Rügen und ihre kleinen Schwestern

Rügen

Ein Kreidefelsen an der stürmischen See, im gelben Rapsfeld ein Jagdschloss (Granitz) und ein paar weiße Bädervillen entlang einer Strandpromenade, dazu eine schmucke Seebrücke mit einem Haus drauf (Sellin), eine dunkle Dampfwolke eines kleinen schwarzen Zuges (Roland), die hinter einer Baumallee emporsteigt – fertig ist Deutschlands größte Insel: Rügen.

Im Sommer verbrachten meine Familie und ich die Wochenenden und die Ferien wahlweise in Binz (Lieblingsostseebad meiner Mutter) oder Göhren (Lieblingsostseebad meines Vaters). Ich schmiss im Wasser mit Quallen um mich, aß danach Eis aus einer muschelförmigen Waffel, die es im fernen Stralsund nicht gab, und wartete auf die Kinder, die kommen würden, um mich mit nach Sundevit zu nehmen. Immer und immer wieder las ich im Strandsand liegend das Buch Die Reise nach Sundevit (mein Bruder neben mir las: Ich, dann eine Weile nichts), in der Tim, Sohn eines Leuchtturmwärters, am Strand auf eine Gruppe von zeltenden Jungen und Mädchen trifft, die ihn einladen, sie nach Sundevit zu begleiten. Noch vor wenigen Jahren war ich der festen Überzeugung, dass Sundevit ein Ort auf Rügen sei, den es irgendwo zwischen Poppelvitz und Schabernack geben musste. Aber zwischen all den Namen, die mir auf der Insel so sehr gefallen, findet sich kein Sundevit.

Als ich zu jugendlich wurde, um mit meinen Eltern die Wochenenden in Binz zu verbringen, fuhr ich mit dem Fahrrad von Stralsund aus nach Altefähr oder Grahlefähr, um zu baden. Beide Orte befinden sich gleich hinter dem Rügendamm, Altefähr links und Grahlefähr rechts. Beides machte mich unabhängig, hatte aber den Nachteil, dass ich sehr weit ins Wasser gehen musste, bis es mir nicht mehr nur bis zu den Waden reichte. Wenn man nicht mit dreijährigen Kindern reist, die man bedenkenlos im Wasser spielen lassen möchte, empfiehlt es sich, weiter an die Küste zu fahren, wo dann auch das Meer ein Meer ist, denn das Meer-Meer befindet sich nicht gleich hinter der Rügenbrücke. Ebenso wenig der Kreidefelsen und das Jagdschloss Granitz (schöner Blick vom Turm über Rügen). Gleich hinter der Rügenbrücke muss man sich erst mal entscheiden, ob man den schönen oder den schnellen Weg nehmen möchte, ob man lieber auf dem Kopfsteinpflaster der berühmten alten Alleen durchgerüttelt werden will oder ob man die breite schnelle Straße nimmt, die einen in etwa fünfundvierzig Minuten zum Kreidefelsen bringt. Entscheiden Sie sich für die schönere Möglichkeit, so folgen Sie der Beschilderung nach Putbus, für die schnelle Variante nehmen Sie die Richtung Bergen.

Sobald ich einen Führerschein besaß, kehrte ich wieder in Binz ein. Es war irgendwie schick und ziemlich cool, dort Cocktails zu trinken und Rendezvous beim Binzer Italiener zu haben. Das war wie von Bad Tölz nach München fahren, nur dass es sich mit den Größenverhältnissen der Städte konträr verhält.

Mittlerweile ist Binz für mich nicht mehr Cocktail, nicht mehr Muscheleis, sondern Ulrich Müther. Nie war mir als Kind das UFO in Binz aufgefallen, das in Form eines Rettungsturms am Strand steht. Als ich eines Tages vor ihm stand und die Augen öffnete, sah ich eine Architektur, die mich sofort faszinierte, über die ich mir aber bis dato keine Gedanken gemacht hatte. Ich kannte den Teepott in Warnemünde, das Inselparadies in Baabe, die Ostseeperle in Glowe und auch die Seerose in Potsdam oder das Ahornblatt am Spittelmarkt in Berlin (2000 abgerissen), aber erst als ich mit Anfang zwanzig das UFO beziehungsweise den alten übergroßen Fernseher auf einem Sockel bewusst wahrnahm, ging mir ein Licht auf. Alle Bauten stammen von ein und demselben Architekten: Ulrich Müther, in Binz geboren und gestorben. Sonderbauten nannte man zu DDR-Zeiten seine Kunst. Geschwungene, hauchdünne Stahlplatten mit einer dünnen Spritzbetonschicht bilden seine Dächer über ziemlich viel Glasfront. Seine Modelle baute er aus Sand und Fischernetzen. Und wer sich für Architektur begeistern kann und von Giebelhäusern und gotischem Backsteinirgendwas genug hat, der sollte sich auf Müthers Spuren begeben.

Erwachsensein und Cocktails trinken wollten wir einerseits und andererseits jung sein und aus Büchsen essen. Zelten wurde in meiner Clique populär. Dabei entdeckte ich die beiden südlichen Halbinseln Zudar und Mönchgut im Südosten Rügens. Dort erlebte ich, dass man sehr wohl seine Ruhe auf Rügen haben kann und beim Spazieren entlang der Kornfelder keine Menschenseele treffen muss, dass es eben doch möglich ist, auf Rügen einen Strandabschnitt ganz für sich zu haben (Palmer Ort). Neben dem ruhigeren Zudar und dem ebenfalls weniger wuseligen Mönchgut, wo man die um 1400 von Mönchen errichtete Kirche in Middelhagen besuchen sollte, hängen am Rockzipfel des Mutterlandes Rügen noch zwei weitere Halb- und eine ganze Insel: im Norden das Windland Wittow mit dem Kap Arkona, im Nordosten die Halbinsel Jasmund mit den Kreidefelsen, und im Westen erreicht man über Rügen die eigenständige Insel Ummanz, die sich keine drei Meter über den Meeresspiegel erhebt.

Lange habe ich mit Rügen nicht richtig Freundschaft schließen können. Mir war die Insel zu wenig inselig, zu groß und zu touristisch. Doch mittlerweile habe ich Kreidefelsen, Rapsfeld, Bädervilla und Rasenden Roland einfach komplett gegen die Schönheit der ruhigen rügenschen Halbinseln und Ummanz eingetauscht und besuche und entdecke die größte Insel Deutschlands inzwischen sehr gern.

Andere Bundesländer haben Almen, wir haben Inseln. Wir sitzen nicht auf einem Berg und schauen ins Tal hinab. Wir schauen geradewegs geradeaus. Wir klettern nicht, wir lassen uns treiben.

 

Rügen gehört sozusagen in die touristische Europaliga, dorthin, wo die Konkurrenz Korsika heißt, Sardinien oder Bornholm. Die Stubbenkammer gehört nach Dover, wo jede anständige weiße Klippe hingehört. Im Übrigen ist Rügen eine Insel des 19. Jahrhunderts. Der Schmelz dieser Zeit ist viel stärker als die dünne Schicht DDR, die sich wie Patina über alles gelegt hat. (Aus: »Rügen, Hiddensee, Stralsund. Der Reisebegleiter« Tom Peuckert)

Hiddensee

Offiziell gilt Hiddensee als kleine Schwester Rügens. Wie alle kleinen Schwestern ist Hiddensee bildschön, ein bisschen wild, ein bisschen unterschätzt und Liebling vieler Tanten und Onkel. Zu den berühmtesten Tanten und Onkeln, die Hiddensee stets bevorzugt haben, gehörten unter anderem Gerhard Hauptmann – sein Haus ist mittlerweile ein Museum –, der dänische Stummfilmstar Asta Nielsen, Albert Einstein, Joachim Ringelnatz und die Malerin Henni Lehmann, die ihr Anfang der Zwanzigerjahre erworbenes Haus durch einen blauen Anstrich zur Blauen Scheune machte. Es ist das letzte erhaltene Rookhuus (Rauchhaus), in dem der Rauch nicht durch einen Kamin, sondern durch Löcher und Ritzen im Dach entweicht. Neben dem Hexenhaus der Baba Jaga zählte die Blaue Scheune zu den Traumhäusern meiner Kindheit.

Schon als ich noch klein war erschien mir die nur 19 Quadratkilometer große Insel wesentlich schöner und aufregender als Rügen. Nach Rügen reist man schnöde per Auto und ist von Stralsund aus in zehn bis fünfzig Minuten ziemlich genau da, wo man hin will, auf irgendeinem Großraumparkplatz, möglichst nahe dem nächsten Strand. Hiddensee, westlich von Rügen gelegen, erreicht man dagegen nur per Fähre oder, wer es schneller braucht, per Wassertaxi. Abfahrtshäfen sind Stralsund und Schaprode auf Rügen. Während der Überfahrt wird sich zwischen einem Paar Wiener und einem Apfelkuchen entschieden, dazu ein Käffchen und eine frische Brise an Deck, und irgendwer erklärt bestimmt irgendwem das Rezept der regionalen Spezialität, dem Schmoraal, den beinahe jede Hiddenseer Familie anders zubereitet.

Abgesehen von der Anfahrt, ist auch die Insel selbst sonderbar genug, um Kinder und Erwachsene gleichermaßen zu beeindrucken. Während Kinder auf eine seltsame Weise sofort in Verzückung geraten, wenn sie eine Kutsche mit vorgespannten Pferden sehen – und davon gibt es auf Hiddensee einige –, wundert sich der ein oder andere Erwachsene, dass er es tatsächlich ein paar Tage ohne sein Auto aushält und obendrein Wege von A nach B zurückzulegen vermag. Die Insel ist, abgesehen von einigen wenigen Versorgungsfahrzeugen, so autofrei wie zeltplatzfrei, womit zwei ungemein nervtötende Geräuschkulissen wegfallen.

A fashionable Badeort, nannte Billy Wilder die Insel, die von oben aussieht wie ein Seepferdchen. Gerhard Hauptmann forderte: Stille nur, damit es kein Weltbad werde!

Das fashionable Seepferdchen kommt im Sommer auf vier Touristen pro Einwohner. Neben einer Handvoll Hotels, die durchweg empfehlenswert sind, vermietet nahezu jeder der tausendsiebenundachtzig Insulaner im Sommer ein Zimmer. Dabei kann man es ganz besonders gut und auch sagenhaft schlecht treffen – wie immer im Leben. Dafür hat man auf Hiddensee eine ziemlich hohe Trefferquote, was gutes Essen und freundliche Bedienung anbelangt. Vielleicht die höchste in Mecklenburg-Vorpommern. Und man hat nachweislich die besten Chancen auf Sonne. Hiddensee belegt Platz 1 unter den sonnigsten und trockensten Orten Deutschlands (auch wenn Usedom etwas anderes behauptet).

Ich mag sowohl den Frühsommer besonders gern, wenn die Heckenrosen, der Ginster, der Flieder und die Kastanien gleichzeitig blühen und die ganze Insel duftet, als auch den Herbst, wenn Hiddensee von Hagebutten rot und von Sanddorn orange gepunktet ist und der Wind dazu schon kräftig Touristen weggepustet hat. Ich mag aber auch im Sommer die im lauen Wind flatternde Wäsche und die violett blühende Heide zwischen Vitte und Neuendorf, die von der vierhundert Schaf starken Inselherde im Zaum gehalten wird. Und natürlich mag ich erst recht den Winter, wenn die Insel noch stiller ist als ohnehin schon, keine Autos weit und breit, die durch den Matsch preschen, und ein gemütlicher Schnack beim Tee mit Rum lockt.

Auf dem 17 Kilometer langen und an manchen Stellen gerade mal 250 Meter breiten söten Länneken, wie es die Einheimischen nennen, zwischen Ginster, Heide und Hagebutte, Meer und Leuchttürmen, Fischkuttern, Wind und Wetter und Trampelpfaden gibt es vier Orte. Das südlichste und gänzlich unter Naturschutz stehende Fischerdorf ist Neuendorf, der Ort, in dem einst der größte Wikingergoldschatz Deutschlands geborgen wurde. Aus der Ferne sieht es manchmal ein bisschen so aus, als hätte jemand eine weiße Perlenkette im Gras verloren. Hier stehen weiße Reetdachhäuser, den Eingang nach Süden gerichtet, auf grünen Wiesen, ohne Zäune, ohne fest angelegte Wege. Südlich von Neuendorf befindet sich ein bedeutendes Vogelschutzgebiet, das für die Öffentlichkeit nicht zugänglich ist.

Sechs Kilometer weiter nördlich und trotzdem einen anderen Dialekt sprechend, bewohnen sechshundert Hiddenseer den größten Ort: Vitte (sprich: Fitte). Hier befindet sich das Rathaus, eine Seebühne, der einzige EC-Automat und das älteste noch erhaltene Haus der Insel, das Zeltkino, das Hexenhaus sowie die Asta-Nielsen- (rund) und Henni-Lehmann-(blau) Häuser. Außerdem können hier im Inseldrogeriemarkt Kiek in Handwagen geliehen werden, die Kinder gerne zur persönlichen Kutsche mit ganz persönlichen Pferdchen machen.

Nördlich von Vitte liegt Kloster, der Kopf, das kulturelle Zentrum. Hier befinden sich die Inselkirche, der Inselfriedhof, das Heimatmuseum und das Wahrzeichen Hiddensees, der 28 Meter hohe Leuchtturm Dornbusch. Der Blick von dort oben ist natürlich beeindruckend schön, aber auch ein Blick nach unten lohnt sich. In der näheren Umgebung des Leuchtturmes kann man unter der Grasnarbe noch eine Ascheschicht erkennen, die aus dem Jahr 1628 stammt, als Wallenstein angeordnet hatte, den Eichenmischwald niederzubrennen. Die Dänen sollten nicht auf die Idee kommen, die Insel für Naturholzgewinnung zu missbrauchen. Am Nordrand Klosters erhebt sich auf einer Anhöhe die Lietzenburg (Lietze heißt Ente), eine Villa, die der Berliner Maler Oskar Kruse (18471919) errichten ließ und die fortan als Treffpunkt für Maler und Dichter diente.

Das vierte, kleinste und älteste Dorf, Grieben, erstreckt sich über die Südostabhänge des Dornbuschhochlandes im Norden. Während Grieben für Touristen ländliche Idylle und slawische Felsmauern bedeutet, denn so steht es im Reiseführer, ist es für mich immer eine einzige Champignonwiese gewesen, auf der zwischen den ganzen Pilzen hier und da auch mal ein Haus stand. Sylt? Wer die eine Insel mag, muss die andere nicht mögen.

 

Zum Mitreden: Der Inselklatsch behauptet, dass Nina Hagen – Hoch stand der Sanddorn am Strand von Hiddensee… Micha, mein Micha und alles tat so weh… Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael – eine Affäre mit dem Inselarzt Michael gehabt haben soll.

Fischland-Darß-Zingst

Die Halbinsel Fischland-Darß-Zingst zwischen Rostock und Stralsund ist eine schmale lang gezogene Sandbank, die stetig von Meer und Wind weiter ausgefranst und verändert wird. Sie bietet neben ihrer natürlich schönen Kulisse aus Strand, Urwald, Moor und Boddenlandschaft etliche Statisten, die ihre Badegäste einzigartig in Szene setzen.

 

Zeesboote: Dickbäuchige Schiffe aus Eichenholz mit rotbraunen Segeln. Sie dienten seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert der Fischerei in den flachen Boddengewässern. Ihre Segel wurden damals zur besseren Haltbarkeit mit einer Mischung aus Öl, Ochsenblut und Erde getränkt, um sie haltbarer zu machen. Ein an Bug und Heck befestigtes Schleppnetz (Zeese) wurde über den Grund gezogen, während das Boot quer vom Wind getrieben über das Wasser glitt. Da die Ausbeute dieser Art des Fischfangs oft nicht für den Lebensunterhalt ausreichte, bewirtschafteten viele Zeesboot-Fischer nebenbei Land, weshalb sie auch Bauernfischer genannt wurden. Anfang der Achtzigerjahre wurde die Zeesenfischerei eingestellt. Heute werden in einigen Häfen, zum Beispiel in Wustrow und in Born, Rundfahrten auf einem Zeesboot angeboten.

 

Delfine: Delfine in Deutschland? Selbstverständlich! In Mecklenburg-Vorpommern. Zwischen dem Darß und Hiddensee brachten sie die Forscher zuletzt 2007 zum Staunen.

 

Die Teeschale: Tee gehört zu Norddeutschland wie After Eight zu England. Und besonders schön ist das Teetrinken in der Prerower Teeschale, einem denkmalgeschützten Fischerhaus, das zu DDR-Zeiten als Milchbar fungierte, aber seit dem Verkauf, der Restaurierung und Neueröffnung 1999 mit über hundertdreißig Sorten Tee aufwartet. Die Teeschale ist einer der wenigen Orte, an dem mich selbst getöpferte Keramik wirklich rührt. Zwischen alten Dielen und Lehmwänden werden darin Tee und darauf selbst gebackener Kuchen und kleine Gerichte aus biologischem Anbau serviert.

 

Schiffswracks: Wie auf einem Parkplatz sollen sie vor der Darßer Küste nebeneinander auf dem Meeresgrund im Schlick liegen, dicht an dicht. Koggen, Kutter, Kanonenboote, von Algen überwuchert, von Muscheln verziert, von Fischen und Krebsen bewohnt. Insgesamt sind mehr als siebenhundert Fundstellen mit Schiffswracks in den Küstengewässern von Mecklenburg-Vorpommern bekannt; das macht siebenhundert versunkene Geschichten. Sie beherbergen nicht nur wie im Fall der Darßer Kogge aus dem 13. Jahrhundert Fracht, die aus Dachziegeln, norwegischen Wetzsteinen, Stockfischen und Rentiergeweihstücken besteht, sondern auch den Schiffswurm Teredo navalis, der die Wracks leider schrittweise zerstört.

 

Windflüchter: Bäume mit windschiefen Kronen. Diese Sturmfrisuren werden derzeit von der Jugend mit Gel zu imitieren versucht. Überhaupt ist Mecklenburg-Vorpommern ein Trendsetter im Frisurenbereich. Die Trends sind von der Natur nur schon – typisch Mecklenburg-Vorpommern – viele Hundert Jahre zuvor gemacht worden. Nun erst setzen sich die meck-pommerschen Frisuren langsam aber sicher durch. So ließ sich unter anderem der Tokio-Hotel-Sänger Bill Kaulitz vom meck-pommerschen Dünengras für seinen Look inspirieren.

Türen: Die Türen der alten Kapitäns- und Fischerhäuser sind geschnitzt und in winterlicher Ruhe von den Fischern bunt bemalt worden. Jede Tür zeigt florale Muster und eine Sonne, das Symbol für die glückliche Heimkehr der Fischer. Zu diesen bunten Türen führt oft ein schöner Garten mit alten Bauernblumen. Sollte man unbedingt einen Blick hineinwerfen!

 

Seemannskirche: Selbstverständlich bin ich dem ganzen Drum und Dran der Seefahrerromantik gnadenlos verfallen. Allein das Wort Seemannskirche beflügelt meine Phantasie. In Prerow ist eine zu finden, mitten im bewaldeten Land, erbaut 1728. Ein Backsteinbau mit Holzturm. Darin eine maritime Sammlung von Schiffsmodellen und -bildern. Der venezianische Kronleuchter wurde von einer Mannschaft zum Dank für den glücklichen Ausgang einer Strandung gespendet. Der Innenraum ist in den Meeresfarben Grau, Grün und Blau gehalten. In Küstenkirchen wurde oft gebetet: O Herr, segne unseren Strand. Und tatsächlich werden immer wieder Waren angespült. So kamen die Meck-Pommer zu DDR-Zeiten manchmal in den Besitz unerlaubter Produkte. Angespültes Strandgut muss übrigens unverzüglich gemeldet werden, sonst macht sich der Finder strafbar.

 

Strandmuscheln: Eine Pest, diese kleinen Iglus, wenn auch – zugegeben – ganz praktisch. Strandmuschel an Strandmuschel, rot, gelb, blau. Nur die Coolen sitzen im Strandkorb oder liegen plain auf einem Handtuch. Alle anderen hocken in ihren Strandmuscheln.

Vögel: Man muss nicht in Städte wie Mailand oder Krakau fahren, um viele, viele Vögel zu sehen. So wie die Marktplätze europäischer Großstädte von Tauben bevölkert und zugekackt werden, können Sie in den flachen Boddengewässern der Fischland-Darß-Zingst-Halbinsel etwa siebzig verschiedene Vogelarten beobachten, die auf den Salzwiesen und -weiden ihr Paradies gefunden haben. Das Geklapper der Störche und ein knapp verfehlter Möwenschiss gehören in Mecklenburg-Vorpommern immer dazu.

 

Künstler: Strohhüte mit blauem Band, darunter silbernes Haar und open minded. So stolziert der ein oder andere Künstler über die Halbinsel und macht einen für einen Augenblick vergessen, dass es Blackberrys und iPods gibt.

Usedom

Was auf Rügen sächselt, berlinert auf Usedom. Seit rund hundert Jahren gilt die Insel als Badewanne Berlins. Vorne Ku’damm, hinten Ostsee, lästerte Tucholsky.

Ick setz mir in die Bahn rinn und bin ruckizucki da. Das dachte schon Marlene, und das sagte auch Frau Olfe, mit der ich einmal das Zugabteil teilen durfte. Frau Olfe fährt im Sommer jedes zweite Wochenende nach Ahlbeck, mal ohne ihren Herrn uff de faule Haut lejen, wa?! Am Wochenende dazwischen ist sie mit ihrem Herrn im Schreberjarten und ackert.

Und der Herr will nie mit?, fragte ich.

Der kennt die Seebrücke nur aus Pappa ante portas. Dit kann von mir aus och so bleiben, dafür bring ick ihm ne Stange Kippen mit, wenn ick mit meine Freundin mit dem Auto hochfahr. Ich denke, dass Frau Olfe die Kippen in Polen kauft. Usedoms Autokennzeichen verrät: Polen ist nah; OVP – Ort vor Polen. Und jeder, der in Ahlbeck auf der ältesten Seebrücke übers Wasser geht wie Moses, der fährt auch manchmal für ein oder zwei Stangen Kippen rüber nach S´winoujs´cie (deutsch: Swinemünde). Ich kann mich an den Stau an der Grenze hinter Ahlbeck erinnern, denn auch ich stand Anfang der Neunziger dort, um eine raubkopierte Queen-Kassette und eine anderthalb Meter lange Lakritzstange zu erstehen. Jedoch verlor man in meiner größtenteils Nichtraucherfamilie schnell das Interesse am Polenmarkt, und mein rauchender Bruder bekam von den Billigzigaretten Gott sei Dank Kopfschmerzen. Erschreckend, wie bald für die Meck-Pommer Polen zu POLEN wurde, zum rückständigen sozialistischen POLEN. Die westliche Erhabenheit griff schnellstens um sich. Beleidigt schaut der Meck-Pommer, wenn man sagt, ihr seid doch da schon Polen. Nein, wir sind Westen – die sind Polen. Wir sind Westen. Auch wir sind Deutschland. Zwar leben wir zusammen auf einer Insel, aber die gleichen Zigaretten rauchen wir nicht, nicht immer.

Auch wenn der polnische Anteil nur 72 von 445 Quadratkilometern beträgt, begann doch alles auf polnischer Seite, in Swinemünde. Anfang des 20. Jahrhunderts mauserte es sich zum größten deutschen Ostseebad und zum Verwaltungszentrum Usedoms. Dreiundvierzigtausend Badegäste zählte Swinemünde 1928.

Frau Olfe nutzt nun auf deutscher Seite die Corporate Identity der Usedomer Seebäder, die meck-pommerschen High Qualitys – Entspannung, Ruhe und Natur. Ich wollte ihr Tipps geben, wo die Insel weniger überlaufen, aber nicht weniger schön sei, noch mehr High Qualitys sozusagen, aber sie winkte ab. Sie wollte es haben wie eine Ölsardine. Sie hatte es gerne voll und fuhr extra am Wochenende und extra in eines der drei Kaiserbäder. In den drei Kaiserbädern Ahlbeck, Bansin und Heringsdorf flanierten, so wie sie, einst auch die Zarenfamilie und andere Berühmtheiten, die in der würzigen Seeluft zu genesen hofften. Maxim Gorki ließ sich in der Villa Irmgard nieder, blieb über ein Jahr auf Usedom und bekam Besuch von treuen Freunden, gerne von Tolstoi. Da Tolstoi dem Adelsgeschlecht entstammt, ist davon auszugehen, dass er, würde er seinen Freund Gorki heute noch auf Usedom besuchen, nicht auf einem der größten Campingplätze Europas (in Ückeritz) nächtigen, sondern zum Beispiel im Upstalsboom Hotel Ostseestrand. Gorki und Tolstoi würden auf der Flucht vor Paparazzi über das Stettiner Haff rudern und in einer der unbekanntesten Regionen Deutschlands, der Ueckermünde Heide, spazieren. Eine Wald- und Heidelandschaft, von der sich die Lüneburger Heide noch eine Scheibe abschneiden könnte.

Klar klingt dit schön, wenn Frau Olfe ihre Freundin oder dem Herrn sagen kann: Ick komm gerad ausm Kaiserbad, aber ich wünsche mir, dass die Olfe-Frauen aus Berlin und woher auch immer sie kommen mögen, auch mal das Achterland (achtern – hinten) der Insel kennenlernten, die Haffküste Usedoms mit Trockenwiesen und Feuchtbiotopen. Oder den Lieper Winkel, die kleine Halbinsel zwischen Peenestrom und Achterwasser – eine Weltabgeschiedenheit mit in sich gekehrten Dörfern, wo die Menschen noch in den breiten Schilfgürtel steigen, um Rohr für die Dächer zu schneiden, wo die Orte sagenhafte Namen tragen wie Rankwitz oder Quilitz.

Oder Frau Olfe sollte mal die kleineren beschaulicheren Seebäder im Nordteil Usedoms besuchen. Da böte sich zum Beispiel Kölpinsee an, wo man noch mit dem Fischer klönen kann. Kölpinsee hat zwar nicht das mondäne Flair der Kaiserbäder, besaß aber einst durchaus Glamour, als in den Dreißigern die UFA-Stars hier ihre Ferien verbrachten, bis die Nazis das dunkelste Kapitel in Usedoms Geschichte aufschlugen und in Peenemünde eine Heeresversuchsanstalt bauten. Dort entstanden Hitlers Raketen. Wissenschaftler entwickelten in Peenemünde das erste Flugobjekt, das die Grenze zum Weltall durchstieß. Eine Sternstunde der Raumfahrt, aber auch der Beginn des Einsatzes von Raketen als Massenvernichtungswaffen.

Wissen Se denn, warum Usedom Usedom heißt?, fragte meine Zugbekanntschaft.

Nee!

Als ein paar Leute gemeinsam nach einem Namen für dit Land suchten, fiel niemandem etwas ein, bis einer die Contenance verlor und rief: O so dumm. Osodum, wiederholte sie mit einer anderen Betonung, damit ich den Zusammenhang begriff.

Ah ja, sagte ich. Osodum – Usedom, verstehe.

Frau Olfe klatschte in die Hände.

Usedomer Salzhütten:

Zur Förderung der Strandfischerei wurden entlang der Usedomer Küste Anfang des 19. Jahrhunderts fensterlose und reetgedeckte Salzhütten errichtet. Sie dienten der Lagerung von subventioniertem Salz, mit dem die Fischer dort zur Heringsfangzeit, ihren Fisch konservieren konnten. Dies sicherte der armen Inselbevölkerung ein Einkommen. Im frühen 20. Jahrhundert, als das Konservierungsverfahren in Dosen Einzug hielt, ging die Heringsalzerei merklich zurück. Die Salzhütten verfielen oder wurden von den ansässigen Fischern als Lagerräume für ihre Netze benutzt. Heute sind die noch erhaltenen Salzhütten weitestgehend restauriert. Einige sind in Privatbesitz (zum Beispiel in Zempin), andere werden touristisch genutzt. Bei den Koserower Salzhütten handelt es sich um einen Komplex aus fünfzehn Hütten, darunter Museum, Souvenirgeschäft, Räucherfischbude und Restaurant. Apropos Restaurant. Beim Blick auf die Internetseite der Koserower Salzhütte (www.koserower-salzhuette.de) fiel mir auf, dass es unter meck-pommerschen Lokalitäten offenbar zum guten Ton der Werbung gehört, einen eigenen Song zu haben. Auf der Seite der Stralsunder Fähre (www.zurfaehre-kneipe.de) blinkte mich eines Tages blau an: Jetzt den Fähresong runterladen. So hat auch die Koserower Salzhütte einen vom Schifferklavier begleiteten Salzhüttensong parat – was gar nicht verwundert, wenn man sich auch mit dem Rest der marketingperfekten Online-Preisung des Restaurants beschäftigt. Die geht so:

In der Luft liegt das Aroma von Meer und Sand (eine besondere Gabe der Meck-Pommer: Sie können Sand riechen), der Gedanke von Kiefernadeln und Salz (sehr verbreitet in Mecklenburg-Vorpommern: der Kiefernadelgedanke), der Duft von Holz und Feuer (beliebt bei den Meck-Pommern: Feuerduft).Über dem bemoosten Reetdach der Hütte schwebt der Gedanke an vergangene Zeiten, Fischer und frischen Räucherfisch (ebenfalls schwebt über dem bemoosten Reetdach die Verwunderung)Wer weniger Zeit hat und den Genuss nicht missen möchte, kann sich in der hauseigenen Räucherei mit frischem Räucherfisch und Fischbrötchen eindecken (Wer sich mit Fischbrötchen eingedeckt hat, sollte zu seinen Mitmenschen einen kleinen Mindestabstand wahren). In der Bar kann der Besucher dann den Tag bei geistigen oder nicht alkoholischen Getränken ausklingen lassen.

Ein geistiges Prosit auf diese Marketing-Meisterleistung! Da lob ick mir dit alte Berliner Werbeplakat, das für Usedom mit: Uff’m Wasser loofen geworben hatte. Dit war mal dschenial!

Vilm

Film ist ein faszinierendes Medium. Weil er den Zuschauer in eine andere Wirklichkeit entführt, in die er nicht eingreifen kann. Der meck-pommersche Vilm bietet seinem Publikum genau das. Eine Mischung aus dem Film Into the wild und der Serie Lost.

Pro Tag kann sich eine begrenzte Anzahl angemeldeter Touristen (etwa dreißig) von Lauterbach auf Rügen mit MS Julchen übersetzen lassen (Reservierung unter 03830/161896), um für 15 Euro Wildnis auf einer einsamen Insel zu besichtigen. Lost-Feeling für etwas mehr als neunzig Minuten, die die geführte Wanderung über das 94 Hektar große, seit 1936 unter strengem Naturschutz stehende Eiland dauert. Zwischen 1960 und 1990 fuhren schwarze Limousinen im Hafen von Lauterbach vor und ließen ein paar Hohe Tiere heraus, die sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit auf der verbotenen Insel tummelten. Für die Normalsterblichen war Vilm während dieser Jahre gänzlich gesperrt. Elf reetgedeckte Häuser in Weiß-Braun entstanden zur Erholung von DDR-Funktionären. Heute sind die Häuser in einem freundlichen Gelb-Blau gehalten und werden von Forschern und Wissenschaftlern genutzt. Im ehemaligen SED-Gästehaus hat sich die Internationale Naturschutzakademie niedergelassen. Lost-Kenner dürften sich an die Dharma-Initiative erinnert fühlen.

Zu anderen Zeiten diente Vilm als Witwensitz der glorreichen Gräfin Sophie Wilhelmine zu Putbus, die hier das Frühjahr und den Sommer mit ihren Söhnen und Kühen, Schweinen und Pferden verbrachte.

Mitte des 19. Jahrhunderts dann wirkte die Insel auf viele Maler anziehend. Über dreihundert von ihnen bauten hier ihre Staffelei auf und wurden von Förster Witte mit Hasenbraten verköstigt. Dieser Jahre wird vom Spitzenkoch Knobloch Ostseeschnäpel und Boddenbarsch serviert, allerdings nur ausnahmsweise und auch nur für Prinz Charles, als der einmal auf der Insel nächtigte.

Privatmenschen ist das Privatbetreten der Insel untersagt, nur als geführter Tourist darf man auf einem festen Weg durch Goldrute, fette Henne, duftende Schlehen, mannshohen Adlerfarn wandeln, zwischen Wildobstbäumen, Wildrosen, Weißdornsträuchern. Die Natur wird sich selbst überlassen, etwa wie in einem Improvisationsfilm à la Blair Witch Project . Der Mensch spielt keine Rolle. Er darf nur zuschauen. Auf Schritt und Tritt muss er dem Werden und dem Sterben ins Auge schauen und darf nicht eingreifen, nichts in Ordnung bringen, kein Happy End konstruieren. Im Urwald auf Vilm gibt es siebzigmal mehr Totholz als im normalen Wald. Auch Bäume haben ein Schicksal, stürzen vom Steilufer kopfüber in den Tod oder verbleiben irgendwo wie ein Cliffhanger. Sie knicken ein, sie entwurzeln, sie wachsen und erblühen. Vilmbäume sind Stars zum Anfassen.

Die Tage, die Erich Honecker auf dem Honecker-Island verbrachte, kann man im Übrigen an einer Hand abzählen.