Kapitel 50

 

Peter fand Arpad Kreisler im Todestrakt, wo er mit erschöpfter Miene, die breiten Schultern eingezogen, vor der Gaskammer stand. Sein Drei-Tage-Flaum hatte sich im Laufe von ein, zwei Wochen zu einem richtigen Stoppelbart ausgewachsen. In dem alten Gefängniskomplex war er der Einzige, der so aussah, als wünschte er sich verzweifelt sonst wohin.

»Haben Sie das laufende Modell zum Teufel geschickt?«, fragte Peter. Da Arpad nicht reagierte, fasste Peter ihn am Arm, was sofort Wirkung tat: Die Knie des großen Mannes knickten ein, so dass er zur Seite fiel und gegen ein breites, gesichertes Fenster knallte. Bestürzt zog Arpad die buschigen Augenbrauen hoch und konzentrierte den Blick auf eine Stelle rechts von Peter, während er vor Entsetzen nach Luft rang. »Bist du ein Wärter?«, fragte er. Und gleich darauf, nach links blickend: »Wer bist du?«

»Sie werden hier doch alles schließen, nicht?«, fragte Peter. Schon das Reden kostete ihn die ganze Kraft. Nach dem Unfall war er nicht mehr derselbe. Seine Batterien waren nahezu erschöpft.

Arpads Stirn furchte sich vor Konzentration. Offenbar hatte sich Peter nicht verständlich machen können, denn Arpad reagierte nicht. Peter hätte ihn erwürgen können.

»Wo ist Weinstein?«, fragte er und streckte die Hand aus, um Arpad leicht auf den Kopf zu schlagen. Arpad schwenkte wie ein betrunkener Preisboxer herum, aber immerhin bewegten sich seine Lippen jetzt. »Weinstein«, wiederholte er, und sein Adamsapfel hüpfte dabei auf und ab. »Weinstein ist fort. Wärter haben ihn gestern geschnappt und hierher gebracht. In Gaskammer gesteckt. Seitdem hab ich ihn nicht mehr gesehen. Wer bist du?«

Peter hatte herausgefunden, wie er sich verständlich machen konnte: Er strich über Arpads Kehlkopf.

Unwillkürlich begannen sich dessen Lippen zu bewegen. »Peter«, sagte er. Als er ihn erkannte, bleckte er wie ein Affe die Zähne, während sich seine Augen zu Schlitzen verengten. »Peter Russell… Sind Sie das? Mein Gott, was ist passiert? Sind Sie…?«

Arpad gefiel Peters Aussehen ganz und gar nicht. Schwer zu akzeptieren, aber es war nicht zu verkennen. Konnte nur daran liegen, dass er aufgrund des Unfalls so kaputt und zerschlagen aussah. Er musste Stunden oder auch Tage im Krankenhaus verbracht haben, ohne dass er sich an irgendetwas erinnerte. Spielte ja auch keine Rolle.

Als Arpad zurückzuweichen versuchte, begann Peter an diesem kleinen Katz-und-Maus-Spiel Gefallen zu finden.

»Sie sollten von hier verschwinden«, warnte Arpad. »Es sind nur noch Wärter hier. Gefangene sind fort, sobald gestorben, aber Wärter kehren zurück. Hängen hier fest. Verrückt, wie?«

Peter brachte Arpad erneut zum Sprechen. »Schließen Sie das alles«, artikulierten die Lippen, worauf Arpad heftig nickte. »Auf jeden Fall. Sobald ich da reinkommen kann…« Er deutete auf die Gaskammer. »Wirklich widerlich. Idiotische Idee, Transponder dort aufzubauen, stimmt’s? Schwachsinnige Ausgeburt von Schülerhirn. Nichts als dümmliche Arroganz, Sie wissen schon.«

Allmählich bekam Peter den Dreh heraus. Durch Arpads Gegenwart fühlte er sich nicht mehr ganz so erschöpft. Er hatte ihn immer gemocht. Und das Gefühl gehabt, dass Arpad die Sympathie erwiderte. Der große Ingenieur konnte ihn inzwischen recht genau orten, wobei er die Stirn so heftig runzelte, dass die Brauen die Augen fast verdeckten.

Ruckartig verlagerte sich Peters Blickwinkel.

»Die Wärter lassen mich hier nicht mehr raus«, sagte Arpad in die Richtung gewandt, in der Peter eben noch gestanden hatte. »Die meisten unserer Angestellten sind vor ein paar Tagen davongelaufen, als es unerträglich wurde. Inzwischen sind alte Wachen überall, Tausende von ihnen. Können Sie mit denen sprechen – sie überreden, mich gehen zu lassen?«

Peter konnte sich vorstellen – vielleicht sah er es auch wirklich –, wie die Wärter die vorsintflutlichen Gänge des riesigen alten Gefängnisses füllten und dort wie Ratten in einem Käfig herumwuselten. Kapo-Ratten. Froh, die Erde und ihre Mauern hinter sich gelassen zu haben, waren die Gefangenen für immer verschwunden, doch die Wärter würden hier auf lange Sicht, bis zum Ende, ausharren.

Ihre Schicht endet nie.

Peter fasste nach Arpads kräftigem Hals. »Nein«, ließ Peter ihn sagen. »Schließen Sie das Netz.«

Arpad rieb sich die Kehle. »Ich werde es schließen, das verspreche ich«, erklärte er und lehnte sich gegen einen Pfeiler. »Wie steht’s mit Ihnen? Können Sie dort hinein? Ich würde ja nicht fragen, aber ich selbst…«

Peter blickte durch die dicke Glasscheibe in die Kammer hinein. Was er sah, ermutigte ihn keineswegs. Weinstein lag da drinnen, festgeschnallt an einen Tisch. Falls er noch lebte, zeigte er jedenfalls keine Anzeichen davon, er rührte sich nicht.

Irgendetwas, das so aussah, als bestünde es aus vermodertem grauem Plüsch, hockte auf Weinsteins Brust. Es erinnerte an einen mumifizierten Affen, den man auf recht schlampige Weise ausgestopft hatte. Über Weinsteins Kopf gebeugt, war es gerade dabei, dessen Augen mit weichen, schlaff wirkenden Fingern gewaltsam zu öffnen. Das uralte Affengesicht, das auf einem mit Feuchtigkeit benetzten, zähen Halsstrang saß, fuhr herum, um Peter durch das Glas direkt anzustarren – ohne zu zögern, ohne einen Zweifel daran zu lassen, dass er gemeint war.

Es hatte Weinsteins stechende Augen, Weinsteins einschmeichelndes Lächeln. Aus seinen Ohren sickerte irgendeine dunkle Flüssigkeit.

In einer Ecke der Kammer stand die Transponder-Anlage, Türme hoch empfindlicher Stahlboxen, das Herz von Trans. Ganz unten blinkten reihenweise grüne und blaue Lämpchen.

»Ich kann da nicht hineingehen«, betonte Arpad nochmals.

Auch Peter wollte da nicht rein. Er hatte keine Ahnung, welche Schmerzen ihn dort erwarteten und ob er überhaupt noch irgendwelche Schmerzen empfinden konnte. Doch ein Feigling war er nie gewesen.

Als er eine Hand gegen die Scheibe legte, merkte er, dass er ihre Kälte auch jetzt noch spüren konnte.

Erneut berührte er Arpads Kehlkopf, um ihn als sein Sprachrohr zu benutzen.

»Öffnen Sie die Tür«, sagte Arpad an seiner Stelle, verdrehte kurz die Augen, stemmte den Bolzen der schweren Stahltür hoch, die zur Gaskammer führte, und drehte am Rad. Peter war zwar nicht ganz sicher, ob er überhaupt durch die Tür musste, um hineinzugelangen, wählte aber trotzdem diesen Weg -Macht der Gewohnheit. Oder weil es ihm in seinem Traum nur folgerichtig vorkam.

Als der Affe seine mumifizierte Pfote hochstreckte, setzte er damit Schwaden eines Ekel erregenden Gestanks frei. Peter fand es erstaunlich, dass sein Geruchsinn selbst hier funktionierte. Manche Träume waren wirklich seltsam.

Aber ich träume doch gar nicht.

Der Torso des Affen, der Weinsteins Augen hatte, hüpfte in der engen, widerlichen Kammer auf und ab, während er schnatterte und ihm aus Maul, Ohren und Nase Dampf so gelb wie Eiter drang.

Es ist der Affe, der dir in Albträumen auf dem Rücken hockt. Oder auf der Brust.

Der Affe, der nur Hohn und Spott kennt, den Gefangenen nachts die Luft zum Atmen nimmt und tagsüber ihr Denken verwirrt…Er labt sich an ihrem Zerfall, an ihrer Qual, die sich im Todestrakt Woche um Woche verlängert.

Der Affe, der das Gift des Gefängnisses ausspuckt, auskotzt, mit seinen Fäkalien verteilt und dabei, so pervers das ist, noch wächst. Wie ein bösartiges Geschwür, das seine abscheulichen Krankheitsstoffe überall verbreitet.

Das Monstrum, das die Seele auffrisst. Der wahre Geist von San Andreas.

Bewaffnet mit einer rostigen Eisenstange, war Arpad am Eingang stehen geblieben. Wider jeden Rest von Vernunft und Urteilskraft machte sich Peter auf den Weg in die Kammer und zog damit die Aufmerksamkeit des Monstrums auf sich. Als es das Maul öffnete, war zu sehen, dass es weder Zähne noch Gaumen oder Kehlkopf besaß. Hinter den verschrumpelten Lippen wand sich etwas Schwärzliches hin und her.

»Es ist kein Telefon«, teilte ihnen der Affe mit Weinsteins Stimme mit und streckte den knochigen Zeigefinger hoch. »Bitte bezeichnen Sie es niemals als Handy.«

Arpad schwang die Eisenstange mit roher Gewalt gegen die Boxen, bis auch das letzte Lämpchen zu blinken aufgehört hatte.

Hastig eilte das Monstrum – halb rennend, halb rutschend – um den Tisch herum und verbreitete dabei einen so üblen Gestank, dass Peter zur Seite wich.

Als Weinstein sich wimmernd aufzusetzen versuchte, streckte der Affe, sofort alarmiert, seine riesige graue Pranke aus, um ihn wieder auf den Tisch zu drücken.

Arpad, dessen Arme mit Schattenfetzen übersät waren, die wie Blutegel aussahen, zog sich zurück. Als er die Blutsauger bemerkte, kreischte er auf wie ein kleiner Junge.

Peter verließ die Kammer, indem er die Glasscheibe durchstieß – ein Trick, der ihm zusagte. Der Affe jedoch konnte sich noch so sehr recken und strecken – und er war wirklich gut darin –, die Gaskammer konnte er nicht verlassen. Zusammen mit Weinstein hing er hier fest.

Allerdings schien es ihm nichts auszumachen. Er hob den Kopf und lachte, was entsetzlich klang. Sofern man es überhaupt irgendwie als Klang bezeichnen konnte.

Sie amüsieren sich wirklich prächtig.

 

 

Peter war müde geworden. Als er zu dem Spitzgiebel über der Gaskammer emporblickte, stellte er eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Lichthof von Jesus weinte fest. Einen Augenblick kehrte er dorthin zurück, war wieder im Herrenhaus, umgeben von durchlässigen Mauern, verwirrt, weil er den Himmel sehen konnte. Was war geschehen? Hatte es hier gebrannt?

Lordy Trenton höchstpersönlich spazierte durch die ausgebrannten, verlassenen Ruinen. Er trug den Zylinder und die flatternden Gamaschen, die ihn berühmt gemacht hatten – auf immer und ewig der versoffene, schlaksige Stutzer, der nichts zu Stande brachte. Unter Lordys wild wuchernden Augenbrauen gähnten leere Höhlen, irgendjemand hatte ihm die Augen herausgeschnitten. Mit seinen ausdrucksstarken Fingern, deren Kuppen mit den Jahren knotig geworden waren, ertastete sich der Blinde den Weg.

Ich hab mir mal wieder meine Sammelalben vorgenommen, teilte er Peter mit. Das waren noch Zeiten, stimmt’s? Als einem noch alle Leute, wirklich alle, zugesehen haben. Wer könnte ein solches Publikum je im Stich lassen?

Wie ein verletzter Hund kroch Michelle auf allen vieren hinter Lordy her. Sie lächelte Peter zu. Bei Sonnenlicht kommt’s wirklich besser zur Geltung, meinen Sie nicht auch?

Aber Peter konnte nicht bleiben.

 

 

Er war wieder zu Hause. Er kannte sich hier gut aus, wusste allerdings nicht, welchen Platz er in diesem Haus einnahm. Und obwohl seine Heimkehr etwas Tröstliches hatte, empfand er auch eine Spur von schlechtem Gewissen. Er konnte nicht klar denken, nicht einmal klar sehen. Die Ecken wirkten irgendwie verschoben. Das Licht war gleichförmig, barg aber Unvorhersehbares. Überall huschten Schatten umher – reale Schatten –, die völlig unerwartet aus dem Nichts auftauchten.

Offensichtlich hatte er nach all dem, was er durchgemacht hatte, schließlich einen Zug um die Häuser gemacht und sich voll laufen lassen – genauer gesagt: sich ins Koma gesoffen und damit allen bisherigen ausschweifenden, die Leber zerfressenden Sauftouren noch eins draufgesetzt. Aber es gab ja durchaus ein, zwei stichhaltige Gründe dafür, oder nicht? Ganz bestimmt. Die Zeit war wie im Nu verflogen und ihm völlig entglitten, genau wie damals, als er die Monate wie ein totes Labortierchen in einem Glasgefäß verbracht hatte: in Alkohol gelegt.

Das erklärte auch, warum sein Kopf nicht richtig funktionierte. Delirium tremens, der Säuferwahnsinn.

Er blickte auf das Schachspiel und setzte sich auf die Couch. Dachte daran, sich eine Tasse Tee zu machen. Das wäre immerhin ein schwacher Versuch, wieder nüchtern zu werden. Um auf angemessene Weise von dieser Welt zu scheiden. Auf angemessene Weise von dieser Welt abzuheben.

Eine junge Frau betrat das Haus. Peter beobachtete sie interessiert, dann alarmiert. Wer war sie? Was tat sie hier? Sie blieb kurz im Wohnzimmer stehen und ging danach in die Küche. Ein Mann in beigefarbenem Anzug folgte ihr.

Sie unterhielten sich über Versicherungen, irgendein Testament.

Es mussten wohl ein, zwei Jahre vergangen sein. Konnte Betrunkenheit derart lange anhalten? Jetzt erkannte er die junge Frau. Lindsey war schnell herangewachsen und auf dem besten Wege, sich zu einer richtigen Schönheit zu entwickeln, sogar noch reizender als ihre Mutter. Nicht nötig, sie zu stören, er würde sowieso keine große Hilfe sein. Genau wie Phil hatte er nie ein Testament aufgesetzt.

Aber sie sahen ihn auch gar nicht – und das war gut so. Peter hatte Verständnis dafür und fand es ganz in Ordnung. Die Dinge wurden langsam wieder normal.

Erneut sah er zu dem Schachspiel im Enzenbacher-Design hinüber, das auf dem Couchtisch stand. Ein silberner Springer, dargestellt als Privatdetektiv im Trenchcoat, setzte gemächlich über einen gespenstischen silbernen Bauern hinweg, um dort zu landen, wo er Peters Läufer bedrohte, der sich zu weit vorgewagt hatte. Das Spiel war recht weit fortgeschritten.

Peter beantwortete den Zug damit, dass er seinen Läufer, den verrückten Wissenschaftler, drei Felder zurückversetzte. Dabei merkte er, dass ihn jemand beobachtete.

 

 

Phil hockte ihm gegenüber am Tisch. Bleich und ausgezehrt zwar, dennoch unverkennbar. Und er hatte immer noch dieses Leuchten an sich, das an einen Sonnenuntergang erinnerte und gegebenenfalls ein ganzes Zimmer erstrahlen lassen konnte.

»Schön, dich zu sehen«, sagte Peter.

Phil nickte ihm herzlich zu.

»Wo bist du gewesen?«, fragte Peter.

Hier in der Gegend. Hab gewartet. Du bist ein viel beschäftigter Mann.

Phil streckte die Hand über dem Schachbrett aus. Peter konnte die Finger seines Freundes zwar nicht sehen, aber irgendwie schaffte es Phil, die silberne Dame in Form der Marsprinzessin Dejah Thoris so vorzurücken, dass sie ihre Gegner ernsthaft bedrohte. Wieder einmal musste Peter sich geschlagen geben: schachmatt. Aber er war froh, dass nicht er, sondern Phil gewonnen hatte. Phil, der ein schweres Leben und wenig Glück bei den Frauen gehabt hatte. Phil, der sein ganzes Leben lang viel zu kurz gekommen war.

So gut es ohne Körper und ohne wirkliche Berührung ging, tauschten sie einen Händedruck aus. Dabei streckten sie die Andeutungen von Daumen zu ihrer alten Siegesgeste hoch – V für victory –, die aus den Tagen stammte, als für sie die Welt noch neu und voller Abenteuer gewesen war.

Peters alter Freund hatte mit seinem Besuch mehr vor, als nur das Schachspiel zu Ende zu bringen. Wir sind fertig mit dem hier, wir müssen es aufgeben, Peter. Zeit für die tollkühne Cross-Country-Aussteiger-Tour der alten Knacker.

Peter versuchte es zu leugnen. Ich möchte Lindsey helfen.

Das hast du bereits getan. Mittlerweile fällt es einem schwer, die Erinnerungen festzuhalten. Glaub mir, es ist an der Zeit. Staub zu Staub. Lass all die wichtigen Dinge einfach los.

 

 

Peter blickt hinunter, sehr tief nach unten, und bemerkt das Leuchten des Sonnenuntergangs in seiner Körpermitte.

Das also ist es?

Phil nickt.

Peter ist bereit, und das überrascht ihn selbst, weil er sich so lange widersetzt hat. Jetzt kann er sich wieder daran erinnern. Widersetzt schon wegen all der Kämpfe, die es ihn gekostet hat, zur Welt zu kommen und am Leben zu bleiben, sich einzupassen und zu einem sozialen Wesen zu entwickeln, die Sache mit der Kunst durchzuziehen, zu heiraten und Kinder großzuziehen. Und das alles zu beschützen…

All die Frauen, die er geliebt hat, prächtige Körper und strahlende einladende Augen; all die Männer, mit denen er zusammengearbeitet und geredet hat, mit denen er sich die Hände geschüttelt und sich betrunken hat; die Filme und Tausende von Karikaturen; die undankbaren Bücher, für die er so geschuftet hat; seine Töchter, die beängstigend schnell und gleichzeitig zur Welt gekommen sind, schöne, runzlige rosa Babys, die ihn für immer verändert haben; die verwirrende und schmerzliche Liebe, die er für Helen, für Sascha und all die anderen empfunden hat. Er fragt sich, was sie jetzt wohl tun mögen, wen sie lieben, fühlt sich dabei einsam, von allem ausgeschlossen und verzweifelt daran. Aber das Wichtigste, das er jetzt deutlich, aber zu spät erkennt, ist die Liebe zu Helen, die ihm Kinder geschenkt und so sehr gelitten hat.

Schon recht lange hat er sich dagegen gewehrt, all das aufzugeben, und er wehrt sich immer noch. Verpflichtungen und Beziehungen, Leidenschaften, Eifersucht und Neid – all das ist ja den Lebenden vorbehalten. Und nur den Lebenden.

Es gibt noch einiges zu tun. So vieles ist noch nicht erledigt.

Phil will davon nichts wissen. Du hast den Fluss überquert, Peter. Sinnlos, das Boot weiter mitzuschleppen. Es wird dich nur niederdrücken.

So viele Bindungen ans Leben, so vieles, das es zu beschützen gilt. Jetzt ist der Kummer wieder da und mit ihm der letzte Stachel – die schmerzliche Erkenntnis, dass er nur noch sehr wenig Kraft in sich hat. Da ist so vieles, das er sich nicht mehr ins Gedächtnis rufen kann. Jetzt schon hat er sich halb aufgelöst, die Ränder verschwimmen bereits.

Es ist vorbei. Er kann nicht heimkehren, es gibt kein Zurück.

Schließlich beherzigt Peter Phils Rat und sucht nach dem, was ihn aus diesem Traum erlösen und das, was ihn hier fest hält, durchtrennen kann.

Wir alle sterben mit Hilfe dieses Tricks, verrät ihm Phil. Es ist so ähnlich wie beim Kükenembryo, das vorübergehend einen Zahn ausbildet, um sich durch die Schale zu picken. Kannst du’s spüren?

Peter kann es. An jenem Zufluchtsort funkeln Lichter. Er spürt, wie er in ein anderes Land hinüberwechselt.

Peter entspannt sich, wirft das Gepäck ab, lässt das Boot los.

Das Zimmer füllt sich mit strahlend schönem Licht, aber es ist niemand da, der es sehen könnte, diesmal nicht.

Wie es ja auch sein sollte. Manche Dinge behält man am besten für sich.

 

 

Und das ist die letzte ihrer Erinnerungen, die sich jetzt von ihnen lösen, wie abgestorbene Haut: wie sie noch ein Weilchen Schach spielen. Es ist ein lockeres Spiel, ohne viel Schwung, das sich in die Länge zieht, weil sie keine Mitte mehr haben. Nach und nach können sie sich nicht einmal mehr an das erinnern, was einen Augenblick zuvor geschehen ist. Die Augenblicke selbst dehnen sich zu unglaublich langen Zeitspannen. Die Dunkelheit hat sich mit Macht über sie gesenkt, es ist die vorletzte Phase im Prozess der Loslösung von dieser Welt, der Auflösung des alten Ich. Danach kommt das Nichts, und es kommt als Gnade.

Doch selbst jetzt noch ist das wenige, das von Peter übrig ist, darauf aus, Ausschau zu halten und nach Möglichkeit auch zu beschützen. Was von Phil geblieben ist, wird ihm nicht von der Seite weichen. Immer noch können sie irgendetwas ihr Eigen nennen, denn sie sind zusammen.

Die Schachfiguren, die wie Monster aussehen, lauern auf der einen Seite des Schachbretts, und ihre Gegner, die Gespenstern ähneln, auf der anderen.

Ich hab deinen Verteidiger geschnappt.

Und ich deinen.

Sie werden nicht kampflos abziehen.

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