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Mein Vater ließ den Ruf an alle Könige der Orkneys ergehen. Er ließ ihnen sagen, sie sollten ihre Heere sammeln - Männer, Schiffe und Vorräte - und nach Dun Fionn kommen. Langsam zogen sie herbei, hochgewachsene Männer in buntgefärbten Umhängen, Krieger, glitzernd vor Schmuck, mit ihren scharfen Wurfspeeren, deren lange Spitzen glänzten. Die kurzen Wurfspeere trugen sie in Köchern, und die Schwerter blitzten an den Schwertgehängen. Sie hatten die gekalkten Schilde, die oft in leuchtenden Farben bemalt oder lackiert waren, über die Schulter geworfen. Die Könige und die besten Krieger trugen Kettenhemden, die aus Nordbritannien oder Gallien importiert waren und wie Fischschuppen glänzten. Mindere Männer trugen Lederwämser, die mit Metall benäht waren. Die Krieger brachten ihre Kampfhunde mit, große graue Bestien, deren Halsbänder von Silber leuchteten, und Falken saßen auf den Schultern der Könige, plusterten ihre scharfkantigen Federn auf und starrten mit strahlenden Augen um sich. Sie alle kamen und lagerten um Dun Fionn - von jeder Insel, die meinem Vater Untertan war, und weitere von den Pikten und aus Dalriada im Süden wie auch die Männer unseres eigenen Stammes. Alles zusammen waren mehr als tausend Krieger gekommen und etwa dreitausend andere Männer. Wenn man von Dun Fionn nach Südosten ging, konnte man ihre Schiffe sehen, Reihe über Reihe große, zwanzigrudrige Karacken, deren Segel an die Masten gerefft waren. Auf diesen Schiffen herrschte ein dauerndes Kommen und Gehen; man ging, um Proviant einzuladen oder Botschaften von Dun Fionn an unsere Verbündeten in Gododdin auszusenden, und man kam mit dem Proviant und mit Nachrichten und mit noch mehr Männern. Um und in Dun Fionn selbst herrschte ein gewaltiges Durcheinander, während mein Vater organisierte und plante und vorbereitete. Meine Mutter war immer an seiner Seite. Er mußte nicht nur diesen riesigen Kriegshaufen mit Nahrung versorgen, sondern auch dauernd Streit zwischen den verschiedenen Unterkönigen schlichten, Blutfehden zwischen rivalisierenden Clans verhindern und Einzelheiten des Vertrages mit Gwlgawd, dem König von Gododdin, ausmachen. Ich sah meinen Vater selten und auch Morgas nicht oft.
Ich hielt mich immer am Rand und schaute zu und wunderte mich. Es war das erstemal, daß ich sah, wie mein Vater seine Macht ausübte, und die gewaltige Streitmacht vor meinen Augen erstaunte mich. Jetzt begriff ich, daß man so viele Männer ohne einen Krieg nicht lange an einem Ort ernähren konnte. Die Kosten waren gewaltig. Aber die hellen Farben, der Glanz, das Glitzern der Waffen, die laute, lachende Zuversicht der Krieger und ihre herzliche Kameradschaft - das alles beeindruckte mich ungeheuer und füllte mich mit einer vagen Sehnsucht, die ich, so gut ich konnte, unterdrückte. Ich war kein Krieger, den ein großer Herr sich in seinem Heer wünschen konnte. Und dennoch, und dennoch, und dennoch.
Es war wundervoll. Manchmal wünschte ich mir wild, wie jeder andere Junge auf der Insel, daß ich mitdurfte, um Ehre und Ruhm für mich selbst, meinen Clan und meinen Herrn zu erstreiten.
Agravain hatte überhaupt keine Zweifel, daß er sich im Krieg gut schlagen würde. Er empfing seine Waffen mit den anderen Vierzehnund Fünfzehnjährigen und stolzierte umher und gab öfter und lautstärker an als alle anderen. Er suchte Streit mit mir, noch öfter als gewöhnlich, und er war so angespannt, daß sein Temperament schon bei der geringsten Kleinigkeit mit ihm durchging.
Mitte März segelte die Armee nach Gododdin. Man wollte unter Segel oder Rudern um die Südküste des Piktenlandes herumfahren und dann dem Landeinschnitt folgen, der Manau Gododdin halbiert. Die Schiffe sollten in der Nähe der königlichen Festung von Gododdin, Din Eidyn, auf den Strand gezogen werden, und man wollte dort ein festes Lager errichten. Mein Vater hatte Briefe an verschiedene Könige ausgesandt, auch an die, welche mit Docmail von Gwynedd, dem Rivalen unseres Verbündeten im Kampf um die Hohe Königschaft, paktiert hatten. Daraufhin schwankte jetzt ein Mitglied dieses Paktes, Vortipor von Dyfed, in seinem Bündnis. Es sah so aus, als ob er Docmail jeden Augenblick im Stich lassen könne. Aber es war unsicher, ob Vortipor sich dann meinem Vater anschließen oder selbst Anspruch auf die Stellung des Pendragon erheben würde. Vortipor war gerissener als ein Fuchs, und man konnte ihm nicht mehr trauen als einer Viper. Ihn als Verbündeten zu haben, war fast noch schwerer zu ertragen als seine Feindschaft. Fast, denn Dyfed ist ein starkes, reiches Land, und die Männer dort haben ihre Art zu kämpfen von den Römern gelernt. Vortipor selbst hat den Titel »Protektor« für sich behalten, um Britannien an die Tage zu erinnern, als seine Provinz noch die ganze Insel vor den irischen Räubern geschützt hatte. Vortipor selbst war von irischer Abstammung, aber seine Lebensweise war ebenso römisch wie seine Art zu kämpfen, und er hatte Unterstützung, zuviel Unterstützung, um übersehen zu werden. Mein Vater und meine Mutter hatten stundenlang beraten, welchen Kurs er wohl einschlagen würde.
Vom Haus der Knaben her konnte ich bis spät in die Nacht das Licht aus meines Vaters Zimmer erkennen. Es war seltsam, dieses Zimmer schließlich dunkel zu sehen, als die Armee abreiste und in Dun Fionn nur eine Wache zurückgelassen wurde. Aller Glanz, alles Licht schien verschwunden zu sein, zusammen mit der Armee, und nur ein paar gelbe Flecken im Rasen blieben zurück, und die schwarzen Stellen, wo die Lagerfeuer gebrannt hatten.
Dennoch, von mir aus gesehen, kam jetzt eine sehr angenehme Zeit. Ohne Agravain oder meinen Vater hatte ich mehr Freiheit als je zuvor in meinem Leben. Im Haus der Knaben war die Ausbildung an den Waffen weniger streng, und der Ehrgeiz der Jungen war weniger stark. Es gab keine Älteren mehr, die uns herumstießen, und keine Feste mehr bis spät in die Nacht für die Männer, die mit uns übten, bis uns alles weh tat oder bis wir uns wegen des nächsten Tages stritten. Die meisten Knaben nutzten die freie Zeit, um Hurley zu spielen. Gelegentlich machte ich mit, aber ich war ein schlechter Spieler und verbrachte mehr Zeit am Llyn Gwalch oder auf Ritten über die Insel.
Die Orkneys waren sehr schöne Inseln und von sanftem Klima, trotz ihres britischen Namens »Ynysoedd Erch«: die schrecklichen Inseln. Das Klima ist mild, und es wechselt nur wenig während des Jahres. Im Winter ist es in Dun Fionn wärmer als in Camlann tief im Süden. Das Land zieht sich in niedrigen, steinigen Hügeln dahin, die mit kurzem Gras und Heidekraut bedeckt sind. Eine gute Weide für Schafe und Vieh, und ein gutes Leben für die Bauern. Die weite graue See, voller Fische, schlägt seit Ewigkeiten an die Küsten, die steil und felsig sind - besonders im Westen meiner Heimatinseln -, und Seevögel aller Arten nisten in den Klippen. Das Donnern der See ist allgegenwärtig in Dun Fionn, so sehr, daß es ein Geräusch wird wie das Schlagen des eigenen Herzens. Niemand nimmt mehr Notiz davon. Die Sturmvögel schreien an den Felswänden, und die Möwen stoßen ihre hellen, traurigen Laute über den graugrünen Wellen aus, und sie rufen einander zu, über die schimmernden weißen Schwingen. Der Klang ihrer Stimmen scheint mir manchmal fast so schön wie die Lieder der Lerchen im Binnenland, die an sonnigen Tagen Musik vom Himmel tropfen lassen wie Honig aus einer Wabe. Man sagt, daß das Land, in dem man lebt, wenn man jung ist, Teil von einem selber wird. Ich glaube das, denn noch heute bringen mich die See und der trauernde Schrei der Möwen zurück nach Llyn Gwalch im Nebel, wo die Tauperlen vom Heidekraut tropfen.
Der Frühling war auf den Inseln diesmal besonders schön.
Manchmal ritt ich mit meinem jüngeren Bruder Medraut an der Seite aus, und ich teilte mit ihm all meine Gedanken und erzählte ihm Geschichten. Er hielt mich für einen besseren Geschichtenerzähler als den Barden meines Vaters, Orlamh. Das kam nur daher, weil Medraut an den Stil der Barden nicht gewöhnt war, aber mich freute es trotzdem.
Medraut war damals sieben, und er war ein wunderschönes Kind. Wer immer sein Vater war, mit Sicherheit mußte er edel gewesen sein. Medraut hatte blondes Haar, heller als Lot, und große, graue Augen. Seine Haut ähnelte der Haut meiner Mutter und sein Gesicht dem seines unbekannten Vaters. Aber dem Temperament nach stand er Lot näher. Er wollte Krieger werden, und er zweifelte keinen Augenblick daran, daß er auch einer sein würde. Seine Lieblingsgeschichte war die von CuChulainn, dem Held von Ulster. Medraut war sehr tapfer, er hatte absolut keine Angst vor großen Pferden und Waffen und Stieren und solchen Dingen, die die meisten Kinder fürchten. Einmal, als wir die Klippe hinabkletterten, um Möweneier zu suchen, glitt er ab und hing nur an den Händen an einem schmalen Grat, bis ich kommen und ihm helfen konnte. Als ich ihn fragte, ob er denn keine Angst gehabt hätte - und ich zitterte vor Angst -, da starrte er mich überrascht an und antwortete: Nein, warum hätte er denn Angst haben sollen? Er hätte doch gewußt, sagte er, daß ich ihn retten würde. Medraut war nicht nur tapfer - und großzügig wie ein Hoher König und raubtierhaft wie eine Wildkatze; die Eigenschaften eines großen Kriegers -, sondern er liebte und bewunderte mich auch. Ich konnte nicht verstehen, wie beides zusammenpassen konnte, aber ich akzeptierte es voller Freude. Er war frühreif, aber er war erst sieben, und das ist zu jung, um Träume ernst zu nehmen.
Manchmal übte ich auch mit meinen Waffen, anstatt am Llyn Gwalch zu spielen oder mit Medraut über die Insel zu reiten. Der Anblick des riesigen Heerhaufens hatte irgend etwas in mir bewegt, und ich strebte danach, mich in der Kunst des Krieges zu verbessern. Zu meiner Überraschung entdeckte ich, daß es auch wirklich besser ging, und nicht nur deshalb, weil ich mehr übte. Jetzt, ohne daß Agravain bei jedem Speerwurf neben mir stand und ohne daß seine Freunde und unsere Vettern mich neckten, wenn ich mit Speer oder Schwert hantierte, jetzt konnte ich gerader und kräftiger werfen oder zustoßen.
Das Wichtigste aber, was mir begegnete, nachdem die Armee abgezogen war, hing mit keinem dieser Dinge zusammen. Morgas lehrte mich lesen.
Sie kam eines Nachmittags herauf, als ich im Hof hinter dem Haus der Knaben Speere nach einer Strohscheibe warf. Einen Augenblick starrte ich noch auf das Ziel, den Speer in der Hand, und im nächsten Moment spürte ich ihren Blick auf meinem Rücken und drehte mich um.
Sie stand an der Ecke des Hauses, dunkel und bleich im Gold der
Nachmittagssonne. Sie trug ein Kleid aus dunkelroter Wolle, das mit einem goldenen Gürtel in der Taille eng zusammengezogen war, und der tiefe Ausschnitt enthüllte die Linie ihres weißen Halses. Sie trug eine Brosche aus Gold, die mit Granaten besetzt war, goldene Armringe und Gold in dem schwarzen Haar, das alles Licht zu trinken schien. Ich ließ den Speer fallen und starrte sie an. In diesem Augenblick schien sie mir keine Sterbliche mehr zu sein, sondern eine von den Sidhe.
Dann überquerte sie den Hof, lächelte, und der Bann war gebrochen.
»Gawain!« sagte sie. »In den letzten Monaten habe ich wenig von dir gesehen, mein Falke. So beschäftigt war ich mit den Plänen für deines Vaters Krieg.«
Ich fuhr zusammen, als sie mich Falke nannte, obwohl mein Name in ihrer Sprache, der Sprache der Briten, »Maienfalke« bedeutet. Dieser Name ist so kriegerisch - »Falke«, das war ein gängiger poetischer Ausdruck für Krieger -, daß ich immer versuchte, seine Bedeutung zu vergessen. Wenn meine Mutter aber diesen Namen für mich benutzte, dann liebte ich ihn und sie.
»Mutter«, stammelte ich, »ich.«
»Hast du mich vermißt?« fragte sie mich. »Ich dich auch, mein Falke.«
Das konnte nicht wahr sein, soviel wußte ich. Meine Mutter hatte mich unmittelbar, nachdem sie mich geboren hatte, einer Amme übergeben, und seit damals hatte sie kein großes Interesse an mir gezeigt. Aber ich glaubte ihr, weil sie es sagte, und ich wollte es auch glauben.
»Ja, ich habe dich vermißt«, sagte ich zu ihr.
Sie lächelte wieder, es war ihr tiefes, geheimnisvolles Lächeln. »Nun, wir werden ein wenig miteinander reden müssen, nicht wahr? Ich sehe, du entsprichst dem Wunsch deines Vaters, und du übst mit deinen Waffen.« Sie musterte das Bündel Wurfspeere neben mir - ich hatte sie gerade aus der Zielscheibe oder aus dem Boden um die Zielscheibe herausgezogen, und nichts verriet, wie gut ich zielen konnte. »Willst du mir zeigen, wie du wirfst?«
Ich nahm den Speer auf, den ich hatte fallen lassen, schaute sie an und wandte mich dann der Zielscheibe zu. Ich war entschlossen zu treffen. Vielleicht traf der Speer wegen dieser Entschlossenheit so gut, leicht links vom Zentrum. Er durchschlug das Stroh völlig. Morgas hob in überraschter Freude die Augenbrauen. Ich nahm einen weiteren Speer auf und warf ihn auf das Ziel, diesmal ein wenig schlechter. Dann warf ich die anderen fünf in schneller Folge. Nur einer fehlte, und einer traf die Mitte. Ich wandte mich meiner Mutter wieder zu und strahlte.
Sie lächelte mich an. »So, es scheint, daß du doch nicht so ein schlechter Krieger bist, wie Lot glaubt. Wenn auch nicht ganz so glänzend wie Agravain. Gut gemacht, mein Falke.«
Ich hatte den Wunsch zu singen. Ich schaute zu Boden und murmelte: »Du bringst mir Glück. Wenn du da bist, dann muß ich einfach alles gut machen, Mutter.«
Sie lachte. »Ach! Du kannst also auch mit Worten umgehen, ja? Ich glaube, wir sollten etwas Zeit zusammen verbringen, Gawain.«
Ich schluckte und nickte. Meine Mutter war die weiseste und schönste Frau aller Inseln von Britannien und Erin. Die Erlaubnis zu haben, seine Zeit in ihrer Nähe zu verbringen, das war ein Geschenk der Götter.
»Hör also zu«, sagte sie. »Ich habe mit Orlamh gesprochen. Er sagt, du bist ein sehr guter Harfespieler, so gut wie viele richtige Barden. Aber du bist mehr an den Geschichten und den süßen Klängen interessiert als an dem Wissen, das damit zusammenhängt. Würdest du gern lernen, wie man liest?«
Mein Mund klappte auf. Lesen, das war die seltenste aller Fähigkeiten auf den Orkneys. Die Druiden hatten ihre Ogham-Schrift, aber sie lehrten sie niemandem, außer ihren Novizen. Und sie verboten ihre Benutzung außer zum Zweck der Aufzeichnung von Gedächtnisstützen, und sie sagten: Was ein Mann auswendig lernt, das hat er für immer, was er aber niederschreibt, das kann er leicht verlieren. Lesen lernen, das bedeutete Latein lernen, und diese Sprache wurde noch immer in Teilen des südlichen Britanniens gesprochen. Als geschriebene Sprache wurde Latein von Erin bis Konstantinopel benutzt. Ich glaube, auf den ganzen Orkneys konnte nur meine Mutter lesen. Diese Fähigkeit ist häufig genug in Britannien, und jetzt auch in Erin - in den Klöstern dort. Aber auf den Orkneys wurde sie als eine Art Magie betrachtet. Und jetzt bot mir meine Mutter an, diese Macht mit ihr zu teilen!
»Nun?« fragte Morgas.
»Ich. ja, ja, sehr gern!« würgte ich heraus.
Morgas schenkte mir ein zufriedenes Lächeln, ein Lächeln fast, so dachte ich einen Augenblick, des Triumphes. Sie nickte. »Wenn du deine Waffenübung beendet hast, gebe ich dir deine erste Lektion. Komm zu meinem Zimmer.«
»Ich komme jetzt.«
Sie schüttelte den Kopf. »Komm, wenn du damit fertig bist. Triff das Ziel fünfzigmal für mich. Das Latein kann warten.«
Ich beeilte mich mit den Speeren, bis mir klar wurde, daß hastiges Werfen mir nicht half, das Ziel zu treffen. Endlich hatte ich meine fünfzig Treffer. Ich rannte zum Haus der Knaben, ließ die Speere in ihre Ecke fallen - denn man hätte mich geschlagen, wenn ich sie im Hof dem Rost zum Fraß hätte liegenlassen - und lief, so schnell ich konnte, zum Zimmer meiner Mutter.
Die erste Lektion war einfach, obwohl sie mir schwer schien. Morgas erklärte mir, was ein Alphabet ist, sagte mir die Buchstaben und ihren Klang mehrere Male vor und befahl mir, die Formen der Buchstaben auswendig zu lernen. Nach der Waffenübung am nächsten Tag sollte ich wiederkommen.
Ich rannte zu Medraut und erzählte ihm davon. Ich zeigte ihm die Buchstabenformen, sagte ihm, was Morgas über meine Fähigkeiten mit den Waffen gemeint hatte und sprang vor Freude im ganzen Stall herum.
Der Rest des Sommers war wunderbar. Ich fuhr mit meinen Lektionen in Latein fort, lernte die Sprache und das Lesen und Schreiben gleichzeitig. Bei meinen Waffenübungen besserte ich mich so sehr, daß ich den anderen Jungen gewachsen war und nicht länger die Zielscheibe für jeden Witz darstellte. Mein zwölfter Geburtstag kam im späten Mai, und ich begann davon zu träumen, daß ich vierzehn wäre und fähig, Waffen aufzunehmen. Es war ein Traum, bei dem es jetzt Hoffnung und Erfüllung gab. Ich konnte ein Krieger werden, im Heer meines Vaters, und er würde erfreut sein. Aber der Krieg schien unglaublich weit entfernt von den langsam vergehenden Sommertagen mit ihren langen, grünen Dämmerungen und den kurzen Nächten, in denen die Sterne wie silberne Schildnieten am sanften Himmel standen. Meine Mutter dagegen horchte angespannt auf die Berichte aus Britannien, und sie schickte Botschaften an Lot und gab ihm Rat.
Es war nicht so leicht, wie mein Vater es geplant hatte. Schon am Anfang wurden mein Vater und unser Verbündeter durch einen plötzlichen Angriff von Urien, dem König von Rheged, überrascht. Lot hatte damit gerechnet, daß die Ehebande Urien noch einen Monat oder zwei zurückhielten, und obwohl der britische König besiegt und gezwungen wurde, sich zurückzuziehen, mußten mein Vater und Gwlgawd ihre Pläne, Gwynedd zu plündern, sofort aufgeben. Uriens Niederlage machte die Situation auch auf andere Weise verworren, denn Vortipor von Dyfed war genügend davon beeindruckt, um sich selbst zum Verbündeten von Gododdin und den Orkneys zu erklären. Er begann Powys, seinen Nachbarn, zu plündern, während March ap Meirchiawn von Strathclyde es schaffte, Uriens Unterstützung bei der Durchsetzung seines eigenen Anspruchs auf die Stellung des Pendragon zu gewinnen. Da überlegte Vortipor es sich anders. Auch er wollte König über die Könige werden. Er suchte Bündnisse und griff Gwynedd an. Er wurde aber besiegt, und mein Vater und sein Verbündeter nutzten die Situation aus, um Gwynedd ihrerseits anzugreifen. Sie errangen einen Sieg und gewaltige Beute, aber als sie von diesem Feldzug zurückkehrten, trafen sie auf Urien und March und ihre Verbündeten. Es wurde eine große Schlacht.
Erst zwei Wochen später hörten wir, selbst bei guten Winden und schnellen Schiffen, davon. Gwlgawd, unser Verbündeter, war tot. Sein Sohn Mynyddog aber war sein Nachfolger und erneuerte das Bündnis. Dennoch hatten unsere Feinde letzten Endes gesiegt, und die Armee war durch Britannien nach Din Eidyn geflüchtet und hatte ihre Ausrüstung und die Beute aus Gwynedd zurückgelassen. Mein Vater schickte so viele Schiffe zurück, wie er bemannen konnte, und bat um Nachschub. Meine Mutter fand ihn, eilig und rücksichtslos. Sie schickte ihn mit einem Rat nach Süden. Damals glaubte ich, sie mache sich Sorgen um Lot und Agravain und die anderen, aber jetzt glaube ich, sie war zornig. Sie war zornig auf Lot, weil er die Schlacht verloren hatte, und noch zorniger über die Verzögerung ihrer Pläne.
Der Rest des Sommers verging in fruchtlosen Streitereien und Verdächtigungen unter den Königen von Britannien. March und Urien Rheged, die sich erst kürzlich verbündet hatten, kehrten zu ihrem gewohnteren Widerwillen gegeneinander zurück, und Urien erhob seinerseits Anspruch auf den Thron des Hohen Königs. Das führte zu noch mehr Streiten und noch mehr Intrigen. Dann war Erntezeit, und die großen Armeen, die von den Königen ausgehoben worden waren, lösten sich auf. Die Männer gingen nach Hause zu ihren Bauernhöfen und ließen nur die Könige und die Krieger des Königs zurück. Und noch immer geschah nichts. Weil jeder König Angst hatte zu plündern und nicht wußte, wo seine Feinde waren. Im Süden und Osten wurden die Sachsen immer rastloser und begannen, ihre Nachbarn zu überfallen. Nur das alte königliche Heer, das noch immer vom Halbbruder meiner Mutter, Artus, angeführt wurde, verhinderte eine Invasion.
Gegen Ende Oktober verzweifelte Lot endlich. Er glaubte nicht, daß es noch einmal ernsthaft mit dem Krieg begänne, und die Armee kam über den Winter heim.
Jeder König nahm seine Kämpfer heim auf die eigene Insel. Sie ließen sich wie müde Falken in ihren Hügelfestungen nieder und seufzten vor Erleichterung, daß für dieses Jahr alles vorbei war und daß sie Zeit hatten, ihre Kraft zurückzugewinnen und ihre Wunden zu pflegen.
Als Lot mit seinem Heerhaufen zurückkehrte, bot er nicht mehr den glänzenden Anblick wie zuvor. Es war ein schlechter Krieg gewesen, ein unsicherer, nervenzerfetzender Krieg, und sie waren müde. Ihre Schilde waren zerhackt, die leuchtenden Farben abgesprungen, die Speere hatten Scharten, und die schmutzigen bunten Umhänge waren zerrissen. Viele Männer trugen Wunden. Wenn erst einmal der Frühling wieder gekommen war, dann allerdings würden sie diese zerhackten Schilde hochwerfen zum Beweis dafür, wie tapfer sie gekämpft hatten. Sie würden sich einander ihre Narben zeigen, sie würden die Speere polieren, und sie würden wild darauf sein, wieder loszuziehen. Aber als sie jetzt nach Dun Fionn kamen, als sie so stumpfsinnig durch den strömenden Regen stapften, da schien es unmöglich, als ob sie je wieder prahlen könnten.
Morgas, Medraut und ich standen am Tor und sahen zu, wie der Kriegshaufen herankam. Morgas trug ein dunkles, gestreiftes Kleid, und an ihrem dunklen Umhang steckte eine Silberfibel. Sie trug den Regen im Haar wie Juwelen. Lot, der an der Spitze des Heeres ritt, richtete sich auf, um sie besser sehen zu können, und zwang sein Pferd zum Galoppieren. Vor ihr sprang er eilig ab und riß sie in die Arme. Er vergrub sein Gesicht an ihrem Hals und sagte ihren Namen in einem rauhen Flüstern. Ich sah ihr Gesicht über seiner Schulter, und der stille, kalte Widerwillen in ihren Augen war gemischt mit einem seltsamen Stolz auf ihre Macht.
»Willkommen zu Hause, Mylord«, murmelte sie und machte sich los. »Wir sind froh, Euch unverletzt wiederzusehen.«
Lot nickte, murmelte etwas in sich hinein und schaute zur Halle und zu seinen Kammern hinüber. »Und wo ist Agravain, mein Sohn?« fragte Morgas leise.
Lot nahm sich zusammen, zog einen Arm von ihrer Hüfte zurück und wandte sich dem Heer zu, das sich jetzt durch das Tor in den Hof ergoß. Sie redeten und lachten vor Freude über ihre Heimkehr. »Agravain!« rief Lot.
Ein blonder Kopf zuckte hoch, und Agravain ritt zu Lot herüber. Er war jetzt ein wenig älter, ein wenig größer, viel schmutziger und Lot viel ähnlicher. Aber ich erkannte sofort, daß er sich nicht sehr verändert hatte. Er glitt von seinem Pferd und lächelte breit, erfreut darüber, wieder dazusein.
»Ich grüße dich, Mutter«, sagte er.
»Tausendmal willkommen«, antwortete Morgas. »Heute nacht wird es ein Fest für euch beide geben. Aber jetzt werdet ihr ruhen wollen. Schlafen, Mylord.« Sie lächelte Lot an.
Mein Vater grinste, nahm ihren Arm und eilte mit ihr davon.
Agravain sah sie gehen, und da drehte er sich zu Medraut und mir um. »Nun«, sagte er und grinste dann breit. »Bei der Sonne und dem Wind, es ist gut, euch wiederzusehen!« Er nahm uns beide fest in den Arm. »Was für ein Sommer!«
»Ich kann dir Ale besorgen, wenn du mit uns in die Halle kommen willst, zum Erzählen«, schlug ich vor. Ich war froh, trotz allem, ich war sehr froh, daß er wieder zu Hause war.
»Eine herrliche Idee!« sagte Agravain. »Besonders das Ale.«
Er schaute Medraut an und fuhr ihm durch das Haar. »Gawain, ich schwöre, dein Bruder ist mehrere Zoll gewachsen, seit ich ihn zum letztenmal gesehen habe. Selbst du bist gewachsen.«
»Du auch.«
»Ja?« fragte er entzückt. »Das ist ja wunderbar! Wenn ich groß genug bin, dann gibt Vater mir ein Kettenhemd. Er hat es versprochen.«
Wir gingen hinüber zur Festhalle, und ich besorgte ihm etwas Ale. Ich fragte ihn über den Krieg aus. Er platzte ja fast vor Eifer, es irgendeinem zu erzählen, und erzählte uns anderthalb Stunden lang.
Es sah so aus, als ob er eigentlich nicht als Krieger gekämpft hatte, sondern mitten im Kriegshaufen geritten wäre und nur in der großen Schlacht einmal Speere auf den Feind geschleudert hätte.
»Ich glaube, ein Speer hat vielleicht jemanden getroffen«, sagte Agravain hoffnungsvoll. »Aber natürlich konnten wir nicht zurück, um nachzusehen, ob das auch stimmte. Wir sind ja kaum lebendig davongekommen!«
Sein Benehmen hatte sich seit damals, als er losgezogen war, etwas verändert. Seine Energie, die immer im Überfluß vorhanden gewesen war, hatte jetzt ein Ventil gefunden. Er genoß es, Krieger zu sein. Er hatte die Sprache und die Eigentümlichkeiten der älteren Kämpfer angenommen, damit er in die Gesellschaft paßte. Aber tief innen, das spürte ich, war er noch genau der gleiche.
Er war überglücklich, daß er wieder zurück war. Die letzten Monate des Krieges waren besonders unangenehm gewesen. Eine größere Blutfehde hatte fast zwischen zweien von Lots Unterkönigen begonnen, und irgendwann einmal hatte sogar Krieg mit Gododdin gedroht, als die Heerhaufen versucht hatten, ihre Spannung dadurch loszuwerden, daß sie sich über die Fremden lustig machten.
Nachdem Agravain sich ausgesprochen hatte, gähnte er und entschloß sich, schlafen zu gehen. Er blieb in der Halle, um sich auszuruhen, da er ja offiziell ein Krieger war, und ich sah ihn erst spät am nächsten Tag wieder.
Nachdem Lot sich mit seinen Männern wieder in Dun Fionn eingelebt hatte, begann er auf den Krieg des nächsten Jahres hinzuarbeiten.
Es würden offenbar Kämpfe werden, die mehrere Jahre dauerten, und solch ein Unternehmen war teuer.
Die Beute, die in diesem Sommer gemacht worden war, würde noch nicht einmal ausreichen, um die Kämpfe zu bezahlen, in denen sie gewonnen worden war, geschweige denn für neue Waffen. Und die Ernte war schlecht gewesen. Mein Vater erhöhte den Tribut, soviel er sich getraute, und das Volk murrte. Seit neunzehn Jahren hatte es keinen Krieg dieses Ausmaßes mehr gegeben, und sie waren nicht daran gewöhnt.
Kurze Zeit versuchte Agravain, unserem Vater zu helfen, aber dann fand er Staatsgeschäfte langweilig und wandte sich wieder seinen Waffen zu. Er ritt aus, oder er machte Jagdausflüge. Ich war nicht überrascht. Agravain mußte Taten sehen, schnell und vorzugsweise mit Gewalt verbunden. Er brauchte das, einfach um sich beschäftigt zu halten. Staatsgeschäfte dagegen bieten Übung für den Verstand, das Organisationstalent, die Überlegungsgabe und das Fingerspitzengefühl, und direkte Aktionen gab es selten. Mein Vater war gerissener als ein Fuchs, und er genoß den komplizierten Prozeß, durch den er seine Unterkönige immer wieder zum Gehorsam verpflichtete und sie dazu brachte, ihm Tribut zu zahlen. Er liebte es, durch Klugheit ihre Kriege und Blutfehden zu verhüten, während er gleichzeitig ihre Gunst behielt und daher seine eigene Stellung. Agravain verstand die zarten, empfindlichen Strukturen von Lots »Spiel« nicht, es ermüdete ihn schnell, und er rannte dann hinaus und suchte Unterhaltung. Er ging jagen, aber mich vergaß er nicht.
Ein paar Wochen, nachdem das Heer zurückgekehrt war, gegen Ende November, kam er in den Hof des Hauses der Knaben, während ich mit meinen Waffen übte. Ich arbeitete wieder mit den Wurfspeeren. Es ist schwieriger, einen Speer beim Laufen gerade zu werfen, als ein Schwert zu beherrschen, aber es ist wichtig, auch das zu können. Deshalb verbrachte ich den größten Teil meiner Übungszeit damit, Speere auf eine Strohscheibe zu schleudern, manchmal darauf zulaufend, manchmal stehend. Diesmal stand ich.
Agravain trat hinter mir heran und sah mir zu, während ich dreimal das Ziel anwarf. Alle drei Speere trafen, einer sogar in der Mitte. Agravain runzelte die Stirn. »Du hast diesen Sommer hier geübt, nicht wahr?«
Ich drehte mich zu ihm um, errötete ein wenig vor Stolz. Vor meinem Vater und meinem Bruder hatte ich meine neuen Fähigkeiten noch nicht gezeigt, aber ich freute mich schon darauf. Ich nickte. »Ja, eine Stunde am Tag mit den Wurfspeeren und eine Stunde mit dem Langspeer oder Schwert und Schild, und zwar über die Übungszeit hinaus. Ich bin jetzt besser als früher.«
Agravain nickte, machte dann ein finsteres Gesicht. »Du bist besser, und das ist gut. Aber wenn du versuchen solltest, so in der Schlacht zu werfen, dann wirst du durchbohrt.«
»Durrough sagt, es schadet nichts, wenn man so steht, und er ist der Ausbilder.«
»Er erwartet auch nicht viel von dir. Stell deinen linken Fuß weiter zurück, und nimm den rechten Arm dichter an den Körper. Du mußt ja einen Schild halten, weißt du!«
»Aber.«
»Ach, bei der Sonne, warum widersprichst du denn? Ich versuche doch nur, dir zu helfen.« Er grinste.
Tat er das wirklich? Das Grinsen verschwand, während ich ihn weiterhin anstarrte, und er runzelte wieder die Stirn. Er ballte die Fäuste, er streckte die Hände wieder aus, war rastlos. Ich nahm die Stellung ein, die er vorgeschlagen hatte, und schleuderte nervös den Speer. Ich verfehlte das Ziel.
Er schüttelte den Kopf. »Bei der Sonne und dem Wind, so doch nicht! Halt den Speer gerade, sonst soll die Morrigan dich holen - nicht, daß eine Kriegsgöttin etwa jemanden haben wollte, der so schlecht wirft!«
Ich verzog das Gesicht, warf noch einen Speer. Auch er verfehlte das Ziel.
Agravain schnaubte. »Du kannst einfach nicht sehen, was ich meine. Hier, ich zeig es dir mal.« Er bückte sich, nahm meine anderen Speere auf und schleuderte sie. Alle drei trafen das Ziel sauber und in der Mitte. »So geht das. Und jetzt versuchst du’s.«
Wir gingen und holten die Speere. Ich stellte mich hin, und Agravain korrigierte meine Stellung. »Versuch’s noch einmal«, sagte er mir.
Ich schaute den Speer in meiner Hand an. Er war schwer, sein Schaft war aus Holz von den dunklen Hügeln des Piktenlandes. Die Spitze bestand aus stumpfglänzendem Eisen. Der Speer in meiner Hand wog plötzlich schwer.
»Los, Gawain«, sagte Agravain ungeduldig. »Du sagtest, du wärest jetzt besser. Zeig es mir! Oder hast du wieder Angst vor deinem eigenen Speer? Mit einem Falken hast du aber wirklich wenig gemeinsam.«
Morgas nannte mich noch immer »mein Falke«. Maienfalke. Es war so ein schöner, kriegerischer Name. Es war ein Name, den ich mir selbst wünschte.
Ich warf den Speer, und er flog schief. Agravain schnaufte und schlug sich auf die Schenkel. »Du hast vielleicht gelernt, besser zu werfen, wenn du wie ein pflügender Bauer dastehst, aber du solltest lernen, den Speer zu schleudern, wenn du wie ein Krieger stehst. Natürlich nur, wenn du einer sein willst. Oder willst du ein Barde werden? Druide? Zureiter?«
»Nein«, flüsterte ich. »Agravain.«
»Ich wette, du verbringst noch immer den größten Teil des Tages auf dem Rücken eines Pferdes«, fuhr er fort, als ob er mich überhaupt nicht bemerkte. »Aber das hat keinen Sinn. Pferde sind Luxus, und nicht mehr. Der wirkliche Kampf wird immer zu Fuß ausgefochten. Pferde sind wie goldene Fibeln und schöne Kleider, ausgezeichnet dazu geeignet, wenn ein Krieger anderen zeigen will, wie reich und wichtig er ist. Aber im wirklichen Krieg, da sind sie entbehrlich. Dafür muß man Speere anständig schleudern können. Versuch’s noch einmal.«
»Agravain.«, wiederholte ich, während ich meinen ganzen Mut zusammennahm.
»Was ist denn jetzt los! Hast du Angst zu werfen? Hör auf, dich so blöd anzustellen.«
Ich fühlte mich auch blöd. Ich umklammerte verzweifelt den Speer. Ich würde ihn werfen, während ich so stand, wie ich es eingeübt hatte. Es war nicht die normale Haltung, aber verwundbarer war ich dadurch auch nicht. Ich stellte meinen linken Fuß nach vorn, ließ meinen linken Arm sinken. Ich bin wirklich gut, sagte ich mir. Auf diese Weise kann ich das Ziel treffen. Jetzt muß ich es. Ich muß.
Ich warf und verfehlte.
Agravain nickte vernünftig. »Wirst du’s jetzt mal versuchen, wie ich es dir gezeigt habe? Wenn du ein Mann sein willst, und ein Krieger, dann mußt du auf.«
»Hör auf!« schrie ich wütend.
Agravain hielt erstaunt inne.
»Du hilfst mir ja nicht. Du versuchst mir überhaupt nicht zu helfen, wenn du das vielleicht auch glaubst.«
»Ich versuche doch, dir zu helfen. Willst du mich etwa einen Lügner nennen?«
»Nein! Aber ich will deine Hilfe nicht. Wenn ich schon kein Krieger bin, dann laß mich auf meine Art versagen, und belästige mich nicht mit richtigen und falschen Methoden. Wenn ich kein Krieger bin, dann werde ich vielleicht ein Barde oder ein Druide. Mutter lehrt mich lesen, so daß ich.«
»Sie macht was?« wollte Agravain wissen. Er war völlig verblüfft.
»Sie lehrt mich lesen. Sie hat es schon den ganzen Sommer getan, als ihr fort wart.«
»Willst du ein Zauberer werden?« Agravains Augen flammten, und sein helles Haar glitzerte wie die Sonne.
»Nein. ich will nur lesen können.« Ich war verwirrt.
Er schlug mich ins Gesicht. So fest, daß ich rückwärts stolperte. Sein Gesicht war rot vor Zorn. »Du willst besser sein als wir! Morgas ist eine Hexe, jeder weiß das. Und du willst von ihr lernen, weil du so ein schlechter Krieger bist. Ein Wort in der Finsternis, anstatt ein Schwert im Sonnenlicht. Das ist es, was du willst. Macht, die Macht, die nur für Feiglinge ist, für Verräter und Männer ohne Clan, und Weiber, und Mörder.«
»Agravain! Es ist nicht wahr! Nur.«
»Hör auf, mich anzulügen!«
Ich raffte mich vom Boden wieder auf, starrte meinen Bruder an. Ich spürte, wie eine blinde Wut in mir aufstieg, so kalt wie Eis, so kalt wie Morgas’ Augen. »Ich bin kein Lügner«, sagte ich und hörte, wie meine Stimme kalt und ruhig war, als ob sie jemand anderem gehörte. »Ich entehre meinen Clan nicht.«
Er lachte über mich. »Du entehrst andauernd deinen Clan. Ist es nicht Unehre, daß der eigene Sohn des Königs keinen Speer gerade werfen kann? Daß er noch nicht einmal einen Spatzen töten kann, wenn er jagt? Daß das einzige, was er kann, im Reiten und Harfespielen besteht
- im Harfespielen! Daß du die Zauberei erlernen willst und Bannflüche, so daß du nicht kämpfen mußt.«
»Das ist nicht wahr!« schrie ich.
»Willst du jetzt einen Lügner aus mir machen?« brüllte Agravain und schlug nach mir.
Es war gut, daß ich nicht in der Nähe meiner Speere stand, denn wenn das der Fall gewesen wäre, dann hätte ich bestimmt einen benutzt. Ich sprang auf meinen Bruder los mit einer Wut, die ihn überraschte, und ich schlug zu, so fest ich konnte. Ich spürte eine tödliche Kälte, ich war erfüllt von einer schwarzen See. Meine Faust traf Agravain ins Gesicht, traf wieder. Er grunzte vor Schmerz, und ein Schauder der Erregung überlief mich. Ich wollte ihm weh tun, allen, die mich verletzten, die Morgas verletzten, die Medraut verletzten und die einer Welt angehörten, in die ich nicht eindringen konnte. Ich wollte weh tun, weh tun und nochmals weh tun.
Agravain warf mich ab und wehrte sich kalt, ruhig und noch nicht einmal sonderlich aufgeregt. Ich begriff, daß er seine eigenen Anschuldigungen selbst nicht geglaubt hatte, sondern daß er nur zornig darüber geworden war, weil ich etwas tat, was er nicht konnte. Ich stolperte und flog ins Gras. Agravain trat mich, sprang auf mich und befahl mir aufzugeben.
Ich dachte an Morgas’ Augen, an Medrauts bewundernden Blick. Ich dachte an meinen Vater, der lächelte, und ich bildete mir ein, daß er mich lobte. Ich dachte an Krieger, strahlende Waffen und schnelle Kampfhunde. Ich versuchte, weiterzukämpfen. Agravain wurde wütend und schlug härter zu. Ich kratzte ihn, er fluchte.
»Du nennst dich Falke, aber du kämpfst wie ein Weib! Wie eine Hexe! Gib auf, du kleiner Bastard - du bist nicht mein wirklicher Bruder.«
Ich versuchte noch immer zu kämpfen, und er tat mir noch schlimmer weh. Die schwarze Welle verebbte ein wenig und nahm die wahnsinnige Kraft mit, die sie mir verliehen hatte. Ich war kein Krieger, das wußte ich. Kein wirklicher Krieger. Gegen Agravain konnte ich nicht kämpfen. Ich war sowieso nicht sein wirklicher Bruder, und ich hatte keinen echten Anspruch auf die Ehre unseres Clans. Das mußten er und Lot wenigstens annehmen. Ich wurde schlaff.
»Gibst du auf?« fragte Agravain. Er keuchte.
Ich fühlte mich krank. Ich hatte keine Wahl. Wenn ich nicht aufgab, dann würde er mich nur weiterschlagen, mir Schimpfwörter an den Kopf schleudern und über mich lachen.
»Ich gebe auf.«
Agravain erhob sich, klopfte sich den Staub ab. Zwei blaue Flecken begannen sich in seinem Gesicht zu zeigen, aber sonst trug er keine Schrammen. Ich rollte auf die andere Seite, stützte mich auf Hände und Füße und starrte die fest zusammengestampfte Erde unter dem Gras auf dem Übungshof an. Sie war noch feucht vom Winterregen. Ich war damit beschmiert, und mit Blut.
»Denk dran, kleiner Bruder«, sagte Agravain. »Und vergiß das mit dem Lesen. Versuch zu lernen, wie man einen Speer gerade wirft und auf die richtige Weise. Vielleicht wird dann eines Tages doch ein Krieger aus dir. Ich bin gewillt, dies alles zu vergessen und morgen zu kommen und dir weiterzuhelfen.«
Ich hörte seine Schritte verschwinden. Er ging voller Zuversicht. Ein Krieger, mein Bruder, der sonnenstrahlende Prinz, der Erstgeborene eines goldenen Kriegerkönigs. Aber ich erinnerte mich an Morgas, die dunkler und schöner war als irgend etwas anderes auf der Erde. Morgas, die Lots Schicksal in ihren schlanken weißen Händen hielt. Morgas, die haßte. Haß. Mir wurde klar, daß die schwarze Welle mich noch nicht verlassen hatte, sondern daß sie sich nur tief in meinem Innersten zusammengerollt hatte und wartete. Es war Haß, starker Haß. Ich war der Sohn meiner Mutter.
Morgas wußte es, als sie mich sah. Ehe ich zu ihr gegangen war, hatte ich mich ein wenig gereinigt, aber es war deutlich, daß ich gekämpft hatte, und man brauchte nicht lange zu raten, mit wem. Sie sah, als ich in ihr Zimmer trat, daß ich bereit war, und sie lächelte ein langsames, triumphierendes Lächeln.
Zuerst sagte sie nichts davon. Sie schenkte mir ein wenig von dem Wein aus ihrem privaten Keller ein, befahl mir, mich aufs Bett zu setzen, und sprach sanft und mitfühlend mit mir. Sie fragte, was passiert sei, und ich erzählte ihr von meinem Streit mit Agravain.
»Er sagte, du wärst eine Hexe«, erzählte ich ihr. »Er hat mich beschuldigt, daß ich meine Feinde mit Flüchen und Magie in der Dunkelheit des Mondes bekämpfen will und nicht mit ehrlichem Stahl.«
»Und du wolltest das nicht«, sagte sie.
»So ist es. Ich wollte nur. ein Krieger sein. Ich wollte unserem Clan Ehre bringen, Vater Freude machen. selbst Agravain. Und Diuran und den anderen Kriegern, einfach allen. Ich wollte, daß sie mich nicht für wertlos halten. Ich wollte.« Ich stellte fest, daß meine Kehle zusammengeschnürt war und daß sie plötzlich schmerzte, weil all meine Wünsche vergebens waren. Ich nippte von dem Wein, rollte ihn im Mund herum und schluckte. Der Geschmack war herb. Es war roter Wein. In den Schatten von Morgas’ Zimmer war er so dunkel wie Blut und hatte nicht das rubinfarbene Feuer wie an dem Tag, als ich von Lot hörte, daß der Pendragon tot war.
»Ich will diese Dinge nicht mehr«, sagte ich. »Ich bin kein Krieger.«
»Du bist nicht von ihrer Art«, sagte Morgas. Sie setzte sich dicht neben mich. Sie und das Zimmer, beide rochen nach Moschus, nach tiefen Geheimnissen. Die Pupillen ihrer Augen hatten sich geweitet und tranken das Licht des Zimmers in ihre süße Dunkelheit.
Ich nippte wieder von dem Wein. Er war stärker als das Ale, an das ich gewöhnt war. Er war gut.
»Aber ich will sie bekämpfen«, sagte ich. »Mit Kenntnissen. Mit Dingen, die sie nicht verstehen, weil sie Angst haben, sie anzuschauen. Ich will ihnen zeigen, wer ich wirklich bin.«
»So?«
»Ist es wahr, daß du eine Hexe bist?«
»Und wenn ich es wäre?« Ihre Stimme war weich, weicher als Eulenfedern in der Dunkelheit.
»Wenn du es wärst, dann würde ich dich bitten, mich zu lehren. solche Dinge.«
Sie lächelte wieder, ein geheimes Lächeln nur für uns beide. »Es gibt viele Arten von Macht in der Welt, Gawain«, sagte sie. »Viele Mächte.
Sie können genutzt werden, aber jede Macht hat ihre eigenen Gefahren. Ja, die Gefahren mancher Mächte sind so groß, mein Falke, daß du sie nicht verstehen könntest. Dennoch, der Lohn ist ebenfalls groß. Je größer die Macht, desto größer der Lohn.« Sie umklammerte plötzlich meine Hand. Ihr Griff war so kalt wie der Winter, so stark wie harter Stahl. »Großer Lohn, mein Frühlingsfalke. Ich habe mit gewissen Dingen bezahlt.« Sie lachte. »Und es wird mehr kommen, mehr zu bezahlen sein. Aber mein ist die größte Macht. Ich werde. Unsterblichkeit erlangen. Kein Lebender kann es mir jetzt in der Magie gleichtun. Ich habe Macht, mein Sohn! Ich habe sehr große Macht. Ich habe mit den Anführern der wilden Jagd gesprochen, mit dem Herrn von Iffern, mit den Kelpies des tiefen Meeres und mit den Dämonen, die in fernen, finsteren Tiefen der Unterwelt leben. Ich bin größer als sie. Ich bin eine Königin, Gawain, Königin eines Reiches, das Lot nur ahnt und vor dem er sich fürchtet. Und ich habe dich beobachtet, mein Falke. Es ist Macht in dir und Kraft. Jetzt endlich bist du gekommen und hast mich gebeten, dich zu lehren. Du wirst Lehren empfangen.«
Ich verspürte Angst, aber mir fiel Agravains Verachtung wieder ein, und ich schob die Angst beiseite. Morgas sprach davon, der Dunkelheit zu dienen, aber was war das schon? Sie sprach auch davon, die Dunkelheit, die Finsternis zu beherrschen.
»Dann zeig es mir«, sagte ich, und meine Stimme war genauso leise wie ihre.
»Nicht so schnell! Du vergißt, daß ich auch von Gefahren sprach. Ich will dich lehren, Gawain, aber es wird lange dauern, ehe du die Macht beherrschst, die du suchst. Dennoch wirst du es lernen. Oh, du wirst es lernen, mein Falke, mein Sohn.« Sie nahm ein Messer aus einer verborgenen Scheide und machte sich einen Schnitt am Handgelenk. Dann hielt sie den Arm so, daß das Blut in den Weinbecher floß. Sie reichte mir das Messer, und ohne daß sie etwas sagen mußte, tat ich das gleiche.
Morgas nahm den Becher und trank daraus. Sie senkte ihn wieder, und der rote Wein und das rote Blut waren dunkel um ihren Mund. Sie reichte mir den Becher.
Er war schwer in meinen Händen, feines Kupfer, überzogen mit Gold. Er war kalt, fein gearbeitet und wunderschön. Ich dachte an die Wintersonne draußen, an Agravain, an den Haß der Krieger. Eine Sekunde lang kam mir der Gedanke an den Gwalch und an die weite Reinheit der grauen See. Nein, dachte ich. Das ist eine Lüge. Ich hob den Becher langsam und trank ihn aus. Der Wein war dick, süß und dunkel - dunkler als das tiefste Herz der Mitternacht.