13.
Nachdenklich betrachtete Beatrice ihr Spiegelbild. Es war seltsam fremd, dieses glatte Gesicht, umrahmt von kurzen blonden Haaren. War es wirklich das Gesicht eines Mannes? Konnte sie die Gelehrten, die Diener, den Emir auf Dauer wirklich täuschen? Ohne jeden weiblichen Schmuck, ohne Schminke - vielleicht. Mit Bartwuchs wäre es sicher authentischer gewesen, doch der ließ sich nun mal nicht so einfach herbeizaubern wie ein anderer Haarschnitt.
Der Schreiber des Herrschers hatte ihr ein Zimmer in einem Nebengebäude des Palastes zugewiesen, in dem sie fortan wohnen sollte. Auch einen Diener sollte sie zugeteilt bekommen. Sie wandte sich vom Spiegel ab und trat an das Fenster. Wenn sie hinaussah, konnte sie direkt gegenüber die vergitterten Fenster des Harems erkennen. Eigentlich hätte sie dort wohnen müssen, unter den anderen Frauen. Stattdessen hatte sie sich in eine ihr völlig unbekannte Männerwelt hineingeschmuggelt. Sie wusste nur das, was sie bislang von anderen Frauen gehört und was Malek ihr in der Nacht erzählt hatte. Es waren interessante Details, spannende Geschichten, ausreichend, um in einem Roman Erwähnung zu finden. Aber es war viel zu wenig, um hier zu leben - als Mann.
Mein Gott, worauf habe ich mich nur eingelassen, dachte sie und stützte sich schwer auf den Fensterrahmen. Hinter einem der Gitter am gegenüberliegenden Gebäude nahm sie eine Bewegung wahr. Sie wurde beobachtet. Offensichtlich hatten die Frauen in Subuktakins Harem ebenso wenig zu tun wie die in Buchara. Vielleicht sogar noch weniger, wenn er wirklich so asketisch lebte, wie allgemein erzählt wurde. Langeweile machte erfinderisch - in jeder Hinsicht. Beatrice trat vom Fenster zurück. Sie wollte den Frauen dort drüben keinen unnötigen Gesprächsstoff liefern.
Nachdenklich wanderte sie durch den bescheiden, aber geschmackvoll ausgestatteten Raum. Was sollte sie nur sagen, wenn ihr Diener morgens kam, um sie zu rasieren oder gar zu waschen? Wenn sie - wie es durchaus üblich war - von anderen Männern ins Bad eingeladen wurde? Wie lange konnte sie die Täuschung aufrechterhalten? Einen Tag? Zwei? Und dann? Sie brauchte keinen Abschluss in Soziologie oder arabischer Geschichte und auch keine hellseherischen Fähigkeiten, um diese Frage beantworten zu können. Sie würde sich auf dem Schafott vor ihrem Henker wiederfinden und sich eingestehen müssen, dass die ganze Geschichte ziemlich blödsinnig und das Ende vorhersehbar gewesen war. Beatrice wurde übel. Bestimmt gab es noch andere Möglichkeiten, mehr über Michelle herauszufinden. Wenn sie doch nicht so ungeduldig gewesen wäre. Sie hätte nur etwas länger darüber nachdenken müssen. Ihr wäre mit Sicherheit etwas eingefallen.
Es klopfte an der Tür.
»Herein!« Beatrice gab sich Mühe, ihre Stimme so forsch und herrisch klingen zu lassen, wie man es von einem gelehrten Mann am Hofe des Emirs erwarten konnte.
Ein Diener trat ein. Er war höchstens Mitte zwanzig und sah geradezu unverschämt gut aus.
»Ich heiße Euch am Hofe des Emirs willkommen, Herr«, sagte er mit einer wohlklingenden Stimme. »Mein Name ist
Yassir, Herr. Auf Befehl unseres edlen Herrschers stehe ich Euch fortan als Diener zur Verfügung.«
»Ja, gut, danke«, stammelte Beatrice und räusperte sich. Sie musste sich Mühe geben, den jungen Mann nicht ungebührlich lange anzusehen. Fast sehnsüchtig dachte sie an Se~ lim, den alten, buckligen und humpelnden Diener Alis mit dem schütteren Haar und dem zahnlosen Mund. Warum hatte man ihr nicht so einen Diener zuteilen können? Musste das Schicksal sie immer auf eine derart harte Probe stellen? »Der Schreiber sagte, ich solle hier warten ...«
»Ja, Herr. Doch ich komme, um Euch mitzuteilen, dass Abu Rayhan jetzt gewillt ist, Euch zu empfangen. Und sofern Ihr bereit seid, werde ich Euch zu ihm bringen.«
Yassir verneigte sich.
Torfkopf!, beschimpfte Beatrice sich. Wäre Yassir eine hübsche junge Frau, würdest du dich nicht scheuen, ihn anzusehen. Also willst du nun einen Mann spielen oder nicht?
»Yassir?«
Der junge Mann richtete sich wieder auf und sah sie fragend an.
»Ja, Herr, habt Ihr noch einen Wunsch?«
»Bevor du mich zu dem weisen Abu Rayhan geleitest, möchte ich noch etwas klarstellen«, sagte Beatrice. »Ich weiß nicht, ob man dich darüber in Kenntnis gesetzt hat, dass ich in diesem Land fremd bin. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass ich hin und wieder gegen eine Sitte verstoße oder mich in irgendeiner Weise ungeschickt verhalte. Solltest du einen solchen Fehltritt bemerken, so bitte ich dich, Nachsicht mit mir zu üben und mich auf meinen Irrtum aufmerksam zu machen. Außerdem wünsche ich, dass du mich in die besonderen Gepflogenheiten am Hof einführst. Wie du weißt, gibt es überall Persönlichkeiten, deren besondere Vorlieben unter allen Umständen berücksichtigt werden müssen.«
»Sehr wohl, Herr, ich verstehe«, erwiderte Yassir und verneigte sich erneut. Ein breites Lächeln lag auf seinem Gesicht. »Ich werde mich zur gegebenen Zeit daran erinnern. Ihr könnt Euch ganz auf mich verlassen.«
»Ich danke dir«, sagte Beatrice und lächelte ebenfalls - vor Erleichterung. Das schien doch viel einfacher zu sein, als sie befürchtet hatte. Endlich konnte sie sich ganz normal verhalten. Sie konnte offen und frei sagen, was ihr in den Sinn kam. Sie konnte mit jedem sprechen, ohne erst auf die Erlaubnis warten zu müssen. Und abgesehen vom Harem würde sie überall hingehen dürfen - allein und unverschleiert. Sogar auf den Basar. Oder zu Malek. Wenn das kein Fortschritt war.
Während sie einen langen, verwinkelten Flur entlangschritten und eine Wendeltreppe emporstiegen, tastete sie in ihrer Hosentasche nach dem Stein der Fatima. Eine wohlige Wärme ging von ihm aus, wie von einer Tasse Tee nach einem langen Ritt durch die eisige Steppe bei Taitu. Und Beatrice bildete sich ein, der Saphir wolle ihr sagen, dass ihre Entscheidung, sich als Mann an Subuktakins Hof zu schmuggeln, richtig gewesen war.
Nach einer Weile blieb Yassir vor einer Tür stehen.
»Wir sind da, Herr«, sagte er leise, so als wollte er vermeiden, dass andere sie hören konnten. »Vor Abu Rayhan braucht Ihr Euch nicht zu fürchten. Er ist ein kluger, freundlicher Mann und gehört nicht zu denen, die andere verurteilen, nur weil sie nicht dieselben Sitten und Bräuche pflegen. Leider hat er nicht immer die Möglichkeit, seinen wahren Gedanken Ausdruck zu verleihen.«
»Welche Aufgabe hat er? Welcher Wissenschaft widmet er seine Aufmerksamkeit?«
»Er ist der Hofastronom und Chronist unseres edlen Herrschers, Herr«, antwortete Yassir. »Eine Position, die hier in
Gazna nicht nur Vorteile mit sich bringt - wenn Ihr versteht, was ich meine.«
Beatrice nickte. Sie verstand nur zu gut. Nach allem, was sie bisher über Subuktakin gehört hatte, bedeutete dies, dass Abu Rayhan mehr als alle anderen Gelehrten auf einem Schleudersitz lebte, während der Daumen des Herrschers über dem Auslöser schwebte. Yassir pochte an die Tür, und ein paar Sekunden später stand Beatrice in einem Raum, der ihr förmlich die Sprache verschlug.
Es handelte sich um ein Turmzimmer, eher wohl ein Arbeitszimmer oder eine Bibliothek, denn die Wände waren mit Regalen voll gestellt, deren obere Fächer nur mit Hilfe einer Leiter zu erreichen waren. Die Fülle der Bücher war geradezu unglaublich. Es gab Folianten, die aufgeschlagen mindestens einen Quadratmeter groß sein mussten, Bücher, die so dick waren, dass man sie nicht einmal mehr unter den Arm klemmen konnte, und Bände, deren Rücken so wunderschön verziert waren, dass Beatrice sich mühsam beherrschen musste, sie nicht sofort aus dem Regal zu nehmen. Dieser Raum war ein Paradies für jeden Antiquar, und allein der materielle Wert, den die hier angesammelten Bücher bereits im Mittelalter darstellen mochten, war kaum schätzbar. Überall standen niedrige Tische und Stehpulte mit aufgeschlagenen Büchern, Glaskolben mit Flüssigkeiten und verschiedenfarbigen Pulvern sowie mit römischen Ziffern nummerierte Holzkästen in allen erdenklichen Größen. Auf einem riesigen auseinander gerollten Pergament konnte Beatrice Zeichen und Punkte entdecken, die eine Sternkarte darzustellen schienen. Und das Licht der Fackeln und Talglichter warf geheimnisvolle Schatten an die Wände.
Fehlen eigentlich nur der obligatorische Schädel und die auf einer Stange sitzende Eule, und wir hätten das Gemach eines Zauberers aus einem Märchenfilm, dachte sie und richtete ihren Blick zu der hohen gewölbten Decke hinauf. Dort oben befanden sich mehrere große Fenster, die in alle Himmelsrichtungen zeigten. Eine schmale Holztreppe führte zu einer Galerie empor, auf der ein Mann stand und durch ein Fernrohr sah - der eigentliche Arbeitsplatz des Astronomen.
»Willkommen, Herr«, sagte ein Diener, der in einer Ecke des Raums offensichtlich damit beschäftigt war, kreuz und quer auf einem Tisch liegende Pergamentschriften zusammenzurollen und sie wieder an ihren ursprünglichen Platz zu ordnen. »Ich werde meinem Herrn sogleich Eure Ankunft melden.«
Er verneigte sich kurz, lief leichtfüßig die schmale Holztreppe zu der Galerie hinauf und kam wenig später gemeinsam mit seinem Herrn wieder herunter. Beatrice war fast enttäuscht, als sie sah, dass Abu Rayhan weder einen spitzen Hut noch einen mit Monden, Sternen und anderen geheimnisvollen astronomischen Symbolen verzierten Mantel trug. Er hatte nicht einmal einen langen weißen Bart. Gar nichts an ihm erinnerte an einen Alchemisten oder Zauberer. Im Gegenteil, er sah ebenso normal und unauffällig aus wie jeder beliebige arabische Mann auf der Straße.
»Ich danke Euch, dass Ihr mir die Ehre erweist, mich zu empfangen, Abu Rayhan«, sagte Beatrice und verneigte sich. Dass man auf Höflichkeit viel Wert legte, galt für Frauen und Männer gleichermaßen. »Mein Name ist Saddin al-Assim ibn Assim.«
»Es freut mich, Euch begrüßen zu dürfen, Saddin al-Assim«, erwiderte Abu Rayhan und verneigte sich ebenfalls. Doch Beatrice hatte den Eindruck, dass er sie dabei musterte, so als ob er sich über ihr Äußeres wundern würde. Vielleicht vermisste er den Bartwuchs, oder ihre blonden Haare und blauen Augen irritierten ihn. Nun, an erstaunte Blicke würde sie sich wohl oder übel gewöhnen müssen. Dies hier war nicht ihre erste Prüfung und würde mit Sicherheit auch nicht ihre letzte sein. »Kommt und setzt Euch.«
Er legte ihr eine Hand auf den Rücken - eine intime Geste, die er sich niemals erlaubt hätte, wenn er gewusst hätte, dass sie eine Frau war - und geleitete sie zu einer mit Sitzpolstern ausgestatteten Ecke des Raums. Sie nahmen beide Platz, und Abu Rayhan klatschte zweimal in die Hände.
»Sala, bring uns ein paar Erfrischungen.«
»Ja, Herr.«.
Der Diener verneigte sich und ging zur Tür. Dabei warf er Yassir einen kurzen Blick zu.
»Herr?« Yassir trat zu Beatrice. »Solltet Ihr meine Dienste zurzeit nicht benötigen, so würde ich ...«
»Nein, Yassir, ich brauche dich nicht«, sagte Beatrice und fragte sich gleichzeitig, was dieser Blick zwischen den beiden Dienern wohl zu bedeuten hatte. Es war so ein seltsam vertrauter Blick gewesen. »Geh ruhig, vielleicht kannst du Sala behilflich sein.«
Beatrice sah den beiden kurz nach. Das Lächeln auf Yassirs Gesicht, das Leuchten in seinen Augen, die leichte Röte auf seinen Wangen, die sich, soweit sie es aus der Entfernung erkennen konnte, auch auf Salas Gesicht widerspiegelte - das alles ließ eigentlich nur einen Schluss zu. Auch wenn Beatrice sich darüber wunderte, wie das in einem arabischen Land überhaupt möglich war und was wohl der Emir dazu sagen würde.
»Man erzählt sich, Ihr seid Arzt«, begann Abu Rayhan das Gespräch, und Beatrice fragte sich, ob er den Blick zwischen den beiden Dienern gar nicht bemerkt hatte oder ob er zu sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt war, um sich auch noch darum zu kümmern. Er machte einen abgehärmten, müden Eindruck. »Wo habt Ihr Eure Kunst erlernt, Saddin al-Assim?«
»In Cordoba, Abu Rayhan.«
»Ja, richtig. Verzeiht, ich vergaß, dass man mir erzählte, Ihr würdet aus El-Andalus stammen. Seid Ihr mit dem Schiff hierher gereist oder ...«
»Nein, ich kam mit einer Karawane hier an.«
Er hob überrascht eine Augenbraue.
»Oh, auf dem Landwege also. Und Ihr habt den weiten, beschwerlichen und gefahrvollen Weg hinter Euch gebracht, um hier am Hofe des Emirs von Gazna zu dienen?«
»Gewiss«, erwiderte Beatrice. Irgendwie hatte sie den Eindruck, dass Abu Rayhan ihr nicht so recht glaubte. Eigentlich nur verständlich. Für den Weg, den sie angeblich zurückgelegt hatte, hätte sie mit Pferden und Kamelen vermutlich mehr als ein Jahr gebraucht. Abgesehen davon wäre sie unterwegs an Istanbul, Jerusalem, Damaskus und Bagdad vorbeigekommen, Städte, die bereits im Mittelalter Weltstadtcharakter hatten mit Universitäten, die sich vor denen im 21. Jahrhundert nicht zu verstecken brauchten. Kaum vorstellbar, dass sich ein wissbegieriger, verhältnismäßig junger Arzt von diesen Stätten der Gelehrsamkeit abwandte, um sein Heil in einem abgelegenen Provinznest wie Gazna zu suchen. Aber nun war es zu spät. Sie hatte sich für diese Version entschieden. »Ich habe so viel Gutes über den edlen und weisen Herrscher von Gazna, Mahmud ibn Subuktakin gehört, dass die Reise mir der Mühe wert zu sein schien.«
»Natürlich«, erwiderte Abu Rayhan mit einem dünnen, spöttischen Lächeln. »Vielleicht seid Ihr aber auch nur der Ansicht, dass die Schönheit eines Rubins in der Gesellschaft von gewöhnlichen Flusskieseln besser ins Auge fällt als unter seinesgleichen.«
Beatrice runzelte die Stirn. Obwohl sie natürlich nicht der Lehre wegen nach Gazna gekommen war, trafen sie diese
Worte. Wer ließ sich schon gern unterstellen, er hätte keine anderen Motive außer Eitelkeit und Geltungsbewusstsein.
»Ihr solltet nicht so voreilig von Euch auf andere schließen, Abu Rayhan«, sagte sie und hob stolz den Kopf. »Als ich zu Euch kam, habe ich nicht damit gerechnet, beleidigt zu werden. Falls das die Absicht Eurer unhöflichen Bemerkung gewesen ist, so seid gewiss, dass ich Euch ...«
»Ich bitte um Vergebung, Saddin al-Assim«, sagte Abu Rayhan und verneigte sich. »Ich war überaus unhöflich und nehme meine Worte hiermit zurück. Aber ich musste Euch prüfen und ...«
»Und?« unterbrach ihn Beatrice. »Habe ich die Prüfung bestanden?«
»Ja. Ihr seid ...«
»Schön für Euch. Dennoch werde ich jetzt gehen.«
Beatrice war so wütend über den Hofastronomen, dass sie ihm am liebsten eine Ohrfeige gegeben hätte. Sie erhob sich. Doch sie hatte die Tür noch nicht erreicht, als Abu Rayhan sie zurückhielt.
»Bleibt!«, rief er und legte ihr eine Hand auf den Arm. »Ich bitte Euch, geht nicht.«
Seine Stimme klang so kläglich, und seine Augen flehten sie an, sodass Beatrice einwilligte.
»Gut, ich bleibe«, sagte sie und setzte sich wieder, »aber nur unter der Bedingung, dass Ihr mir dieses seltsame Gebaren erklärt. Wieso wagt Ihr es, mich zu beleidigen?«
Abu Rayhan starrte auf seine Hände.
»Ihr seid erst seit wenigen Tagen in Gazna, Saddin al-Assim, daher könnt Ihr keine Ahnung haben von ...« Er brach ab und schluckte. »Es gibt Tiere, die verstecken sich, wenn sie die Schritte der Menschen hören, andere laufen davon oder machen sich größer, als sie in Wirklichkeit sind, wieder andere beißen zu. Jedes Tier sucht sich seinen Weg, um am Leben zu bleiben und sich gegen seine Feinde zu verteidigen. Könnt Ihr mir folgen?«
»Ich denke schon«, antwortete Beatrice. »Wenn ich Euch richtig verstehe, gehört Ihr zu denjenigen, die erst einmal zubeißen.«
Abu Rayhan seufzte. »Ich musste Mittel und Wege finden, um Freunde und Feinde unterscheiden zu können.«
»Und deshalb nehmt Ihr es in Kauf, jemanden zu vertreiben, der Euch wohlgesonnen ist und sogar Euer Freund werden könnte?«
»Ja. Es ist besser, einen möglichen Freund zu vertreiben als einem möglichen Feind zu vertrauen.«
»Vor Euch liegt ein einsames Leben, Abu Rayhan«, sagte Beatrice und erhob sich wieder. Sie war immer noch nicht gewillt, dem Astronomen zu verzeihen. Die Grundregeln der Höflichkeit galten zu jeder Zeit. Ganz gleich, wie verzweifelt er sein mochte, wie stark die Bedrohungen auch waren, er hatte nicht das Recht, andere zu beleidigen.
»Ich verstehe Euren Zorn, Saddin al-Assim«, erwiderte er. »Doch wenigstens weiß ich jetzt, dass Ihr ein Mann der Ehre seid, der diese auch zu verteidigen bereit ist. Das ist gut. Die Ehre ist ein kostbarer Besitz, der schnell verloren gehen kann. Insbesondere hier in Gazna.«
Ihre Blicke trafen sich, und Beatrice wurde plötzlich klar, was Abu Rayhan ihr mitteilen wollte und was Yassir ihr bereits gesagt hatte. Die Gelehrten an Subuktakins Hof waren nur so lange frei, wie ihre Aussagen und Forschungsergebnisse mit der Meinung des Herrschers übereinstimmten - eben ein totalitäres Regime wie hundert andere auch. Und trotzdem ... Doch dann sah sie plötzlich Michelle vor sich, ihr blondes Haar und die leuchtenden blauen Augen. Nein, Stolz hin oder her, sie musste sich mit Abu Rayhan gut stellen. Wenn jemand am Hof etwas über den Verbleib von Michelle wissen konnte, dann er. Und nach dieser Episode würde er bestimmt noch eher bereit sein, ihr zu helfen.
»Nun gut, ich verzeihe Euch«, sagte sie und kehrte abermals zu den Sitzpolstern zurück.
Eine Weile saßen sie sich schweigend gegenüber. Es war ein unbehagliches Schweigen, und beide waren erleichtert, als Yassir und Sala mit einem Krug und einem Tablett mit Brot, Käse und in Öl und Knoblauch eingelegtem Gemüse zurückkehrten. Sie bedienten sie, gössen ihnen das köstlich nach Zitronen duftende Wasser in zwei schwere Messingbecher und warteten auf neue Befehle.
»Du kannst gehen, Sala«, sagte Abu Rayhan. »Doch entferne dich nicht zu weit, damit du mich hörst, falls ich dich brauche.«
Sala verneigte sich. Yassir warf Beatrice einen fragenden Blick zu. Sie nickte, und auch er verschwand. Sie hatte nicht den Eindruck, dass einer von beiden dies bedauerte.
Abu Rayhan bot Beatrice den Messingteller an. Sie brach sich ein Stück Brot ab, wickelte ein Stück Zwiebel und Gurke darin ein und biss hinein. Es schmeckte wirklich köstlich. Seit ihrem Aufenthalt in Buchara hatte sie eine Schwäche für die orientalische Küche entwickelt. Zum Glück gab es in Hamburg ausreichend syrische, pakistanische, afghanische und türkische Restaurants, um diese Leidenschaft zu befriedigen, und Kochbücher mit entsprechenden Themen füllten in ihrer Küche bereits ein ganzes Regal. Trotzdem war das alles nicht mit den Kochkünsten im Palast eines Emirs zu vergleichen. Ob es an der Frische der Zutaten lag oder einfach daran, dass diese Küche noch von den Einflüssen der Neuen Welt verschont und daher unverfälscht war, konnte sie nicht sagen. Aber es war wie das Eintauchen in ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Das gute Essen und das köstlich duftende Wasser taten ihre Wirkung. Ihre Stimmung hob sich merklich. Und auch Abu Rayhan lächelte wieder.
»Erzählt mir von Eurer Heimat, Saddin al-Assim«, begann er das ins Stocken geratene Gespräch wieder. »Leider hatte ich nie die Möglichkeit, El-Andalus zu bereisen. Es soll sehr schön dort sein.«
»Ja, in der Tat«, erwiderte Beatrice. Und dann begann sie aus einer Laune heraus Abu Rayhan von Andalusien vorzuschwärmen. Glücklicherweise hatte sie vor ein paar Jahren eine mehrwöchige Urlaubsreise dorthin gemacht und sich Sevilla, Granada, Cordoba, Cadiz und die ganze andalusische Küste angesehen. Doch bereits während sie von der Schönheit des Löwenhofes in der Alhambra berichtete, fiel ihr ein, dass sie einen folgenschweren Fehler begangen haben könnte. Sie wusste zwar, dass der Stein sie in das Jahr 1017 oder 1018 geschickt hatte - so hatte sie es zumindest nach Yasminas Angaben errechnet -, doch ihr Wissen über die Geschichte Andalusiens war eher dürftig, und Jahreszahlen hatte sie sich noch nie merken können. Gab es den Löwenhof zu diesem Zeitpunkt schon? Existierte die Alhambra überhaupt, und wenn ja, welchen Namen hatten ihr die Araber gegeben? Oder hatten vielleicht gerade jene Kriege stattgefunden, in denen die Spanier die Mauren endgültig von der Iberischen Halbinsel vertrieben und beinahe alles in Schutt und Asche gelegt hatten, was nur auf irgendeine Weise maurisch aussah? Gab es überhaupt noch ein maurisches Andalusien?
Mein Gott, Bea, dachte sie voller Entsetzen, warum musst du nur immer reden, ohne vorher gründlich nachzudenken? Doch dann fiel ihr ein, dass Maleks Vater gerade erst Teppiche von einer Karawane aus Andalusien erhalten hatte, dass Subuktakin sie sogar dorthin zurückschicken wollte, und sie entspannte sich wieder.
Abu Rayhan sah sie fragend an. Zu spät merkte Beatrice, dass sie mitten im Satz abgebrochen hatte und nun den Faden nicht mehr wiederfand.
»Und?«, fragte er. »Wie geht es weiter?«
»Ach«, wehrte Beatrice ab und betete inständig zu Gott, dass sie wenigstens dieses eine Mal nicht rot werden würde. Wahrscheinlich vergeblich, denn ihre Ohrläppchen waren bereits heiß, als hätte man sie mit Chilipulver eingerieben. »Ich will Euch nicht mit meinen Geschichten langweilen. Ihr habt bestimmt viel zu tun. Eure Studien werden Euch doch sicher ...«
»Aber nein!« Abu Rayhan lächelte. »Ihr vergesst, dass ich Chronist bin. Erzählungen von fremden Ländern und anderen Völkern interessieren mich immer.«
»Nun, ich wollte nur ...«, stammelte Beatrice und kam sich dabei ziemlich albern vor. »Wisst Ihr, eigentlich kam ich zu Euch, weil der weise und gerechte Mahmud ibn Subuktakin mir empfohlen hat, mich an Euch zu wenden. Er sagte, Ihr würdet mich in die Gepflogenheiten bei Hof und in meine Aufgaben einweisen.«
»Natürlich«, erwiderte Abu Rayhan und nickte. Doch er sah Beatrice dabei so seltsam an, dass sie plötzlich den Verdacht bekam, er hätte sie durchschaut. Vielleicht hatte sie tatsächlich einen schwerwiegenden Fehler begangen, als sie ihm so bereitwillig von Andalusien erzählt hatte. Er war schließlich Chronist. Unter Umständen kannte er Reiseberichte, die sich nicht mit ihrem deckten. Wie denn auch. Sie hatte ihm Andalusien so beschrieben, wie sie es während ihres Urlaubs im Sommer 1997 gesehen hatte. Und in fast tausend Jahren konnte sich sogar eine Landschaft deutlich verändern. »Ich werde Euren Wunsch erfüllen und Euch alles erklären, was Ihr wissen solltet, sofern Euch ein langer und erfüllender Dienst am Hof des Emirs von Gazna am Herzen liegt.«
Beatrice schluckte. Diese Worte klangen beinahe bedrohlieh, so als würde er eigentlich meinen: Wenn Euch Euer Leben lieb ist.
»Ihr seid Arzt, Saddin al-Assim. Ihr werdet Euch also hauptsächlich um die Gebrechen und Leiden der Höflinge kümmern. Der Tag beginnt selbstverständlich bei Sonnenaufgang mit dem Morgengebet. Nach dem Frühstück werden Euch die Kranken in Eurem Arbeitszimmer aufsuchen. Ich nehme an, dass es Euch noch heute zugewiesen wird. Da alle hier bei Hofe ihr Leben in den Dienst Allahs gestellt haben und einen Ihm gefälligen Lebenswandel führen, werdet Ihr feststellen, dass es hier weniger für Euch zu tun gibt als in Häusern anderer Herrscher. Der Emir duldet keine ausschweifenden Feste, keine Musik, keinen Tanz, keine Völlerei oder anderweitiges zügelloses Gebaren. Berauschende Getränke, Wasserpfeifen, Opium und Ähnliches sind ohnehin bei schweren Strafen verboten. Mahmud ibn Subuktakin ist ein heiliger Mann. Er folgt den Worten des Korans. Mäßigung ist eines der obersten Gebote in dieser Stadt. Ihr werdet es also kaum mit verdorbenen Mägen oder Kopfschmerzen zu tun bekommen und somit sehr viel Zeit haben, Euch Euren Studien zu widmen. Zu diesem Zweck steht Euch die Bibliothek jederzeit zur Verfügung. Außerdem treffen sich dort jeden Tag nach dem Mittagsgebet alle Gelehrten. Wir nehmen unser Mittagsmahl ein und sprechen über die Ergebnisse unserer Studien, fragen die anderen Gelehrten um Rat, damit Allah unsere Gedanken erleuchten möge, falls uns die Lösung eines Problems verschlossen bleibt.« Hatte Beatrice sich getäuscht, oder schwang tatsächlich eine Spur von Ironie in Abu Rayhans Stimme mit? »Abends nehmen wir dann alle am gemeinsamen Abendessen mit dem Emir und dem ganzen Hofstaat teil. Und nach dem Nachtgebet endet der Tag. Das ist der Tagesablauf an jedem Tag in der Woche. Für Euch gibt es nur eine Ausnahme. Am heiligen Freitag gewährt der edle Subuktakin dem Volk von Gazna die Gunst, das ganze Ausmaß seiner Güte und Großzügigkeit zu erleben.« Wieder hatte Beatrice den Eindruck, dass Abu Rayhan seine Worte nicht wirklich ernst meinte. Doch ungerührt und ohne eine Miene zu verziehen, fuhr er fort. »Die Leibärzte des Emirs gehen in die unterschiedlichen Viertel der Stadt, um dort die Kranken unentgeltlich zu behandeln. An diesem Tag steht es Euch frei, an dem Gespräch der Gelehrten teilzunehmen oder nicht. Es liegt an Euch, wie viel Zeit Ihr inmitten des gemeinen Volkes verbringen wollt. Allerdings legt der Emir sehr viel Wert darauf, dass alle Höflinge - also auch die Ärzte - beim Freitagsgebet in der Moschee anwesend sind.« Abu Rayhan machte eine kurze Pause. »Habt ihr alles verstanden?«
Beatrice nickte. »Ja.«
»Wenn Ihr diese Regeln befolgt und Euch keiner Gotteslästerung oder einer ähnlich abscheulichen Schandtat schuldig macht, so erwartet Euch ein angenehmes, sorgloses Leben in Gazna.«
»Und wenn nicht?« Beatrice war selbst überrascht, dass sie sich traute, offen danach zu fragen.
Abu Rayhan nahm einen langen Schluck aus seinem Becher und sah Beatrice an. Vermutlich dachte er in diesem Augenblick darüber nach, wie er seine Antwort formulieren sollte, ohne sich der Gefahr auszusetzen, eines Tages über die eigenen Worte zu stolpern.
»Mahmud ibn Subuktakin, unser edler Herrscher und Beschützer der Gläubigen von Gazna, hat sehr viel Geduld. Er hört seine Untergebenen an, wenn sie ihm voller Sorge über die Verfehlungen anderer berichten. Und wie ein liebender Vater versucht er jene Männer, die sich den Ratschlägen und Geboten des Korans widersetzen, auf den richtigen Weg zurückzuführen. Wem es gelingt, durch seine Aufmerksamkeit und Mithilfe die Seele eines dieser Unglücklichen zu retten, wird - verständlicherweise - reich belohnt. Nur die Unverbesserlichen, denen nicht mehr geholfen werden kann, weil ihr Herz und ihr Verstand bereits dem Teufel gehören, werden bestraft - so, wie der Koran es verlangt. Doch selbst ihnen gewährt unser Herrscher in seiner über alles gepriesenen Güte die Gelegenheit, ihre Sünden zu bereuen und ihre Seelen zu reinigen, damit sie mit geläuterten Herzen vor Allah treten und mit erhobenem Haupt um Einlass in das Paradies bitten können. Die Sorge um das Wohl der ihm anbefohlenen Seelen lässt unserem Herrscher keine Ruhe. Unermüdlich ist er auf der Jagd nach den Frevlern, die vom Teufel ausgesandt wurden, die Gläubigen in Versuchung zu führen. Deshalb hat man Subuktakin auch die ehrenvollen Beinamen Beschützer der Gläubigem, >Vater der Gottesfürchtigen< und >der Gerechte< gegeben.«
Beatrice schluckte. Das war mehr als deutlich. Wer sich nicht fügen wollte und dabei erwischt wurde, landete also in den Folterkammern von Gazna und schließlich vor dem Henker. Und irgendein anderer Höfling freute sich über eine stattliche Belohnung oder Beförderung, weil er seinen Nachbarn verpfiffen hatte - ganz egal, ob der nun wirklich schuldig war oder nicht. Wunderbare Aussichten. Unwillkürlich griff sie sich an den Kragen. Aus einem unerklärlichen Grund schien ihr Gewand plötzlich enger geworden zu sein. Wer hatte eigentlich diese blödsinnige Idee gehabt, sie als Mann verkleidet an den Hof des Emirs zu schicken, wo hinter jeder Truhe und in jeder Nische Spitzel und Verräter lauerten?
»Ist Euch nicht wohl, Saddin al-Assim?«, fragte Abu Rayhan, und Beatrice schoss der beängstigende Gedanke durch den Kopf, dass er möglicherweise ebenfalls zu den Spionen gehörte. Und vielleicht kam sie jetzt gerade recht, damit er seinen Kopf aus einer bereits für ihn geknüpften Schlinge ziehen konnte? Allerdings sah er sie so mitfühlend an, dass es ihr schwer fiel, daran zu glauben.
»Ich kann Euch verstehen«, sagte er leise und nippte wieder an seinem Wasser. »Das Leben hier in Gazna ist voller Steine und Hindernisse für einen ehrlichen Mann. Oft genug ist der Mund gezwungen, Ja zu sagen, selbst wenn das Herz Nein meint. Ich hoffe, dass ich Euch hiermit alle Fragen beantwortet habe.«
Beatrice nickte. »Ja, ich danke Euch - für Eure Ratschläge ebenso wie für das vorzügliche Mahl«, sagte sie und erhob sich. »Ich sollte jetzt wohl besser gehen. Das Mittagsgebet ist nicht mehr fern, und bei seinem Dienst für Allah sollte ein Mann ungestört sein.«
»Gut gesprochen, Saddin al-Assim«, erwiderte Abu Rayhan. Ihre Blicke trafen sich, und in diesem Moment wusste Beatrice, dass er von erzwungenen religiösen Pflichten dasselbe hielt wie sie. »Doch bevor Ihr geht, möchte ich Euch noch den Rat eines Freundes mit auf den Weg geben. Der ehrgeizige Schreiber unseres ehrwürdigen Herrschers Subuktakin, ein Mann mit dem Namen Abu Said, brüstet sich damit, dass sein Vater aus El-Andalus stammt. Solltet Ihr ihn jemals treffen, so vermeidet dieses Thema. Abu Said ist ein seltsamer, starrsinniger Mensch, und es könnte sein, dass er Teilen Eurer Erzählung keinen Glauben schenkt.«
Beatrice spürte, dass sie rot wurde. Jetzt war es amtlich. Abu Rayhan hatte sie tatsächlich durchschaut.
»Ich weiß nicht ... würde Euch gern ... aber ...«, stammelte sie.
Doch er schüttelte den Kopf und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Nein, Saddin al-Assim, behaltet für Euch, was Ihr jetzt sagen wollt. Was Ihr verschweigt, kann auch kein anderer ausplaudern. Nicht einmal unter der liebevollen Aufmerksamkeit unseres Herrschers«, sagte er lächelnd. »Geht,
Saddin al-Assim, der Friede Allahs sei mit Euch. Wir sehen uns nachher in der Bibliothek. Euer Diener wird Euch hingeleiten.«
Beatrice erreichte mit Yassir ihr Zimmer gerade noch rechtzeitig, bevor die Stimme des Muezzins laut über Gazna erschallte. Vermutlich wurden in ungezählten Zimmern hier im Palast jetzt die Gebetsteppiche ausgerollt. Wenn sie Abu Rayhan richtig verstanden hatte, so war man nur während der Gebetszeiten vor den Spitzeln sicher. Welcher Verräter würde es auch wagen, dem zutiefst religiösen Herrscher zu erklären, er habe die Zeit des Gebetes genutzt, um anderen hinterherzuspionieren, anstatt seine heilige Pflicht zu erfüllen?
Yassir hatte das Zimmer verlassen. Es war nicht üblich, dass ein Diener und sein Herr die Gebetszeiten gemeinsam verbrachten. Während der eintönige Singsang alle anderen Geräusche verstummen ließ, trat Beatrice ans Fenster. Natürlich hatte Abu Rayhan Recht. Wenn sie ihm nichts von ihren wahren Beweggründen erzählte, konnte er selbst unter der Folter nichts verraten. Doch fragte sie sich, wie er ihr dann bei der Suche nach Michelle helfen sollte. Schon bald würde sie ihn wohl oder übel einweihen müssen - und somit unweigerlich einer vermutlich tödlichen Gefahr aussetzen.
Beatrice seufzte. Sie war zwar wie gewünscht im Palast aufgenommen worden, doch wie sie jetzt ihre Nachforschungen fortsetzen sollte, war ihr ein Rätsel. Wo sollte sie ihre Suche nach Michelle beginnen? Ihre Hand glitt in die Hosentasche, und sie umschloss den Stein der Fatima mit ihrer Faust. Er war kühl und fühlte sich schroff an, fast als ob ihm etwas nicht gefiele. Doch noch während sie darüber nachdachte und sich fragte, welchen Fehler sie wohl begangen hatte, wurde der Saphir warm. Und plötzlich dachte sie, dass es wohl am sinnvollsten wäre, in der Bibliothek mit ihrer Suche zu beginnen. Allerdings war ihr noch nicht klar, wonach sie eigentlich suchen wollte. Einen Zeitungsartikel über die Entführung ihrer Tochter würde sie hier wohl kaum erwarten können. Aber vielleicht fand sie Hinweise auf die Fidawi und ihre Schlupfwinkel, die ihr weiterhelfen konnten - oder neue Informationen über die Steine der Fatima.
Eine mittelalterliche Bibliothek nach brauchbaren Hinweisen zu durchforschen, stellte sich Beatrice nicht allzu schwierig vor. Immerhin waren Pergament, zum Schreiben geeignetes Leder oder gar echtes Papier kostbar, und die Kunst des Schreibens war sogar im Orient mit einem im Vergleich zum mittelalterlichen Abendland hohen Bildungsstand nicht jedem zugänglich. Johannes Gutenberg war zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal geboren worden und der Weg zum ersten erschwinglichen Druckerzeugnis somit noch weit. Bücher wurden von Hand abgeschrieben; eine mühsame Arbeit, die nicht selten Monate, manchmal sogar Jahre in Anspruch nahm. Es war daher nicht verwunderlich, dass es ein Privileg der Reichen war, Bücher zu besitzen. Sie wurden mit Gold und Edelsteinen aufgewogen. Die Bibliothek des Emirs von Gazna konnte also nicht besonders umfangreich sein.
Das einzige echte Problem, mit dem sie sich beschäftigen musste, stellte die Schrift dar. Immerhin war dies eine arabische Stadt in einem muslimischen Land. Die meisten hier befindlichen Bücher waren sicher in arabischer Schrift verfasst und würden somit für sie unlesbar sein. Aber wie konnte sie einen Dolmetscher um Hilfe bitten, ohne Verdacht zu erwecken? Natürlich hätte sie Yasmina fragen können, die Freundin hätte ihr ohne Zweifel gern und mit viel Kompetenz beim Lesen geholfen. Doch Yasmina war eine Frau, und Frauen war der Zutritt zur Bibliothek verboten. Und die Bibliothek von Gazna war keine öffentliche Bücherhalle. Man konnte sich die Bücher nicht einfach ausleihen und irgendwohin mitnehmen. Außerdem hatte Maleks Familie schon genug für sie getan. Sie durfte diese Menschen nicht zusätzlich dadurch in Gefahr bringen, dass sie ihnen verbotenerweise Schriften zur Übersetzung ins Haus schmuggelte. Aber was sollte sie tun? Da fiel ihr Alis private Bibliothek ein, und sie erinnerte sich daran, dass etliche der Werke, die er besaß, zweisprachig verfasst worden waren, dass er sogar seine eigenen Aufzeichnungen und Abhandlungen zweisprachig verfasst hatte. Der arabische stand dabei stets neben dem griechischen oder lateinischen Text. Das gab Beatrice neue Hoffnung. Sie beherrschte Latein. Und mit ein bisschen Mühe würde es auch sicher wieder mit dem Altgriechisch klappen, obwohl sie in der Schule diese Sprache nie gemocht und sie so schnell wie möglich abgewählt hatte. Ja, gleich nach dem Gespräch der Gelehrten würde sie in der Bibliothek bleiben und dort nach einem Hinweis suchen. Und sie war fest davon überzeugt, dass sie auch schnell fündig werden würde.