Der Spielkasten

 

An diesem Abend wartete ich lange genug auf Edgard Widerhold. Ich lag im Longchair, der Boy bewegte hinter mir langsam den Fächer. Der Alte hat indische Boys, die ihm gefolgt sind hierher vor mancher Zeit. Und deren Söhne und Enkel. Seine Boys sind gut erzogen; sie wissen, wie man uns bedienen soll.

„Geh, Dewla, sag deinem Herrn, daß ich warte.“

„Atja, Sahib.“ Lautlos glitt er weg. Ich lag auf der Terrasse, träumte hinaus auf den Hellen Strom. Seit einer Stunde waren die wochenalten Wolken zerflossen, seit einer Stunde fiel kein lauer Regen mehr. Und die Abendsonne warf breite Streifen in die violetten Nebel von Tonkin.

Unten schaukelten die Dschunken, erwachten wieder zum Leben. Die Leute krochen heraus; mit runden Schaufeln, Wischlappen und Tamarindenbesen warfen sie das Wasser heraus, trockneten und reinigten den Sampan. Aber keiner sprach; still, unhörbar fast arbeiteten sie; kaum drang ein kleinstes Geräusch herauf zu den Blättern und Ranken. Eine große Dschunke fuhr vorbei, dicht besetzt mit Legionären. Ich winkte den Offizieren, die im Sampan lagen; sie dankten wehmütig. Hätten wohl auch lieber bei mir gesessen auf der breiten Veranda von Edgard Widerholds mächtigem Bungalow, als da hinaufzufahren, tagelang, wochenlang durch den heißen Regen, hinauf zu ihrer elenden Station. – Ich zählte – wenigstens fünfzig Legionäre waren auf der Dschunke. Gewiß ein paar Irländer und Spanier, Vlamen und Schweizer – – und der Rest: Deutsche. Wer mag dabei sein? Keine Wassertrinker, aber Jungen, an denen Tilly und der tolle Christian seine Freude gehabt. Sicher sind Brandstifter darunter, Räuber und Mörder – was will man Besseres zu solchem Krieg? Die verstehen ihr Handwerk, das mag man glauben. Und dann die, die von oben kommen, die, die verschwinden aus der Gesellschaft, untertauchen in die trüben Fluten der Legion. Pfarrer und Professoren, Hochadel und Offiziere. Fiel doch ein Bischof beim Sturm auf Ain-Souf, und wie lange ist’s her, daß ein deutsches Kriegsschiff von Algier die Leiche eines anderen Legionärs abholte und ihr alle Ehren erwies – eines königlichen Prinzen?

Ich beuge mich über die Brüstung: „Vive la Legion!“ Und sie rufen zurück, brüllen laut aus schleimigen Trinkerkehlen: „Vive la Legion! Vive la Legion!“ Sie haben ihr Vaterland verloren und die Familie, Haus, Heim, Ehre und Geld. Haben nur ein einziges, das das alles ersetzen soll: Korpsgeist – – Vive la Legion!

Oh, ich kenne sie. Trinker und Spieler, Beschützer von Dirnen, Deserteure, aus allen Lagern entwichen. Anarchisten alle – die nicht wissen, was Anarchismus ist, die sich empörten und flohen vor einem Zwang, der unerträglich war. Verbrecher halb und halb Kinder, kleine Hirne und große Herzen – echte Soldaten. Landsknechte mit dem rechten Instinkt, daß Plündern und Schänden eine gute Sache sei und ihr ehrlich Handwerk – denn zum Totschlagen sind sie geworben, und wer das Große darf, dem ist auch das Kleine erlaubt. Abenteurer, die zu spät in diese Welt kamen, diese Welt von heute, die Individuen verlangt, stark genug, ihre eigenen Wege zu schlagen. Ein jeder von ihnen war zu schwach dazu, brach zusammen mitten im Dickicht, kam nicht weiter. Vom breiten Weg riß ihn längst ein flackernd Irrlicht, und den eigenen Weg konnte er nicht gehen – – irgendwo fehlte es, er weiß nicht wo. Jeder ist gescheitert, eine elende, hilflose Planke. Aber sie finden sich, schließen sich, bilden ein großes, stolzes Schiff: Vive la Legion! Sie ist Mutter und Heimat und Ehre und Vaterland. Hör doch, wie sie schreien: „Vive, vive la Legion!“

Die Dschunke zieht hinaus in den Abend, nach Westen zu, wo in der zweiten Biegung der Rote Fluß sich wälzt in den Hellen Strom. Dort verschwindet sie, lenkt tief in die Nebel, weit hinein in dieses Land der violetten Gifte. Aber sie fürchten nichts, diese blonden, bärtigen Männer, nicht Fieber und nicht Ruhr und noch weniger die gelben Rebellen; sie haben ja Alkohol genug und Opium und ihre guten Lebelbüchsen – was braucht man mehr? Vierzig gehen drauf von den fünfzig, aber wer wiederkehrt, nimmt doch einen neuen Vertrag: um den Ruhm der Legion, nicht um den Frankreichs.

– – Edgard Widerhold kam auf die Veranda.

„Sind sie vorbei?“ fragte er.

„Wer?“

„Die Legionäre!“ Er ging an die Brüstung und schaute auf den Fluß. „Gott sei Dank, sie sind fort. Mag sie der Teufel holen; ich kann sie nicht sehen.“

„So?“ machte ich. Ich kannte natürlich, wie jedermann im Lande, das eigentümliche Verhältnis, in dem der Alte zu der Legion stand, ich wollte versuchen hinter die Gründe zu kommen. Deshalb spielte ich den Erstaunten. „So? Und doch schwärmt die ganze Legion für Sie! Es war ein Kapitän der IL Legion, der mir vor Jahren schon in Porquerolles von Ihnen erzählte: Wenn ich je zum Hellen Strom käme, müßte ich Edgard Widerhold besuchen.“

„Das war Karl Hauser aus Mühlhausen.“

„Nein, es war Dufresnes.“

Der Alte seufzte: „Dufresnes, der Auvergnate! Er hat manches Glas Burgunder hier getrunken.“

„Wie alle andern, nicht wahr? Bis vor acht Jahren plötzlich das Haus, das man ,Le Bungalow de la Legion’ nannte, seine Pforten sperrte und Herr Edgard Widerhold, le bon Papa de la Legion, seinen Versorgungsplatz in Edgardhafen errichtete.“

Das war der kleine Hafenplatz von Widerholds Farm, zwei Stunden weiter unten am Flusse. Der Alte hatte es durchgesetzt, daß sogar der Poststempel „Edgardhafen“ druckte und nicht „Port d’Edgard“. – Sein Haus war der Legion verschlossen seit dieser Zeit, aber nicht sein Herz und seine Gastfreundschaft. Jede Dschunke der Legion, die vorbeikam, hielt in Edgardhafen, und der Verwalter brachte ein paar Körbe Wein an Bord für Offiziere und Mannschaft. Stets lag eine Visitenkarte des Alten dabei: Herr Edgard Widerhold bedauert sehr, die Herren Offiziere diesmal nicht empfangen zu können. Er bittet beifolgende Gabe freundlichst annehmen zu wollen und trinkt selbst auf das Wohl der Legion. Und stets antwortete der Kommandant, er danke für die freundliche Gabe und hoffe, bei der Rückkehr seinen Dank dem Spender persönlich aussprechen zu können. Aber es kam nie mehr dazu, die Tür des weiten Hauses am Hellen Strom blieb der Legion verschlossen. Ein paarmal kamen Offiziere noch hin, alte Freunde, von deren trinkfrohen Stimmen oft genug die Räume gehallt hatten. Die Boys führten sie auf die Veranda, setzten ihnen die besten Weine vor – aber der Alte kam nicht zum Vorschein. So blieben sie weg; die Legion gewöhnte sich langsam an das neue Verhältnis. Schon waren so manche da, die ihn nie gesehen hatten, die nur wußten: In Edgardhafen hält man, nimmt Wein an Bord und trinkt auf das Wohl eines verrückten alten Deutschen. Jeder freute sich auf diese einzige Unterbrechung der trostlosen Regenfahrt auf dem Hellen Flusse, und Edgard Widerhold war in der Legion nicht weniger beliebt als früher.

Als ich zu ihm kam, war ich der erste Deutsche, den er in Jahren gesprochen. Gesehen – o gesehen hatte er wohl manche da unten im Flusse. Ich bin überzeugt, daß der Alte hinter irgendeiner Gardine steckt und hinausschaut, jedesmal wenn eine Dschunke der Legion vorbeifährt. Aber mit mir sprach er wieder Deutsch. Ich denke, das ist der Grund, weshalb er mich festhält, immer etwas neues erfindet, um meine Abreise hinauszuschieben.

Der Alte ist keiner, der hurra schreit. Er schimpft auf das Reich wie ein Rohrspatz. Uralt ist er, aber wenn er in Berlin lebte, müßte er zehnmal so alt werden, um all die Zeit abbrummen zu können, die ihm allein seine Majestätsbeleidigungen eintrügen. Auf Bismarck schimpfte er, weil er Sachsen leben ließ und Böhmen nicht einsteckte, und auf den dritten Kaiser, weil er sich Helgoland aufschwätzen ließ für das ostafrikanische Reich. – Und Holland! Wir müssen Holland haben, wenn wir leben wollen, Holland und seine Sundainseln. Das muß sein, es geht nicht anders; wir krepieren, wenn’s nicht gemacht wird. Dann natürlich die Adria! Österreich ist ein ausgerechneter Blödsinn, eine Afferei, die jede anständige Landkarte blamiert. Uns gehören seine deutschen Länder, und da wir uns nicht die Tür vor der Nase zumachen lassen können, müssen wir auch die slawischen Brocken haben, die uns das Mittelmeer versperren, Krain und Istrien. „Hol mich der Teufel“, schreit er, „ich weiß, daß wir da Läuse in den Pelz bekommen! Aber besser ein Pelz mit Läusen, als totfrieren – ohne Pelz!“ – Heute schon fährt er unter schwarzweiß-roter Flagge vom deutschen Triest zum deutschen Batavia.

Dann frage ich: „Und die Herren Engländer?“

„Die Engländer?“ schreit er. „Die Engländer halten das Maul, wenn man sie draufschlägt!“

Er liebt Frankreich und gönnt ihm den breiten Platz an der Sonne; aber die Engländer haßt er.

Das ist so mit ihm. Wenn ein Deutscher Gift und Galle spuckt über Kaiser und Reich, freut er sich und schimpft mit. Wenn ein Franzose Witze macht über uns, so lacht er, doch er revanchiert sich gleich und erzählt die neuesten Dummheiten des Gouverneurs in Saigon. Wenn aber ein Engländer es wagt, über unseren albernsten Konsul die harmloseste Bemerkung zu machen, wird er wütend. Das war der Grund, weshalb er einst weg mußte aus Indien. Ich weiß nicht, was der englische Oberst sagte, aber ich weiß, daß Edgard Widerhold die Reitpeitsche nahm und ihm ein Auge ausschlug. Das ist nun schon vierzig Jahre her; es kann auch fünfzig sein oder sechzig. Er floh damals, ging nach Tonkin und saß auf seiner Farm, lange ehe die Franzosen ins Land kamen. Da hißte er die Trikolore am Hellen Strom, traurig, daß nicht die schwarzweißrote Flagge vom Mast wehte, aber doch froh, daß es wenigstens nicht der Union Jack war.

Kein Mensch weiß, wie alt er eigentlich ist. Wen die Tropen nicht fressen, mitten im jungen Leben, den dörren sie aus. Machen ihn wetterhart und fest, schaffen ihm einen Panzer aus gelbem Leder, der aller Fäulnis trotzt. So war Edgard Widerhold. Ein Achtziger, ein Neunziger vielleicht, aber er saß täglich sechs Stunden im Sattel. Das Haar war weiß, aber der lange spitze Bart hielt seine gelbgraue Farbe. Lang und schmal war sein Gesicht, lang und schmal waren seine Hände, und jeden Finger bewehrten große gelbe Nägel. Länger als ein Streichholz, hart wie Stahl, scharf und gebogen wie Raubtier krallen.

Ich reichte ihm meine Zigaretten. Ich rauchte sie längst nicht mehr, sie waren schlecht geworden von der Seeluft. Aber ihm schmeckten sie – deutsche Marke.

„Wollen Sie mir nicht erzählen, weshalb die Legion verbannt wurde von Ihrem Bungalow?“ Der Alte ging nicht weg von der Brüstung. „Nein!“ sagte er. Dann klatschte er in die Hände: „Bana! Dewla! – Wein, Gläser!“ Die Boys richteten den Tisch, er setzte sich zu mir, schob mir die Zeitungen hinüber. „Da“, fuhr er fort, „haben Sie die Post schon gelesen? Die Deutschen haben das Automobilrennen in Dieppe gewonnen. Benz und Mercedes, oder wie die Wagen heißen. Zeppelin ist fertig mit seinem Ballon – fährt spazieren über Deutschland und die Schweiz, wohin er will! – Da, sehen Sie die letzte Seite an, Schachturnier in Ostende. Wer hat den Preis? Ein Deutscher! – Wirklich, es wäre ein Genuß, die Blätter zu lesen, wenn sie nur nicht von den Berliner Herrschaften berichten müßten. Lesen Sie, es ist ja himmelschreiend, welche –“

Aber ich unterbrach ihn. Ich hatte gar keine Lust zuzuhören „welche Dummheiten diese ungeheueren Schafsköpfe wieder angestellt hatten“. Ich trank ihm zu: „Prosit! – Morgen muß ich fort.“

Der Alte schob sein Glas fort. „Was – morgen?“

„Ja, Leutnant Schlumberger kommt vorbei mit einem Teil des dritten Bataillons. Er kann mich mitnehmen.“

Er schlug mit der Faust auf den Tisch: „Das ist eine Gemeinheit!“

„Was?“

„Daß Sie morgen fort wollen, zum Teufel! Eine Gemeinheit ist es.“

„Na, ich kann doch nicht ewig hierbleiben“, lachte ich. „Am Dienstag werden’s zwei Monate –“

„Das ist’s ja gerade! Jetzt habe ich mich schon an Sie gewöhnt. Wenn Sie nach einer Stunde weggeritten wären, wär’s mir gleichgültig gewesen.“

Aber ich gab nicht nach. Herrgott, er habe doch oft genug Gäste hier gehabt und scheiden sehen, einen um den anderen. Bis eben neue kämen –

Da fuhr er auf. Früher, ja früher hätte er nicht den Finger darum gerührt, mich länger zu halten. Aber jetzt, wer käme denn jetzt? Zwei im Jahre und alle fünf Jahre ein Deutscher! Seit er die gottverdammten Legionäre nicht mehr sehen könne –

Da hatte ich ihn wieder. Und ich sagte ihm, daß ich noch acht Tage bleiben wolle, wenn er mir die Geschichte erzähle, warum –

Das war nun wieder eine Gemeinheit. Was – – ein deutscher Dichter handele seine Ware ein wie ein Kaufmann?

Ich ging darauf ein. „Roherzeugnis“, sagte ich. „Hammelwolle vom Bauern. Aber wir spinnen die Fäden und weben bunte Teppiche.“

Das gefiel ihm, er lachte. „Um drei Wochen will ich die Geschichte verkaufen!“

Ich habe handeln gelernt in Neapel. Drei Wochen für eine Geschichte – das sei ein ganz ungeheurer Preis. Und ich kaufe ja die Katze im Sack und wisse gar nicht, ob ich den Kram überhaupt brauchen könnte. Auch bekäme ich höchstens zweihundert Mark dafür und wäre nun schon zwei Monate hier und solle noch drei Wochen bleiben – dabei hätte ich noch keine Zeile geschrieben. Meine Arbeit müsse doch auch bezahlt werden, und ich komme sowieso nicht auf meine Kosten, er ruiniere mich und – –

Aber der Alte wahrte seinen Vorteil. „Am Siebenundzwanzigsten ist mein Geburtstag“, sagte er, „da mag ich nicht allein sein. Also achtzehn Tage – das ist das äußerste! Drunter gebe ich die Geschichte nicht ab.“

„Meinetwegen“, seufzte ich, „abgemacht!“

Der Alte streckte mir die Hand hin. „Bana“, rief er, „Bana! Nimm den Wein fort, räum die Gläser ab. Bring Kelche und hol uns Champagner.“

„Atja, Sahib, atja.“

„Und du, Dewla, hol den Kasten Hong-Doks und die Spielmarken.“

Der Boy brachte den Kasten, stellte ihn auf einen Wink seines Herrn vor mich hin, drückte auf eine Feder, daß der Deckel aufsprang. Es war ein großer Kasten aus Sandelholz, dessen feiner Duft im Augenblick die Luft erfüllte. Das Holz war eingelegt mit kleinsten Blättchen Perlmutter und Elfenbein, die Seiten zeigten in dichtem Blattwerk Elefanten, Krokodile und Tiger. Aber der Deckel trug eine Darstellung der Kreuzigung; ein alter Druck mochte als Vorlage gedient haben. Nur war der Heiland bartlos, hatte ein rundes, fast volles Gesicht, das doch einen Ausdruck entsetzlichster Qualen hatte. Der Stich an der linken Seite fehlte, auch das Kreuz; dieser Christus schien auf einem flachen Brett gekreuzigt. Die Tafel zu seinen Häupten zeigte nicht die Buchstaben: I. N. R. I. sondern die anderen: K. V. K. S. II. C. L. E.

Diese Darstellung des Gekreuzigten war von einer unheimlichen Natürlichkeit; sie erinnerte mich unwillkürlich an Matthias Grunewalds Bild, obwohl sie nicht das geringste mit dem gemeinsam hatte. Die innerste Auffassung war vielmehr eine grundverschiedene: Diesem Künstler schien nicht das ungeheuere Mitgefühl und Miterleben die Kraft zu der bis ins Äußerste gehenden Wahrscheinlichkeit des Grauenhaften gegeben zu haben, sondern vielmehr ein leidenschaftlicher Haß, ein wollüstiges Sich-Versenken in die Qualen des Dulders.

Die Arbeit war mit unsäglicher Mühe gefertigt: das herrliche Meisterwerk eines großen Künstlers.

Der Alte sah meine Begeisterung. „Es gehört Ihnen“, sagte er ruhig.

Ich faßte den Kasten mit beiden Händen. „Das wollen Sie mir schenken –“

Er lachte. „Schenken – nein! Aber ich habe Ihnen meine Geschichte verkauft, und der Kasten da – ist meine Geschichte.“

Ich wühlte in den Spielmarken. Runde, dreieckige und rechteckige Perlmutterplatten von einem tiefen metallischen Glänze. Jede einzelne trug auf jeder Seite ein kleines Bild, ausgeschnitten in den großen, ziseliert in den feinen Linien.

„Wollen Sie mir den Kommentar geben?“ fragte ich.

„Da spielen Sie ja mit dem Kommentar! Wenn Sie die Marken hübsch ordnen und nach der Reihe legen, so können Sie meine Geschichte lesen wie in einem Buch. Aber nun klappen Sie den Deckel zu und hören Sie. – Schenk ein, Dewla.“

Der Boy füllte die Kelche, und wir tranken. Er stopfte die kurze Pfeife seines Herrn, reichte sie ihm und brannte sie an.

Der Alte zog und stieß den scharfen Rauch weit von sich. Dann lehnte er sich zurück und winkte den Boys, die Fächer zu nehmen.

„Sehen Sie“, begann er, „das ist schon richtig, was Ihnen Hauptmann Dufresnes erzählt hat, oder wer es sonst war. Dies Haus hat es wohl verdient, der Bungalow der Legion genannt zu werden. Hier tranken die Offiziere – und die Leute unten im Garten; oft genug lud ich sie auch auf die Veranda ein. Sie wissen, daß die Franzosen unsre lächerlichen Standesunterschiede nicht kennen, außer Dienst ist jeder Gemeine so gut wie sein General. Und das gilt erst recht in den Kolonien, und noch mehr in der Legion, wo mancher Vorgesetzte ein Bauer und mancher Gemeine ein Gentleman ist. Ich ging hinunter, trank mit den Mannschaften im Garten, und wer mir gefiel, den ließ ich nach oben kommen. Glauben Sie mir, ich habe manch seltsamen Kauz da getroffen, manch ausgemachten Teufel und manches Kind, das sich nach Mutters schützendem Rock sehnte. Das war mein großes Museum, die Legion, mein dickes Buch, das mir immer neue Märchen und Abenteuer erzählte.

Denn die Jungens erzählten mir, sie waren froh, wenn sie mich allein erwischten, um mir ihr Herz auszuschütten. Sehen Sie, es ist wirklich wahr, daß mich die Legionäre liebten, nicht nur wegen des Weines und der paar Tage Ruhe, die sie hier hatten. Sie kennen die Leute, Sie wissen, daß ein jeder das, was er sieht, als sein gutes Eigentum betrachtet; daß kein Offizier und kein Gemeiner das geringste liegenlassen darf, ohne daß es im Handumdrehen verschwunden ist. Nun gut, in über zwanzig Jahren hat nur ein einziges Mal ein Legionär etwas bei mir gestohlen, und seine Kameraden hätten ihn totgeschlagen, wenn ich nicht selbst für ihn gebeten hätte. Sie glauben das nicht? – Ich würde es auch nicht glauben, wenn mir’s ein anderer erzählte, und doch ist’s buchstäblich wahr. – Die Leute liebten mich, und sie taten das, weil sie wohl fühlten, daß ich sie liebte. Wie das kam? Herrgott, so mit der Zeit. Keine Frau, kein Kind und allein hier draußen durch all die Jahre. – Die Legion – das war doch das einzige, das mir Deutschland wiedergab, das mir den Hellen Strom deutsch machte, trotz der Trikolore.

Ich weiß, daß die anständigen Bürger im Reich die Legion den letzten Abschaum und Auswurf der Nation nennen. Zuchthausfutter, nur wert, daß es zugrunde gehe. Aber dieser Abschaum, den Deutschland verächtlich an meine Ufer spie, dieser Auswurf, zu nichts mehr gut in dem schön geregelten Heimatherd, trug Schlacken so seltener Farbe, daß mein Herz lachte vor Freude. Schlacken! Nicht einen Heller sind sie wert für den Juwelier, der schwere Brillanten in dicken Ringen an Metzgermeister verkauft. Aber das Kind sammelt sie am Strand. Das Kind und alte Narren wie ich, und verrückte Dichter wie Sie, die beides sind: Kinder und Narren! Für uns haben diese Schlacken einen Wert, und wir wollen gar nicht, daß sie zugrunde gehen.

Aber sie gehen zugrunde. Ganz sicher, eines um das andere. – Und die Art, wie sie zugrunde gehen, jämmerlich, elend, qualvoll, das ist es, was nicht zu ertragen ist. Eine Mutter mag ihre Kinder sterben sehen, zwei oder drei. Sie sitzt da, die Hände im Schoß, und kann ihnen nicht helfen, kann nicht. Aber es geht vorbei, und einmal wird sie den Schmerz verwinden. Ich aber – der Vater der Legion – sah tausend Kinder sterben, jeden Monat, jede Woche fast starben sie weg. Und ich konnte nicht helfen, keine Schlacken mehr sammeln: Ich kann meine Kinder nicht mehr sterben sehen.

Und wie starben sie. Damals waren die Franzosen noch nicht so tief im Land wie heute. Nur drei Tagesreisen weit den Roten Fluß hinauf befand sich die letzte Station, in Edgardhafen selbst und rund herum lagen gefährdete Posten. Ruhr und Typhus waren selbstverständlich in diesen feuchten Lagern, daneben hier und da die Tropenanämie. Sie kennen diese Krankheit, wissen, wie man an ihr stirbt. Ein ganz kleines leichtes Fieber, das kaum den Puls schneller schlagen macht, Tag und Nacht. Man will nicht mehr essen, man wird launenhaft wie eine schöne Frau. Nur schlafen, schlafen will man – bis schließlich langsam das Ende naht, das man gerne kommen sieht, um endlich einmal ausschlafen zu können. Die an Anämie starben, zogen das große Los, die und die anderen, die im Kampf fielen. Gott, es ist gewiß kein Vergnügen, an einem vergifteten Pfeil zu sterben, aber es geht doch schnell, in wenigen Stunden. Aber wie viele starben so – kaum einer von tausend. Und das Glück, das sie hatten, mußten die anderen bitter genug bezahlen, die gelegentlich lebend den gelben Schweinehunden in die Hände fielen. Da war Karl Mattis, desertierter Deutzer Kürassier, Korporal der ersten Kompagnie, ein Prachtjunge, der vor keiner tollsten Gefahr zurückschreckte. Als die Station Gambetta von tausendfacher Übermacht angegriffen wurde, übernahm er es, mit zwei anderen, sich durchzuschleichen und die Nachricht nach Edgardhafen zu bringen. In der Nacht wurden sie angegriffen, einer wurde getötet. Mattis erhielt einen Schuß ins Knie. Da schickte er seinen Kameraden weiter und deckte gegen dreihundert Schwarzflaggen zwei Stunden lang dessen Flucht. Endlich fingen sie ihn, schnürten ihm Hände und Beine zusammen und banden ihn an einen Baumstamm, dort drüben an dem seichten Ufer des Stroms. Drei Tage hat er da gelegen, bis ihn die Krokodile fraßen, langsam, Stück für Stück, und doch mitleidiger als ihre zweibeinigen Landsleute. Ein halbes Jahr später fingen sie Hendrik Oldenkott aus Maastricht, einen Hünen von sieben Fuß, dessen unglaubliche Kraft sein Verderben wurde: Er hatte im schweren Rausch mit der blanken Faust den eigenen Bruder erschlagen. Die Legion konnte ihn vor dem Zuchthaus retten, aber nicht vor den Richtern, die er hier fand. Unten im Garten haben wir ihn gefunden, noch lebend: Sie hatten ihm den Leib aufgeschnitten, die Eingeweide herausgenommen, die Bauchhöhle mit Ratten angefüllt und kunstgerecht wieder zugenäht. Dem Leutnant Heudelimont und zwei Gemeinen stachen sie mit glühenden Nadeln die Augen aus, halb verhungert fand man sie im Wald; dem Sergeanten Jakob Bieberich hackten sie die Füße ab und ließen ihn dann Mazeppa spielen auf einem toten Krokodil. Bei Edgardhafen fischten wir ihn aus dem Flusse, drei Wochen noch hat sich der arme Kerl im Spital quälen müssen, ehe er starb.

Ist Ihnen die Liste lang genug? Ich kann sie fortsetzen, Namen an Namen reihen. Man weint nicht mehr hier draußen – aber hätte ich um jeden ein paar Tränen vergossen, sie würden ein Faß füllen, größer als eines in meinem Keller. Und die Geschichte da, die der Spielkasten birgt, ist nur das allerletzte Tränentröpflein, das das randvolle Faß zum Überlaufen brachte.“

Der Alte zog den Kasten zu sich herüber und öffnete ihn. Er suchte mit den langen Nägeln in den Spielmarken, nahm eine und reichte sie mir. „Da, sehen Sie, das ist der Held!“

Die runde Perlmuttermarke zeigte das Bild eines Legionärs in seiner Uniform. Das volle Gesicht des Soldaten hatte eine frappierende Ähnlichkeit mit dem Christusbild des Deckels; die Rückseite der Marke trug dieselbe Inschrift, die sich zu Häupten des Gekreuzigten befand: K. V. K. S. II. C. L. E.

Ich las: „K. von K. Soldat zweiter Classe der Légion Etrangère.“

„Richtig!“ sagte der Alte. „Das ist er! Karl von Kö-“ Er unterbrach sich: „Nein, lassen wir den Namen. Übrigens können Sie ihn in einer alten Marinerangliste leicht finden. Er war Seekadett, ehe er hierher kam. Er mußte den Dienst quittieren und das Vaterland zugleich; ich glaube, es war der alberne Paragraph 132 des Strafgesetzbuches, der ihm das Genick brach: Amtsanmaßung. Der blutjunge Bengel hatte mit einem ihm befreundeten Studenten eine sehr ausgedehnte Bierreise gemacht, dabei einen wackeren Schutzmann getroffen und unter den Tisch getrunken. Man knobelte, wer nun Schutzmann spielen dürfe – der Seekadett gewann, zog dem Trunkenen die Uniform aus und sich selbst an. Dann stürmte er auf die stillen Gassen und verhaftete drauflos, was noch so herumschlich im nächtlichen Kiel. Inzwischen war in der Schenke der biedere Beamte mit Hilfe von vielen über ihn entleerten Kannen eiskalten Wassers wieder halbwegs wach geworden; er zog der Not gehorchend die Seemannsuniform an und versuchte sich still nach Hause zu verdrücken. Was ihm freilich gründlich mißlang: Der jüngste Jünger der christlichen Seefahrt erwischte ihn, verhaftete ihn und schleppte ihn mit großem Hallo auf die Polizeiwache, wo sich der in die Enge getriebene Schutzmann mittels der im Rock steckenden Papiere auswies als – der Seekadett. Sie mögen sich, Doktor, den weiteren Verlauf dieser schönen Geschichte von dem Seekadetten, der sich selber verhaftete, allein ausmalen – die gute Stadt Kiel lachte drei Tage lang darüber. Das Ende war ein recht betrübliches: Der Seekadett erhielt eine böse Anklage wegen Amtsanmaßung und durfte seine hübsche Uniform für immer ausziehn. Er wartete die Verhandlung nicht erst ab, floh weit weg vor dem glorreichen Paragraphen 132 des Strafgesetzbuches. Kein Paragraph in dem Buch ist zu dumm, um nicht für die Legion zu werben.

Ach, ein Kerl wie Samt und Seide war er, der Seekadett! Alle nannten ihn so, Kameraden und Vorgesetzte. Ein desperater Junge, der wußte, daß sein Leben verspielt war, und nun einen Sport daraus machte, immer „va banque“ zu spielen. In Algier hat er allein einen Korsar verteidigt; als alle Chargen gefallen waren, nahm er das Kommando über zehn Legionäre und ein paar Dutzend Goumiers, hielt das Loch, bis nach Wochen Ersatz kam. Damals erhielt er zum erstenmal die Tressen; dreimal bekam er sie und verlor sie bald darauf wieder. Das ist so üblich in der Legion: heute Sergeant, morgen wieder Gemeiner. So lange sie draußen sind, geht’s gut, aber diese ungebundene Freiheit kann keine Stadtluft vertragen, irgendein wüster Streich ist im Augenblick ausgefressen. Der Seekadett war es auch, der im Roten Meer dem General Barry nachsprang, als er auf der Gangway ausglitt und ins Wasser fiel. Unter dem Jubel der Mannschaft fischte er ihn heraus, unbekümmert um die riesigen Haifische –

Seine Fehler? Er trank – – wie alle Legionäre. Und wie alle war er hinter den Weibern her und vergaß dabei manchmal, erst hübsch um Erlaubnis zu fragen. Und dann – nun ja, er behandelte die Eingeborenen noch ein gut Teil mehr en canailles als durchaus notwendig ist. Aber sonst ein prächtiger Junge, dem kein Apfel zu hoch hing. Gescheit war er; in ein paar Monaten sprach er besser das Kauderwelsch der gelben Bande, als ich in all der Zeit, die ich nun schon auf meinem Bungalow sitze. Und die Manieren, die er in der Kinderstube gelernt, hatte er selbst in der Legion nicht vergessen. Seine Kameraden meinten, ich habe einen Narren an ihm gefressen. Na, so schlimm war es nicht, aber gut leiden mochte ich ihn, und er stand mir auch wohl näher als die anderen. Ein Jahr lang war er in Edgardhafen und kam oft genug zu mir her; ein mächtiges Loch hat er in meinen Weinkeller getrunken. Der sagte nicht „Danke“ beim vierten Glase schon – wie Sie es machen! So trinken Sie doch. – Bana, schenk ein!

Dann kam er nach Fort Valmy, das war damals die äußerste Station. Vier Tage fährt man mit der Dschunke hinauf, kriecht durch die ewigen Windungen des Roten Flusses. Aber in der Luftlinie ist es gar nicht so weit, auf meiner australischen Stute will ich in achtzehn Stunden hinreiten. Nun kam er selten genug hierher; aber ich sah ihn doch bisweilen, da ich manchmal hinritt, einen anderen Freund zu besuchen. Das war Hong-Dok, der Verfertiger dieses Kastens.

Sie lächeln? Hong-Dok – mein Freund? Aber er war es. Glauben Sie mir, Sie finden hier Leute, die Ihresgleichen sind, wenige, ganz wenige freilich. Aber er war einer, Hong-Dok. War mehr vielleicht.

Fort Valmy – wir wollen einmal hinreiten; jetzt liegen Marsouins da, nicht mehr Legionäre. Es ist eine uralte, unglaublich schmutzige Stadt; die kleine Feste der Franzosen überragt sie auf einem Hügel am Flusse. Enge, kotige Gassen, jämmerliche, elende Häuser. Aber das ist die Stadt von heute. Früher, vor manchen Jahrhunderten, muß es einmal eine große, schöne Stadt gewesen sein, bis die Schwarzflaggen von Norden kamen und es zerstörten, diese verdammten Schwarzflaggen, die uns immer noch so viel zu schaffen machen. Der Trümmerhaufen rings um die Stadt ist sechsmal so groß wie diese selbst; wer heute da bauen will, hat die Steine umsonst. Aber mitten in diesen jämmerlichen Ruinen stand, dicht am Fluß, ein großes altes Gebäude, ein Palast beinahe: das Haus Hong-Doks. Es stand da seit undenklicher Zeit, auch die Schwarzflaggen haben es verschont aus irgendwelcher religiösen Scheu.

Dort wohnten die Herrscher dieses Landes, die Vorfahren Hong-Doks. Hundert Ahnen hat er und noch hundert und wieder hundert, mehr als alle Herrscherhäuser Europas zusammen – doch er kannte sie alle. Wußte ihre Namen, wußte, was sie taten. Fürsten und Kaiser waren sie, aber Hong-Dok war Holzschnitzer wie sein Vater und sein Großvater und Urgroßvater. Denn die Schwarzflaggen ließen wohl das Haus stehen, aber nichts sonst, und die Herrscher wurden so bettelarm wie ihre letzten Untertanen. So verfiel das alte Steinhaus unter den rotblühenden Hibiskusbüschen.

Bis es wieder ein neuer Glanz erhellte, als die Franzosen kamen. Denn Hong-Doks Vater hatte die Geschichte seines Landes nicht vergessen, wie alle die, die seine Untertanen sein sollten. Und da die Weißen Besitz ergriffen von diesem Land, war er der erste, der sie begrüßte am Roten Flusse. Er hat den Franzosen außerordentliche Dienste geleistet, und zum Dank gab man ihm Land und Vieh, setzte ihm einen Sold aus und machte ihn zu einer Art Zivilpräfekt über die Stadt. Das war das letzte kleine Glück des uralten Hauses – heute liegt es in Trümmern wie seine Umgebung. Die Legionäre haben es zerschlagen und keinen Stein auf dem anderen gelassen; sie haben an ihm den Seekadetten gerächt, da ihnen der Mörder entflohen war.

Hong-Dok, mein guter Freund, der war sein Mörder. Hier ist sein Bild.“

Der Alte reichte mir wieder eine Spielmarke. Sie trug auf der einen Seite in lateinischen Lettern den Namen Hong-Doks, auf der anderen Seite das Bild eines Eingeborenen der vornehmen Kaste in Landestracht. Aber die Ausführung war flüchtig und ungenau, nicht entfernt zu vergleichen mit der feinen Arbeit der ersten Marke.

Edgard Widerhold las auf meinem Gesicht. „Ja, sie ist nichts wert, diese Marke, die einzige unter allen. Seltsam, als ob Hong-Dok es verschmäht hätte, seiner eigenen Person auch nur das geringste Interesse zuzuwenden. Aber sehen Sie sich dieses kleine Kunstwerk an.“

Er knipste mir mit der Kralle seines Zeigefingers eine andere Perlmutterplatte zu. Sie zeigte das Bild einer jungen Frau, die auch für unser Gefühl schön war; sie stand vor einem Hibiskusbusch, die linke Hand hielt einen kleinen Fächer. Es war eine Meisterarbeit von unerhörter Vollendung. Wieder trug die Rückseite den Namen des Modells: Ot-Chen.

„Das ist die dritte Figur des Dramas von Fort Valmy“, fuhr der Alte fort. „Hier haben Sie einige handelnde Nebenfiguren, Statisten.“ Er schob mir ein paar Dutzend Marken hinüber, sie zeigten auf beiden Seiten große Krokodile. In allen Stellungen: Manche schwammen im Fluß, andere schliefen am Ufer, einige rissen das Maul weit auf, wieder andere schlugen mit dem Schwanz oder reckten sich hoch auf den Vorderbeinen. Einzelne waren stilisiert, die meisten aber natürlich dargestellt; alle Bilder zeigten eine außerordentliche Beobachtung der gefährlichen Panzerechsen.

Wieder glitten, geknipst von den gelben Krallen des Alten, neue Spielmarken zu mir hinüber. „Der Ort der Handlung“, sagte er. Eine Marke zeigte ein großes Steinhaus, augenscheinlich das Heim des Künstlers; auf anderen waren Zimmer dargestellt und Ausschnitte eines Gartens. Die letzten zeigten Ausblicke auf den Hellen Strom und den Roten Fluß, eine davon von Widerholds Veranda aus gesehen. Jede einzelne der wundervollen Platten rief mein helles Entzücken hervor, ich nahm ordentlich Partei für den Künstler und gegen den Seekadetten. Ich streckte die Hand aus, um noch mehr Marken zu nehmen.

„Nein“, sagte der Alte, „warten Sie. Sie sollen alles der Reihe nach sehen, hübsch wie es sich gehört. – Also, Hong-Dok war mein Freund, wie es sein Vater gewesen war. Beide haben für mich gearbeitet durch alle die Jahre hindurch, ich war wohl ihr einziger Kunde. Als sie reich wurden, pflegten sie doch weiter ihre Kunst, nur daß sie jetzt nicht mehr Geld nahmen. Der Vater ging sogar so weit, daß er darauf bestand, mir bis auf den letzten Heller das Geld zurückzugeben, das ich ihm im Laufe der Zeit bezahlt hatte, und ich mußte es nehmen, wollte ich ihn nicht beleidigen. So habe ich all die Schränke voll, die Sie so gerne bewundern, in der Tat umsonst erhalten.

Durch mich lernte der Seekadett Hong-Dok kennen, ich nahm ihn selbst einmal mit in sein Haus. – Ich weiß, was Sie sagen wollen: Der Seekadett war ein Weiberheld und Ot-Chen schon wert, daß man sie begehrte. – Nicht wahr? Und ich hätte mir denken können, daß Hong-Dok da nicht ruhig zusehen würde?

Nein, nein, ich konnte gar nichts voraussehen! Sie hätten das vielleicht gedacht, aber nicht ich, der ich Hong-Dok so gut kannte. Als das alles geschehen war und Hong-Dok es mir erzählte, hier oben auf der Veranda – o viel ruhiger und stiller, als ich jetzt spreche – , da schien es mir noch immer so unmöglich, daß ich ihm kaum glauben mochte. Bis dann, mitten auf dem Strom, ein Beweis anschwamm, der keinen Zweifel mehr duldete. Ich habe oft über die Sache nachgedacht und glaube, einige der seltsamen Gründe zu kennen, die Hong-Dok zu seiner Tat trieben. Einige – wer kann ganz in einem Hirn lesen, das durch tausend Generationen sich forterbte, bis zum Überfluß gesättigt von Macht, Kunst und der alles durchdringenden Weisheit des Opiums?

Nein, nein, ich konnte gar nichts voraussehen. Wenn mich damals einer gefragt hätte: ,Was wird Hong-Dok tun, wenn ihm der Seekadett Ot-Chen verführt, oder eine andere seiner neun Frauen?’ – so würde ich gewiß geantwortet haben: ,Er wird nicht einmal aufblicken von seiner Arbeit! Oder aber, wenn er gut gelaunt ist, wird er Ot-Chen dem Seekadetten schenken.’ Das mußte der Hong-Dok tun, den ich kannte, das und nichts anderes. Ho-Nam, eine andere seiner Frauen, erwischte er einmal mit einem chinesischen Dolmetscher: Er hielt es unter seiner Würde, den beiden nur ein Wort zu sagen. Ein andermal war es Ot-Chen selbst, die ihn betrog – Sie sehen also, daß nicht etwa eine besondere Vorliebe für gerade diese Frau sein Tun leitete. Die Mandelaugen eines meiner indischen Boys, der mit mir nach Fort Valmy geritten war, hatten es der kleinen Ot-Chen angetan, und wenn die beiden auch kein Wort miteinander sprechen konnten, waren sie doch bald einig. Hong-Dok fand sie in seinem Garten; aber er rührte weder die Hand gegen seine Frau noch duldete er, daß ich den Boy bestrafte. Das alles berührte ihn so wenig, wie irgendein Hund, der ihn anbellte auf der Straße – kaum wendet man den Kopf zur Seite.

Es erscheint völlig ausgeschlossen, daß ein Mann von der unerschütterlichen philosophischen Ruhe Hong-Doks auch nur einen Augenblick seine Besinnung verloren und in einer plötzlichen Gefühlsaufwallung gehandelt hätte. Zum Überfluß hat die strenge Untersuchung, die wir nach seiner Flucht mit seinen Frauen und seiner Dienerschaft anstellten, durchaus festgestellt, daß Hong-Dok seine Handlung bis ins kleinste sorgsam erwogen und zur Ausführung gebracht hat. Demnach ging der Seekadett während dreier Monate in dem Steinhaus am Fluß aus und ein und unterhielt während dieser ganzen Zeit seine Beziehungen zu Ot-Chen, von denen Hong-Dok nach wenigen Wochen schon durch einen seiner Diener Kenntnis hatte. Trotzdem ließ er beide ruhig gewähren, benutzte vielmehr diese Zeit dazu, in sich die grauenhafte Art seiner Rache reifen zu lassen, die er selbst gewiß schon im ersten Augenblick beschlossen hatte.

Weshalb aber empfand er dieselbe Handlung als bittere Kränkung von Seiten des Seekadetten, die ihm kaum ein Lächeln entlockte, als sie mein indischer Boy beging? Ich mag mich irren, aber ich glaube nach langem Suchen den verschlungenen Weg seiner Gedanken gefunden zu haben. Hong-Dok war ein König. Wir lachen, wenn wir auf Münzen und Kanonen die Buchstaben finden: D. G. Dei Gratia, und die meisten unserer europäischen Fürsten lachen nicht weniger über ihr Gottesgnadentum. Aber stellen Sie sich einen Herrscher vor, der daran glaubt, der wirklich felsenfest überzeugt ist, daß er der Auserwählte sei! Ich weiß wohl, der Vergleich stimmt nicht ganz, aber es ist eine gewisse Ähnlichkeit da. Hong-Dok glaubte natürlich nicht an einen Gott, glaubte nur an die Lehren des großen Philosophen; aber davon, daß seine Familie die auserwählte sei, himmelhoch hinausragend über alle anderen der Gegend, davon war er, und mit Recht, durchaus überzeugt. Durch unendliche Zeiten waren seine Ahnen Herrscher gewesen, unumschränkte Alleinherrscher. Ein Fürst bei uns, der nur einigermaßen vernünftig ist, weiß ganz genau, daß in seinem Lande viele Tausende von Menschen leben, die sehr viel klüger, sehr viel gebildeter sind als er. Hong-Dok und alle seine Ahnen aber wußten ebenso sicher das Gegenteil: Eine ungeheure Kluft schied sie stets von der Masse ihres Volkes. Sie allein waren Herrscher – alle anderen letzte Sklaven. Sie allein hatten Weisheit und Bildung – ihresgleichen sahen sie nur, wenn in langen Jahren einmal Gesandte kamen, von dem Nachbarreiche am Meer, oder weither von Süden aus Siam oder gar über die Berge der wilden Meos chinesische Mandarine. Wir würden sagen: Hong-Doks Ahnen waren Götter unter Menschen. Sie empfanden wohl anders: fühlten sich als Menschen unter schmutzigen Tieren. Verstehen Sie den Unterschied? Ein Hund bellt uns an – kaum wendet man den Kopf zur Seite.

Dann kamen die Barbaren aus Norden, die Schwarzflaggen. Sie nahmen das Land und zerstörten die Stadt und manche anderen Städte ringsum. Nur vor dem Hause des Herrschers machten sie halt und krümmten keinem ein Haar, der dazu gehörte. Aus einem stillen friedlichen Land wurde eines, das immerfort widerhallte von Mord und Totschlag, aber vor dem Palaste am Roten Flusse schwieg der Lärm. Und Hong-Doks Ahnen verachteten die rauhen Banden des Nordens genauso, wie sie ihr eigenes Volk verachtet hatten; nichts füllte den ungeheueren Abgrund aus. Tiere waren es, genau wie die anderen -sie aber waren Menschen, die die Weisheit der Philosophen kannten.

Bis ein Blitz in die Nebel des Flusses schlug. Von weltfernen Ufern kamen seltsame weiße Gesellen, und Hong-Doks Vater erkannte in freudigem Erstaunen, daß es Menschen waren. Er fühlte wohl den Unterschied zwischen sich und den Fremden, aber dieser Unterschied war verschwindend gering im Vergleich zu dem anderen, der ihn von den Leuten seines Landes trennte. Wie manche anderen Großen Tonkins empfand er sofort, daß er zu ihnen gehöre und nicht zu den anderen. Daher seine stets bereite Hilfe vom ersten Augenblicke an, die vor allem darin bestand, daß er die Franzosen unterscheiden lehrte zwischen der stillen, friedlichen Urbevölkerung und den kriegerischen Horden des Nordens. Und als sie ihn dann zum Zivilpräfekten über die Gegend ernannten, betrachtete ihn die Bevölkerung doch nicht anders, als den eigentlichen, angestammten Fürsten. Er hatte sie von dem Alp der Schwarzflaggen befreit, die Franzosen waren nur seine Werkzeuge, fremde Krieger, die er hergerufen: So galt er im Volke als Herrscher, genauso unbeschränkt wie einst seine Ahnen, von denen halb vergessene Geschichten erzählten.

So wuchs Hong-Dok auf, der Sohn des Fürsten, der selbst herrschen sollte. Wie sein Vater sah er in den Europäern Menschen und keine dummen Tiere. Aber er hatte mehr Muße, jetzt, da das Glück des alten Palastes neu gefestigt war, sich diese Fremden näher anzusehen, die Unterschiede kennenzulernen, die zwischen ihm und ihnen und unter ihnen selbst bestanden. In steter Berührung mit der Legion ward sein Blick so sicher wie mein eigener: den Gemeinen zu erkennen, der ein Herr war, und den Offizier, der ein Knecht war trotz der goldenen Litzen. Ist doch viel mehr noch als die Geburt die Bildung das, was im ganzen Osten den Herrn vom Knecht unterscheidet. Er sah wohl, daß alle diese Krieger turmhoch über seinem Volke standen – aber nicht über ihm. Wenn sein Vater jeden Weißen als sich gleichstehend betrachtet hatte, so tat Hong-Dok das nicht mehr, und je näher und genauer er sie kennenlernte, um so weniger Freunde fand er, die er sich gleichstellte. Sie waren gewiß wunderbare, unüberwindliche Krieger, ein jeder einzelne mehr wert als hundert der gefürchteten Schwarzflaggen – – war das ein Ruhm? Hong-Dok verachtete das Kriegshandwerk ebensosehr wie jedes andere. Sie konnten alle lesen und schreiben – ihre Zeichen freilich, das war ihm gleichgültig –, aber da war kaum einer, der wußte, was Philosophie sei. Hong-Dok verlangte nicht, daß sie den großen Philosophen kennen sollten, aber er erwartete irgendeine fremde, andere, aber gleich tiefe Weisheit zu finden. Und er fand nichts. Diese Weißen wußten von dem Grunde aller Dinge weniger als der letzte Opiumraucher. Eines aber war es, was ihn baß erstaunte und das seiner Achtung vor ihnen einen großen Stoß versetzte: ihre Stellung zu ihrer Religion. Nicht diese selbst mißfiel ihm, der christliche Kult dünkte ihm gerade so gut wie die anderen, die er kannte. Nun sind unsere Legionäre nichts weniger als fromm, und kein pflichttreuer Pfarrer würde nur einen von ihnen zum Sakrament zulassen. Und doch manchmal, in Minuten großer Gefahr, reißt sich aus ihrer Brust irgendein zerhacktes Hilfsgebet. Das fiel Hong-Dok auf – und er fand, daß diese Leute wirklich glaubten, daß ihnen vielleicht von irgendeiner unbekannten Seite eine unmögliche Hilfe kommen könne. Nun suchte er weiter – vergaß ich, Ihnen zu sagen, daß Hong-Dok besser Französisch sprach, als ich? –, er befreundete sich mit dem braven Militärpfarrer von Fort Valmy. Und das, was er da fand, befestigte in ihm immer stärker den Glauben von seiner eigenen Überlegenheit. Ich erinnere mich noch recht gut, wie er mir eines Abends in seinem Rauchzimmer davon sprach, wie er lächelte, als er mir erzählte, daß er nun wisse, wie tatsächlich die Christen ihren Kult nähmen. Und daß selbst der Priester kein Verständnis habe für das Symbolische.

Das schlimmste war, daß er recht hatte; ich konnte ihm kein Wort erwidern. Wir Europäer glauben – oder wir glauben nicht. Aber die Christen, die den Glauben ihrer Väter wohl aufheben als ein schönes Gewand tiefer Symbole, die können Sie in Europa mit der Laterne suchen, und hier in Tonkin finden Sie ganz gewiß nicht einen einzigen. Gerade das aber war für diesen Gelehrten des Ostens das natürlichste, das allerselbstverständlichste, unerläßlich für einen Mann wirklicher Bildung. Und als er es so ganz und gar nicht fand, selbst von dem Priester nicht einmal verstanden wurde in seinen Gedanken, die ihm die einfachsten dünkten, verlor er einen großen Teil seiner bewundernden Achtung. In manchem waren ihm die Europäer überlegen – aber in Dingen, denen er kaum einen Wert beilegte. In andern wieder waren sie ihm gleich: In der großen Hauptsache aber, in der tiefsten Erkenntnis alles Lebens, standen sie tief, tief unter ihm. Und diese Verachtung ließ in den Jahren in ihm einen Haß entstehen, der langsam wuchs, je mehr die Fremden zu wirklichen Herrschern wurden in seinem Lande, je mehr sie Schritt um Schritt vordrangen, alle Macht in ihre starken Hände nahmen. Schon brauchten sie in seiner Gegend nicht mehr die vermittelnde Scheinherrschaft, die sie seinem Vater und später ihm gegeben hatten; er fühlte wohl, daß sich sein Vater geirrt hatte und daß die Rolle des alten Steinhauses am Roten Fluß für immer ausgespielt war. Ich glaube nicht, daß sich jemals deshalb eine Bitterkeit in das Gefühl dieses Philosophen senkte, der das Leben lebte wie es war; im Gegenteil mag ihm das Bewußtsein seiner eigenen Überlegenheit eine Quelle freudiger Genugtuung gewesen sein.

Die Plattform, die er sich mit den Jahren für seinen Verkehr mit den Europäern schuf, war eine sehr einfache: Er zog sich nach Möglichkeit zurück, behandelte sie aber in allem Äußern mit Überzeugung als durchaus gleichstehend. Nur in das Haus, das hinter der eckigen, gelben Stirne verschlossen war, ließ er keinen mehr hineinsehen, und wenn er es mir doch zuweilen öffnete, so geschah es aus einer Anhänglichkeit heraus, die er fast mit der Muttermilch eingesogen hatte und die mein reges Interesse für seine Kunst stets wach erhielt.

So war Hong-Dok. Nicht einen Augenblick lang konnte es ihn berühren, als seine Frauen sich mit dem chinesischen Dolmetscher oder meinem Boy einließen. Hätten diese kleinen Extravaganzen Folgen gehabt, so hätte Hong-Dok die Kinder einfach ersäufen lassen, aber nicht aus Haß oder Rache, sondern nur so, wie man junge Hunde ersäuft – – man will sie eben nicht haben. Und hätte der Seekadett, als er Gefallen fand an Ot-Chen, ihn gebeten, sie ihm zu schenken, Hong-Dok hätte es sofort getan.

Aber der Seekadett kam in sein Haus als ein Herr – und er nahm ihm seine Frau wie ein Knecht. Am ersten Abend schon merkte Hong-Dok, daß dieser Legionär aus edlerem Holze geschnitzt war, als die meisten seiner Kameraden; ich ersah das daraus, weil er ihm gegenüber ein wenig aus seiner höflichen Reserve herausging. Und im weiteren Verkehr – das alles schließe ich nur – wird der Seekadett Hong-Dok gegenüber genauso gehandelt haben wie etwa einem Schloßherrn in Deutschland, dessen Frau ihm gefallen hätte. Er ließ alle Register seiner glänzenden Liebenswürdigkeit spielen, und es gelang ihm gewiß, Hong-Dok genauso zu bestechen, wie er stets mich und alle seine Vorgesetzten bezauberte: Man mußte schon diesen gescheiten, frischen und prächtigen Menschen lieb gewinnen. Und das tat Hong-Dok, tat es in dem Maße, daß er hinabstieg von seinem hohen Throne, er, der Herrscher, der Künstler, der weise Schüler des Konfuzius, daß er Freundschaft schloß mit dem Legionär und ihn liebte, sicher mehr liebte als je einen anderen Menschen.

Dann brachte ihm ein Diener die Botschaft – und er sah vom Fenster aus, wie sich der Seekadett mit Ot-Chen im Garten vergnügte.

Also deshalb kam der zu ihm! Nicht, um ihn zu sehen – nur wegen ihr, um einer Frau, eines Tieres willen! Hong-Dok fühlte sich schmählich betrogen – – o durchaus nicht wie ein europäischer Ehemann. Aber daß dieser Fremde ihm Freundschaft geheuchelt und daß er ihm wieder Freundschaft geschenkt hatte – das war es. Daß er in all seiner stolzen Weisheit der Dumme gewesen war gegenüber diesem niedrigen Krieger, der heimlich, wie ein Diener, seiner Frau nachstellte. Daß er seine Liebe verschwendet hatte an etwas, das so jämmerlich tief unter ihm stand.

Sehen Sie, das war es, was dieser stolze gelbe Teufel nicht verwinden konnte.

 

Ein Boy kam vom Garten herauf, brachte in silberner Schale frisch gepflückte Mangostmen. Der Alte schob sie mir hinüber, aß auch selbst eine der köstlichen Früchte – langsam und schweigend. Dann fuhr er fort:

Eines Abends trugen ihn seine Diener zum Bungalow. Er stieg aus der Sänfte und kam lächelnd hinauf auf die Veranda. Wie immer brachte er ein paar Geschenke mit, kleine Elfenbeinfächer, köstlich geschnitzt. Es waren noch ein paar Offiziere da, Hong-Dok begrüßte sie sehr liebenswürdig, setzte sich zu uns und schwieg; kaum drei Worte sprach er, bis nach einer Stunde die Herren sich verabschiedeten. Er wartete, bis der Trab ihrer Pferde sich am Flusse verlor, dann begann er ganz ruhig, ganz süß, als habe er mir die allerbeste Nachricht mitzuteilen: „Ich bin hergekommen, um Ihnen etwas zu sagen. Ich habe den Seekadetten und Ot-Chen gekreuzigt.“

Obwohl Scherze zu machen durchaus nicht die Art Hong-Doks war, hatte ich bei dieser verblüffenden Mitteilung doch nur die Empfindung: Dahinter steckt ein Ulk. Und mir gefiel sein trockener, selbstverständlicher Ton so gut, daß ich gleich darauf einging und ihn ebenso ruhig fragte: „So? Und was haben Sie sonst noch mit ihnen gemacht?“

Er antwortete: „Ich habe ihnen die Lippen zugenäht.“

Diesmal lachte ich: „Ach, was Sie nicht sagen! – Solche Liebenswürdigkeiten haben Sie den beiden erwiesen? – Warum denn?“

Hong-Dok sprach ruhig und ernst, aber das süße Lächeln verließ seine Mundwinkel nicht. „Warum? Ich habe sie – ,in flagranti’ erwischt.“

Das Wort gefiel ihm so gut, daß er es wiederholte. Er hatte es irgendwo gehört oder gelesen, und es erschien ihm ungeheuer lächerlich, daß wir Europäer besonderen Wert darauf legen, wenn man einen Spitzbuben gerade bei seiner Tat entdeckt: Als ob es nicht vollkommen gleichgültig wäre, ob man ihn dabei, oder vorher oder nachher erwischt. Er sagte das mit einer wichtigen Hervorhebung, mit einer leicht herausklingenden Übertreibung, die seine spöttische Verachtung so recht zeigte: „In flagranti. – Nicht wahr, da hat in Europa der betrogene Ehemann das Recht, den Räuber seiner Ehre zu strafen?“

Dieser süße Hohn war so sicher, daß ich nicht Worte fand, ihm zu antworten. Er fuhr fort, immer mit demselben freundlichen Lächeln, als erzähle er die einfachste Sache von der Welt: „Ich habe ihn also bestraft. Und da er ein Christ ist, so hielt ich es für das beste, eine christliche Todesart zu wählen; ich glaubte, das würde ihm am meisten zusagen. – War das recht?“

Diese seltsame Art zu scherzen gefiel mir gar nicht. Ich dachte nicht einen Augenblick daran, daß er die Wahrheit spräche, aber ich hatte ein unbequemes Gefühl, wünschte, daß er bald zu Ende käme mit seinem Geschwätz. Ich glaubte ihm natürlich, daß sich der Seekadett mit Ot-Chen eingelassen habe, und ich meinte, daß er mir an diesem Beispiel wieder einmal unsere europäischen Begriffe von Ehre und Moral ad absurdum führen wolle. So sagte ich nur: „Aber gewiß! Vollständig recht. Ich bin überzeugt, daß der Seekadett diese kleine Aufmerksamkeit sehr anerkannte.“

Aber Hong-Dok schüttelte fast traurig den Kopf: „Nein, das glaube ich nicht. Wenigstens hat er kein Wort davon gesagt. Nur geschrien hat er.“

„Geschrien hat er?“

„Ja“, sagte Hong-Dok mit seinem süßen melancholischen Bedauern, „er hat sehr geschrien. Viel mehr als Ot-Chen. Er hat immer gebetet zu seinem Gott, und dazwischen hat er geschrien. Viel schlimmer als ein Hund, den man schlachtet. Es war wirklich sehr unangenehm. Und deshalb mußte ich ihm den Mund zunähen lassen.“

Ich hatte übergenug von diesen Witzen, wollte ihn zum Schlusse drängen. „Ist das alles?“ unterbrach ich ihn.

„Eigentlich alles. – Ich ließ sie ergreifen und binden, dann ausziehen. Denn sein Gott war ja auch nackt, als er am Kreuze starb, nicht wahr? Dann nähte man ihnen die Lippen zu und kreuzigte sie; dann ließ ich sie in den Fluß werfen. Das ist wirklich alles.“

Ich war froh, daß er zu Ende war: „Na, und was soll das?“ Ich wartete auf eine Erklärung. Hong-Dok sah mich groß an, tat, als verstände er nicht recht, was ich wolle. Er deklamierte in einem gemachten Mitleid mit sich selbst, das er doch wieder verspottete: „Oh, es war nur die Rache des armen betrogenen Ehemannes.“

„Schon gut“, sagte ich, „schon gut! Aber nun sagen Sie mir endlich, worauf Sie hinaus wollen! Wann kommt die Pointe?“

„Die Pointe?“ Er lächelte vergnügt, als ob ihm dieses Wort ungeheuer gelegen komme. „Oh, bitte, warten Sie nur ein wenig.“ Er lehnte sich zurück in den Stuhl und schwieg. Ich fühlte nicht die geringste Lust, noch weiter in ihn zu dringen, so folgte ich seinem Beispiele; mochte er seine alberne Mordgeschichte zu Ende erzählen, wann er wollte.

So saßen wir eine halbe Stunde lang da, keiner sprach ein Wort. Drinnen im Zimmer schlug die Wanduhr sechsmal.

„Jetzt, jetzt muß sie kommen“, sagte Hong-Dok leise. Dann wandte er sich zu mir: „Wollen Sie bitte von dem Boy Ihre Gläser holen lassen?“ – Ich winkte Bana, er brachte meine Ferngläser. Aber ehe Hong-Dok noch eines ergriffen hatte, sprang er auf, lehnte sich weit über die Brüstung. Er streckte den Arm aus, nach rechts, dem Roten Flusse zu, und rief triumphierend: „Sehen Sie, sehen Sie, da kommt sie – – die Pointe!“

Ich nahm meinen Feldstecher und schaute angestrengt hindurch. Ganz, ganz oben bemerkte ich mitten im Strome ein kleines Pünktchen treiben. Es kam näher, ich sah ein kleines Floß. Und auf dem Floße zwei Menschen, zwei nackte Menschen. Ich lief unwillkürlich an das äußerste Ende der Veranda, um näher sehen zu können. Auf dem Rücken lag eine Frau, die schwarzen Haare fielen gelöst ins Wasser – ich erkannte sie, es war Ot-Chen. Und auf ihr ein Mann – sein Gesicht sah ich nicht, wohl aber die rotblonde Farbe seiner Haare – – ah, der Seekadett, der Seekadett! Lange eiserne Haken hatten Hände auf Hände, Füße auf Füße geheftet, staken tief in den Planken; dünne dunkle Blutstreifen liefen über das weiße Holz. Da sah ich, wie der Seekadett den Kopf hob, schüttelte, wild schüttelte. Gewiß, er machte mir ein Zeichen – – – sie lebten noch, lebten noch!!

Ich ließ das Glas fallen, einen Augenblick lang verlor ich die Besinnung. Aber nur einen Augenblick, dann schrie ich, brüllte ich, rief wie ein Rasender nach meinen Leuten: „Hinunter in die Boote!“ Ich rannte zurück über die Veranda – – da stand Hong-Dok, süß, liebenswürdig lächelnd. So als wollte er fragen: „Nun, ist der Spaß nicht gut?“

Wissen Sie, man hat mich oft ausgelacht wegen meiner langen Nägel. In dem Augenblicke aber, das schwöre ich Ihnen, wußte ich, wozu sie gut sind! Ich faßte den gelben Schuft an der Gurgel, schleuderte ihn hin und her. Und ich fühlte, wie meine Krallen tief eindrangen in diese verfluchte Kehle –

Dann ließ ich ihn los, wie ein Sack fiel er zur Erde. Ich jagte die Treppe hinab wie besessen, all meine Leute hinter mir her. Lief das Ufer hinunter zum Strome, löste die erste Kette vom Pflock. Einer der Boys sprang in das Boot, aber er sprang gleich durch den Boden, stand bis zu den Hüften im Wasser: Die mittlere Planke war herausgebrochen. Wir liefen zum nächsten Boote, zum dritten – zu einem nach dem andern – alle standen bis zum Rande voll Wasser, aus allen waren lange Planken herausgeschnitten. Ich rief den Leuten zu, die große Dschunke klarzumachen. Hals über Kopf kletterten wir hinauf. Aber wie in den Nachen fanden wir auch hier große Löcher im Boden, wir wateten tief im Wasser; es war völlig ausgeschlossen, die Dschunke auch nur einen Meter vom Ufer fortzubringen.

„Die Diener Hong-Doks!“ schrie mein indischer Aufseher. „Sie haben es getan, ich habe sie herumschleichen sehen am Flusse.“

Wir sprangen wieder ans Ufer. Ich gab Befehl, eines der Boote ans Land zu ziehen, auszuleeren und schnell eine Planke auf den Boden zu schlagen. Die Leute liefen ins Wasser, zogen, schoben, drückten, brachen fast zusammen unter der Last des mächtigen Bootes. Ich schrie ihnen zu, dazwischen sah ich hinaus auf den Fluß.

Ganz dicht kam das Floß vorbei, ach, kaum fünfzig Meter vom Ufer entfernt. Ich reckte den Arm aus, als ob ich es hätte fassen können, so mit der Hand – –

– – Was meinen Sie? – Schwimmen?? O ja, auf dem Rhein oder der Elbe! Aber im Hellen Strome? Und es war im Juni, sage ich Ihnen, im Juni! Der Fluß wimmelte von Krokodilen, gerade jetzt, als die Sonne unterging. Dicht schwammen die ekelhaften Bestien um das kleine Floß herum, ich sah eine, die sich hinaufhob mit den Vorderbeinen, mit der langen schwarzen Schnauze anstieß an die gekreuzigten Körper. Sie witterten ihren Raub, begleiteten ihn ungeduldig hinab, stromabwärts –

Und wieder schüttelte der Seekadett verzweifelt den blonden Kopf, ich schrie ihm zu, daß wir kämen, kämen – –

Aber es war, als ob der verfluchte Fluß im Bunde stehe mit Hong-Dok; er hielt das Boot fest in zähen Lehmfingern und wollte es nicht herausgeben. Ich sprang auch ins Wasser, zog mit den Leuten. Wir rissen und schoben, kaum Zoll um Zoll hoben wir es heraus. Und die Sonne sank, und das Floß schwamm herab, weiter und weiter.

Da brachte der Aufseher die Pferde. Wir legten Seile um das Boot und peitschten die Tiere. So ging es. Noch einmal anziehen und noch einmal – schreien und peitschen! Der Kahn lag auf dem Ufer. Das Wasser floß heraus, die Leute schlugen neue Planken auf den Boden. – Aber es war längst dunkle Nacht, als wir ausfuhren.

Ich nahm das Ruder, zwölf Hände lagen schwer in den Riemen. Drei Mann knieten am Boden, schaufelten das Wasser, das immer von neuem eindrang. Trotzdem stieg es, wir saßen bald bis zu den Waden im Wasser; ich mußte zwei und noch zwei von den Riemen wegschicken und Wasser schöpfen lassen. Unendlich langsam kamen wir weiter –

Ich hatte große Pechfackeln, damit suchten wir. Aber wir fanden nichts. Ein paarmal glaubten wir in der Ferne das Floß zu sehen, wenn wir näher kamen, war es ein treibender Baumstamm oder ein Krokodil. Nichts fanden wir. Wir suchten stundenlang und fanden nichts.

Ich landete in Edgardhafen und schlug Lärm. Fünf Boote sandte der Kommandant aus, auch zwei große Dschunken. Sie suchten drei Tage lang den Fluß ab. Aber sie hatten nicht mehr Glück als wir. Wir sandten Telegramme an alle Stationen unten am Flusse. Nichts – Niemand hat ihn mehr gesehen, den armen Seekadetten.

– – Was ich glaube? Ja nun, das Floß hat sich festgefahren irgendwo am Ufer. Oder es ist gegen einen Baumstamm getrieben und zerschellt. So oder so: Die schwarzen Reptile bekamen ihre Beute.

Der Alte leerte sein Glas, hielt es dem Boy hin. Trank noch einmal aus, schnell, in einem Zuge. Dann strich er langsam mit den riesigen Nägeln durch den schmutziggrauen Bart.

„Ja“, fuhr er fort, „das ist die Geschichte. Als wir zurückkamen zum Bungalow, war Hong-Dok verschwunden und mit ihm seine Diener. Dann kam die Untersuchung – ich sprach Ihnen schon davon – sie ergab nichts Neues.

Hong-Dok war geflohen. Und nie wieder habe ich etwas von ihm gehört, bis eines Tages dieser Spielkasten ankam; in meiner Abwesenheit brachte ihn jemand. Die Leute sagten, es sei ein chinesischer Kaufmann gewesen; ich ließ ihm nachspüren, aber vergeblich. Sehen Sie sich doch die Bilder an, die Sie noch nicht kennen.“

Er schob mir die Perlmutterplatten hinüber: „Die hier zeigt Hong-Dok, wie ihn seine Diener in der Sänfte zu mir tragen. Hier sehen Sie mich und ihn selbst auf unserer Veranda, hier sehen Sie, wie ich ihn an der Gurgel fasse. Da sind mehrere Marken, die darstellen, wie wir versuchen, das Boot flottzumachen, und andere, die unsere nächtliche Bootsfahrt wiedergeben. Ein Bild zeigt, wie Ot-Chen und der Seekadett gekreuzigt werden, und andere, wie man ihnen die Lippen zunäht. Da ist die Flucht Hong-Doks; hier haben Sie meine krallenbewehrte Hand und auf der Rückseite seinen Hals mit den Narben.“

Edgard Widerhold winkte dem Boy, ließ sich eine frische Pfeife machen. „Nehmen Sie nun Ihren Kasten“, sagte er. „Mögen Ihnen die Marken recht viel Glück bringen am Pokertisch – Blut klebt genug daran.“

 

Und diese Geschichte ist sehr wahr.