, Paul, du kannst es, du arbeitest gründlich und unermüdlich. Aber wohin hat es dich gebracht? John kann seine Pflichten vernachlässigen, kann seinen Vater beleidigen – und doch steht er im Testament an erster Stelle! Und was ist mit dir? Trotz all deiner Mühen, deiner Opfer und deiner Hingabe bist du nicht einmal ein legitimer Sohn! Wenn du mein Sohn wärst, wäre das anders. Nur zu, Paul, mache mich für alles Schlechte in diesem Haus verantwortlich. Lade mir alles auf, damit du der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen musst.« John deutete mit dem Finger auf Paul. »Du tust mir leid! Und verdammt sollst du sein, wenn du Charmaine nicht heiratest, solange du noch die Chance dazu hast. Statt der unerwiderten Liebe deines Vaters nachzurennen, solltest du lieber ihre uneigennützige Liebe akzeptieren, die sie dir so freigiebig schenkt. Denke an meine Worte: Eines Tages wirst du bereuen, dass du so blind warst und dein Glück mit beiden Händen weggeworfen hast!«

Erwartungsvoll sah Charmaine zu dem Mann auf, der unruhig vor ihr und den Kindern auf und ab ging. John hatte angekündigt, dass er etwas Wichtiges mitzuteilen hätte, und nun warteten sie, dass er endlich begann. Schließlich blieb er stehen, sah auf die Zwillinge hinunter, die auf ihren Betten saßen und Pierre und Charmaine den Rücken zukehrten.

»Morgen fahre ich wieder nach Hause.« Sein Plauderton wollte nicht so recht zu dem leisen Beben in seiner Stimme passen.

»Du fährst weg?«, riefen die Kinder wie aus einem Mund.

»So ist es. Morgen segle ich mit der Raven zurück nach Virginia. Es wird Zeit, dass ich wieder nach Hause komme und mich um meine Arbeit kümmere.«

»Aber hier ist doch dein Zuhause!«, protestierte Yvette. »Aber nein, Yvette, das war einmal. Wie du weißt, habe ich ein neues Zuhause. Ich habe es schon viel zu lange vernachlässigt.«

»Und jetzt vernachlässigst du uns! Virginia ist dir wichtiger als wir.«

»Du weißt, dass das nicht stimmt«, sagte John weich. »Aber ich habe auch andere Verpflichtungen …«

»Welche denn? Was kann wichtiger sein als deine Familie? Dich um uns zu kümmern?«

»Bevor ich nach Charmantes gekommen bin, ist es dir hier gut gegangen, und das wird genauso weitergehen, wenn ich wieder fort bin.«

»Nein, ganz sicher nicht! Vor zwei Monaten war gar nichts in Ordnung. Erst als du gekommen bist, wurde es besser. Wir waren so unglücklich, aber du hast uns wieder zum Lachen gebracht! Du darfst nicht fortgehen! Das kannst du nicht machen. Ich lasse dich nicht weg!«

»Du machst es mir sehr schwer, Yvette. Ich muss fort, ganz gleich, wie sehr du auch bittest, das steht fest.«

»Aber warum? Warum?«

»Ich muss arbeiten. Und zwar in Virginia und in New York. Die Arbeit lässt sich nicht länger aufschieben.« Dann kam ihm ein Gedanke, und die Erregung beflügelte seine Stimme und verlieh ihr neue Kraft. »Wie wäre es denn, wenn du mich zusammen mit Jeannette und Pierre in Richmond besuchst? Vielleicht im nächsten Frühling, wenn das Wetter wieder schön ist? Bis dahin ist meine Arbeit erledigt, und ich habe viel Zeit für euch drei. Wie hört sich das an?«

»Wie eine Lüge!«, fauchte Yvette. »Wie eine verdammte Lüge!«

»Yvette!«, schimpfte Charmaine, obgleich ihr Herz heftig klopfte.

»Aber es stimmt!« Yvette riss vor Kummer die Augen auf und sah zuerst ihren Bruder und dann Charmaine an. »Er lügt! Er lügt wie damals! Als wir fünf Jahre alt waren, ist er fortgefahren und hat versprochen, dass wir ihn besuchen dürfen, dass er uns schreibt und dass er uns die Fahrkarten für die Reise im Frühjahr schickt. Aber sie sind nicht angekommen und auch keine Briefe. Ich durfte nicht einmal über ihn reden! Als ich ihm endlich schreiben durfte, habe ich ihn gebeten, uns einzuladen. Aber glauben Sie, er hat geantwortet? Nichts hat er getan! Er hat meine Briefe nicht beachtet, als ob sie ihm gleichgültig wären! In seinen Briefen war von allem anderen die Rede, nur nicht von unserem Besuch in Virginia.«

Sie sah John an, doch die Wut überdeckte ihren Kummer. »Ich höre mir deine Lügen nicht näher an! Vater hatte recht. Du bringst der Familie nur Kummer. Du interessierst dich nur für dich selbst! Geh nur zurück nach Richmond! Du wirst schon sehen, dass ich nicht weine!«

»Yvette! Es reicht!«, rief Charmaine.

John schluckte heftig. Der Kummer des Kindes schmerzte ihn mehr als sein eigener. »Lassen Sie nur, Charmaine, sie weiß nicht, was sie sagt. Ich weiß ja, dass sie das nicht so meint.«

»Ich meine es aber so!« Yvette riss sich los, als er den Arm um sie legen wollte. »Fass mich nicht an! Lass mich einfach nur in Ruhe!«

John ließ die Arme sinken, weil er nicht wusste, wie er sich noch besser erklären konnte, und verließ mit hängendem Kopf den Raum.

An diesem Abend wurde später gegessen, doch als endlich alle um den Tisch herumsaßen, wurde das Dinner in allgemeinem Schweigen eingenommen. Ob verzweifelt oder froh – vom Kind bis zum Erwachsenen waren alle mit Johns plötzlichem Entschluss beschäftigt und starrten wortlos auf ihre Teller.

Charmaine war es recht. Ihr war nicht nach fröhlicher Unterhaltung zumute oder gar danach, Glück vorzutäuschen, wie Yvette das tat. Um John zu strafen, täuschte das Mädchen einen guten Appetit vor, was John aber gar nicht zu bemerken schien. Yvette verstand nicht, wie sehr ihr Bruder litt und dass ihn die Situation zum Handeln zwang. Charmaine dagegen verstand inzwischen genug, um zu wissen, dass das Geheimnis dieser Familie größer und schrecklicher war, als sie ahnen konnte.

Ein vertrautes Klopfen, gefolgt von rhythmischem Schlurfen, kündigte den Herrn des Hauses zum Dinner an. Charmaine hielt den Atem an. Niemand sagte ein Wort, als Frederic stumm an John vorbeiging und auf das Ende der Tafel zusteuerte. Agatha überließ ihm hastig ihren Platz und setzte sich auf den Stuhl zu seiner Linken. Anna schob Agathas Teller zur Seite und legte ein neues Gedeck für Frederic auf. Je mehr Zeit verging, desto größer wurde die Spannung.

Irgendwann unterbrach Pierres sanftes Stimmchen die Stille. »Johnny?«

John hob den Kopf und sah kurz zu seinem Vater hinüber, bevor er sich dem Jungen zuwandte. »Ja, Pierre?« Er räusperte sich. »Was gibt es?«

»Ich habe überlegt.«

»Wirklich?«

»Hm.« Der Junge nickte. »Ich will mitfahren … mit dem Schiff.«

John erbleichte, aber seine Antwort klang kühl. »Ich fürchte, das geht nicht, Pierre. Dann müsstest du doch so viel zurücklassen, was dir kostbar ist.«

»Muss ich nicht. Ich packe einfach alles in einen Koffer.«

John wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. »Ein so großer Koffer würde gar nicht in die Kabine passen.«

»Du bist ganz schön dumm.« Pierre kicherte. Bestimmt wollte ihn sein Bruder nur ärgern. »Ich habe das Schiff doch gesehen. Weißt du noch? Es ist riesengroß.«

»Und was ist mit den Menschen, die du nicht mitnehmen kannst? Deine Schwestern, zum Beispiel? Oder Mainie? Die liebst du doch sehr, oder nicht? Wirst du sie denn nicht vermissen?«

»Sie können ja auch mitkommen. Jeannie will mit, das hat sie schon gesagt.« Er sah zu Jeannette hinüber, die hoffnungsvoll nickte. »Siehst du?«

»Und was ist mit Yvette? Sie ist doch schrecklich wütend auf mich.«

»Sie kommt trotzdem mit. Stimmt’s, Yvie?« Mit flehenden Blicken sah er zu Yvette hinüber, doch die starrte nur stumm vor sich hin. »Klar tut sie es … wenn du sie darum bittest.«

»Trotzdem kann ich dich nicht mitnehmen.«

»Und warum nicht? Du hast mich doch schon einmal gefragt.«

Unwillkürlich sah John wieder zu seinem Vater hinüber, und Charmaine folgte seinem Blick. War es Traurigkeit oder Unruhe, was sich auf Frederics Gesicht spiegelte? Womöglich beides.

»Das war früher«, stieß John hervor. »Aber jetzt geht es nicht mehr.«

»Und warum? Liebst du mich nicht mehr?«

»Und wie ich dich liebe! Aber damit hat es nichts zu tun. In Virginia habe ich zu viel Arbeit, um mich anständig um dich kümmern zu können.«

»Ich kann schon selbst auf mich aufpassen. Ich mache auch keine Schwierigkeiten. Versprochen.«

»Nein, Pierre.«

»Aber ich will mit!«

»Ich habe nein gesagt!«

Mit bebender Unterlippe blinzelte Pierre die Tränen weg. »Wenn du mich nicht mitnimmst, rudere ich in meinem Boot bis zu dir.«

»Das ist viel zu weit, Pierre. Eine so lange Strecke kannst du gar nicht schaffen«, murmelte John.

»Doch! Du wirst es ja sehen. Wenn ich erst bei dir bin, kannst du mich nicht mehr zurückschicken!« Er wandte sich wieder seinem Teller zu. »Du wirst es ja sehen!«

John stützte den Kopf in die Hand, und Frederic tat es ihm nach und sah erst auf, als sein Sohn vom Tisch aufstand. Frederic wollte etwas sagen, aber John war draußen, bevor er seine Worte formulieren konnte. Damit war die Gelegenheit vorbei.

Leise schloss Charmaine die Tür. Nach allem, was in den letzten vierundzwanzig Stunden geschehen war, hatten die Kinder lange keine Ruhe gefunden. Rose murmelte leise: »Gute Nacht« und zog sich in ihr Zimmer im Nordflügel zurück. Für Charmaine dagegen war es noch zu früh. Außerdem war ihr Kopf so voll, dass sie ohnehin keinen Schlaf gefunden hätte.

Sie ging die Treppe hinunter und erschrak, als John plötzlich auf dem Treppenabsatz erschien. Er sah zu ihr empor und hielt ihren Blick fest. Eine Weile verharrten sie bewegungslos, ohne etwas zu sagen.

»Sehe ich Sie noch, bevor Sie aufbrechen?«, fragte Charmaine nach einiger Zeit.

»Die Raven wird nicht vor dem Nachmittag Segel setzen. Wir haben also noch Zeit genug.«

»Die Raven … Mit diesem Schiff bin ich damals nach Charmantes gekommen, und nun bringt es Sie von hier fort.«

»Das klingt nicht sehr glücklich, my charm. Könnte es sein, dass auch Sie mich vermissen werden?«

»Natürlich werde ich Sie vermissen«, flüsterte sie. Sie mühte sich, ihre Gefühle im Zaum zu halten, und war irritiert, als er leise lachte. »Ist das so verwunderlich?«

»In gewisser Weise haben Sie diesen Tag doch seit zwei Monaten herbeigesehnt.«

Sie überging die Bemerkung, die noch vor zwei Wochen wahr gewesen wäre. »Werden Sie uns schreiben?«

»Ganz bestimmt.«

Er wandte sich der Treppe zu, aber Charmaine wollte ihn noch nicht gehen lassen. »Warum verlassen Sie uns wirklich?«

Langsam drehte er sich um. »Wissen Sie das denn nicht?«

»Nein«, log sie, um ihn noch etwas aufzuhalten.

»Süße, unschuldige Charmaine«, murmelte er träumerisch. »Nur gut, dass Sie es nicht wissen. Sonst würden Sie mich vielleicht genauso verachten wie die anderen.«

»Ich könnte Sie gar nicht verachten … nicht mehr.«

Seine Blicke liebkosten jeden Zug ihres Gesichts. »Ich werde Sie mit mir nehmen, my charm. Sie haben mir zwei unvergessliche Monate beschert. Eine Zeit voll kostbarer Erinnerungen, die lange vorhalten müssen.«

Ein schleifendes Geräusch ließ sie nach oben sehen, wo Pierre Charmaines großen Koffer über die Dielen zerrte.

»Was, um alles in der Welt, machst du da, Pierre?«

Schuldbewusst richtete sich der Junge auf. »Ich fahre fort«, keuchte er und sah wild entschlossen von einem zum anderen.

»Und wohin fährst du?«

»Zu Johnnys Haus. Das habe ich doch gesagt.«

»Das tust du nicht«, sagte Charmaine und eilte nach oben. John folgte ihr. »Komm«, sagte sie und ergriff Pierres Hand. »Zurück ins Bett mit dir.«

»Nein.« Er riss sich los. »Ich will nicht schlafen! Ich will mit Johnny verreisen.«

Bevor der Junge an ihr vorbeilaufen konnte, nahm Charmaine ihn auf den Arm und überließ John den Koffer. »Johnnys Schiff fährt erst am Nachmittag ab.«

»Das glaube ich nicht.« Pierre zappelte wie verrückt.

»Du musst es aber glauben, weil es so ist.« Sie drückte den Jungen an sich. Als sie ins Kinderzimmer kamen, sahen Yvette und Jeannette ihnen mit großen Augen entgegen. »Du bleibst jetzt im Bett und schläfst, und wenn du lieb bist, dann darfst du John gleich am Morgen sehen, bevor wir zur Messe gehen.«

Pierre zog eine Schnute. »Wetten, dass ich das nicht darf? Wetten, dass er einfach fortgeht, wie Yvie gesagt hat?«

John sah Yvette an. »Nein, Pierre, Yvette irrt sich. Ich würde nie weggehen, ohne mich von dir zu verabschieden. Wir sehen uns morgen früh, wie Mademoiselle dir versprochen hat. Aber nur, wenn du jetzt brav schläfst.«

Der Junge strahlte. »Und dann nimmst du mich mit?«

»Dieses Mal nicht, und jetzt hör auf zu betteln.«

Pierre brach in Tränen aus. »Aber ich will mit! Bitte, lass mich mitfahren. Ich bin auch sehr, sehr, sehr lieb! Ich verspreche es. Bitte, Johnny! Bitte, nimm mich mit!«

»Nein!«, schimpfte John. »Und jetzt hör endlich auf zu weinen, oder ich komme nie mehr zu Besuch!«

Die Drohung hatte verheerende Folgen. Verbissen kämpfte der Kleine gegen die Tränen, wurde aber immer wieder von heftigem Schluchzen geschüttelt. Charmaine nahm ihn in den Arm, aber der Junge war untröstlich. Sie warf John einen tadelnden Blick zu.

Das war der letzte Schlag. Entrüstet wandte sich John seinen Schwestern zu. Yvette drehte sich zur Wand, doch Jeannettes gerunzelte Stirn bot ihm ein willkommenes Ziel und schürte seinen Ärger.

»Warum habt ihr ihn denn nicht aufgehalten? Oder Charmaine gerufen, als ihr gesehen habt, was er vorhat?«

»Pierre kann tun, was er will.« Jeannettes scharfer Ton war ein deutliches Zeichen, dass ihr Schmerz nicht weniger groß war.

»Wie meinst du das?«

»Das machst du doch auch, oder nicht? Du rennst davon, weil das leichter ist, als dich mit Vater zu verstehen. Wenn du erst wieder in Virginia bist, vergisst du uns alle. So wie beim letzten Mal. Yvette hat recht: Du liebst keinen aus dieser Familie.«

»Das ist nicht wahr, Jeannette!«, stieß John hervor. »Ich kann es nicht aushalten, wenn du so redest.«

»Warum gehst du dann weg?« Sie stöhnte, sprang vom Bett und umschlang ihn so fest, dass er wehrlos war. »Bitte, geh nicht weg! Sag, dass du hierbleibst! Oder nimm uns mit! Wir tun alles … alles, wenn du uns nur …«

»Das kann ich nicht«, murmelte er. Dann machte er sich los und lief aus dem Zimmer.

Charmaine lag im Bett und starrte zur Decke empor, ohne etwas zu sehen – außer ihren Erinnerungen an John. Das hatte bereits am ersten Abend nach seiner Rückkehr angefangen.

John … Seit wann bedeutete er ihr so viel? Wann hatte sie beim Gedanken an ihn nicht mehr die Stirn gerunzelt, sondern gelächelt? Er ist ein Rätsel – fürwahr. Entweder hasst man ihn oder man liebt ihn. Meistens in dieser Reihenfolge … Wann hatte der Herr ihr den wahren Menschen gezeigt?

John … der zukünftige Erbe des riesigen Vermögens. Der Gedanke an solch ungeheueren Reichtum brachte einige Frauen um den Verstand, andere lagen ihm seufzend zu Füßen. Wie traurig für sie, denn ihnen entging der wahre Schatz, der darunter verborgen war. John könnte ein Bettler sein, und dennoch würde sie sich als reich bezeichnen, weil sie ihn kennengelernt hatte.

John … der unweit von hier am Ende des Korridors schlief … oder keinen Schlaf fand.

Betrübt überlegte sie, ob sie ihn überhaupt noch einmal zu Gesicht bekäme. Wie leer ihr die Zukunft erschien. Keine Picknicks, keine Ausflüge in die Stadt, keine Abenteuer, die das Leben lebenswert machten, und keine Wortgefechte mehr, die die Langeweile vertrieben. Jeder Tag, jede Begegnung mit John, war anders und unerwartet verlaufen und hatte sie reich beschenkt. Wie sollte sie das Leben ohne ihn nur aushalten?

Seine Melancholie setzte ihrer Seele zu und ebenso seine Entscheidung, die ihn selbst tiefer traf, als seine Schwestern ahnten. Charmaine dagegen hatte es begriffen. Die Teile des Rätsels ließen nur einen schrecklichen, aber logischen Schluss zu: Colette und John waren ein Liebespaar gewesen und hatten zusammen ein Kind gezeugt. Pierre war Frederics Enkel! Es konnte eigentlich nicht wahr sein, und doch musste es so sein!

Wie hatte das geschehen können?

Colette … war mit einem Mann verheiratet, der alt genug war, um ihr Vater zu sein. War das Grund genug, um John zu erhören? Unmöglich! Charmaine war sicher, dass für Colette das Treuegelöbnis viel bedeutete. Außerdem hatte sie behauptet, Frederic zu lieben, und sie hatte Charmaine erzählt, dass sie sich vom ersten Augenblick an zu ihm hingezogen fühlte. Warum also hatte sie ausgerechnet den Sohn dieses Mannes zum Liebhaber gewählt?

Frederic musste am Boden zerstört gewesen sein, als er erfahren hatte, dass seine Frau ihm untreu war, dass sein Sohn ihn betrogen hatte. Charmaine konnte sich vorstellen, dass bei einem Streit um die Frau, die sie beide liebten, die Wahrheit über Pierres Empfängnis herausgekommen war und den Schlaganfall ausgelöst hatte, der Frederic zum Krüppel gemacht hatte.

John … Warum hatte er überhaupt eine ehebrecherische Beziehung mit der Frau seines Vaters begonnen? Aus Rache für die Vernachlässigung, die er als Kind erfahren hatte? Nein, es musste mehr sein. John hatte Colette geliebt. Charmaine spürte, dass das so gewesen war. Und er liebte Pierre bis zur Verzweiflung – seine kostbare Erinnerung an diese Liebe.

Warum hatte Colette das alles zugelassen?

Durch ihre Liebe zu Vater und Sohn hatte sie Unglück über dieses Haus gebracht und die Familie zerstört. Dennoch konnte Charmaine sie nicht verurteilen. Welch eine Tragödie! Alle waren davon betroffen und würden für Generationen darunter leiden. Das war auch der Grund dafür, warum Colette noch immer durch diese Räume geisterte – ihre Seele hatte noch keinen Frieden gefunden!

Und Pierre? Würde er heranwachsen und Frederic für seinen Vater und John nur für seinen älteren Bruder halten? John hatte ihn mitnehmen wollen, begriff Charmaine. Doch in der Nacht am Piano hatte er von diesem Vorhaben Abstand genommen. Niemand verdient es, verletzt zu werden. Am wenigsten ein unschuldiges Kind … Er war bereit, sein eigenes Glück für Pierres Wohlergehen zu opfern. Aber würde der Junge ohne ihn glücklicher werden?

Angesichts solch ungeheuerlicher Gedanken erbebte Charmaine. Ob sie jemals die ganze unglaubliche Geschichte erfahren würde? Konnte die Familie die Vergangenheit jemals begraben? Nein. Ein solch entsetzliches Geschehen konnte weder vergessen noch vergeben werden, denn so etwas lebte in alle Ewigkeit weiter.

Charmaine ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie vergrub das Gesicht im Kissen und weinte, in der Hoffnung, dass die Tränen ihre bösen Vermutungen wegwuschen.

Sonntag, 8. Oktober 1837

 

Am nächsten Morgen war Pierre krank. Er war zwar fieberfrei, doch sein Gesicht war gerötet, und er klagte über Kopfschmerzen und Bauchgrimmen. Offensichtlich litt er an gebrochenem Herzen.

»Wenn Pierre nicht in die Messe geht«, verkündete Yvette, »dann gehe ich auch nicht!«

»Und wie du gehst, junge Lady«, sagte Charmaine. »Dein kleiner Bruder fühlt sich nicht wohl, aber dir fehlt gar nichts.«

»Aber wer kümmert sich um ihn, wenn wir fort sind?«

»Ich bin sicher, dass John das gern für eine Stunde übernimmt.«

Yvette zog eine Schnute, und wie in der vergangenen Nacht drehte sie sich störrisch zur Wand.

Charmaine lächelte in sich hinein. John würde sich darum reißen, Pierre zu beaufsichtigen. Das war seine letzte Gelegenheit, um mit dem Jungen allein zu sein.

John setzte sich neben Pierre auf den Bettrand und strich ihm das zerzauste Haar Strähne für Strähne aus dem Gesicht. Im Haus war es still, und das tiefe Atmen des Kindes war das einzige Lebenszeichen. Die Stille nagte an seinem Herzen. Als er den schneidenden Schmerz nicht länger beherrschen konnte, tropften die ersten Tränen auf seine Hand.

Zwei Monate. Er hatte zwei Monate geschenkt bekommen. Das musste für den Rest des Lebens genügen. Acht Wochen voller Lachen. Seltsam, dass er sich gar nicht mehr an die anfängliche Verzweiflung und den Kummer erinnern konnte, als er Charmantes zu spät erreicht hatte. Zwei Monate … Falls es einen Gott gab, so dankte er ihm.

Ein markerschütternder Schrei gellte durch die Luft. John schoss in die Höhe und lief hinaus auf die Veranda. Drüben jenseits der großen Wiese herrschte Chaos. Ein Pferdeknecht lag schmerzverkrümmt auf dem Boden, und sein Arm war seltsam abgewinkelt. Ein anderer rannte über die Koppel. »Er ist dort drüben!«, rief er über die Schulter zurück. Zwei andere Männer rannten aufs Haus zu.

Aufgeregt schnaubend galoppierte Phantom im Kreis und schüttelte seinen mächtigen Kopf. Plötzlich blieb er stehen, rieb seine Nüstern an seinem Bein, stieg vorn hoch und trat dann mit den Vorderhufen laut wiehernd in die Luft. Anschließend nahm er den wilden Galopp wieder auf.

Die Pferdeknechte näherten sich ihm von mehreren Seiten mit Zügel und Leinen, aber der Hengst attackierte die Männer und erwischte einen von ihnen an der Schulter, der rückwärts zu Boden stürzte. Bevor er wieder auf die Beine kam, stieg der Hengst erneut hoch, und die tödlichen Hufe verfehlten den Mann nur um Haaresbreite.

Fluchend stürzte John ins Kinderzimmer zurück, wo Pierre noch immer schlief. Ohne lange zu überlegen, rannte er weiter den Korridor entlang und die Treppe hinunter.

John wollte Charmantes verlassen. Frederic ging in seinem Zimmer auf und ab, während die Worte in seinem Kopf widerhallten. Sein Sohn verließ das Haus. Verdammt, dass er gerade jetzt ging! Verdammt, dass er allein fortging!

In der vergangenen Nacht hatte Frederic nicht geschlafen, und seine Augen brannten vor Müdigkeit. Wieder und wieder hatte er die Szene an der Tafel durchlebt. Ob seine Familie jemals glückliche Tage erlebte? War das sein Vermächtnis an die nächste Generation?

Armer kleiner Pierre … so jung, so hübsch. Er liebte den Jungen so sehr, wie er John und sogar Paul nie geliebt hatte. Mit Pierre hatte er eine zweite Chance bekommen. Und was hatte er daraus gemacht? Voller Reue dachte er an die Monate nach dem Schlaganfall, an die verzweifelten Tage als stummer Krüppel. Er konnte sich erinnern, dass Rose ihm das winzige Kind in den Arm gelegt hatte. Rose war eine kluge Frau, denn dieses kleine Wesen hatte ihn aus seiner Starre erlöst. Wenn er den Jungen nun auf dem Schoß hielt, empfand er das größte Glück. Aber er wusste, dass er ihn loslassen musste, denn John verdiente die Liebe des Jungen weit mehr als er. John wollte dem Jungen keinen Schmerz zufügen und ihn von allem trennen, was er liebte, besonders nicht von seinen Schwestern und seiner Gouvernante. Deshalb die mutige Bitte um das Sorgerecht für die Mädchen. Im Gegensatz zu den Machenschaften seines Vaters hatte John ihn geradeheraus um die Kinder gebeten, obwohl er sie in der Woche zuvor einfach hätte stehlen können. Und was hatte sein Vater getan? Er hatte ihm die Bitte abgeschlagen. Erneut. Du bindest deine Kinder an dich, indem du ihnen nicht gibst, was sie brauchen, sondern es ihnen vorenthältst. Guter Gott. John hatte recht.

Frederic fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Er wusste, was er tun musste, was Colette, ja, sogar Elizabeth gewollt hätten. Er öffnete den Safe und entnahm ihm drei Abschriften seines Testaments. Dann setzte er sich an den Schreibtisch und fügte jedem Exemplar eine Erklärung hinzu.

Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte er eine Bewegung an den französischen Türen. Er musste blinzeln. Im Rahmen stand Colette und war so deutlich zu sehen, dass er an seinem Verstand zweifelte. Ob er eingeschlafen war? Hastig stand er auf, doch als er auf sie zuging, entfernte sie sich im selben Tempo von ihm. Ein Spiegelbild ihrer Ehe, dachte er. Er folgte ihr hinaus auf die Veranda, aber dort entschwand die Erscheinung in westlicher Richtung und löste sich im morgendlichen Dunst auf. Frederic schüttelte verwundert den Kopf.

War das eine Bewegung dort drüben am Rand des Wäldchens? Irgendetwas hatte seine Aufmerksamkeit geweckt. Er kniff die Lider zusammen, um besser sehen zu können. Aber umsonst. Er starrte auf die Stelle, wo der Weg begann, der zum See führte.

Sein Herz schlug schneller. Er wollte die Angst verscheuchen, die ihn packte, aber das war unmöglich. Achtlos ließ er den Stock fallen. Er hastete zurück in sein Zimmer und zerrte am Glockenstrang. Irgendjemand würde ihn hören. Sicher waren nicht alle in der Messe. Wieder zog er an dem Glockenzug. Er fluchte, als Minute auf Minute verging und sich nichts regte. Genug! Er hatte schon fast den Korridor hinter sich, als Felicia endlich am oberen Ende der Treppe auftauchte.

»Sie haben geläutet, Sir?« Sie wunderte sich, dass er ihr entgegengelaufen war.

»Hol Travis.«

»Aber er ist in der Messe, Sir, wie alle …«

»Hol ihn, verdammt noch mal, und zwar sofort! Er soll im Wald nachsehen – gleich hinter dem Haus! Am See stimmt etwas nicht!«

»Sir?«

»Beeil dich, Mädchen!«, brüllte er so laut, dass sie die Treppe hinuntersauste. »Wenn Paul da ist, dann sag ihm dasselbe! Sie sollen beim See nachsehen!«

Die Kirchgänger versammelten sich im Vorraum und sprachen leise miteinander. Keiner wusste, warum man die Messe abgebrochen hatte und Paul und Travis so eilig zum See gehen mussten.

»Ich verlange eine Antwort«, sagte Agatha, ohne auf Father Benitos Empörung zu achten.

»Ich kann nichts dazu sagen, Madam«, erwiderte Felicia. »Ihr Mann hat geläutet, aber alle waren in der Messe. Bevor ich oben war, kam er mir schon entgegen. Er hat verlangt, dass Master Paul und Travis beim See nachsehen.«

»Weswegen denn? Was ist denn los?«

»Offenbar gibt es ein Problem, aber mehr hat er nicht gesagt.«

Als immer mehr Zeit verstrich und klar war, dass die Messe nicht fortgesetzt werden würde, gingen die Leute auseinander.

»Kommt, Mädchen«, drängte Charmaine, »wir wollen nach Pierre sehen.«

Im Kinderzimmer war es ungewöhnlich still. Im nächsten Moment wusste Charmaine, warum: John und Pierre waren nicht da. Wenn sie das Bett des Jungen leer vorgefunden hatte, war sie bisher immer besorgt gewesen. Aber diesmal lächelte sie. Pierre war bei John gut aufgehoben. Noch eine letzte Stunde.

Ein durchdringender Schrei vernichtete alle glücklichen Gedanken, dann donnernde Schritte.

Pauls verzweifelte Stimme drang zu ihnen empor – ein Feuerwerk an schnellen Befehlen. »Holen Sie Blackford! Jetzt, verdammt! Und Decken. Ich brauche Decken! Alle, die Sie finden können! Und suchen Sie Rose! Schnell!«

Stille. Eine Sekunde. Und dann: »John … Mein Gott, wo warst du?«

Eine andere Stimme … Johns Stimme. »Was, zum Teufel …«

Dann wieder Paul: »Wir müssen ihn nach oben bringen! Verdammt, John! Er hat eine Menge Wasser geschluckt! Wir sind …«

»Welches Wasser? Wo, um alles in der Welt, hast du ihn gefunden?«

»Am See! Guter Gott, John, wir haben keine Zeit für Erklärungen! Wir müssen Robert holen!«

»Gib ihn mir, Paul. Verdammt, Paul, gib ihn mir endlich!«

Mittwoch, 11. Oktober 1837

 

Am dritten Morgen in Folge stieg die Sonne am klarblauen Himmel empor und schenkte der Welt einen neuen Tag. Und am dritten Morgen in Folge herrschte im großen Herrenhaus auf Charmantes dieselbe bange Erwartung, wann es endlich gute Nachrichten aus dem Zimmer der Gouvernante gab.

Pierre lag in einer Art Fieberdelirium. Er wurde in einem Malstrom von Halluzinationen fortgerissen, und immer wieder starrte er mit weit aufgerissenen Augen zu den Ungeheuern an der Decke empor. Aber wenn Charmaine seinen Namen rief, reagierte er nicht.

Kaum dass Rose die Bettwäsche gewechselt hatte, war der Junge schon wieder von Kopf bis Fuß durchgeschwitzt. Danach wechselte sie die Kompressen auf der glühenden Stirn. Pierre bäumte sich kurz gegen die Kälte auf, aber Rose wechselte die Kompressen in kurzer Folge, weil sie im nächsten Moment schon wieder warm waren. Bisher hatten ihre Hausmittel keine große Wirkung gezeigt, aber deswegen verzweifelte sie nicht. Sie reichte Charmaine die Tücher und sprach leise murmelnd ihre Gebete, während die schimmernden Perlen des Rosenkranzes durch ihre Finger glitten.

Im Lauf des Tages veränderte sich Pierres Zustand. Er kämpfte gegen die Decken, die ihn in einer Sekunde zu ersticken drohten und in der nächsten nicht genug wärmten. Die kleinen Zähnchen klapperten in einem scharlachroten Mund. Er begann zu stöhnen und stieß zusammenhanglose Sätze und Wörter wie »Mama« oder »Mainie« hervor. Charmaine tröstete ihn mit sanftem Streicheln und ermutigenden Worten und fluchte innerlich, dass sie nicht mehr tun konnte.

Als die Schatten länger wurden und die Uhr in der Halle sieben Mal schlug, legte sich eine unwirkliche Stille über das Krankenzimmer. Pierres Unruhe war vorüber, aber seine Lungen kämpften darum, ein wenig Luft zu bekommen. Ein leises Pfeifen war zu hören, und der Brustkorb hob und senkte sich kaum merklich. Rose schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer, woraufhin Charmaine ihren Platz einnahm. Ihre Müdigkeit nahm sie nicht zur Kenntnis. Sie würde erst zu Bett gehen, wenn sie sicher war, dass der Junge sich erholte.

Mit diesem Gedanken war sie nicht allein. Von allen, die nach Pierre gesehen und sich inzwischen unten in der Halle versammelt hatten, gab es nur einen, der den Jungen keine Sekunde allein gelassen hatte. Er hatte das Zimmer nur zu nötigen Verrichtungen verlassen und noch nicht einmal etwas zu sich genommen. Charmaines Blick wanderte über das Bett zu John hinüber. Er war endlich eingeschlafen, und sein Kopf war gegen die Sessellehne gesunken. Sie seufzte. Zum Glück musste sie die Verzweiflung und die Schuldgefühle in seinem Blick nicht mehr sehen. So sehr seine Erschöpfung sie auch beunruhigte, so war sie doch heilfroh, dass er endlich schlief und nicht mehr auf und ab lief.

Drei Tage lang war er mit großen Schritten durch den Raum gerannt und hatte nur innegehalten, wenn an der Tür geklopft wurde. Das Zimmer war eine schwer bewachte Festung, und es hatten nur ausgesuchte Personen Zutritt. Paul und George und Fatima mit ihrem Tablett. Die Übrigen wagten gar nicht zu fragen. Vermutlich hielten sie ihn für verrückt. Nach der äußeren Erscheinung war er das auch. Ein aschfahles Gesicht, dazu hohle Wangen, ein spitzes Kinn, ein drei Tage alter Bart und teilnahmslose, eingesunkene Augen. Selbst sein Haar glänzte nicht mehr und klebte an seiner feuchten Stirn. Er sah aus wie ein Besessener.

Die Zeit verrann. Irgendwann kehrte Rose zurück und brachte Paul mit. Schweigend traten sie ans Fußende des Betts. Paul hielt sich an einem der Pfosten fest. Mit ernstem Blick nickte er Rose zu, woraufhin sie leise zu Johns Sessel ging.

Er schien ihre Gegenwart zu spüren und schlug die Augen auf. Sie sah auf ihn hinunter, sah, wie matt und kraftlos er war. »Ich habe Paul gebeten, Robert Blackford zu rufen. Wenn Sie einverstanden sind, reitet er sofort los.«

Johns erloschener Blick belebte sich. »Nein«, stieß er drohend hervor.

»Aber, John …«

»Nein!«, bellte er. »Den will ich hier nicht haben!«

»Aber, John, ich bin doch kein Arzt. Ich kenne mich mit solchen Krankheiten nicht aus …«

»Oh, doch«, widersprach er. »Als wir noch klein waren, haben Sie uns immer gepflegt. Ganz egal, wie krank wir waren … Sie wussten immer das richtige Mittel. Auch wenn Sie es nicht glauben, aber ich weiß, dass Sie Pierre helfen können.«

»Sie erwarten zu viel von mir. Ich habe getan, was in meinen Kräften steht.«

»Wenn Sie ihm nicht helfen können, dann kann das niemand.«

»Das können Sie doch nicht wissen, John. Wir haben einen Arzt auf der Insel, der …«

»Ich habe nein gesagt, verdammt! Dieser inkompetente Kerl fasst Pierre nicht an! Mein Gott, dieser Mann hat die Mutter des Jungen getötet, und er hat meine Mutter getötet!«

»Sie irren sich, John«, flüsterte Rose bekümmert.

»Denken Sie, was Sie wollen«, schimpfte er. »Aber ich schwöre, dass ich Blackford den Hals umdrehe, sollte er diese Schwelle überschreiten!«

»Nun gut«, lenkte Rose ein. »Ich werde Sie nicht länger drängen. Dafür gehen Sie aber jetzt in die Küche und essen etwas. Fatima hat Brühe gekocht. Anschließend sollten Sie ein wenig schlafen, damit Sie bei Kräften bleiben.«

»Nein.«

»Charmaine und ich halten Wache. Falls eine Veränderung eintreten sollte, sagen wir Ihnen augenblicklich Bescheid.«

»Nein.«

»Die Antwort nehme ich nicht an, John. Sie müssen etwas essen und sich ausruhen.«

»Nein und noch einmal nein! Ich lasse mich nicht wegschicken, damit Sie diesem Blackford heimlich Zutritt verschaffen!«

Rose knirschte mit den Zähnen. »So etwas würde ich niemals tun. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«

Johns Miene blieb hart.

Rose versuchte es noch einmal sanfter. »Sie bringen sich in Gefahr, John. Wenn Sie zusammenbrechen, habe ich zwei Patienten.«

»Es geht mir gut, Rose. Kümmern Sie sich um Pierre, und machen Sie sich keine Gedanken um mich.«

»Rose hat recht«, drängte jetzt auch Paul. »Ich bitte dich, höre auf sie. Du weißt, dass sie nur Pierres Bestes im Sinn hat, oder nicht? Ich werde an deiner Stelle hier wachen.«

»Du?«

»Ja, ich.« Paul ignorierte Johns erregten Ton. »Es würde mir helfen. Wenn ich vor der Kapelle nicht so lange mit Travis diskutiert hätte, wären wir vielleicht am See gewesen, bevor das Boot umkippte. Ich würde gern etwas tun …«

»Dich trifft keine Schuld«, widersprach John. »Ich kenne den Schuldigen.«

»John, bitte. Ich schwöre, diesmal werde ich dich nicht enttäuschen.«

Paul wartete. Ob sein Bruder die Bitte überhaupt gehört hatte?

John schwankte ein wenig, als er aufstand, und sah bittend zu Charmaine hinüber. »Versprechen Sie, dass Sie Pierre nicht allein lassen, dass Blackford keinen Zutritt bekommt?«

»Ich … ich verspreche es«, stammelte sie überrascht.

»Schwören Sie!«

»Ich schwöre es.«

John fuhr mit den Fingern durch Pierres Haar und ging mit unsicheren Schritten hinaus. Charmaine sah ihm nach und fühlte mit einem Mal eine große Leere. Selbst in diesem verzweifelten Zustand strahlte John noch Zuversicht aus, die den Feind in Schach hielt. Beunruhigt sah sie zu Paul hinüber.

»Keine Sorge, Charmaine, John wird Ihnen keine Vorwürfe machen.«

»Vorwürfe? Was meinen Sie damit?«

Aber Paul hatte sich bereits zu Rose umgedreht, die drängend auf ihn einsprach. »Sie müssen sofort aufbrechen, wenn Robert nicht zu spät kommen soll …«

Jetzt durchschaute Charmaine den Plan. »Was reden Sie da? Sie wollen Dr. Blackford holen, obwohl Sie wissen, dass John ihn ablehnt?«

Das Schweigen der beiden war mehr als beredt.

»Ich kann es nicht glauben! Sie haben Ihr Wort gegeben!«

»Charmaine …«

»Kind«, beruhigte sie Rose, »uns bleibt keine Zeit für Erklärungen. Pierre stirbt.«

»Nein!«, widersprach Charmaine heftig. »Sie irren sich. Sie täuschen sich ganz schrecklich!«

»Ich wünschte, es wäre so. So wie John wollen Sie nicht wahrhaben, was Sie längst wissen. Der Junge stirbt, und wenn wir Dr. Blackford jetzt nicht rufen, wird John sich morgen die größten Vorwürfe machen. Und nicht nur wegen des Unglücks.«

Charmaines Blick suchte Pauls Augen, suchte ein Zeichen der Hoffnung, aber umsonst. »Sie haben John absichtlich getäuscht, ihn dazu gebracht, das Zimmer zu verlassen! Aber Pierre wird nicht sterben. Gott fordert nicht das Leben eines unschuldigen Kindes – nicht, wenn so viele für seine Genesung beten.«

Aber ihre Worte verhallten. Es gab keine Hoffnung, keine Wunder, die man der Hand des Allmächtigen hätte entreißen können. Paul wandte sich verzweifelt ab, und Rose sah stumm zu Boden.

Stille. Erschöpft sank Charmaine in den Sessel, auf dem John eben noch gesessen hatte, und suchte Zuflucht in der Stille, die sie drei lange Tage entbehrt hatte. Es war eine unglaublich friedvolle Stille, die sie einhüllte, eine Stille, die sich selbst genügte. Charmaine lauschte, um zu ergründen, was mit einem Mal so anders war. Die Last der vergangenen Tage war getilgt und die falsche Sicherheit verschwunden. Es gab nur noch diese Stille. Nichts weiter. Das leise Pfeifen war verstummt.

In der nächsten Sekunde sprang sie auf, warf sich über das Bett, griff nach Pierre. »Rose! Er bekommt keine Luft! Ich höre seinen Atem nicht mehr!« Sie zog die Decken beiseite und schüttelte das Kind. »Pierre … atme! Guter Gott … atme!«

Doch ihre Bitte verhallte ungehört, und ganz langsam, schmerzhaft langsam, verschaffte sich die Wahrheit Gehör. Sie sah auf den Kopf auf ihrem Arm hinunter, auf die langen Wimpern, die leicht geröteten Wangen. Mit tiefem Stöhnen drückte sie den schlaffen Körper an ihre Brust, vergrub die Lippen in den verklebten Haaren und schluchzte bitterlich.

»Charmaine …«

Aus weiter Ferne hörte sie Pauls Stimme, fühlte, wie er ihre Arme löste, sah, wie Rose den leblosen Körper aufs Bett zurücklegte, fühlte, wie man sie wegzog und immer weiter wegzog, bis alles vor ihren Augen verschwamm …

»Lassen Sie mich los!«, protestierte sie, als sie wieder bei sich war, und streckte die Arme aus, um Pierre zu berühren.

»Charmaine, es ist gut!«, sagte Paul. »Pierre ist tot. Sie haben lange genug durchgehalten.«

Mit aller Kraft, die sie aufbieten konnte, riss sie sich los, aber dann sah sie Pierre reglos auf dem Bett liegen und hielt inne.

»Er hat seinen Frieden«, murmelte Rose.

Der Satz schnitt Charmaine wie ein Messer ins Herz. Sie wollte nichts mehr hören und floh aus dem Zimmer.

»Charmaine … warten Sie!«

»Lassen Sie sie gehen.« Rose hielt Pauls Arm fest. »Sie muss jetzt allein sein, und ich brauche Sie hier.«

Charmaine erreichte die Treppe und stolperte nach unten, weil ihr die Tränen die Sicht raubten. Mehrmals musste sie nach dem Geländer greifen, um nicht zu stürzen. Sie rannte quer durch das Foyer und weiter durch den verlassenen Ballsaal bis zur Tür der Kapelle. Sie unterdrückte ein Schluchzen, schloss die brennenden Augen und, bevor sie richtig denken konnte, betete sie: Gütiger Gott im Himmel, hilf mir, deinen Willen anzunehmen. Bitte … schenke mir die Kraft …

Sie hatte den Vorraum bereits betreten, als sie ihn entdeckte. John hing halb sitzend, halb kniend in der hintersten Bank und hatte die Ellenbogen auf die Rückenlehne vor ihm gestützt. Die Fingerknöchel traten weiß hervor, so heftig presste er die Stirn in seine Hände.

Er hob den Kopf, er sprang auf und klammerte sich haltsuchend an sie. »Was ist mit Pierre? Geht es ihm gut?«

Als sie zögerte, schob John sie nur wortlos zur Seite.

»Tun Sie das nicht, John.« Sie schlug die Hand vor den Mund. »Pierre ist tot. O Gott, John, er ist tot.«

Stumm starrte John vor sich hin … als ob die Worte sein Herz und seine Seele zerstört hätten. Stille. Dann warf er den Kopf zurück und lachte mitleiderregend. »Und ich wollte Gott die Gnade abringen, die er gar nicht besitzt!«

»Das dürfen Sie nicht sagen, John!«

»Und warum nicht? Weil ich seinen Fluch herausfordere?«

Er trat zurück und starrte zu dem Kruzifix über dem Altar empor. »Wie lange soll ich mich noch quälen? Hat das denn nie ein Ende?«

»John! Hören Sie auf!«

»Er hat mir alles genommen! Alles, was ich jemals geliebt habe.«

»Nein, John. Gott trifft keine Schuld. Er hat keinen Grund, Sie zu verfolgen, und Sie brauchen ihn gerade jetzt … Sie brauchen den Trost, den er Ihnen bietet.«

»Aber ich will den verdammten Trost nicht!«, brüllte er. »Ich will meinen Sohn! Verstehen Sie … Ich will nur meinen Sohn!«

»Gnädiger Gott«, murmelte sie. Ich hatte recht.

Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück, was ihm nicht entging. »Arme Charmaine Ryan«, zischte er voller Zynismus. »Nur Übel und Dekadenz, wohin Sie auch blicken. Sie haben mich vom ersten Tag an richtig eingeschätzt! Ja, ich habe das Kind gezeugt, das Sie geliebt haben. Dabei war Pierre auch nur ein Bastard.« Seine Stimme brach, und gegen seinen Willen verließ ihn seine Wut. »Ich brauche keine Zuschauer. Kehren Sie lieber in Ihre selbstgerechte, ach so moralische Welt zurück! Ich komme allein zurecht. Das habe ich lange genug bewiesen.«

Seine Gemeinheiten beeindruckten sie nicht. So leicht ließ sie sich nicht vertreiben.

Er hasste sie, weil sie in diesem makabren Glauben Zuflucht fand und ihn anstarrte. Er würde noch früh genug einen Narren aus sich machen. Pierre stand ihm mit solcher Klarheit vor Augen, als ob er seine Hand in der seinen, als ob er seine Lippen auf seiner Wange spürte … eine flüchtige, schmerzliche Umarmung.

»Gütiger Gott, habe ich ihn geliebt«, stöhnte er. »Warum hast du ihn mir genommen? Warum?«

Mit zitternder Hand fuhr er sich durch die Locken und schluckte. Als ihm Tränen in die Augen stiegen, legte er seinen Kopf in den Nacken, doch sie suchten sich ihren Weg und sickerten in sein Haar. Die Schlacht war verloren, und mit lautem Stöhnen ergab sich die Festung.

»O Gott, Colette!« Er starrte noch immer nach oben, als ob er durch die Decke zum Himmel aufsehen und sie ihn hören könnte. »Warum hast du mich verlassen? Wofür? Was hast du gewonnen – außer Elend und Tod? Ich habe dich geliebt, aber du hast mich weggeschickt. Warum hast du diesem schrecklichen Ort nicht den Rücken gekehrt, als ich dich darum angefleht habe? Du würdest noch leben … unser Sohn wäre noch am Leben! Warum hieltest du es so für das Beste?«

»Hören Sie auf, John. Tun Sie sich das nicht an!«

Jemand flehte ihn an, zog an seinem Arm. Plötzlich lag dieser Jemand in seinen Armen, und er klammerte sich fest, als ginge es um sein Leben. Wenn er losließ, würde er stürzen. Seine Welt löste sich auf. Der schmale Grat, auf dem er stand, schwankte bedenklich, und darunter warteten die hungrigen Klauen des Wahnsinns.

Charmaine erwiderte seine Umarmung und streichelte seinen Rücken. Ihr eigener Schmerz hätte nicht schlimmer sein können. Er vergrub den Kopf an ihrer Schulter, und sie fühlte seine heißen Tränen auf ihrer Haut und hörte die Sätze, die er in seiner Verzweiflung unzusammenhängend, aber mit schrecklicher Klarheit hervorstieß.

»Colette … Halt mich fest! Bitte, halte mich!«

Ihre Arme umschlangen ihn noch fester. Dann presste sie ihr Gesicht gegen seine Brust und weinte bitterlich. Sie wusste nicht, um wen sie weinte: um das zarte Kind, um ihre melancholische Freundin Colette oder um John, der so voller Leben und Lachen, voller Tränen, Hass und Liebe war? Ihr Herz schmerzte. Aber sie weinte auch um sich selbst, um den schrecklichen Verlust, der erst ganz langsam in ihr Bewusstsein drang und mit dem sie für den Rest ihrer Tage leben musste.

»Ich habe ihn getötet! Guter Gott … ich habe ihn getötet!«

Charmaine löste sich von ihm. »Nein, John, Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen. Es war ein Unfall, ein entsetzlicher Unfall.«

»Ein Unfall? Nein, Charmaine, das war kein Unfall! Unfälle geschehen, wenn Menschen eine Situation nicht mehr beherrschen. Seit ich von Pierres Empfängnis wusste, war er meiner Verantwortung anvertraut. Ich hätte ihn nie verlassen dürfen, doch genau das habe ich getan. Alles, was ich jemals getan habe, hat sich zu diesem Ende gefügt. Die Sünden des Vaters wurden dem Sohn angelastet. Er musste sterben, weil es mich gibt.«

»Unsinn, John. Gott würde Pierre niemals etwas antun, um Sie zu strafen. Pierre war ein liebenswerter Junge, den Gott genauso geliebt hat wie Sie. Ihre Sünden sind ein Teil der Vergangenheit, aber Pierre hat damit nichts zu tun.«

»Aber er war doch ein Teil davon!«

Seine Stimme klang schuldbewusst. Was sollte sie einem Mann sagen, der seinem Vater die Frau genommen und gewusst hatte, dass sie ein Kind erwartete?

»Ich hätte nie zurückkommen dürfen«, stieß er hervor. »Wenn ich mich nicht in sein Leben gedrängt hätte, wäre er verschont worden. Ich wäre besser der Bruder in der Ferne geblieben, ein Name, den man gelegentlich erwähnt, ein Name ohne Gesicht. Aber Colette hat darauf bestanden, dass ich nach Charmantes komme. Und als ich ihn gesehen hatte, diesen wunderbaren Jungen, konnte ich mich nicht mehr abwenden und gehen. Ich konnte es einfach nicht. Ich dachte, dass die Trennung leichter würde, wenn ich genügend Erinnerungen mitnehmen könnte. Aber ich wollte ihm doch nicht wehtun!«

Er sank auf eine der Bänke und barg das Gesicht in den Händen.

»Das weiß ich«, tröstete ihn Charmaine und setzte sich neben ihn.

»Ich habe ihn nicht verdient! Er war viel zu gut, um einen Vater wie mich zu haben.«

»Das ist nicht wahr!«

»O doch, es ist wahr! Wenn ich ein guter Vater wäre, hätte ich ihn dann allein gelassen?«

»Sie konnten doch nicht wissen, dass er sein Zimmer verlassen würde.«

»Wirklich nicht? Am Abend zuvor war er wild entschlossen gewesen, nach Virginia zu rudern. Er wollte nicht, dass ich wegfuhr, wollte mitkommen. Und was habe ich getan? Ich habe nein gesagt und ihm das Herz gebrochen. Ich habe den Schmerz in seinem Gesicht gesehen … wie er mit den Tränen kämpfte. Und dann? Weil ich ihn nicht weinen sehen konnte, habe ich ihm auch noch mein eigenes Elend aufgeladen und gedroht, ihn ohne Abschied zu verlassen. Gott möge mir verzeihen.« Er schluchzte. »Das war die größte meiner Sünden! Ist es wirklich so verwunderlich, dass er beim Aufwachen dachte, ich sei längst fort, und mir folgen wollte?«

»Aber wie hätten Sie das vorher wissen können?«

»Ich konnte es nicht wissen, das ist richtig. Aber ich hätte es verhindern können! Ich hätte ihm nur sagen müssen, was er hören wollte. Ich hätte ihn entweder mitnehmen oder hierbleiben sollen! Mein Vater hatte recht«, zischte er. »Ich war nicht mutig genug, um einzufordern, was mir gehört! Ich habe ihn verlassen – nicht nur ein Mal, sondern zwei Mal. Dabei habe ich meinen Vater die ganze Zeit über aus ebendiesem Grund gehasst. Wie scheinheilig ich doch bin! Sicher lacht er über mich.«

»Er lacht ganz bestimmt nicht«, widersprach Charmaine. »Das weiß ich.«

»O Gott, Charmaine, ich habe ihn so geliebt!« Wieder schluchzte er. »Ich schwöre es. Ich wollte ihn nicht von hier wegholen, um ihm und seinen Schwestern den Schmerz zu ersparen. Ich konnte die drei doch nicht auseinanderreißen oder die Mädchen glauben lassen, dass er mir wichtiger sei. Ich wusste, dass er mich dafür hassen würde. Aber ich war ihm schon zu nahe, um länger hierbleiben zu können. Ich wollte gehen, bevor ich diese Lüge nicht mehr hätte leben können.«

Charmaine trocknete ihre Tränen und legte eine Hand auf seine Schulter. »Es nützt niemandem, wenn Sie sich so quälen.«

Er schwieg eine ganze Zeit und barg den Kopf auf seinen Armen. »Warum hat Gott nicht mich zu sich geholt? Dann hätte ich niemandem Schmerzen zufügen müssen.«

»Sagen Sie doch so etwas nicht!«

»Aber genau das habe ich getan. Vor allem Colette – ich habe sie mehr geliebt, als ich jemals einen Menschen geliebt habe. Sie gehörte niemals wirklich mir, und doch habe ich sie genommen und verletzt …«

»John, bitte! Die Vergangenheit ist nicht zu ändern, aber Sie haben noch die ganze Zukunft vor sich.«

»Welche Zukunft? Meine Zukunft wird immer von meinen Sünden überschattet sein.«

»Ihre Sünden sind längst vergeben«, widersprach sie energisch. »Es gibt sie nicht mehr. Aber wenn Sie sie trotzdem beschwören, werden sie Sie zerstören. Denken Sie lieber an Ihre Liebe zu Pierre und beten Sie für ihn.« Sie räusperte sich. »Beten Sie, dass er seine Mutter im Himmel gefunden hat.«

»Im Himmel! Wenn ich an das Paradies glauben könnte, würde mich das vielleicht trösten.«

»Es existiert, John, und ich weiß, dass sie dort sind und zusammen für Sie beten.«

Er schien ihre Worte sorgfältig abzuwägen. »Liebe Charmaine«, flüsterte er. »Ich weiß, Sie trauern auch, und ich sollte Ihnen nicht noch meinen Schmerz und meine Beichte aufladen. Bestimmt sind Sie angewidert, und doch sind Sie voller Mitgefühl. Warum verdammen Sie mich nicht so wie die anderen?«

»Weil ich weiß, dass Sie Pierre geliebt haben. In meinen Augen sind Sie kein böser Mensch.«

»Was dann?«

»Sie sind einsam.«

Er nickte. »Einsam und allein.«

»Sie irren sich schon wieder. Sie haben noch Ihre Schwestern, außerdem Rose und George. Und Paul und obendrein noch mich. Sollten Sie jemals eine Freundin brauchen, so bin ich immer für Sie da.«

»Fürchten Sie nicht, dass ich diese Freundschaft beschmutzen könnte?«

Sie lachte ein wenig. »Wenn Ihnen das zu Beginn unserer Bekanntschaft nicht gelungen ist, glückt Ihnen das jetzt erst recht nicht mehr.«

Ein Lächeln huschte kurz über sein Gesicht.

»Wenn Sie lieber allein sein wollen, gehe ich.«

»Nein, bleiben Sie bei mir.« Er ergriff ihre Hand.

So saßen sie lange da und ließen sich von der Stille des heiligen Ortes und der Anwesenheit des anderen trösten.

Charmaine seufzte tief. Je größer der Reichtum, desto tiefer der Schmerz … Leider behielt ihre Mutter immer wieder recht. Trotz ihres Vermögens hatte die Familie gelitten und würde das auch in Zukunft tun. Mit einem Mal war Marie ihrer Tochter sehr nahe.

Als sie die Kapelle verließen, wurden sie bereits von Fatima erwartet. Sie trocknete ihre Tränen mit der Schürze und brachte sie in die Küche, wo sie ihnen ein wenig Suppe vorsetzte.

Charmaine brach als Erste zusammen. Die Müdigkeit holte sie ein, und die Erinnerungen an den sommersprossigen Jungen gaben ihr den Rest. Die Augen fielen ihr zu.

»Charmaine«, rief John und umschloss ihre Hand.

Beim Klang seiner Stimme schrak sie auf.

»Kommen Sie, Sie müssen ins Bett.«

Sie fühlte, wie sich seine Arme um sie legten und sie durch das Speisezimmer zur Treppe führten. Auf der obersten Stufe wusste sie nicht mehr, wo sie sich befand. Dann sah sie die Tür, ihre Tür, die Tür zu Johns früherem Zimmer … und wusste wieder, was sie darin erwartete. Plötzlich kam sie zu sich.

Die Tür öffnete sich, und Father Benito kam heraus. Er musterte John mit finsterem Blick. »Ich habe den Leichnam gesegnet.« Charmaine spürte, dass er mehr sagen wollte, doch dann ging der Priester wortlos an ihnen vorbei.

»Ich möchte ihn noch ein letztes Mal sehen«, flüsterte John. »Danach bringe ich Sie in eines der Gästezimmer. Wollen Sie mich begleiten?«

Charmaine nickte und ließ ihn in das Zimmer vorangehen, in dem sie viele Tage lang gefangen gewesen waren. Rose bereitete den kleinen Körper für die Beisetzung vor. Sie hob den Kopf und sah John voll Dankbarkeit an, als er ans Bett trat. Paul löste sich von der Wand, an der er gelehnt hatte, und seufzte erleichtert, weil John so ruhig blieb. Auch George war da. Er hatte die letzten Tage mit den Zwillingen verbracht. Plötzlich sorgte sich Charmaine. Ob sie schon Bescheid wussten? Wie sollte sie es ihnen sagen?

Minutenlang sah John auf den kleinen Pierre hinunter. Charmaine stand dicht hinter ihm, wollte ihn unter keinen Umständen allein lassen. Denn als sie ihn das letzte Mal hatte gehen lassen, war das größte Unglück über sie hereingebrochen.

Der Junge war nicht mehr verschwitzt und sein klei-nes Gesicht nicht mehr vom Schmerz gezeichnet. Der verzweifelte Kampf war ausgestanden, und Einsamkeit war an seine Stelle getreten. Pierre hatte seinen Frieden gefunden. Mit großer Ruhe betrachtete John das kleine Gesicht. War er bereit, sich mit dem Tod des Jungen abzufinden? In diesem Augenblick war das Charmaines größter Wunsch.

Als John schließlich das Wort ergriff, richtete er sich weder an seinen Sohn noch an die Anwesenden im Raum, auch nicht an Gott, sondern allein an Colette. »Ich vertraue dir unseren Sohn an, meine Liebste. Nimm ihn und hüte ihn bis zu dem Tag, an dem wir wieder vereint sind.«

Charmaine erschauerte. Eine Stille, die größer war als der Tod, legte sich über den Raum und verbreitete Hoffnung. Ihre Blicke glitten über die Anwesenden, aber außer ihr schien keiner diese lebendige Gegenwart zu spüren, die sie mit jeder Faser ihres Körpers empfand. Es dauerte nicht lange, dann war es vorüber, und außer ihrem klopfenden Herzen war nichts mehr zu spüren. Als sie Pierre ansah, lag ein Lächeln um seine Lippen, das sie zuvor nicht wahrgenommen hatte. Colette hatte ihren Sohn zu sich geholt.