9

 

Ian erwachte viel zu früh, doch er war zu nervös, um weiterzuschlafen. Beim Frühstück konnte er kaum etwas essen. Angespannt lief er in den Unterrichtsraum der Männer, der sich im Erdgeschoss des Ostflügels befand. Scheinbar ging es vielen anderen ebenso wie ihm, denn die meisten Plätze waren schon besetzt. Glücklicherweise war neben Alexander und Philipp noch ein Stuhl frei.

„Habe ich das gestern richtig verstanden, dass heute der erste Schultag deines Lebens ist?“ Philipp beugte sich interessiert zu ihm hinüber.

„In der Tat“, sagte Ian. „Ich bin äußerst gespannt und nicht minder aufgeregt.“

In diesem Moment trat der Lehrer ein. In Ians Gesicht erschien ein Lächeln – es war Galad. Jetzt konnte nicht mehr allzu viel schief gehen. Nach einer Vorstellungsrunde erläuterte Galad ihnen den Tagesablauf, der sich aus Lektionen im Unterrichtssaal, praktischen Übungen, freier Studierzeit und Unterweisungen in der Waffenhalle zusammensetzte. Die Studenten stöhnten auf. So einen engen Stundenplan waren sie von ihren alten Schulen nicht gewohnt.

„Meine Herren, wir haben nur ein Jahr lang Zeit, Sie auszubilden“, erklärte Galad. „Und wir fangen sofort damit an. Ich unterrichte Sie in Politik, Literatur und Recht. Um erfolgreich mit anderen umgehen zu können, muss man selbst genau wissen, wo man steht. Und, was noch wichtiger ist, welche familiären Verbindungen man nutzen kann. Deshalb lautet Ihre erste Aufgabe, einen Stammbaum Ihrer Familie anzulegen, der vier Generationen in die Vergangenheit und so weit wie möglich in die Breite geht. Wer ist ihre Cousine dritten Grades? Wie hießen die Geschwister Ihrer Urgroßeltern? Vielleicht stellen wir fest, dass einige von Ihnen untereinander verwandt sind, ohne es zu wissen?“ Er machte eine Pause, bevor er weitersprach: „Persönliche Beziehungen sind äußerst wichtig und entscheiden oft über den Erfolg einer Verhandlung. Es ist ein großer Vorteil, wenn man weiß, mit wem man verwandt ist – wenn auch nur weitläufig. Blut ist dicker als Wasser, wie man so schön sagt. Sie beginnen jetzt, soweit Sie Ihren Stammbaum im Kopf haben. Als weitere Aufgabe verfassen Sie Briefe, um die fehlenden Angaben zu erhalten. In sechs Wochen geben Sie die Stammbäume ab. Natürlich steht Ihnen auch die Bibliothek für Ihre Nachforschungen zur Verfügung. Und nun: Viel Vergnügen!“

Ian fiel ein, dass Charlotte mit ihm einmal den Familienstammbaum der Darkwoods durchgegangen war und er machte sich begeistert ans Werk.

In der zweiten Unterrichtsstunde an diesem Morgen ging es um Ackerbau. Auch Lord Tennison, ein sehr betagter Mann mit weißem Vollbart und großem Fachwissen, verlor keine Zeit. Er zeichnete eine Burganlage mit umliegenden Feldern auf ein großes Papier. Nach ein paar Angaben zum Wetter und der Beschaffenheit des Bodens sollten die Studenten jeweils zu zweit entscheiden, was am besten gepflanzt werden könnte.

Ian sah sich um. Alexander und Philipp steckten bereits die Köpfe zusammen, deshalb wandte er sich seinem anderen Nachbarn zu, der, wie er sich erinnerte, Laurentin hieß. „Wollen wir gemeinsam arbeiten?“

Laurentin nickte. Der stämmige junge Mann mit den aschblonden Haaren erwies sich als interessiert und freundlich und alsbald waren Ian und er in ihre Aufgabe versunken und erörterten die Vor- und Nachteile verschiedener Getreidesorten. Nach einer Weile brach Lord Tennison die Arbeit ab, um die Ergebnisse zu besprechen, und Ian beteiligte sich lebhaft an der Diskussion. Als er an einer Stelle den Blauweizen als geeignetste Sorte vorschlug, lächelte Lord Tennison.

„Ich habe schon gehört, dass einer meiner Studenten zu Hause erfolgreich Blauweizen angebaut hat. In einer der nächsten Stunden sollten wir Euer Werk hier auf Greystone bewundern. Aber für heute ist Schluss, ich wünsche Ihnen eine angenehme Mittagspause.“

Ian freute sich über das Lob, während er mit Laurentin zusammen zur großen Halle ging.

„Mir hat die Stunde gut gefallen“, sagte Laurentin. „Liegt vielleicht daran, dass die Landwirtschaft für uns so wichtig ist. Mein Vater hofft, ich bringe schon in den ersten Ferien im Herbst neue Ideen mit nach Hause.“

„Bist du Erstgeborener?“, erkundigte sich Ian.

„Ich bin sogar Einziggeborener.“ Laurentin schmunzelte. „Ich habe keine Geschwister. Mein Vater verspricht sich viel von meiner Ausbildung hier. Da unser Besitz nicht der größte ist, müssen die Erträge stimmen.“ Er schaute Ian bewundernd an. „Dein Vater muss mächtig stolz auf dich sein, dass du es geschafft hast, den Blauweizen anzubauen.“

Ian zögerte mit der Antwort. Sein Vater wusste bis heute nicht, dass die Bewässerungsanlage seine Idee gewesen war. Er glaubte, es sei Ronens Einfall gewesen, und sein Bruder hatte es nicht richtiggestellt aus Furcht, ihr Vater würde vor Zorn alles zerstören. Schließlich erwiderte er: „Mein Vater ist sehr stolz.“ Was auch stimmte – nur eben nicht auf ihn.

 

Nach der Studierzeit trafen sich alle Studenten in der Waffenhalle, wo Adamo schon auf sie wartete. Er bat die jungen Männer, sich für diesen ersten Probekampf ein hölzernes Übungsschwert zu nehmen und sich in einen inneren und einen äußeren Kreis aufzustellen. Auf sein Zeichen hin sollten jeweils die beiden Gegenüberstehenden miteinander kämpfen. Ians Partner war Laurentin. Laurentin hatte bereits im Umkleideraum bedrückt gewirkt und er merkte schnell, warum: Der junge Mann war ein miserabler Kämpfer. Ian passte sich seinem Niveau an und es entstand ein harmloser, aber fließender Kampf. Dankbar sah Laurentin ihn an.

Auf Adamos Zeichen endete diese erste Kampfrunde und die Männer im äußeren Kreis gingen einen Partner weiter. Ian, der im inneren Kreis stand, blieb stehen. Sein nächster Gegner war Alexander. Obwohl Alexander sehr gut mit dem Schwert umgehen konnte, war er keine Herausforderung für ihn, sodass er weiterhin Laurentin beobachten konnte. Laurentins neuer Partner war Dogan, ein hochgewachsener und durchtrainierter Student mit blonden Haaren. Dogan erkannte sofort, dass Laurentin absolut kein Gegner für ihn war und schlug ihm nach kurzer Zeit das Schwert aus der Hand. Laurentin hob es auf und der Kampf begann erneut. Doch nach einer Weile lag sein Schwert wieder auf dem Boden. Das Ganze wiederholte sich mehrmals, bevor der Glockenton die Runde beendete. Laurentin schwieg, aber er sah unglücklich aus. Ian ärgerte sich über Dogans Verhalten und sprach ihn an: „Warum schlägst du Laurentin ständig das Schwert aus der Hand? Das ist kein Duell, sondern nur eine Übung zum Warmmachen und Kennenlernen.“

Dogan bedachte Ian mit einem spöttischen Blick. „Erstens habe ich kein Interesse daran, Laurentin näher kennenzulernen, und zweitens wird ihm vom Bücken sicher warm.“

Da sein nächster Partner auf ihn wartete, konnte Ian nicht antworten. Nachdem alle Innen- und Außenstehenden gegeneinander gekämpft hatten, wandten sich nun die Nebeneinanderstehenden zum Kampf zu.

Als letzter Gegner trat Dogan auf Ian zu. „Oh, der gute Samariter“, sagte er und verzog den Mund zu einem höhnischen Grinsen. „Schau, mittlerweile habe ich alle kennengelernt und die meisten sind es nicht wert, dass man sich vorher warmmacht.“ Er musterte Ian. „Du bist doch der ohne Schulbildung. Dann ist das ja völlige Zeitverschwendung mit dir.“ Da Dogan absichtlich laut gesprochen hatte, blickten alle anderen nun auf sie. Einige der besseren Kämpfer lachten, alle schwächeren – darunter auch Laurentin – schauten Ian mitfühlend an. Dogan, der sich seines Publikums bewusst war, hob betont lässig sein Schwert zum ersten Schlag, nur um es sofort auf dem Boden wiederzufinden. Wütend funkelte er Ian an, hob es auf und holte erneut aus. Dieser Angriff dauerte zwar länger, doch schließlich lag seine Waffe zum zweiten Mal auf der Erde.

Freundlich sah Ian ihn an. „Vielleicht solltest du dich das nächste Mal doch aufwärmen?“

Das Klingeln der Glocke, welches das Ende des Kampfes und auch des Fechttrainings anzeigte, verhinderte Dogans Antwort. Er warf Ian einen grimmigen Blick zu und verschwand mit den anderen Studenten im Umkleideraum.

Ian blieb bei Adamo stehen. „Warum war das die erste Übung?“

„So sehe ich am schnellsten, wer Talent hat und wer nicht.“

„Aber es entmutigt die Schwächeren, wenn sich die begabteren Kämpfer auf ihre Kosten hervortun.“

„Nein, es veranlasst sie zum schnelleren Lernen“, antwortete Adamo voller Überzeugung. Er sah Ians zweifelnde Miene und klopfte ihm auf die Schulter. „Außerdem ist es ja nicht dein Problem, du bist der Beste.“

Nachdenklich ging Ian zum Umkleideraum. So gerne er Adamo mochte, diese erste Stunde hatte ihm überhaupt nicht gefallen. Vielleicht konnte er mit Joanna darüber reden. Überhaupt wollte er ihr noch sagen, wie gut ihm die Eröffnungsfeier gefallen hatte – jedenfalls ab dem Zeitpunkt, als sie dabei war. Er befand sich bereits auf halbem Weg zur Apotheke, als ihm einfiel, dass sein Brief an Charlotte wegen des Stammbaums noch nicht fertig war. Das Schreiben dauerte bei ihm einfach noch länger. Seufzend machte er kehrt und ging in sein Zimmer zurück.

 

Bis zum nächsten Nachmittag, an dem das zweite Fechttraining in der Waffenhalle stattfand, hatte Ian noch nicht mit Joanna gesprochen. Wenn er es sich genau überlegte, hatte er sie nicht einmal gesehen. Wahrscheinlich hatte sie ebenso viel zu tun wie er. Diesmal teilte Adamo die Studenten in kleine Gruppen gemäß ihrem Können ein. Ian war in der besten Gruppe, mit zwei anderen und mit Dogan, was diesem nicht sonderlich gefiel. Der Fechtmeister führte einen komplizierten Angriffsschlag vor, den die jungen Männer üben sollten, während er berichtigend von Gruppe zu Gruppe ging. Ian fiel auf, dass Adamo bei der schwächsten Gruppe, in der sich auch Laurentin befand, stets nur kurz blieb. Während er noch den Kopf darüber schüttelte, hatte er eine Idee. Er lief zu Adamo, besprach etwas mit ihm und kehrte zu Dogan und den anderen beiden zurück. „Ich wechsele die Gruppe“, sagte er.

„Was?“ Fassungslos blickten die drei ihn an.

„Du bleibst bei uns!“, rief Dogan. „Ich kann dich nicht leiden, aber ich kann von dir lernen.“

„Nein“, erwiderte Ian und wandte sich zum Gehen.

Dogan richtete sein Schwert auf ihn. „Ich wiederhole mich ungern“, erklärte er und berührte mit der Schwertspitze Ians Schulter.

Ian hielt inne. „Ich auch nicht.“ Er drehte sich zu Dogan und seinen Freunden um. Die beiden anderen hatten ebenfalls ihre Waffen erhoben und auf ein Zeichen Dogans griffen sie ihn an. Ian seufzte, zog sein Schwert und entwaffnete mit wenigen Schlägen seine drei Gegner. „Es bleibt dabei – ich gehe.“ Er durchquerte die Halle und trat auf Laurentins Gruppe zu. „Ich mache jetzt bei euch mit.“

Laurentin runzelte die Stirn. „Ich habe gerade gesehen, was du kannst. Du wirst dich mit uns langweilen.“

„Das würde ich bei den drei anderen auch.“ Ian steckte sein Schwert in den Waffengürtel zurück. „Ich biete an, euch zu trainieren. Hier im Unterricht und auch gerne zusätzlich – vorausgesetzt, ihr seid einverstanden.“

Laurentin lachte. „Ich bin auf jeden Fall dabei. Ich kann es mir nicht leisten, wegen dieser Kämpferei durch die Zwischenprüfung zu fallen und damit die Akademie verlassen zu müssen.“ Die anderen beiden Studenten aus der Gruppe, Colin und Francis, nickten ebenfalls zustimmend. „Aber ob der Fechtmeister damit einverstanden ist?“

 

„Wie gesagt, von mir aus kannst du die drei gerne unterrichten. Die klassischen Lehrmethoden haben bei ihnen nicht zum Erfolg geführt, vielleicht helfen ihnen deine.“ Adamo sah Ian nach der Stunde ratlos an. „Ich hatte sowieso befürchtet, dass du unterfordert bist, denn beibringen kann ich dir mittlerweile nichts mehr.“ Er kratzte sich am Kopf. „Allerdings muss ich vorher noch mit Jake sprechen.“

Ian war zufrieden. Morgen beim Frühstück würde er nach Joanna Ausschau halten, um ihr von seinem zukünftigen Nachhilfeunterricht zu erzählen. Für heute Abend hatte er sich mit Laurentin, Colin und Francis verabredet, weil er wissen wollte, warum sie so schlechte Kämpfer waren.

Bei ihrem Gespräch stellte sich heraus, dass in Laurentins Familie der Schwertkampf keine große Rolle spielte. „Mein Vater ist ein Cousin des Königs und unser Land grenzt an seines, bei Gefahr würde König Theodoric für unseren Schutz sorgen. Und außerdem“, er klopfte zärtlich seinen Bauch, „lieben wir alle gutes Essen. Das verträgt sich nicht mit hartem Training.“ Schuldbewusst sah er Ian an, doch dieser amüsierte sich über Laurentins Offenheit.

„Bei uns ist das gerade andersherum“, erzählte Colin. „Ich habe zwei ältere Brüder, die ganz versessen sind aufs Kämpfen. Als Jüngster musste ich immer als Übungsgegenstand herhalten und kam dabei nur wenig zum Zug. Und in der Schule ging es dann nahtlos so weiter. Alle haben gerne mit mir trainiert, aber um meine Ausbildung hat sich niemand richtig gekümmert.“

Francis blickte auf den Boden. Fast trotzig begann er zu sprechen: „Ich habe kein Talent. Ich hatte immer gute Fechtmeister und Freunde, die mit mir geübt haben, aber ich kann es einfach nicht.“ Er zuckte mit den Schultern. „Was willst du mit uns machen, Ian?“

„Ein paar andere Sachen ausprobieren. Allerdings wird es anstrengend.“ Er zwinkerte Laurentin zu, der daraufhin das Gesicht verzog. „Wir können anfangen, sobald ich die Erlaubnis von Lord Greystone habe.“

 

Greystone Saga: Mit Schwert und Feder: 1
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