Der letzte Wille der Stanislawa d’Asp

 

Es ist wahr, daß Stanislawa d’Asp den Grafen Vincenz d’Ault-Onival durch zwei volle Jahre erbärmlich behandelte. Er saß allabendlich im Parkett, wenn sie ihre sentimentalen Lieder sang, und reiste ihr nach, jeden Monat in eine andere Stadt. Seine Rosen gab sie den weißen Kaninchen zu fressen, mit denen sie auf die Bühne trat, seine Brillanten versetzte sie, um die Kollegen einzuladen und die schmarotzende Boheme. Einmal hob er sie aus der Gosse auf, als sie betrunken mit einem kleinen Journalisten nach Hause torkelte. Da lachte sie ihm ins Gesicht: „So kommen Sie doch mit! Sie können uns dann das Licht halten!“

Es gab keine gemeinste Beleidigung, die sie dem Grafen ersparte. Worte, aufgelesen aus verpesteten Betten stinkender Hafenbordelle, Gesten, so schamlos, daß sie jeden Zuhälter erröten machten, Szenen, die ein sicherer Dirneninstinkt aus Büchern witterte, die ein Aretin verleugnete – das war ihm gewiß, wenn er nur wagte, in ihre Nähe zu kommen.

Die Leuchten am Variete liebten ihn, hatten ein unendliches Mitleid mit dem armen Narren. Sie nahmen wohl das Geld, das die Dirne verschleuderte, aber sie haßten sie um so gründlicher und verachteten sie, diese Hure, die ihren ehrlichen Artistenstand kompromittierte, deren Kunst ein Schmarrn war und die nichts hatte als ihre blendende Schönheit. Und der ältere der „Five Hobson Brothers“, Fritz Jakobskötter aus Pirna, zerschlug ihr einmal die Rotweinflasche auf dem Kopfe, daß die blonden Haare dick troffen von klebrigem Blut.

Dann, eines Abends, als sie wieder einmal so heiser war, daß sie kaum einen Ton über die trockenen Lippen bringen konnte, als der Theaterarzt nach einer flüchtigen Untersuchung ihr grob erklärte, daß sie schwindsüchtig wäre im letzten Stadium – was sie längst wußte – und daß sie in ein paar Monaten beim Teufel wäre, wenn sie so weiter daraufloslebe, ließ sie den Grafen in ihre Garderobe rufen. Sie spuckte aus, als er eintrat, und sagte ihm, daß sie jetzt bereit sei, seine Mätresse zu werden. Als er sich herabbeugte, ihr die Hand zu küssen, stieß sie ihn weg und lachte. Aber die kurzen Wellen giftigen Lachens rissen in ihren Lungen, und sie bog sich in erstickendem Husten. Dann, kaum wieder still, vornübergebeugt über Schminken und Puderquasten, schluckte sie wimmernd über dem seidenen Taschentuche. Der Graf legte ihr leise die Hand auf die Locken; da sprang sie auf: „Also, nehmen Sie mich nur!“ Sie hielt ihm das Tuch unter die Nase, voll von Blut und gelbem Schleim. „Da, mein Herr – das bin ich noch wert!“

So war Stanislawa d’Asp. – Aber es läßt sich nicht leugnen, daß die Dirne eine Dame wurde von heute auf morgen. Der Graf trug sie durch Europa, brachte sie von einem Sanatorium ins andere. Sie tat, was er sagte und was die Ärzte sagten; klagte nie und gab nie ein kleinstes Widerwort. Sie starb nicht; sie lebte Monate und Jahre und erholte sich, ganz langsam, aber mehr und immer mehr. Und allmählich ließ sie auch ihren Blick zuweilen auf dem Grafen ruhen. Mit dieser Ruhe, mit diesem stillen, ewig gleichen Leben wuchs in ihr eine Dankbarkeit.

Als sie von Algier abfuhren, sagte der Arzt, es sei wohl möglich, daß sie einmal ganz wieder gesund würde. Der Graf wandte sich ab, aber sie sah wohl seine kleine Träne. Und plötzlich, um seine Freude noch größer zu machen, berührte sie seine Hand. Sie fühlte, wie er zitterte, da lächelte sie: „Vincenz, ich will für dich gesund werden.“ Das war das erstemal, daß sie seinen Namen sprach, das erstemal, daß sie ihn du nannte, und das erstemal, daß sie ihn berührte. Er blickte sie an – dann stürzte er fort, nicht mehr Herr über sich. Aber als sie ihm nachsah, stieg die bittere Galle in ihr hoch. – „Ah, wenn er nur nicht weinen wollte.“

Und doch wuchsen ihre Dankbarkeit und ihr Mitleid mit ihm. Ein Schuldbewußtsein dazu, ein Pflichtgefühl, diese ungeheure Liebe erwidern zu müssen. Und dazu eine Art Respekt, eine große Bewunderung vor dieser merkwürdigen Liebe, die eine Sekunde gebar für ein ganzes Menschenleben. Wenn sie im Strandstuhl saß und auf die Wogen hinausträumte, dachte sie wohl darüber nach. Da wurde ihr zur Gewißheit, daß dieser Liebe nichts unmöglich sei; daß sie etwas gefunden habe, so herrlich, so wunderbar, wie es Jahrhunderte nur einmal geben. Und als sie dann anfing zu lieben – und als sie liebte – – liebte sie doch nicht ihn, sondern nur seine große Liebe.

Sie sagte ihm das nicht, sie wußte, daß er sie doch nicht verstehen würde. Aber sie tat nun alles, ihn glücklich zu machen. Und nur ein einziges Mal gab sie ein: Nein!

Das war, als er sie bat, seine Frau zu werden.

Aber der Graf ließ nicht nach, und es gab ein Ringen durch Monate. Sie sagte, sie würde an seine Familie schreiben, wenn er nicht aufhöre, sie zu bitten; da schrieb er selbst und teilte seine Verlobung mit. Erst kam ein Vetter, dann ein Onkel; sie nannten sie charmant und sehr verständig, ihn aber einen dickköpfigen Dummkopf. Der Graf lachte und sagte, er würde doch tun, was er wolle. Dann kam seine alte Mutter; da spielte Stanislawa d’Asp ihren großen Trumpf aus. Was sie gewesen sei, das wisse er ja und könne es selbst seiner Mutter sagen. Aber dann zeigte sie ihre Papiere, sagte, daß sie Lea Lewi heiße und ein unehelich Kind sei. Und Jüdin sei sie und würde es bleiben ihr Leben lang. So, und wenn Graf Vincenz d’Ault-Onival, der Marquis von Ronval, der fromme Sohn des christlichsten Hauses der Normandie, sie nun noch heiraten wolle, so möge er es tun. Dann ging sie hinaus und ließ ihn allein mit der Gräfinwitwe.

Das war wohlüberlegt, was sie da tat. Sie kannte den Grafen gut und wußte, wie sehr er in seinem Kinderglauben lebte, wußte, daß er nicht aufstand und nicht zu Bette ging, keine Mahlzeit nahm, ohne sein Gebet zu sprechen. Oh, ganz leise, ganz unauffällig, und kein Fremder würde es merken. Sie wußte, daß er zur Messe ging und zur Beichte, wußte auch, daß er das alles tat aus tiefstem, innerstem Gefühl. Und sie wußte auch, wie er an seiner Mutter hing, wie er sie liebte und verehrte. Die würde nun zu ihm sprechen, eine kluge alte Frau, und ihm noch einmal sagen, wie unmöglich diese Ehe sei, wie er sich lächerlich mache vor seinen Leuten und sich versündige gegen seine Mutter und seinen Glauben – –

Sie stand auf ihrem Balkon und wartete. Sie kannte jedes Wort, das die Mutter sprach, sagte es selbst. Sie hätte dabei sein mögen und ihr soufflieren, daß sie nur recht deutlich, recht überzeugend alle die Gründe gab. Ja, es sollte ein Weltmeer von Unmöglichkeiten zwischen ihr stehen und seiner Liebe und dann – dann sollte er doch – –

Da fiel ihr etwas ein. Sie lief durch das Zimmer und hinüber in das des Grafen. Sie riß die Türe auf und drang in die Dämmerung, hastig, atemlos, keuchend nach Worten. Sie blieb stehen vor der alten Dame; kantig und hart sprangen die Silben:

„Und meine Kinder – wenn ich je Kinder habe – sollen jüdisch sein, jüdisch, wie ich es bin!“

Sie wartete nicht auf Antwort, rannte hinaus in ihre Räume, fiel schwer auf das Bett. So, jetzt war es entschieden! O gewiß, das mußte ihn niederwerfen, diesen dummen großen Jungen, diesen sentimentalen Aristokraten aus fremder Welt, diesen christlichen Krankenwärter mit seinem Glauben und seiner Liebe. Und sie empfand eine große Genugtuung, daß sie endlich ein Tor gefunden hatte, zu eisern, zu stark für diese ungeheure Liebe, die sie immer fühlte und doch nie ganz verstand.

Sie wußte, sie würde ihn jetzt lassen, würde fortgehen, wieder aufs Variete, ins Bordell, oder dort hinunter springen die Sorrentiner Felsen – das alles war ganz gleich. Aber sie fühlte sich stark und groß in ihrem frühen Instinkte, der sie einst ihn bespeien ließ und ihn ohrfeigen mit schmutzigen Worten. Der Graf hatte verspielt, und sie war wieder eine Dirne, eine erbärmliche, jämmerliche Dirne, und keine Macht des Himmels konnte je sie herausreißen aus all dem Schmutz.

Dann ging die Türe auf. Sie sprang auf vom Bett, sicher in ihrem alten Lachen. Kottriefende Phrasen, die sie längst vergessen, zuckten in ihrem Hirn, o sie wußte, wie sie den Grafen empfangen wollte.

Es war die alte Dame. Ganz still kam sie zu auf die junge Frau, setzte sich aufs Bett, zog sie hin zu sich. Stanislawa hörte ihre Worte, aber verstand sie kaum. Es war ihr, als ob ferne irgendwo eine leise Orgel spiele. Und diese Töne sprachen zu ihr, und sie fühlte nur, was sie wollten.

Sie möge tun, was sie wolle; alles, alles. Nur möge sie ihren Sohn heiraten, möge ihn glücklich machen. Sie selbst, die Mutter, komme, um für ihn zu bitten. Denn seine Liebe sei so groß – –

Da stand Stanislawa auf und sagte: „Denn seine Liebe ist so groß.“

Sie ließ sich hinüberführen zu dem Grafen. Sie ließ sich küssen von ihm und von seiner Mutter. Sie fühlte: Das war die Erlösung und die Genesung. An Leib und an Seele. Denn ihr Leben war nun ein Gefäß für einen kostbaren Inhalt: den Glauben an seine große Liebe.

Stanislawa heiratete den Grafen. Es war ein seltsames Leben, das sie führte in diesen Monaten. Sie liebte ihn nicht, das verstand sie wohl. Aber es war, als ob sie still kauere, aufweichen Fellen vor dem Kamin; und diese leichte Glut streichelte sanft ihr kühles Fleisch. Sie war immer müde, so wohlig müde; sie träumte so dahin in dem Halbschlaf seiner wärmenden Liebe. Er küßte ihre Hände, wenn sie zufrieden lächelte, so leise vor sich hin; er meinte, sie sei nun wohl glücklich. Aber es war nicht ein Glück, das sie lächeln machte, es war immer wieder der Gedanke an diese unbegreifliche Liebe, die unendlich war wie die Welt, und in der sie schwebte, leicht getragen von warmem Hauche, ein spielendes Blatt in Mittags winden. In dieser Zeit starben in ihr alle Sehnsüchte, versanken alle fernen Vergangenheiten. Und ihr Glauben wuchs, und sie wußte wohl, wo sie lag, und daß es in allen Tagen nichts geben würde, das seine Liebe nicht tun könne für sie.

Bisweilen, o nur ganz selten, pochte sie auf diese seltsame Liebe, diese geheimnisvolle Kraft, die alles tun konnte. In Auteuil setzte sie ein paar Goldstücke auf irgendein schlechtes Pferd. „Nimm es nicht“, sagte der Graf, „es ist nichts wert.“ Da sah sie ihn an, voll, mit langem Blicke: „Aber nicht wahr, Vincenz, es wird doch gewinnen? – Ich möchte, daß es gewinnt.“ Und als man das Rennen lief, schaute sie nicht auf die Pferde; sah nur zu ihm hinunter auf den Sattelplatz. Sie sah, wie er die Hände verschränkte, wie seine Lippen sich leise bewegten. Da wußte sie, daß er betete. Als dann die Favoriten ausbrachen rechts und links und der jämmerliche Außenseiter den ersten Platz belegte, verstand sie, daß es sein Werk war und die Macht seiner großen Liebe.

 

Dann kam die Zeit, als Jan Olieslagers in ihr Leben trat. Er war ein Freund des Grafen von der Schule her und es auch so geblieben die Jahre durch. Er lief durch die Welt, und nie wußte man, wo er war. Aber dann kam eine Postkarte von ihm irgendwoher, aus Cochinchina, aus Paraguay oder Rhodesia. Nun war er in Europa, und der Graf hatte ihn eingeladen in sein Schloß zu Ronval.

Das kam alles sehr rasch. Dem Vlamen gefiel diese Frau, und er war es gewohnt, das zu nehmen, was ihm gefiel. Einmal, viel später, machte ihm jemand Vorwürfe, daß er sie so nahm, seines guten Freundes Frau, die er nicht einmal liebte. Da sagte er: „Er war mein Freund – aber war er deshalb kein Esel? Und dann: Hat je eine Frau meine Lippen allein besessen? Weshalb sollte er einziger Herr über die ihren sein?“ – Er nahm Stanislawa so, wie er des Grafen Pferd ritt, wie er seine Maschine fuhr, wie er sein Brot aß und seinen Wein trank. Das, was er tat, war selbstverständlich und ohne Interesse. Und im Grunde war es ebenso natürlich, daß sich die Frau ihm gab, ohne Sträuben, ohne Widerstand, von heute auf morgen.

Nicht als ob, auch nur eine Sekunde lang, die alte Dirne in ihr erwacht wäre. Jan Olieslagers eroberte die Gräfin d’Ault-Onival und nicht Lea Lewi. Und vielleicht würde diese sich kaum um ihn bekümmert und sich gewiß nicht in ihn verliebt haben, während er die Gräfin bis in den kleinsten Puls in Flammen setzte. Nicht, weil er ein guter Reiter war – der Graf ritt viel besser als er. Aber weil er zu Pferde ein anderer Mensch war, oh, ein ganz anderer als der, den sie eben gesehen. Der Graf war immer derselbe, ob er zur Jagd war oder am Bridgetische saß. Und dieser Mann war immer ein anderer, was er auch tat. Alles war ihm ein Spiel, aber er spielte alles gleich gut. Nichts in der Welt nahm er ernst; obwohl ihn alles interessierte, schien ihm doch nichts wirklich wert dieses Interesses. Nur daß er da war und lebte. Das war ihm der Mittelpunkt, und dieser einzige Instinkt war so eingewurzelt und stark, daß er sich, unbewußt, übertrug auf seine Umgebung.

Vielleicht war das der Grund seiner Siege. Man vergaß ihn schnell, wenn er fern war; aber wenn er da war, war er der Herr.

Stanislawa d’Asp fand in ihm eine neue und weitere Welt. Eine Welt voller Rätsel und Geheimnisse, voll verschlossener Türen und Tore, die er keine Miene machte, zu offen. Bei dem Grafen war alles einfach und klar; wie in dem stillen Schloßpark wandelte sie da. Jedes Beet kannte sie und jeden Rosenbusch, und hinten die gewaltige Eiche, die kein Weststurm entwurzeln konnte, stolz und aufrecht: seine große Liebe. Bei dem andern aber lief sie in einem verhexten Irrgarten. Sie ging einen Weg dahin, der ihr schön schien, schöner als einer vom Schloßpark. Unendlich weit schien er zu führen und war doch zu Ende nach wenigen Schritten, abgeschnitten durch undurchdringliche Stechpalmhecken. Sie bog einen anderen Pfad ein, und ihn versperrte irgendein närrisches Tier. Und sie fand nicht heraus und taumelte fast in den schweren Düften, die ihre verschlafenen Sinne seltsam weckten – –

Der Vlame aber suchte nichts bei dieser Frau. Und eines Abends, beim Nachtmahl, sagte er, daß er entzückende Wochen verlebt habe auf dem stillen Schloß und daß er von Herzen dankbar sei seinem Freunde und der liebenswürdigen Gräfin. Aber daß er nun fort müsse, wieder hinaus in die Welt, und daß er morgen abreise, nach Bombay. Er sprach das alles leichthin, aber es war wohl so wahr, wie er es sagte. Der Graf drängte ihn, doch zu bleiben, aber die Gräfin sagte kein Wort. Nur als sie aufstanden und der Graf den Dienern Befehle gab für die Abreise, bat sie den Gast, ihr in den Garten zu folgen.

Und dort sagte sie ihm, daß sie mitfahre. Jan Olieslagers war auf eine Szene gefaßt, doch nicht darauf; so kam es wohl, daß er, ein wenig nur, aus seiner Sicherheit fiel und, suchend nach Worten und Gründen, die irgendeinen Schein von Vernunft tragen möchten, etwas sprach, das er sonst vielleicht vermieden hätte. Er mochte ihr nicht sagen, daß er ihre Begleitung nicht wünsche, daß sie ihm gar nichts sei und höchstens in dem großen Schloß seiner Erinnerungen ein kleines, verlorenes Kämmerlein bewohne. Daß sie irgendeine Blume sei, abgepflückt so im Vorübergehen für das Knopfloch, gut für den Nachmittag, bis man zum Abendessen den Anzug wechsele. – Da fand er eines, das ihm deshalb brauchbar schien, da die Gräfin wissen mußte, daß etwas daran wahr sei. Und dann mochte auch das andere gelten. So schickte er denn mit Gefühl und mit gutem Anstand erst ein paar Phrasen voraus: daß er lange gekämpft habe und daß ihm fast das Herz breche. Aber er sei nun einmal das große Leben gewöhnt und wisse bestimmt, daß er es nicht mehr missen könne. Sein Vermögen aber reiche kaum für ihn aus und würde nicht entfernt genügen für die Ansprüche der Gräfin. Sie seien beide so verwachsen mit Luxus und Komfort, und jede Entbehrung würde – Und einmal müsse man sich doch trennen, und eben darum gehe er jetzt, um nicht den Abschied noch schmerzlicher – –

Wie immer glaubte er im Moment an das, was er sagte; so überzeugt war er, daß die Gräfin in jeder Silbe ihn ernst nahm. Sie schwieg, da legte er seinen Arm um sie. Ein wenig verzog sich seine Oberlippe, nur noch ein paar Worte – nicht weinen – Schicksal – Wiedersehen – Seufzer und Tränen – – so und dann wäre es gut.

Aber die Gräfin entwand sich ihm. Sie hob sich hoch, sah ihm voll ins Gesicht; dann sagte sie ruhig: „Vincenz wird uns das geben, was wir brauchen.“ Er war sprachlos, starrte sie an, gurgelte halbe Worte: „Wa –? – Du bist ja wahn – –“ Aber sie hörte ihn nicht mehr, schritt langsam dem Schlosse zu. Und so gewiß war sie ihrer Sache, so sicher in ihrem starken Glauben an die allmächtige Liebe des Grafen, die auch dieses Opfer, das größte, ihr bringen würde – so felsenfest in ihrem unerschütterlichen Vertrauen, daß sie sich umwandte auf der Freitreppe und lächelnd ihm zurief: „Warte nur auf mich!“

So königlich war ihre letzte Geste, daß Jan Olieslagers diese Frau beinahe wieder reizvoll fand. Er ging da im Mondschein auf und nieder, blickte auf das Schloß, ob er irgendein erleuchtetes Fenster sähe. Aber er sah keins. Er ging nahe heran, irgendwelche Stimmen zu hören, einen Schrei, ein hysterisches Schluchzen. Aber er hörte nichts. Keinen Augenblick dachte er daran, hineinzugehen, er hatte eine instinktive Abneigung vor allem, was unangenehm war. Er überlegte nur, wie er es anstellen könne, um doch diese Frau loszuwerden, wenn der Graf wahnsinnig genug sein sollte, sie ihm zu geben und auszustatten dazu. Wie er sie loswerden könne, ohne roh, ohne brutal zu werden. Ein paarmal lachte er auf, das Komische der ganzen Geschichte kam ihm wohl zum Bewußtsein. Aber es war nicht stark genug, um es wirklich zu genießen. Dann langweilte er sich; nachdem er alles erwogen hatte von allen Seiten und doch keine Lösung fand – verlor er allmählich das Interesse. Und endlich, nachdem er stundenlang herumgeirrt war in dem stillen Park, war es ihm, als ob ihn das alles gar nichts mehr anginge. Als ob es schon vor undenklicher Zeit passiert wäre, oder aber irgendeinem andern und nicht ihm. Er gähnte nun, dann ging er ins Schloß, durch lange Gänge und Treppen hinauf in seine Zimmer. Kleidete sich aus, pfiff leise einen Gassenhauer und legte sich zu Bett.

Früh weckte ihn der Kammerdiener, sagte, daß das Auto bereit sei, half ihm beim Packen. Jan Olieslagers fragte ihn nicht nach der Herrschaft, setzte sich aber hin, um dem Grafen zu schreiben. Drei Briefe hintereinander – aber er zerriß sie wieder. Und als der Wagen durch das Parktor prustete, hinaus in die Morgennebel, seufzte er ein erlöstes „Gott sei Dank!“

 

Er reiste nach Indien. Diesmal schrieb er keine Postkarten mehr. – Aber nach anderthalb Jahren traf ihn ein Brief, der ihm monatelang nachgereist war. Das Kuvert trug seine Pariser Adresse von des Grafen Hand, es enthielt die gedruckte Anzeige des Todes der Gräfin. Jan Olieslagers antwortete sogleich, schrieb einen schönen, klugen Brief, mit dem er sehr zufrieden war. Er vergab sich nichts darin und war doch offen und ohne Rückhalt, es war ein Brief, der schon den Eindruck machen mußte, für den er bestimmt war. Und er empfand eine Genugtuung, als er ihn in den Kasten gab, so, als habe er eine Tat getan. Aber er erhielt keine Antwort; ein Jahr später erst, als er nach Monaten wieder in Paris war, erreichte ihn ein zweiter Brief des Grafen.

Er war kurz, aber aufrichtig, herzlich fast, wie in alter Zeit. Der Graf bat ihn bei ihrer Jugendfreundschaft, so bald wie nur möglich zu ihm zu kommen nach Ronval. Es handelte sich um den letzten Willen der Gräfin.

Jan Olieslagers stutzte, was Angenehmes konnte diese Reise gewiß nicht bringen. Er empfand keine Spur von Neugierde für den Ausgang dieses Familiendramas, das ihn längst nicht mehr berührte. Es war wirklich ein Rest von Kinderfreundschaft, wenn er sich endlich doch entschloß.

Der Graf war nicht am Bahnhof. Aber der Diener, der ihn zum Schlosse fuhr, bat ihn, gleich in die Bibliothek zu kommen, der Graf erwarte ihn dort. Jan Olieslagers war nach diesem Empfang gewiß, daß ihm der neue Aufenthalt im Schlosse kaum Vergnügen bereiten würde. So ging er nicht gleich zum Grafen, begab sich in dem Gefühl, daß man alles Unangenehme immer noch früh genug erlebe, in seine Zimmer, die ihm der Kammerdiener anwies, badete sehr langsam, kleidete sich um und ließ sich dann, da er Hunger spürte, auf seinem Zimmer servieren. Es war schon reichlich spät am Abend, als er sich seufzend entschloß, seinen alten Freund aufzusuchen.

Er fand ihn vor dem Kamine sitzend. Kein Buch, keine Zeitung lag in der Nähe, und doch mußte er schon stundenlang da gesessen haben; übervoll von Zigarettenresten stand vor ihm die Aschenschale.

„Ah, da bist du endlich“, sagte er leise, „ich warte schon lange auf dich. Willst du trinken?“ Diese Begrüßung war dem Vlamen leidlich sympathisch, er stieß an mit dem Freunde. Drei, vier Gläser schweren Burgunder – dann fand er seine alte Sicherheit wieder. Er blies den Zigarettendampf ins Feuer, kam sich ganz behaglich vor in dem weiten Klubsessel. Und es klang beinahe wohlwollend, als er sagte:

„Nun erzähle!“

Aber er bedauerte gleich diesen großen Ton, wurde fast mitleidig, als er die verschüchterten Worte hörte: „Verzeih – – aber willst du mir nicht lieber erst erzählen?“ Da war Jan Olieslagers drauf und dran, sentimental zu werden, sich zu entschuldigen – mea culpa.

Der Graf bewahrte ihn davor. Ehe der andere nur eine Silbe stottern konnte, begann er wieder: „– Nein, nein! Verzeih mir, ich will dich nicht quälen. Stanislawa sagte mir ja alles.“

Etwas unsicher wiederholte der Vlame: „Sie sagte dir alles?“

„Ja, freilich, als sie von dir aus dem Parke kam. Übrigens – hätte ich mir das alles selbst sagen müssen. Es wäre ja ein Wunder gewesen, wenn du sie nicht geliebt hättest.“

Der Freund rückte in seinem Sessel.

„Schweig nur. Und daß sie dich lieben mußte, war ebenso natürlich. Es war also meine Schuld; ich hätte dich damals nicht herbitten sollen. So habe ich euch beide unglücklich gemacht. – Und mich dazu. – Verzeih mir.“

Dem Vlamen wurde sehr unbehaglich. Er warf die eben angebrannte Zigarette ins Feuer und steckte eine neue an.

„Stanislawa sagte, daß ihr euch liebtet. Sie bat mich, euch die Mittel zu geben, die dir fehlten. War das nicht groß von ihr?“

Der andere verschluckte die Worte, die sich auf seinen Lippen bilden wollten. Kaum brachte er stotternd heraus: „Herrgott –“

„Aber ich konnte es nicht. Verstand auch wohl zuerst gar nicht, wie stark und groß ihr Wunsch war. Ich schlug es ihr ab und ließ dich ziehen. Wie unglücklich mußt du gewesen sein, mein armer Freund – kannst du mir vergeben? Ich weiß, wie man um sie leidet, und ich weiß, wie man sie lieben mußte, diese Frau!“

Jan Olieslagers beugte sich vor, ergriff die Feuerzange und stieß in die Scheite. Seine Rolle in diesem Spiel war unerträglich, er wollte ein Ende machen. Brüsk sagt er:

„Zum Henker, ich weiß es auch.“

Aber der Graf fuhr fort, immer in dem stillen, leidenden Tone: „Das glaub’ ich dir, daß du es weißt. Aber ich konnte es nicht – konnte sie nicht lassen. Ich hatte nicht die Kraft dazu. Willst du mir verzeihen?“

Der andere sprang auf, fuhr ihm brutal ins Gesicht: „Wenn du jetzt nicht aufhörst mit deinen Albernheiten, geh’ ich sofort hinaus.“

Doch der Graf ergriff seine Hände: „Verzeihung, ich will dich nicht weite– quälen. Ich wollte nur – –“

Da sah Jan Olieslagers wohl, daß sein Freund besessen war, so gab er sich drein. Er erwiderte kräftig den Händedruck und seufzte: „In Gottes Namen denn, ich vergebe dir!“

Und jener: „Ich danke dir.“ Dann schwiegen sie.

Nach einer Weile stand der Graf auf, nahm von einem Tische ein großes, gerahmtes Foto. Er reichte es seinem Freunde: „Hier, für dich.“

Es war ein Bild der Gräfin auf dem Totenbette. Aufgebahrt; zu beiden Seiten die herrlichen getriebenen Silberleuchter, ein Geschenk des dreizehnten Ludwig an irgendeinen Vorfahren. Ein schwarzer Perlenkranz hing über dem Bettpfosten, er warf einen leichten Schatten über das Gesicht der Toten. Vielleicht war es eben dieser Schatten, der den Eindruck hervorrief, als ob eine Lebende da liege. Freilich waren die Augen geschlossen, die Züge starr und der Ausdruck durchaus nicht der einer Schlummernden. Aber über den halboffenen Lippen spielte ein seltsames, höhnisches Lächeln –

Das Spitzenhemd war dicht am Hals geschlossen, die weiten Ärmel fielen bis über die Knöchel. Und die langen schmalen Hände, über der Brust gefaltet, umschlossen leicht mit fast durchsichtigen Fingern ein elfenbeinernes Kruzifix.

„Sie ist katholisch geworden?“ fragte der Vlame.

„Ja, am letzten Tage hat sie sich bekehrt“, bestätigte der Graf. „Aber weißt du“, fuhr er leiser fort, „ich glaube, sie tat es nur, um meines Eides noch gewisser zu sein.“

„Welchen Eides?“

„Oh, schon am Tage vor ihrem Tode ließ sie mich schwören, daß ich ihren letzten Willen buchstäblich ausführen wolle. Es ist gar nichts Besonderes, es betrifft nur ihre Beisetzung in der Schloßkapelle; sie sagte mir das gleich, obwohl ich ihr Testament erst heute eröffnen soll.“

„Ist sie denn noch nicht beigesetzt?“

„O nein! Bist du nie im Parke in der Kapelle gewesen? Fast alle meine Vorfahren wurden zuerst begraben auf dem kleinen Friedhof, der sie umgibt. Erst nach Jahren hat man sie dann wieder ausgegraben und die Knochen aufbewahrt in großen Urnen aus gebrannter Erde. Es ist ein alter normannischer Brauch, den die Chronik auf Roger den Roten zurückleitet; ich denke, er wurde eingeführt, weil ja kaum einer dieser Abenteurer zu Hause starb. Da brachten die Kameraden wenigstens die Knochen der Witwe. In unserem Beinhause ruht Philipp, der vor Jaffe fiel, und Autodorn, den man den Provençalen nannte, weil seine Mutter eine Gräfin von Orange war. König Harold erschlug ihn bei Hastings. Auch der Bastard Richardet ruht da, den der calvinistische Heinrich hinrichten ließ, weil er um zwanzig Jahre zu früh den Dolchstoß versuchte, der später dem Ravaillac besser glückte. Vom Rad hat sein eigener Vater zur Nachtzeit den zerbrochenen Leichnam herabgeflochten, der ihm später zur Sühne die Grafschaften La-Motte und Croixau-Bailly eintrug, als der König in Paris einzog und katholisch wurde. Alle ruhen sie da, meine Ahnen, Männer und Frauen, und keines fehlt. – Ich hätte Stanislawa gewiß dort beigesetzt, auch ohne ihren Wunsch. Aber sie mißtraute mir – nachdem das passiert war –, glaubte vielleicht, ich würde ihr diese Ehre verweigern. Deshalb ließ sie mich schwören.“

„Sie mißtraute dir?“

„Ja. So sehr, daß ihr mein Versprechen und mein Schwur in ihre Hand nicht sicher genug erschienen. Sie wälzte sich in ihren Kissen und seufzte und knirschte mit den Zähnen stundenlang. Dann plötzlich schickte sie mich fort, den Priester zu holen. Ich sandte nach ihm, sie konnte kaum erwarten, daß er kommen würde. Als er endlich kam, fragte sie, welcher Schwur für einen Christen der heiligste sei; er antwortete: ,Der auf das Kruzifix.’ Dann fragte sie ihn weiter, ob die Kirche von einem Schwur entbinden könne, den man einer Ungläubigen geleistet habe. Der alte Landpfarrer geriet in Verlegenheit, er stotterte, sagte, daß jeder Schwur heilig sei, daß aber die Kirche vielleicht, unter gewissen Umständen – – Da griff die Gräfin mit beiden Händen nach ihm, zog sich hoch und schrie: ,Ich will Christin werden!’ Der Pfarrer zauderte, gab nicht gleich eine Antwort. Aber die Gräfin zerrte ihn, schüttelte ihn beinahe und schrie wieder: ,Hören Sie nicht? Ich will Christin werden!’

Der Graf hatte keinen Augenblick die Stimme gehoben, aber er würgte, und ein kleiner Schweiß stand ihm auf der Stirne.

Er nahm das Glas, das ihm der Freund reichte, und leerte es. Dann fuhr er fort:

„Der Pfarrer unterwies sie, gütig, still, in wenigen Worten. Er sprach ihr leise von unserem Glauben, ohne die Todkranke zuviel zu quälen. Dann taufte er sie und gab ihr zugleich die Letzte Ölung. Als die heiligen Handlungen zu Ende waren, nahm sie noch einmal des Pfarrers Hände. Ihre Stimme klang so sanft, so glücklich wie die eines Engels, als sie ihm nun sagte: ,Ich bitte Euch, schenkt mir das Kruzifix.’ Der Pfarrer gab es ihr, sie faßte es fest mit beiden Händen. ‚Pfarrer’, sagte sie, ,was mir nun ein Christ auf dieses Kruzifix schwört, das muß er halten?’ – ,Ja!’ – ‚Unverbrüchlich?’ – ‚Unverbrüchlich!’ – Sie ließ sich schwer zurückfallen in die Kissen. ‚Ich danke Euch, Pfarrer. – Geld habe ich nicht, aber ich gebe Euch all meinen Schmuck. Verkauft ihn für Eure Armen.’

An diesem Abend sprach sie kein Wort mehr. Aber am Morgen winkte sie mich an ihr Bett. Sie sagte mir wieder, daß ihr letzter Wille verschlossen liege in ihrer Schreibmappe. Ich solle ihn eröffnen, nach drei Jahren erst, und in deiner Gegenwart.“

„In meiner Gegenwart?“

„Ja. Sie ließ mich knien und verlangte, ich solle ihr noch einmal schwören, ihren Willen getreulich zu erfüllen. Ich versicherte ihr, daß ich meinen Schwur von gestern gewiß halten werde, aber sie gab nicht nach. Sie ließ mich die rechte Hand hochheben und die Linke auf das Kruzifix legen, das sie festhielt; langsam sprach sie mir die Worte vor, die ich nachsprach. So habe ich zweimal geschworen.“

„Dann starb sie?“

„Ja, nach wenigen Stunden. Der Priester kam noch einmal und sprach ihr zu. Aber ich weiß nicht, ob sie hinhörte. Nur einmal, als er sagte, daß es ein Auferstehen gäbe auch nach der Todestrennung und daß sie mich wohl wiedersehen werde, wandte sie sich halb um. Ja, Pfarrer, das dürfen Sie glauben: Mich wird er gewiß wiedersehen. Das waren ihre letzten Worte. Sie lächelte leise dabei; und dieses Lächeln behielt sie, als sie einschlief.“

Der Graf erhob sich und ging zur Türe: „Nun will ich ihr Testament holen.“

Jan Olieslagers sah ihm nach. „Armer Kerl“, murmelte er, „da wird eine schöne Teufelei drinstehn.“ Er nahm die Karaffe und goß die Gläser hoch voll.

Der Graf brachte eine lederne Schreibmappe und schloß sie auf. Er nahm ein kleines Kuvert und reichte es dem Freunde.

„Ich?“ fragte dieser.

„Ja. Die Gräfin wollte, daß du es öffnen solltest.“

Einen Augenblick zögerte der Vlame, dann zerbrach er die Siegel. Er riß das Kuvert auf und las laut die steilen Züge auf dem violetten Bogen:

 

Der letzte Wille

 der Stanislawa d’Asp.

Ich will, daß man das, was noch von mir übrig ist, drei Jahre nach meinem Begräbnis aus dem Sarge herausnimmt und beisetzt in einer Urne der Schloßkapelle. Dabei soll keinerlei Feier stattfinden, auch soll außer den Gärtnern niemand zugegen sein als der Graf Vincenz d’Ault-Onival und sein Freund Herr Jan Olieslagers. Doch soll es ein Nachmittag sein, an dem die Sonne scheint; und ehe sie untergeht, sollen meine Reste in der Urne der Kapelle ruhn: ein Andenken an des Grafen große Liebe zu mir. Schloß Ronval, 25. VI. 04.

Stanislawa, Gräfin d’Ault-Onival.

 

Der Vlame reichte das Blatt dem Grafen: „Hier – das ist alles.“

„Ich wußte es ja; genauso sagte sie es mir. Glaubtest du, es würde noch etwas anderes enthalten?“

Jan Olieslagers ging mit langen Schritten durch den weiten Raum. „Offen gestanden – ja! – Sagtest du nicht, daß diese Art von Beisetzung eine uralte Gewohnheit eurer Familie sei?“

„Ja.“

„Und daß du unter allen Umständen Stanislawa diese Ehre erwiesen hättest?“

„Ganz gewiß!“

„Wozu denn in aller Welt läßt sie dich etwas, das so selbstverständlich ist, zweimal schwören und in so feierlicher Form?“

Der Graf nahm das Bild und blickte lange darauf. „Meine Schuld“, sagte er, „meine große Schuld. – Komm, setze dich, ich will es dir erklären. – Sieh, die Gräfin glaubte an meine Liebe zu ihr. Wie dann diese Liebe das erste Mal versagte, als sie ein Großes von mir verlangte, war es, als ob sie in einen Abgrund fiele. Als ich ihr abschlug, um was sie mich bat in jener Nacht, wollte sie gar nicht glauben, was ich sagte, meinte, ich scherze nur. So sehr war sie überzeugt, daß meine Liebe tun müsse, was sie verlange. Und als sie dann sah, wie schwach ich war, und wie ich nicht lassen konnte von ihr; als sie dies einzige verlor, an das sie glaubte, da ging eine seltsame Veränderung mit ihr vor. Es schien, als habe ich ihrem Leben den Inhalt genommen; sie schwand dahin, langsam, wie ein Schatten, wenn die Sonne sinkt.

So wenigstens glaubte ich das alles zu verstehen.

Monatelang verließ sie ihr Zimmer nicht. Sie saß auf ihrem Balkon, schweigend, träumend, blickte hinaus in die hohen Bäume. In dieser Zeit sprach sie kaum mit mir, sie klagte nicht; es war, als ob sie alle Tage grübele über irgendeinem Geheimnis. Einmal traf ich sie dann hier in der Bibliothek, sie lag auf dem Boden und suchte eifrig in allen möglichen Büchern. Aber ich weiß nicht, was sie las; sie bat mich hinauszugehen. Dann schrieb sie viel, jeden Tag ein paar Briefe; und bald kamen Pakete von allen Seiten. Die ersten enthielten nur Bücher, ich weiß nicht welcher Art; sie verschloß sie und hat sie verbrannt noch vor ihrem Tode. Aber ich weiß, daß sie alle von Toxikologie handelten. Sie studierte eifrig darin; durch ganze Nächte lief ich im Parke umher und sah den matten Schimmer ihrer erleuchteten Fenster. Dann schrieb sie wieder, und diesmal kamen kleine seltsame Kisten an, meist eingeschrieben und als Warenproben gesandt. Sie trugen die Namen der Absender: Es waren Merck in Darmstadt und Heusser in Zürich und andere bekannte Giftfirmen. Mich faßte eine große Angst, ich fürchtete, daß sie sich vergiften wolle. Endlich faßte ich mir ein Herz und fragte sie. Da lachte sie: .Sterben? Nein, das ist nicht zum Sterben! Es ist nur – um mich besser zu erhalten!’ – Ich fühlte wohl, daß sie die Wahrheit sprach, und doch beruhigte mich ihre Antwort nicht. Zweimal kamen Postpakete, die in der Stadt beim Zoll abgeholt werden mußten; ich bat, ob ich sie selbst holen dürfe. Ich glaubte, sie würde es abschlagen, aber sie antwortete leichthin: ,Warum denn nicht? Hol sie nur!’ – Das eine Paket, dem ein außerordentlich scharfer, aber nicht unangenehmer Duft entströmte, enthielt einen Extrakt aus bitteren Mandeln, das andere, das aus Prag kam, eine glänzende Pasta, die sich .Porzellanschminke’ nannte. Ich weiß, daß die Gräfin diese Glasur benutzte; monatelang hat sie täglich Stunden damit zugebracht, sie aufzulegen. Und es ist gewiß dieser seltsamen Schminke zu danken, daß ihr Gesicht, obwohl die Schwindsucht in erschreckendem Maße zunahm, doch seine alte Schönheit behielt. Starr wurden die Züge, wie die einer Maske, unbeweglich und ewig gleich; aber sie blieb gleich schön und rein bis auf dem Totenbette. Selbst der Tod vermochte sie nicht zu ändern.“

Er reichte dem Freunde wieder das Bild hinüber.

„Das alles, scheint mir, ist ein Beweis, wie sehr sie gebrochen hatte mit diesem Leben. Nichts beschäftigte sie mehr, und auch von dir, verzeih mir, sprach sie nie mit einem Wort. Nur ihr eigener, schöner Leib, von dem sie doch wußte, daß er nun zerfallen mußte in kurzer Frist, schien ihr noch wert eines Interesses. Auch mich beachtete sie kaum mehr, seit ihr Glaube an meine Liebe erloschen war; ja, es schien mir manchmal, als ob in ihrem Blicke ein seltsamer, wilder Haß aufleuchte, viel schlimmer, viel schrecklicher als der, mit dem sie mich früher verfolgte. – Ist es da ein Wunder, daß sie mir mißtraute? Wer den Glauben an nur einen Heiligen verliert, der wird bald den Gekreuzigten verleugnen und die allerheiligste Jungfrau! – Deshalb, glaube ich, ließ sie mich diese seltsamen Eide schwören!“

Aber Jan Olieslagers war nicht befriedigt. „Das mag alles sein“, sagte er, „es erklärt zur Not deine Liebe. Aber nicht im geringsten erklärt es den seltsamen Wunsch, beigesetzt zu werden in deiner Schloßkapelle.“

„Sie war eine Gräfin d’Ault-Onival –“

„Ach, geh doch, sie war Lea Lewi, die sich Stanislawa d’Asp nannte! Und die sollte plötzlich eine solche Sehnsucht gehabt haben nach den Urnen deiner feudalen Ahnherren?“

„Aber du siehst doch, daß es so war und nicht anders!“

Der Vlame nahm wieder das Testament und betrachtete es von allen Seiten. Er las es noch einmal und wieder, aber er vermochte nicht das geringste Absonderliche darin zu finden. „Nun gut“, sagte er, „ich verstehe es nicht.“

 

Jan Olieslagers mußte vier Tage warten im Schlosse von Ronval. Jeden Tag quälte er, man solle die Beisetzung vornehmen. „Aber es geht nicht“, sagte der Graf, „du siehst doch, wie bedeckt der Himmel ist.“ – Jeder Buchstabe dieses Testamentes war ihm ein strenges Gesetz.

Endlich, am Nachmittag des fünften Tages, schwanden die Wolken. Der Vlame drängte, und der Graf gab seine Anweisungen. Niemand von der Dienerschaft durfte das Schloß verlassen, nur der alte Gärtner und die beiden Gehilfen mußten Schaufel und Spaten nehmen. Sie gingen durch den Park, rings um den stillen Weiher. Die Sonne strahlte von den schwarzen Schiefern der Kapelle, spielte auf den weißen nickenden Birken und warf die flirrenden Schatten ihrer Zweige auf die glatten Wege. Sie traten durch die offene Türe, der Graf nahm einen Tropfen aus dem Weih Wasserbecken und bekreuzigte sich. Die Leute hoben eine schwere Steinplatte, dann stieg man hinab in die Gruft. Da standen in Reih und Glied zu beiden Seiten die großen roten Urnen mit dem Wappen der Grafen d’Ault-Onival. Hohe Kronen schlossen sie, und alle trugen um den Hals an silbernen Ketten eine schwere Kupferplatte mit dem Namen und den Daten der Toten.

Hinten standen einige leere Urnen. Schweigend deutete der Graf auf eine, die Leute nahmen sie und trugen sie aus der Gruft heraus.

Sie gingen hinaus aus der Kapelle, schritten zwischen den Gräbern unter den Birken. Ein Dutzend mächtiger Steinplatten lag da, sie trugen die Namen getreuer Diener des gräflichen Geschlechts, dessen Ruhe sie noch im Tode von allen Seiten bewachten. Aber das Grab der Gräfin trug keinen Stein; hier blühten in üppiger Pracht viele hundert tiefrote Rosen.

Vorsichtig gingen die Gärtner ans Werk. Mit tiefen Stichen lösten sie ganze Stücke der Oberfläche, hoben sie sorgsam heraus mit all den wurzelnden Rosen und stellten sie zur Seite, neben die Urne hin. Dem Vlamen kam es vor, als ob sie vom Grabe die lebende Haut ablösten, wie ein Blutstropfen fiel hier und da eine Rose abgerissen zur Erde.

Nun lag die schwarze Erde da, und die Leute gruben. Jan Olieslagers nahm des Grafen Arm: „Komm, wir gehen auf und ab derweilen.“ Aber der Graf schüttelte den Kopf, nicht einen Augenblick wollte er das Grab verlassen. Da ging der andere allein.

Er wandelte langsam um den Weiher, von Zeit zu Zeit trat er zurück unter die Birken. Es schien ihm, als ob die Gärtner ungeheuer langsam arbeiteten, die Minuten krochen dahin. Er ging in den Obstgarten, pflückte Johannisbeeren und Stachelbeeren; suchte auf den Beeten nach einer verspäteten Erdbeere.

Als er wiederkam, sah er zwei der Leute bis zu den Schultern im Grabe stehen; nun ging es schneller. Er sah zwischen ihnen den Sarg liegen, sie nahmen mit den Händen die letzten Reste feuchter Erde davon. Es war ein schwarzer Sarg mit starkem Silberbeschlag, aber das Silber war längst schwarz geworden und das Holz morsch und klebrig, stark angegriffen von der warmen Feuchtigkeit des Bodens. Der Graf nahm aus der Tasche ein großes weißes Seidentuch, gab es dem alten Gärtner; da hinein sollte er die Knochen sammeln.

Die beiden anderen da unten drehten an den Schrauben; es gab einen häßlichen kreischenden Ton, wenn das Werkzeug ausglitt. Aber die meisten saßen lose genug in dem verfaulten Holze, mit den Fingern konnte man sie herausheben. Dann hoben sie ein wenig den Deckel, schoben leicht die Stricke darunter und knoteten sie fest. Einer sprang aus der Grube und half dem Alten den Deckel heraufziehen.

Auf einen Wink des Grafen nahm der andere das weiße Leintuch ab, das die Leiche bedeckte, und noch ein zweites kleineres Tuch, das nur den Kopf verhüllte.

Da lag Stanislawa d’Asp – und sie lag so da, wie sie auf ihrem Totenbette lag.

Das lange Spitzenhemd, das den ganzen Körper umhüllte, schien feucht und zeigte schwarze und rostrote Flecken. Aber wie aus Wachs geformt ruhten die feinen Hände auf der Brust, hielten eng das elfenbeinerne Kruzifix. Und so wenig wie dieses selbst, war auch das Gesicht verändert. Nicht wie eine Lebende lag sie da, wie eine Schlummernde – und doch gab auch nichts den Ausdruck des Todes. Sie schien eine Wachspuppe, von Künstlerhand geformt. Diese Lippen atmeten nicht, aber sie lächelten. Und sie zeigten eine leichte rote Farbe, wie die Wangen, wie die Ohrläppchen, von denen zwei große Perlen tropften.

Aber die Perlen waren gestorben.

Der Graf hielt sich an dem Birkenstamm, dann setzte er sich schwer auf den hohen Haufen aufgeworfener Erde. Aber Jan Olieslagers war mit einem Sprung in dem Grabe. Er beugte sich tief nieder und knipste leicht mit dem Nagel auf der Toten Wange. Es gab einen ganz feinen leisen Ton, als ob er altes Sevres berühre.

„Komm herauf“, sagte der Graf, „was machst du da?“

„Ich habe festgestellt, daß die Prager Porzellanglasur deiner Gräfin eine ausgezeichnete Sache ist; man soll sie jeder Koketten empfehlen, die noch mit achtzig Jahren eine Ninon vorstellen will!“ Seine Stimme klang roh, fast gehässig.

Der Graf sprang auf, trat dicht an den Rand der Grube.

„Ich verbiete dir, so zu sprechen! – Bei allen Heiligen, siehst du denn nicht, daß diese Frau das tat für mich? – Und für dich auch – für uns beide! – Wir sollten sie wiedersehen, schön wie sie war – noch im Tode!“

Der Vlame biß die Zähne aufeinander. Er zauderte, aber er verschluckte seine Worte.

Dann sagte er trocken: „Es ist gut; wir haben sie gesehen. – Legt nun den Deckel wieder auf, Leute, und werft die Grube zu.“

Aber der Graf fiel ihm ins Wort: „Bist du närrisch? Vergißt du, daß wir sie beisetzen müssen?“

„Diese Frau verdient nicht in der Kapelle der Grafen d’Ault-Onival zu ruhen.“ Er sprach ruhig, aber herausfordernd, jedes Wort betonend. Der Graf war außer sich:

„Das, das sagst du – an dem Grabe dieser Frau? Dieser Frau, deren Liebe hinausging über das Grab – –“

„Ihre Liebe? – Ihr Haß!“

„Ihre Liebe, sage ich! Sie war eine Heilige –“

Da schrie der Vlame mit lauter Stimme dem Grafen ins Gesicht:

„Sie war die infamste Dirne in ganz Frankreich!“

Der Graf kreischte, er ergriff einen Spaten und schwang ihn in der Luft. Aber ehe er sich auf den Freund stürzen konnte, faßten ihn die Gärtner.

„Laßt los!“ brüllte er. „Laßt los!“

Der Vlame verlor seine Fassung nicht.

„Warte nur einen Augenblick“, sagte er, „dann magst du mich totschlagen, wenn du willst.“

Er beugte sich nieder, öffnete den Knopf am Halse und riß weit das Hemd von dem Leibe der Toten. „Da Vincenz, schau her!“

Verzückt schaute der Graf hinunter. Nackt lagen die schlanken Arme vor ihm, bog sich dieser unendlich feine Nacken, ruhte da die weiße kleine Kinderbrust. Und die Lippen lächelten, lächelten immer, schienen ihn einzuladen zu Hochzeitslust – –

Er kniete nieder am Rande des Grabes, faltete die Hände und schloß die Augen. „Heiliger Gott im Himmel, ich danke dir, daß du mich noch einmal dieses Bild schauen ließest.“

Jan Olieslagers warf das Tuch wieder über die Leiche. Er stieg aus dem Grabe und legte seine Hände auf des Freundes Schultern. „Komm, Vincenz, nun wollen wir ins Schloß gehen.“

Der Graf schüttelte den Kopf. „Geh du, wenn du willst. – Ich muß sie beisetzen.“

Da drückte der Vlame mit aller Kraft seinen Arm. „So erwache doch endlich, Vincenz! Begreifst du denn noch immer nicht? – Wie willst du das denn machen – – sie beisetzen?“

Der Graf starrte ihn verständnislos an, da fuhr der andere fort: „Da steht deine Urne – und ihr Hals ist ziemlich schmal. Und da liegt die Gräfin – –“

Der Graf erblaßte. „Ich muß sie beisetzen“, murmelte er tonlos.

„Aber du kannst sie nicht beisetzen.“

„Ich habe es geschworen.“ Ganz dumpf klangen die Worte: „Ich habe es geschworen. Ich muß das, ,was von ihr übrig ist, heute vor Sonnenuntergang in der Urne in die Kapelle bringen’. So steht es in ihrem Testament. Ich habe es auf das Kruzifix geschworen.“

„Aber du kannst es nicht, zum Teufel, du kannst es nicht.“

„Ich muß es tun, ich habe zwei heilige Eide geleistet.“

Da platzte der Vlame heraus: „Und wenn du hunderttausend Eide geschworen hättest, du kannst es nicht tun. Wenn man ihren Leib nicht zerschneiden will in kleine Fetzen – –“

Der Graf schrie, seine Finger krampften sich um den Arm des Freundes: „Was – sagst du da?“ Begütigend, wie um abzuwehren, daß der Gedanke seinem Hirne entsprungen, antwortete der andere: „Nun ja, anders ist es doch nicht möglich. – Und das war ja ihre Absicht – – das wollte sie doch mit ihrem – letzten Willen.“ Er legte den Arm um des Freundes Schultern. „Ich bitte dich, Vincenz, komm nun.“ Wie ein Trunkener ließ sich der Graf führen, aber nur ein paar Schritte weit.

Dann blieb er stehen, machte sich los. Kaum lösten sich die Zähne, so leise sprach er. „Es war ihre Absicht – und man muß sie ausführen; ich habe es geschworen.“ Und der Vlame fühlte wohl, daß er nun schweigen müsse, daß jedes Wort hier nutzlos sei.

Der Graf wandte sich, sein Blick fiel auf die rote Sonne, die tief im Westen lag. „Vor Sonnenuntergang“, rief er, „vor Sonnenuntergang! Es drängt.“ Er ging auf den Gärtner zu. „Hast du ein Messer?“ Der Alte nahm ein langes Messer aus der Tasche. „Scharf?“

„Ja, Herr Graf.“

„So geh und zerschneide sie.“

Der Alte sah ihn entsetzt an. Er zauderte, dann aber sagte er: „Nein, Herr Graf, ich kann es nicht.“

Der Graf wandte sich an die beiden Burschen. „So tut ihr es.“ Aber sie blieben stehen, senkten die Augen und rührten sich nicht.

„Ich befehle euch, es zu tun, hört ihr nicht?“ Sie schwiegen. „Ich jage euch heute noch aus dem Dienste, wenn ihr nicht gehorcht.“

Da sagte der Alte: „Herr, verzeiht, ich kann es nicht. Vierundfünfzig Jahre bin ich im Schlosse und –“

Der Graf schnitt ihm das Wort ab: „Ich gebe tausend Franken dem, der es tut.“

Sie rührten sich nicht.

„Zehntausend Franken.“

Keine Antwort.

„Zwanzigtausend.“

Der jüngste der Burschen, der noch im Grabe stand, blickte zum Grafen auf.

„Wollt Ihr auch alle Verantwortung übernehmen, Herr?“

„Ja!“

„Beim Richter?“

„Ja!“

„Und beim Pfarrer?“

„Ja, ja!“

„Gib mir das Messer, Alter, und reich mir die Axt her! Ich tu’s.“

Er nahm das Messer und riß das Tuch fort. Er beugte sich nieder und hob den Arm. Dann aber sprang er auf, warf das Messer in den Sand. „Nein, nein!“ schrie er. „Sie lacht mich aus.“ Mit einem Sprung war er hinaus aus der Grube und lief, lief mit langen Schritten in die Büsche.

Der Graf wandte sich an seinen Freund: „Glaubst du, daß du sie mehr liebtest als ich?“

„Nein, ganz gewiß nicht.“

„Dann wirst du es leichter können als ich.“

Aber der Vlame zuckte die Achseln. „Ich bin kein Metzger. – – Und außerdem – – war das wohl auch nicht ihre Absicht.“

Von des Grafen Mundwinkel tropfte der Speichel. Und doch waren seine Lippen trocken, fahl, bleicher als das Leintuch. Es klang wie die letzte Frage eines Verurteilten, bittend, flehentlich: „Ihre Absicht war – daß ich – ich selbst – – –?“

Es kam keine Antwort. Er sah nach Westen. Immer tiefer sank die blutrote Sonne. „Ich muß, ich muß, ich habe es geschworen.“

Dann sprang er in die Grube. Seine Hände krampften sich: „Heilige Mutter Gottes, gib mir die Kraft.“ Er hob die Axt und schwang sie hoch über dem Kopf, er schloß die Augen und ließ sie schwer niedersausen mit aller Wucht.

Der Streich war gefehlt. Die Schneide schlug in das morsche Holz, zersplitterte, spaltete es zum Grunde.

Und die Gräfin lächelte.

Der alte Gärtner wandte sich; zögernd erst, dann immer schneller lief er davon. Der andere Bursche folgte ihm auf dem Fuße. Jan Olieslagers sah ihnen nach, dann ging auch er, langsam, Schritt für Schritt, dem Schlosse zu. Graf Vincenz d’Ault-Onival war allein. Er zögerte, wollte schreien, rufen nach den anderen. Aber irgend etwas verschloß ihm die Lippen.

Und die Sonne sank und sank – sie rief ihm zu – er hörte sie rufen.

Und die Gräfin zu seinen Füßen lächelte.

Aber es war dieses Lächeln, das ihm die Kraft gab. Er kniete nieder und nahm das Messer von der Erde. Seine Hand zitterte, aber er stieß zu, stieß zu, in den Hals, den er so liebte, über alles liebte in dieser Welt.

Da war es, als ob eine Befreiung über ihn käme und ein großes Lachen. Er lachte so laut, so kreischend hinein in den stillen Abend, daß die Zweige der Birken zitterten, sich hin und her wanden in tödlicher Angst. Es war, als ob sie seufzten und schluchzten, sich wegsehnten von diesem gräßlichen Orte. Und sie konnten doch nicht, mußten bleiben, mußten sehen und hören, festgehalten von mächtigen Wurzeln – Jan Olieslagers blieb stehen, dort am Weiher. Er hörte dieses Lachen und Lachen, das kein Ende nahm, hörte die Axt fallen und spalten und das Messer knirschen. Er wollte weiter, aber es hielt ihn fest, unwiderstehlich fest, als ob er angewurzelt sei wie die Birken. Sein Gehör schärfte sich ins Unglaubliche, und durch das laute Lachen hindurch glaubte er zu hören, wie die Knochen krachten, wie die Sehnen sprangen und die Muskeln rissen –

Aber dazwischen – ein anderer Ton. Leicht, silberhell, wie von Frauenlippen. Was war es nur?

Jetzt wieder – und jetzt – – das war schlimmer als die Schläge der Axt, schlimmer als das wahnsinnige Gelächter des Grafen.

Es kam wieder und wieder – öfter und deutlicher – – was war es nur?

Und dann, plötzlich, wußte er es: – – die Gräfin lachte.

Er schrie auf, sprang in die Büsche. Er steckte die Finger in die Ohren, öffnete den Mund und lachte halblaut, um jedes andere Geräusch zu ersticken. So hockte er da wie ein angeschossenes Wild, wagte es nicht, diese tierischen Töne zu lassen, wagte nicht die Hände vom Kopfe zu nehmen. Riß die Augen weit auf, starrte hinaus auf den Weg, auf die Treppe, auf die offene Tür der Kapelle – –

Regungslos, unbeweglich.

Er wartete, atemlos; aber er wußte wohl, diese Angst mußte einmal ein Ende nehmen. Wenn sich hinten die letzten Schatten im Dunkel der Ulmen verloren – wenn die Sonne, endlich, gesunken war – –

Länger und immer länger wurden die Schatten, er sah sie wachsen. Und mit ihnen wuchs sein Mut. Dann wagte er es: Er schloß die Lippen. Nichts hörte er. Er ließ die Arme sinken. Nichts.

Still, alles ganz still. Aber noch blieb er stehen, wartete in den bergenden Zweigen. Da hörte er Schritte. Nah und näher – dicht zur Seite.

Und er sah, in dem letzten tiefleuchtenden Rot der sinkenden Sonne, den Grafen Vincenz d’Ault-Onival gehen. Er lachte nicht mehr, aber auf seinem starren Gesicht lag ein einziges, über die Maßen zufriedenes Grinsen. So, als habe er eben einen wundervollen, ungeheuren Witz gemacht.

Mit starken festen Schritten schritt er über den Weg, in den hocherhobenen Armen die schwere, rote Urne. Trug in die Gruft seiner Väter die Reste seiner großen Liebe.