Kapitel 48

 

Lindsey wusch sich das Gesicht und sah wieder recht präsentabel aus, als Helen klopfte, genauer gesagt mit der Faust gegen die Tür hämmerte. Sie war blass und wollte zu beiden nicht viel sagen, bedachte Peter jedoch mit finsteren Blicken. Lindsey blieb neben ihr stehen und wirkte dabei wie eine kleinere, schlankere Ausgabe ihrer Mutter, nur hatte sie Peters Augen und die weichen, glatten Haare seiner Mutter.

Als Helen von einem zum anderen sah und den Frieden der Erschöpfung spürte, den sie beide miteinander teilten, zogen sich ihre Augenbrauen zusammen. Den Blick auf Peter gerichtet, holte sie tief Luft. »Ich hab immer wieder angerufen, aber die ganze Welt geht zum Teufel. Ich weiß überhaupt nicht, was los ist, und dann verschwindet Lindsey auch noch. Ich bin vor Angst fast umgekommen.«

»Das tut mir Leid«, sagte Lindsey.

»Was geht hier vor? Was, zum Teufel, habt ihr beide getan?«

»Lindsey wird’s dir erklären«, erwiderte Peter. »Mir würdest du ja doch nicht glauben.«

Gleich darauf bemerkte Helen die Wunden an seinem Hals. »Mein Gott«, sagte sie, »hast du dir das in Salammbo geholt? Das wusste ich doch. Ich hätte hier sein müssen. Und du, Lindsey, hättest…«

»Wir sind gesund und munter«, fiel ihr Lindsey ins Wort. »Es ist vorbei, Mom.«

»Nicht ganz«, sagte Peter. »Ich muss ein paar Tage fort. Wenn ich zurück bin, werde ich jede Frage beantworten. Aber im Augenblick brauche ich ein bisschen Ruhe, ich fühle mich nicht besonders.« Sein Magen rumorte so heftig, dass er fürchtete, sich übergeben zu müssen. »Einverstanden?«

Helen sah so traurig und verloren aus, dass Peter beide Hände nach ihr ausstreckte und sie fest drückte. Sie zitterte wie ein verängstigtes Fohlen und ließ sich überraschend leicht und ohne jeden Widerstand von ihm umarmen.

Noch verblüffender fand er, wie gut es ihm selbst tat, diese schwache und zitternde – aber warme und lebendige – Helen zu umarmen.

»Ihr lasst mich alle beide außen vor, das hab ich nicht verdient«, schluchzte sie an seiner Schulter. »Ich möchte euch doch helfen. Ich hätte hier sein müssen, hier bei euch, aber niemand hat mich eingeweiht. Bitte schließt mich nicht aus.«

Peter, der immer noch ihren Rücken umfasste, blickte ihr forschend ins Gesicht. Zwar freute er sich über diesen Umschwung, genoss ihn jedoch nicht in vollen Zügen, da er den menschlichen Wankelmut nur allzu gut kannte. »Verdient hat das hier keiner von uns«, sagte er. »Und du am allerwenigsten.«

»Könnten wir uns nicht alle ein bisschen mehr Mühe geben? Könnten wir das tatsächlich schaffen?«, fragte Helen.

Peter nickte und ließ sie los, um Lindsey ein letztes Mal zu umarmen.

Der Abschied zog sich lange hin und war ein bisschen peinlich, weil so viele Wunden erst noch heilen mussten und die Zeit so knapp war. Sie reichte nicht, um all die Jahre wieder gutzumachen. Inzwischen war es Mitternacht. Während Lindsey hinter Helen über die Veranda und die Auffahrt hinaufging, winkte sie ihm zu. Sie winkte ihm mit der kindlichen Gewissheit zu, dass alles Schlimme ausgestanden war, sie ihren Vater bald wieder sehen und es bergauf gehen würde. Nichts konnte diesen Lebensfunken, diesen glühenden Optimismus, zum Verlöschen bringen.

Nicht einmal die Tatsache, dass sie soeben die Seele ihrer Schwester ins Jenseits geschickt hatte und Zeugin des schrecklichen Nachspiels geworden war.

Peter lächelte und winkte zurück.

 

 

Während er sich in die Küche setzte und ein Glas Eistee trank, war vom Windspiel auf der hinteren Veranda nichts mehr zu hören. In dieser warmen Nacht regte sich kein Lüftchen.

Um ein Uhr morgens packte er einen kleinen Koffer. Danach ging er in die Garage, um den Ölstand des Porsches zu überprüfen. Irgendwo unterwegs würde er tanken müssen.

Als er ins Schlafzimmer zurückkehrte, um den Koffer zu holen, sah er, dass jemand in seinem Bett lag und schlief. Die Gestalt wälzte sich herum und zog sich die Bettdecke vom fahlen bärtigen Gesicht, so dass die lustigen, vom Schlaf verquollenen Augen und die Lücke zwischen den Schneidezähnen zu erkennen waren. Der Kopf war so transparent, dass Peter das darunterliegende Kissen sehen konnte.

Der Mann im Bett setzte eine ebenso ungehaltene wie gelangweilte Miene auf. »Ihr Leute habt wirklich was fürs Fußende übrig, wie?«, fragte er. »Und es macht euch anscheinend Spaß, uns zu beobachten. Warum?«

Peter stieß den Koffer um, der hinter ihm stand, und schwankte leicht, bis er sein Gleichgewicht wieder gefunden hatte.

Das Bett war leer. Die Schlinge um ihn hatte sich zusammengezogen. Es würde ihm nur noch wenig Zeit bleiben.

Zu dieser Erkenntnis brauchte er keine Sandaji.

 

 

In der Atmosphäre, die ihn persönlich umgab, hatte sich etwas verändert. Als er die Hügel von Glendale und später auch Los Angeles hinter sich ließ und in den dunklen, frühen Morgenstunden durch die Weinberge fuhr, sah er die Welt mit anderen Augen.

Der Porsche fuhr bemerkenswert schnell. Gelegentlich war Peter sich kaum noch bewusst, dass er selbst ihn lenkte. Aufgrund der Erschöpfung hatte eine unbestimmte düstere Gelassenheit von ihm Besitz ergriffen; all seine Empfindungen, größtenteils auch seine Gedanken hatte er vorerst auf Eis gelegt. Trotzdem konnte er jetzt nicht irgendwo anhalten. Es lag noch eine weite Strecke vor ihm. Und eine letzte Angelegenheit, die er hinter sich bringen musste, wenn er je wieder Schlaf finden wollte.

Kleine Fische sind die Vorboten von Haien. Aber angesichts der unermesslichen Tiefe, die ihn umgab, waren die Haie womöglich die Vorboten weit größerer Schrecken.

 

 

Während er kurz vor Sonnenaufgang mit heruntergekurbelten Fenstern das ausgedorrte Ackerland von Central Valley durchquerte, den Duft von Wiesen, Wind und Erde in der Nase, blickte er zwischen dem Sternenhimmel und der schnurgeraden schwarzen Straße hin und her. In stetem Rhythmus flogen die weißen Markierungen der Mittellinie an ihm vorbei. Über den sanft gerundeten Hügelkuppen im Osten flackerten in regelmäßigen Abständen die Blitze eines Wärmegewitters auf, ohne dass Donner zu hören war. Als die Blitze ein dunkles Rot annahmen, sah es so aus, als stünde der ganze Himmel in Flammen und hätte sich aufgebläht.

Schatten, so groß wie Sturmwolken, legten sich über die Sterne und warfen ihre dunklen Ausläufer in Talsenken ab. Die Schatten wanderten über das Ackerland, um gleich darauf die Schnellstraße in die Zange zu nehmen, schwerfällig, aber zu allem entschlossen. Peter sauste unter ihnen hinweg. Als er nach links blickte, sah er, wie eines der riesigen Gebilde auf der Erde landete und wie ein ätherischer Wirbelsturm zu kreiseln anfing.

Mit eingezogenem Kopf fuhr er weiter. Nach Norden hin, über der Bay Area, war von den Sternen überhaupt nichts mehr zu sehen.

Wer würde je wissen, was sie wollten, wonach sie gierten? Der Wandel im Strom von Leben und Tod hatte uralte Nährstoffe an die Oberfläche gespült, Dinge aus unbekannten Tiefen emporstrudeln lassen, an denen sich diese seltsamen, riesigen Aasfresser laben konnten.

Bald würden weitere folgen. Besucher, die man Hunderte oder sogar Tausende von Jahren nicht mehr auf der Erde erblickt hatte, würden wiederkehren. Die vier apokalyptischen Reiter. Dunkle Gottheiten.

Die uralten Schutzwälle der Erde waren zusammengebrochen. Er hoffte nur, dass er das Richtige tat.

»Diese Scheiße muss aufhören.« Mit zusammengekniffenen Augen sah er wieder auf die Schnellstraße vor sich.

Zu spät. Sein Kiefer pochte. Gleich darauf schoss ihm der Schmerz in den Arm. Die Hände wurden ihm taub, die Finger verkrampften sich. Es kam ihm so vor, als zerrisse der Schmerz ihm die Brust. Das Lenkrad entglitt seinen Fingern und wirbelte herum, so dass der alte Porsche zur Seite schlitterte, sich überschlug, mehrmals auf dem Asphalt aufprallte, den Randstreifen durchpflügte und über eine Leitplanke flog.

Peter trieb wie ein Komet durch die Luft und zog dabei eine Leuchtspur hinter sich her, Spritzer des Lebenssaftes.

 

 

Als er eine Weile später verwirrt am Straßenrand stand, sammelte ihn ein zerbeulter, farbloser Pritschenwagen auf. Das aschfahle alte Fossil hinter dem Lenkrad lächelte: »Schade um Ihren Wagen. Ein Porsche 356 C, wie?«

Peter nickte nur, weil er nach wie vor kaum Luft bekam.

»Sieht schon toll aus, hat viel Schliff, von hinten wie ein Straßenschiff.«

Die Kinder, die auf der Ladefläche standen und ins Heckfenster glotzten, fingen an zu kichern. Da Peter seine Brille verloren hatte, konnte er seinen Wohltäter nicht deutlich erkennen.

»Was ich brauch, is’ Smoky Joe, ob verschnitten oder als Stumpen. Ha’m Se was für ‘nen alten Lumpen?«, sagte der Alte. »Lange Reise, harter Trip, Smoky öffnet dir den Blick.«

In der Fahrerkabine zeichneten sich wechselnde Lichtmuster ab, silberne Lichtstreifen, die hin und wieder aufflackerten. Bei den Worten des Alten und dem Licht fuhr Peter heftig zusammen. Die Kinder auf der Ladefläche beobachteten ihn neugierig und mit großer Anteilnahme.

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