10.
Es wurde bereits dunkel, als Ali das Haus verließ. Er hatte Michelle wie jeden Abend selbst ins Bett gebracht und ihr dann noch eine Geschichte erzählt. Ganz unmerklich hatte es sich zu einem jeden Abend wiederkehrenden Ritual entwickelt, einer Gewohnheit, die er sehr genoss - vermutlich sogar mehr als das kleine Mädchen. Jetzt lag sie liebevoll zugedeckt in einem Bett, das für sie eigentlich viel zu groß war, umgeben von einem Dutzend seidener Kissen, in denen duftende, den Schlaf fördernde Kräuter eingenäht waren. Trotzdem war er unruhig. Hoffentlich plagten Michelle keine Albträume, hoffentlich wachte sie während seiner Abwesenheit nicht auf und suchte verzweifelt nach ihm.
Narr!, schalt er sich, du verhältst dich schon wie eine hysterische Amme. Dabei ist sie noch nicht einmal deine Tochter. Aber Michelle ist die Tochter von Beatrice, widersprach eine andere, leise Stimme in ihm. Und das ist im Grunde genommen dasselbe. Außerdem hast du Saddin versprochen, Michelle niemals allein zu lassen, sie immer zu beschützen. Denk an die Fidawi! Wenn sie jetzt kommen, gerade heute Nacht ...
Das schlechte Gewissen begann in seinem Bauch wie Feuer zu brennen. Ali war kurz davor, wieder ins Haus zurückzukehren. Doch im letzten Augenblick besann er sich eines Besseren. Er musste Antworten bekommen auf seine Fragen, er musste mit diesem Juden reden. Noch heute. Es war wichtig. Nicht nur für ihn, sondern gerade auch für Michelle. Selbst wenn er es gewollt hätte, er hätte das kleine Mädchen nicht dorthin mitnehmen können. Und außerdem war sie gar nicht allein. Ihr Schlaf wurde wie jede Nacht von einer besonders zuverlässigen Dienerin bewacht, zu der die Kleine Vertrauen hatte und der er selbst auch vertrauen konnte. Dennoch war er besorgt - und das lag nicht nur an dem Versprechen, das er einem Sterbenden gegeben hatte. Er, der bislang sein freies, ungebundenes Leben ohne die leidigen Verpflichtungen eines Ehemannes und Familienvaters in vollen Zügen genossen hatte, der sich stets gesagt hatte, wie glücklich er sich schätzen könne, dass weder Kindergeschrei noch das Gezeter einer übellaunigen Frau seine wohlverdiente Ruhe störte oder ihn brutal aus seinen Studien riss - für ihn war plötzlich das Wohlergehen eines kleinen Kindes wichtiger geworden als alles andere auf dieser Welt.
Er wickelte sich in seinen Mantel. Einer der Stadtdiener war gerade damit beschäftigt, die an dem gegenüberliegenden Haus befestigte Lampe anzuzünden. Ali wartete, bis der Mann fertig war und seine Arbeit ein paar Häuser weiter fortsetzte, dann ging er in die entgegengesetzte Richtung. Sein Weg führte ihn vorbei am Marktplatz und durch die schmalen Gassen des Basars. Die schweren Tische, auf denen bei Tage Messingwaren, Tuche, Geschirr, Gewürze und alle erdenklichen Waren aus der ganzen Welt ausgebreitet lagen und auf Käufer warteten, waren zu dieser vorgerückten Stunde leer. Die Türen der Geschäfte waren zugesperrt, die Fensterläden fest verschlossen. Es herrschte eine eigentümliche Stille in diesem Teil der Stadt, die in krassem Gegensatz zum Lärm und dem lebhaften Treiben des Tages stand. Ali war unheimlich zumute, während er die schmale Gasse der Tischler entlangging. Im spärlichen Licht der wenigen Sterne schimmerten die Häuser seltsam bleich. Mit ihren dunklen Fensterläden sahen sie aus wie die Schädel von gigantischen Toten, die mit ihren düsteren Augenhöhlen jeden seiner zögerlichen Schritte verfolgten und ihn dabei hämisch angrinsten. Mehr als einmal ertappte Ali sich dabei, dass er sich erschrocken umdrehte und über die Schulter blickte. Natürlich war das alles Unsinn. Es gab keine Geister, die ihn jagen wollten. Das Einzige, was er zu fürchten hatte, waren Diebe, die ihm hinter Mauervorsprün'gen und in Hauseingängen auflauern und um seine Barschaft erleichtern konnten. Und selbst das war hier in dieser Gegend unwahrscheinlich. Diese Gasse war nach Einbruch der Dunkelheit stets verlassen und menschenleer, niemand ging hier entlang. Hier brannten keine Lampen, hier gab es weder Gasthäuser noch Moscheen, noch öffentliche Bäder, und niemand wohnte hier. Nicht einmal die Huren, die sonst überall in der Stadt zu finden waren, hatten sich diesen Ort ausgesucht, um in den düsteren Winkeln auf Freier zu warten. Die Gasse führte nirgendwohin, wohin man nach Einbruch der Dunkelheit noch hätte gehen wollen. Sie endete direkt an der Stadtmauer. Und dahinter, verborgen von einem großen schwarzen Tor, lag nichts mehr, nur der Friedhof.
Ali beschleunigte seine Schritte. Die Geschäfte der Tischler hatte er längst hinter sich gelassen. Danach kamen die niedrigen Häuser jener Händler und Handwerker, die ihr Brot mit dem Tod anderer Menschen verdienten - Leichenbestatter, Steinmetze, jene Weber, die die Grabtücher herstellten. Leichenzüge kamen hier vorbei, weinende, klagende Witwen und Witwer, Waisen und Eltern, die ihre Kinder verloren hatten. Wer auch immer durch diese Gasse ging, den führte ein trauriger, schmerzvoller Anlass hierher. Vielleicht war das der Grund, weshalb niemand hier wohnen wollte. Sogar die Händler und Handwerker verließen bei Einbruch der Dunkelheit ihre Geschäfte und kehrten zurück in ihre Häuser, die in anderen, erfreulicheren Vierteln der Stadt lagen. In Vierteln, in denen das Lachen nicht im Halse stecken blieb.
Doch nicht alle Wohnungen waren verlassen. Ganz am Ende der Gasse, geduckt und dicht aneinander geschmiegt wie verängstigte Kinder, standen etwa ein Dutzend Häuser. Viele Leute sagten, diese Häuser seien verflucht. Selbst die Ärmsten der Armen schliefen lieber unter freiem Himmel, als hier auch nur eine Nacht zu verbringen. Und Ali konnte es ihnen nicht verdenken. Auch er spürte die seltsame Atmosphäre, die am Ende der Gasse herrschte. Sogar das Licht der Sterne schien hier blasser zu sein. Das schwarze Tor lag unmittelbar vor ihm. Düster und bedrohlich wirkte es eher wie die Pforte zur Hölle denn wie ein gewöhnliches Tor, durch das Menschen nach Belieben ein und aus gehen konnten.
Ein schwacher, ungewohnt eisiger Wind wehte Ali ins Gesicht und ließ ihn schaudern. Es war wie der Hauch des Todes, der vom kaum einen Steinwurf entfernten Friedhof herüberwehte und seine Wange streifte. Hastig sah er sich um, als würden sich sogleich Dämonen, Gespenster und andere Höllenwesen auf ihn stürzen, um ihm sein Leben zu rauben und ihn hinab in den finsteren Schlund ihrer Hölle zu ziehen. Für einen Moment dachte er daran, wieder umzukehren. Weshalb kam er nicht einfach bei Tageslicht zurück, wenn das Sonnenlicht alle Schatten vertrieben hatte und wieder Menschen die leeren Gassen bevölkerten?
Dummkopf, schalt er sich selbst im gleichen Augenblick. Wenn du jetzt davonläufst, wie willst du dann jemals Antworten auf deine Fragen finden?
Denn ausgerechnet hier, am Ende dieser Gasse, in diesen Häusern, die alle anderen als verflucht betrachteten, wohnten die Juden von Qazwin. Und einer von ihnen war der Ölhändler Moshe Ben Levi, der Mann, der ihm angeblich alle Fragen beantworten konnte. Der Jude war zwar Ölhändler, aber bei ihm gab es kein Speise- oder Lampenöl zu kaufen, sondern nur das schwer duftende, salbenartige Öl, das bei Bestattungen Verwendung fand.
Ali nahm seinen Mut zusammen und trat vor die Tür des Ölhändlers. Eine einsame Lampe brannte mit jämmerlicher Flamme neben dem Eingang und beleuchtete nur notdürftig das Schild, auf dem sowohl in arabischer als auch hebräischer Schrift der Name Levi geschrieben stand.
Dieses Mal, wenn ich leibhaftig vor ihnen stehe, werden sie mich nicht so leicht abweisen können, dachte Ali. Sein aufkeimender Zorn über die Arroganz der Juden vertrieb beinahe das Unbehagen, das wie ein Klumpen geschmolzenes Metall in seinem Magen drückte. Aber nur beinahe. Sie werden es nicht wagen, einen Gläubigen abzuweisen.
Er pochte mit dem schweren Türklopfer gegen die Tür. Es waren dumpfe Schläge, die unheilvoll in den Ohren klangen.
Als ob ich an die Pforten der Unterwelt geklopft hätte, dachte Ali und hätte sich nicht gewundert, wenn ihm beim Öffnen der Tür ein dreiköpfiger Cerberus gegenübergestanden hätte.
Während er wartete, sah er sich den Türsturz an. Das Holz war ungleichmäßig dunkel, so als hätte ein ungeschickter Mann versucht, sie mit einem in dunkle Farbe getauchten Reisigbündel zu streichen. Wie aus heiterem Himmel fielen ihm all jene Geschichten ein, die man sich unter den Gläubigen über die Juden erzählte - von seltsamen Bräuchen und grausamen Ritualen, bei denen Dämonen und Geister beschworen, Flüche über die Gläubigen verhängt und das frische Blut von Opfern an die Türen geschmiert wurden. Manche sprachen dabei von Hunden, denen die Kehle durchgeschnitten wurde, um sie langsam ausbluten zu lassen. Auch von Ratten, Schweinen, schwarzen Katzen war die Rede, und sogar von Menschen ...
Ali erschauderte und zweifelte erneut daran, dass es eine gute Idee gewesen war, mitten in der Nacht hierher zu kommen. Bei Tageslicht, in seinem Haus oder in den von hunderten von Menschen bevölkerten Straßen des Bazars hätte er über seinen fehlenden Mut gelacht. Er hätte die Gerüchte über die Juden als das abgetan, was sie vermutlich auch waren - Spukgeschichten, mit denen man die Kinder erschrecken und von den Häusern der Juden fern halten wollte. Doch hier in dieser finsteren Gasse mit dem Eingang zur Hölle im Rücken galten andere Regeln. Hier war er ohne weiteres bereit, jede noch so haarsträubende, furchteinflößende Geschichte zu glauben.
Endlich hörte er Schritte, die sich dem Tor näherten. Ein paar Schlösser wurden geöffnet, mindestens drei Riegel zurückgeschoben, und dann ... Nein, es war kein dreiköpfiger Cerberus, der ihm öffnete, und auch keine andere furchteinflößende Kreatur der Unterwelt. Es war ein hoch gewachsener schlanker junger Mann mit einem schmalen blassen Gesicht. Nicht ein einziger Blutfleck war auf seinem makellos weißen, knöchellangen Gewand zu finden. Er sah ebenso harmlos aus wie alle jungen Männer, bei denen die Tage des ersten Bartwuchses noch nicht lange vorüber waren. Der einzige Unterschied zu seinen Altersgenossen bestand in einer runden, kaum Handteller großen Kappe auf seinem Kopf und den beiden seltsamen gedrehten Schläfenlocken - ein Merkmal, an dem man die Juden für gewöhnlich schon von weitem erkennen konnte.
»Was wollt Ihr?«, fragte der junge Mann barsch. »Das Geschäft ist bereits geschlossen. Falls Ihr Öl benötigt, so kommt übermorgen wieder.«
»Ich hatte nicht die Absicht, Öl zu kaufen«, sagte Ali entschlossen und legte so viel Autorität in seine Stimme, wie er es bei seinen Dienern zu tun pflegte, wenn sie seine Wünsche nicht schnell genug erfüllten. »Ich bin Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina. Und ich wünsche Moshe Ben Levi zu sprechen. Jetzt, auf der Stelle.«
Der junge Mann warf ihm einen finsteren Blick zu und schüttelte den Kopf, sodass die Schläfenlocken hin und her schlackerten.
»Der Meister ist nicht zu sprechen«, entgegnete er. Weder Alis Name noch sein Auftreten schienen ihn sonderlich zu beeindrucken. »Außerdem benötigt er zurzeit weder den Beistand noch den Rat eines Arztes. Geht.«
Mit wachsendem Zorn registrierte Ali, dass der junge Jude sehr wohl wusste, wen er vor sich hatte. Und trotzdem wollte dieser Bengel, dieser nichtsnutzige Grünschnabel, der noch nicht einmal alt genug war, um einen richtigen Bart zu tragen, ihn abweisen. Ihn, Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina. Das war ein starkes Stück. Er dachte nicht im Traum daran, sich nach Hause schicken zu lassen, als wäre er nichts weiter als ein verlauster Bettler, der an die Tür geklopft hatte, weil er um ein paar jämmerliche Speisereste und ein Almosen bitten wollte.
»Nein«, sagte er grimmig und stellte seinen rechten Fuß in die Tür, die sich bereits vor seiner Nase zu schließen drohte. »Ich habe nicht den beschwerlichen Weg mitten in der Nacht auf mich genommen, um jetzt unverrichteter Dinge wieder umzukehren. Falls also Moshe Ben Levi verhindert ist, so wäre ich auch damit zufrieden, mit Rabbi Moshe Ben Maimon ein paar Worte zu wechseln.«
Der junge Mann starrte ihn noch finsterer an als zuvor, und Ali machte sich bereit, sich mit seinem ganzen Körpergewicht gegen die Tür zu werfen. Er würde heute noch mit diesem Juden reden, und wenn er sich den Zutritt zu seinem Haus erst mit seinen Fäusten erkämpfen musste.
»Ich fürchte, jemand hat Euch eine falsche Auskunft gegeben«, sagte der junge Mann barsch. Doch Ali spürte, dass er unsicher geworden war. Er konnte die plötzliche Nervosität des jungen Mannes vor ihm fast riechen. »Hier wohnt kein Rabbi, sondern nur der Ölhändler Moshe Ben Levi. Es steht auch dort auf dem Schild, wie Ihr seht. Den Namen, den Ihr eben genannt habt, habe ich noch nie zuvor gehört. Selbstverständlich steht es Euch frei, in den Häusern unserer Nachbarn nachzufragen. Allerdings glaube ich nicht, dass einer von ihnen diesen Rabbi kennt, den Ihr sucht. Ihr müsst Euch irren. Es kann gar nicht anders sein.«
Ali kochte vor Wut. Er spürte das dringende Verlangen, dem Juden seine Faust ins Gesicht zu schmettern. Natürlich kannte der Kerl Moshe Ben Maimon. Saddin hatte den Namen genannt, und er hatte keinen Grund, an den Worten des Nomaden zu zweifeln.
»Tatsächlich?«, sagte er spöttisch. »Ich weiß, dass ich mich nicht irre. In diesem Haus wohnt Rabbi Moshe Ben Maimon. Und ich will ihn sprechen. Also geh jetzt zu deinem Rabbi und richte ihm aus, dass Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina auf ihn wartet. Und«, er lächelte grimmig, als ihm Saddins Worte wieder einfielen, »sollte sich auch dein Meister nicht mehr an seinen wahren Namen erinnern können, so richte ihm aus, dass Saddin mich schickt. Vielleicht wird das seinem Gedächtnis wieder auf die Beine helfen.«
Von einem Augenblick zum nächsten war der finstere Ausdruck vom Gesicht des jungen Mannes wie weggewischt, und er lächelte so freundlich, als hätte er in Ali plötzlich einen lange verschollen geglaubten Verwandten oder geliebten Freund aus Kindertagen erkannt.
»Das hättet Ihr gleich sagen sollen, Herr«, erwiderte er und verneigte sich. Dann machte er einen Schritt zur Seite. »Bitte, tretet ein, Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina. Wenn Ihr mir bitte folgen wollt?«
Und ehe Ali sich's versah, betrat er das Haus, das ihm bis zu diesem Augenblick besser verschlossen und bewacht zu sein schien als der Palast des Emirs von Qazwin. Er wurde in einen sehr geschmackvoll ausgestatteten Raum geführt. Der junge Mann deutete auf ein paar Sitzpolster.
»Nehmt bitte Platz und stärkt Euch. Ich werde dem Rabbi sogleich Eure Ankunft melden.«
Dann verschwand er. Ali ließ sich erleichtert und verwirrt zugleich auf einem der Polster nieder. Er verstand immer noch nicht. Was hatte er gesagt, dass der Gehilfe plötzlich so zuvorkommend und freundlich war? Es kam ihm fast so vor wie in einer der Geschichten der Märchenerzähler auf dem Basar - kaum hatte er das geheime Zauberwort ausgesprochen, hatte sich auch schon der Fels zur Seite bewegt und den Eingang zur Schatzhöhle freigegeben. War es wirklich allein der Erwähnung von Saddins Namen zu verdanken, dass er vom unerwünschten Eindringling und Bittsteller zum geschätzten Gast emporgestiegen war? Zählte der Name des Nomaden mehr als der von Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina, dessen Ruf als geschickter und erfahrener Arzt mittlerweile sogar bis nach Bagdad reichte? Ali spürte einen schmerzhaften Stich in seiner Brust. Er kannte diesen Schmerz. Es war Eifersucht. Jene quälende, bohrende Eifersucht, die er stets dem Nomaden gegenüber empfunden hatte. Und nicht einmal die Tatsache, dass Saddin tot war, hatte ihn von diesem niederen Gefühl befreien können. Es war schändlich.
Um sich abzulenken, ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen. Auf einem niedrigen Tisch neben ihm standen zwei Schalen. In der einen lagen geröstete Mandeln, in der anderen ein paar frische Datteln. Ali, der plötzlich Hunger verspürte, nahm eine Mandel und roch daran. Sie duftete wahrhaft köstlich. Er warf die Mandel in den Mund. Sie war so frisch geröstet, dass sie noch warm war, und ein wunderbarer, nie gekannter Geschmack, eine ungewöhnliche, aber überaus delikate Komposition der verschiedensten Gewürze breiteten sich auf seiner Zunge aus. Ali griff wieder zu und wieder. Er konnte kaum noch aufhören. Gerade wollte er sich erneut eine der köstlichen Mandeln nehmen, als plötzlich die Tür aufging. Der junge Jude war zurückgekehrt. Erschrocken, als hätte man ihn bei einem Diebstahl ertappt, ließ Ali seine Hand wieder sinken. Es war nur noch eine einzige Mandel auf dem Teller übrig. Doch wenn der Jude das bemerkte und sich darüber wunderte oder amüsierte, so ließ er es sich wenigstens nicht anmerken.
»Der Rabbi ist jetzt bereit, Euch zu empfangen, Herr«, sagte er so höflich, wie man es sich nur wünschen konnte, und verneigte sich. »Wenn Ihr mir bitte folgen wollt?«
Ali wurde durch das Haus geführt, vorbei an einem zauberhaften Innenhof, in dem Rosen und Mandelbäume blühten und ihren lieblichen Duft verbreiteten. Der Jasmin wuchs hier so üppig, dass er die Mauern, die den Garten umgaben, fast vergessen ließ. Ein Marmorbrunnen, in dessen Mitte blühende Seerosen schwammen, plätscherte leise vor sich hin und übertönte das grausige Pfeifen des eisigen Windes, der hoch über ihren Köpfen hinwegwehte. An einigen besonders lauschigen Plätzen standen steinerne Bänke, und zahlreiche Statuen von Löwen und Delfinen bewachten den Garten. Hier war nichts mehr von der düsteren Atmosphäre der Gasse. Und obwohl Ali sicher war, das direkt hinter der Mauer der Friedhof lag, war von der Nähe der Toten, von Trauer, Schmerz, Abschied und Verzweiflung nichts zu spüren. Im Gegenteil, es schien, als wäre es dem Juden Ben Maimon gelungen, mitten in der Trostlosigkeit dieser Gegend ein Bollwerk gegen den Tod zu errichten und dem Leben ein Denkmal zu setzen.
Die beiden Männer stiegen eine schmale Treppe zum ersten Stockwerk hinauf und betraten ein hell erleuchtetes Zimmer. Durch die offenen Fenster wehte der Duft der Blumen herein. Und obwohl die Fenster weit offen standen, war es nicht kalt in diesem Raum, da in einer Ecke ein lebhaftes Feuer brannte.
»Kommt herein, Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina«, sagte ein Mann, der auf einem Stuhl mit ungewöhnlich hoher Lehne saß. »Kommt herein.«
»Salam, Moshe Ben Maimon!«, erwiderte Ali, verneigte sich, wie es die Regeln der Höflichkeit geboten, und betrachtete seinen Gastgeber.
Ihm war nicht klar, was er erwartet hatte, wie er sich den Rabbi, der angeblich alles über die Steine der Fatima wusste, vorgestellt hatte, doch er konnte nicht leugnen, dass er überrascht war. Moshe Ben Maimon war ein kleiner, zerbrechlich wirkender Mann mit schlohweißem Haar, der auf seinem großen Lehnstuhl fast zu verschwinden schien. Und er war alt, sehr alt, obwohl Ali ebenfalls nicht genau klar war, woher er das wusste, denn das Gesicht des Rabbis war beinahe jugendlich glatt. Nur seine Haut war weiß und wirkte fast durchsichtig. Und seine hellen, freundlichen Augen waren so voller Weisheit und Güte, dass es gar keine andere Möglichkeit gab. Er musste alt sein.
»Shalom, Ali al-Hussein!«, erwiderte Moshe Ben Maimon den Gruß auf jüdische Art. »Es freut mich, Euch endlich in meinem Haus willkommen heißen zu dürfen.«
Ali runzelte die Stirn. Der alte Jude klang, als hätte er ihn bereits seit langem sehnsüchtig erwartet. Doch hatte er nicht mehrere Briefe mit der Bitte um ein Treffen an den Juden geschickt? War er nicht bisher jedes Mal abgewiesen worden, wenn man überhaupt geruht hatte, ihm zu antworten? Wenn der Jude ihn also unbedingt zu sehen wünschte, weshalb hatte er ihn dann nicht schon viel früher empfangen? Obwohl es ihn reizte, den Alten auf diesen Widerspruch aufmerksam zu machen, schwieg er. Er war zur Höflichkeit erzogen worden.
»Vergebt mir, dass ich Euch bisher nicht auf Eure Briefe geantwortet habe«, sagte Moshe Ben Maimon, und Ali fragte sich, ob ihm seine Gedanken so deutlich auf der Stirn geschrieben standen. »Allerdings war ich mir nicht sicher, ob die Briefe auch wirklich von Euch stammten und nicht eine Falle waren. Ich muss überaus vorsichtig sein. Und außerdem ... Aber setzt Euch doch.«
Ali stellte fest, dass er sich plötzlich unbehaglich fühlte. Es war das erste Mal, dass er sich im Haus eines Juden aufhielt. Fremder hätte er sich auch nicht fühlen können, wenn ihn das Schicksal wie den Reisenden Ahmad ibn Fadian mitten unter die wilden Nordmänner verschlagen hätte. Dabei war er noch nicht einmal eine halbe Wegstunde von seinem eigenen Haus entfernt. Der alte Moshe machte einen freundlichen, gütigen und gastlichen Eindruck. Außerdem hatten die Juden denselben Stammvater wie die Gläubigen, wenn man den alten Schriften glauben wollte. Er und Ali waren sozusagen Halbbrüder. Objektiv betrachtet gab es also überhaupt keinen Grund, sich unbehaglich zu fühlen.
Abraham. Plötzlich fielen Ali die Geschichten aus dem Koran ein, die ihm Selim immer vor dem Einschlafen erzählt hatte, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Und ihm kam in den Sinn, dass Abraham in seiner Fantasie stets so wie Moshe ausgesehen hatte. Natürlich hatte er niemals darüber gesprochen, denn sich den Stammvater aller Gläubigen bildlich vorzustellen, war streng verboten.
»Setzt Euch, Ali al-Hussein, Ihr müsst müde und erschöpft sein von der Wanderung durch die halbe Stadt. Isaak, schnell, bring einen Stuhl für unseren berühmten Gast.«
Isaak!, dachte Ali amüsiert, und sein Unbehagen war im selben Moment verflogen. Sieh mal an, wie passend. Wurde nicht so der Halbbruder Ismaels genannt, der andere Sohn Abrahams, auf den sich die Juden berufen?
Der junge Jude lief rasch an Ali vorbei und schob einen zweiten Lehnstuhl an das Feuer.
»Bitte, Herr, setzt Euch«, sagt er höflich und schob den Stuhl so zurecht, dass Ali sich nur noch drauffallen lassen musste.
Zögernd ließ Ali sich auf der Kante nieder. Er hatte noch nie zuvor einen Stuhl benutzt. Und obwohl er natürlich wusste, dass insbesondere im Abendland solche Möbelstücke üblich waren, hatte er doch stets die herkömmlichen Sitzpolster vorgezogen. Stühle waren ihm immer unbequem und hart erschienen. Allerdings musste er sich jetzt korrigieren. Dieser Stuhl war sehr bequem und seine Sitzfläche so weich gepolstert, wie man es sich nur wünschen konnte.
Vielleicht sollte ich mir doch ein solches Möbelstück zulegen, dachte er und ließ seine Hände über das glatte dunkle Holz der Armlehnen gleiten.
»Diese Stühle sind angenehm, nicht wahr?«, riss ihn die Stimme seines Gastgebers erneut aus seinen Gedanken. »Vor allem bereitet es entschieden weniger Mühe, sich daraus wieder zu erheben. Eine Annehmlichkeit, die man im Alter nicht unterschätzen sollte.«
Erschrocken und peinlich berührt, doch noch bei einer Unhöflichkeit ertappt worden zu sein, wandte Ali seine Aufmerksamkeit wieder seinem Gastgeber zu. Das fröhliche Funkeln in den hellen Augen des Juden machte ihn unsicher. Unwillkürlich setzte er sich kerzengerade auf.
»Ihr habt Recht«, entgegnete Ali, und seine Stimme klang eine Spur schärfer, als er beabsichtigt hatte. »Vor allem aber ist es angenehm, sich auszuruhen, wenn man lange Zeit vor einer verschlossenen Tür stehen musste.«
»Ihr sprecht von Isaak?« Moshe lächelte voller Güte und Liebe. »Ich kann Euren Unmut verstehen, Ali al-Hussein. Trotzdem bitte ich Euch, dem Jungen zu verzeihen, falls er Euch unhöflich behandelt hat. Ich bitte Euch um Euer Verständnis. Was auf Euch wie Unhöflichkeit und mangelnde Gastfreundschaft wirken muss, ist für uns eine Frage des Überlebens. Wir Juden sind hier in Qazwin ...« Moshe Ben Maimon runzelte die Stirn und schnalzte mit der Zunge. »Nun, wir werden geduldet, um es höflich auszudrücken. Dennoch warten so manche der >Gläubigen< nur auf die erstbeste Gelegenheit, uns ein für alle Mal aus der Stadt zu vertreiben - oder gar zu töten. Was den meisten sogar noch lieber wäre. Deshalb ist man hier, am Ende der >Gasse der Totem, wie wir sie nennen, sehr misstrauisch Fremden gegenüber - insbesondere dann, wenn sie am Vorabend des Sabbat mitten während der Vorbereitungen an unsere Türen klopfen.«
Ali spürte, dass er rot wurde. Er wusste nicht viel über die Bräuche der Juden, aber er wusste, dass der Sabbat ähnlich wie der Freitag bei den Gläubigen der Tag war, an dem sie zu ihrem Gott beteten. An diesem Tag waren stets alle jüdischen Geschäfte, die er jemals kennen gelernt hatte, geschlossen gewesen.
»Ich bitte um Vergebung«, sagte er und fragte sich, weshalb er diesem alten Mann, der so schwach und zerbrechlich aussah, nicht mit dem gleichen Selbstbewusstsein gegenübertreten konnte wie anderen. Er war nicht Abraham. Er war ein Händler, ein Kaufmann, ein gewöhnlicher alter Mann, nichts weiter. Und trotzdem ... Selbst Abraham war letztlich nichts als ein Hirte gewesen. »Es war nicht meine Absicht, Euch bei Euren Zeremonien zu stören.«
»Ich weiß, Ali al-Hussein, ich weiß. Es ist nicht Eure Schuld. Diese ständigen Sticheleien, die Angst, die wir andauernd um unser Hab und Gut, um unser Leben ausstehen müssen, ist nur ein Teil des uralten Bruderstreits, des Streites zwischen Raheis und Sarahs Kindern.«
Die beiden Frauen Abrahams, dachte Ali. Seltsam, dass der Alte ausgerechnet sie erwähnt. Ob er Gedanken lesen kann? Oder ist er am Ende sogar wirklich und wahrhaftig ...? Er sah den alten Juden an. Das war nicht möglich, das konnte nicht sein, selbst bei allem, was er über die Steine der Fatima wusste, konnte dieser Mann niemals ...
Moshe lächelte, aber diesmal wirkte sein Lächeln traurig.
»Wir beide, Ali al-Hussein, werden in unserer Lebensspanne den Streit zwischen den Brüdern nicht schlichten können, ganz gleich, wie viel Mühe wir uns geben mögen. Und das wird sich auch in hunderten von Jahren nicht ändern. Dabei ist dieser Streit so töricht.« Er seufzte. »Aber Ihr habt nicht den Weg in diesen entlegenen Winkel der Stadt auf Euch genommen, um dem Geschwätz eines alten Mannes zu lauschen. Was habt Ihr auf dem Herzen, Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina?«
Ali hatte sich seine Worte sorgfältig zurechtgelegt. Den ganzen Tag über und sogar noch auf dem Weg hierher hatte er genau gewusst, was er dem Juden sagen wollte. Doch in diesem Augenblick fiel ihm nichts mehr davon ein. Gar nichts. Es war, als hätte der eisige Wind in der Gasse alle Gedanken aus seinem Kopf vertrieben.
»Saddin schickt mich«, sagte er und ärgerte sich schon im nächsten Augenblick über sich selbst. Das klang ja beinahe, als sei er nichts weiter als der Bote eines anderen! »Ich meine, er hat mir empfohlen, mich an Euch zu wenden, falls ich jemals Fragen in einer ganz bestimmten Angelegenheit haben sollte. Er sagte, Ihr könntet mir helfen.«
»Sagte er das?« Erneut glitt ein Lächeln über das Gesicht des alten Mannes. »Nun, dann wird es wohl stimmen. Und?«
Unter dem erwartungsvollen Blick des alten Juden wurde Ali heiß. Plötzlich kam er sich töricht vor, und der Wunsch, einfach aufzustehen und wieder nach Hause zu gehen, wurde übermächtig.
Bleib!, befahl eine innere Stimme. Denk immer daran, wer du bist. Du bist Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina, der Leibarzt des Emirs. Du brauchst dich nicht vor einem alten Juden zu fürchten. Außerdem wirst du das Rätsel niemals lösen können, wenn du jetzt feige bist.
»Es geht um ein Sternbild«, sagte er schließlich.
Moshe Ben Maimon setzte sich auf seinem Stuhl auf.
»Ein Sternbild?«, fragte er, als glaubte er sich verhört zu haben. »Vergebt mir meine Überraschung, Ali al-Hussein, aber ich fürchte, da kann ich Euch nicht weiterhelfen. Ich bin ein bescheidener Ölhändler und Rabbi. Ich kenne mich in der Welt des Handels und den heiligen Schriftrollen meines Volkes aus und könnte Euch vermutlich fast jede Frage hierzu beantworten, aber ich bin wahrlich kein Sterndeuter. Ich fürchte, Ihr müsst Euch an jemanden wenden, der ...«
»Natürlich handelt es sich nicht um ein gewöhnliches Sternbild«, unterbrach ihn Ali verärgert. Hatte Saddin nicht gesagt, dass dieser Jude alles wisse? Nun schien es so, als hätte sich der Nomade nur einen Scherz mit ihm erlaubt. Oder stand er etwa vor dem falschen Mann? »Es ist auf keiner der mir bekannten Sternkarten verzeichnet. Das Sternbild, von dem ich spreche, hat die Form eines Auges.«
Der alte Jude ließ sich langsam auf seinem Stuhl zurücksinken.
»Ein Auge? Das klingt in der Tat interessant«, sagte er. Doch Ali hatte den Eindruck, dass er vorsichtig geworden war. Die hellen Augen fixierten ihn, als wollte er bis in die Tiefen seiner Seele hinabschauen. »Aber es war nicht meine Absicht, Euch zu unterbrechen. Fahrt fort.«
Ali erhob sich und begann in dem Zimmer auf und ab zu gehen. Einerseits konnte er sich so besser konzentrieren, andererseits entkam er auf diese Weise dem forschenden Blick des alten Mannes.
»Seit vielen Jahren schon pflege ich regelmäßig den Sternenhimmel zu beobachten. Doch jenes Sternbild sah ich bisher erst ein einziges Mal«, sagte er und dachte im selben Augenblick, dass sich die ganze Geschichte für einen Außenstehenden wohl ziemlich unglaubwürdig anhörte. Aber das hätte er sich vorher überlegen müssen. Jetzt gab es kein Zurück mehr. »Es war in einer sternenklaren Nacht vor einigen Wochen. Es stand direkt über meinem Haus. Ich brauchte nicht einmal ein Fernrohr, auch mit bloßem Auge war es deutlich zu erkennen. Seit jener Nacht jedoch ist es verschwunden. Und ich frage mich ...«
»Wie ich Euch schon sagte, bin ich kein Sterndeuter. Doch ist dieses Phänomen nicht bekannt?«, wandte Moshe ein. »Ich glaube, ich habe bereits von Sternen und Sternkonstellationen gehört, die nur zu bestimmten Jahreszeiten, an bestimmten Tagen oder sogar nur alle paar Jahre sichtbar sind. Wenn mich nicht alles täuscht, so behaupten zum Beispiel die Christen, dass über dem Geburtshaus von Jesus Christus solch ein Stern stand, der den Hirten den Weg gewiesen haben soll und den seither kein menschliches Auge mehr gesehen hat. Könnte es nicht sein, dass ...«
»Aber doch nicht so!«, fiel Ali dem Juden aufgebracht ins Wort. »Seit frühester Jugend beschäftige ich mich mit der Astronomie. Und natürlich weiß ich, dass sich der Sternenhimmel jeden Tag verändert. Sterne, ja, ganze Sternbilder kommen und gehen wieder. Aber jede dieser Umwandlungen dauert eine gewisse Zeit, und seien es nur Tage oder Stunden. Das Auftauchen und Verschwinden von Sternbildern kann man für gewöhnlich beobachten. Doch sooft ich den Himmel auch mit meinem Fernrohr nach diesem Auge absuche, es bleibt unsichtbar. Es ist, als wäre es einfach fortgewischt worden. Aber wie kann das sein? Sterne können nicht einfach verschwinden! Es ist so ...« Er brach ab auf der Suche nach den passenden Worten. »Es verwirrt mich. Manchmal bin ich mir noch nicht einmal mehr sicher ...«
»Ob Ihr das Sternbild wirklich gesehen habt?«, fragte Moshe Ben Maimon. Ein seltsames Lächeln umspielte seine Lippen. In diesem Augenblick war Ali sicher, er stand vor dem richtigen Mann. Der alte Jude wusste etwas über dieses Auge. »Ich kann Euch versichern, dass Ihr Euch nicht geirrt habt. Es gibt dieses >Auge<, wie Ihr es nennt. Allerdings spielt diese Frage keine Rolle, Ali al-Hussein. Viel wichtiger ist, weshalb Ihr es unbedingt wiederfinden wollt.«
Die Stimme des Juden klang sanft und verständnisvoll. Vielleicht wirkte sie gerade deshalb auch so eindringlich auf Ali, eindringlich und fordernd wie die Stimme seines alten, klugen Lehrers, dessen Erklärungen und Unterweisungen er bis heute nicht vergessen hatte. Natürlich war er erleichtert, dass er sich nicht getäuscht, sich keine Erscheinung eingebildet hatte. Das Sternbild existierte, das hatte Moshe soeben zugegeben. Er konnte seinen Sinnen noch trauen. Trotzdem fühlte er sich seltsam hilflos. So hatte er sich das letzte Mal gefühlt, als er im Alter von neun Jahren vor seinem Lehrer gestanden hatte und über das Buch eines griechischen Gelehrten geprüft worden war, das er gar nicht gelesen hatte.
»Wie soll ich es erklären«, begann er und beschloss nach kurzem Nachdenken, die Wahrheit zu sagen. Warum auch sollte er sich vor dem alten Juden fürchten? Er würde es gewiss niemandem weitererzählen. Höchstens seinen Nachbarn. Und wenn sich eine Hand voll Juden über ihn lustig machte, brauchte es ihn nicht zu kümmern. Diese Leute zählten in der Gemeinschaft der Gläubigen nicht, und ihr Urteil hatte kein Gewicht. »Dieses Sternbild war wunderschön. Es wirkte so tröstlich, so beruhigend. Es gab mir Hoffnung.« Hoffnung? Worauf eigentlich? Hoffentlich fragte der Rabbi nicht danach.
Moshe Ben Maimon legte die Spitzen seiner knochigen, vom Alter gekrümmten Finger aneinander. Eine Weile betrachtete er Ali eingehend.
»Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina«, sagte er leise, wobei er jede einzelne Silbe betonte. »Der berühmte Arzt und Gelehrte, ein Mann, der nur darauf vertraut, was er mit seinen Augen und seinem Verstand erfassen kann. Ein Mann, der sogar dem Glauben, in dem er erzogen wurde, nicht viel Bedeutung beimisst.« Ali wollte etwas erwidern, doch der Alte gebot ihm mit einer Geste zu schweigen. »Versteht mich nicht falsch, Ali al-Hussein, ich kann und will nicht über Euch Recht sprechen. Ich will Euer Verhalten weder gutheißen noch verdammen. Wir haben mit Saddin sehr oft von Euch gesprochen, und deshalb frage ich mich, ob Ihr bereit seid zu hören, was ich Euch zu sagen habe. Überlegt es Euch gut. Wollt Ihr wirklich die Wahrheit wissen, selbst wenn sie jenseits dessen liegen sollte, was sich mit Hilfe des Verstandes erklären lässt?«
Ali schwieg. Er war überrascht und gleichzeitig wütend. Was fiel Saddin und diesem alten Juden ein, über ihn zu reden? Und warum tat Moshe Ben Maimon so geheimnisvoll?
»Ja«, antwortete er bestimmt. »Natürlich will ich die Wahrheit wissen.« Das will ich stets, fügte er in Gedanken hinzu.
Der alte Jude nickte langsam. »Gut. Dann setzt Euch wieder. «
Er klatschte zweimal in die Hände, und sofort erschien der junge Mann, der Ali die Tür geöffnet hatte.
»Isaak, bringe uns etwas zu essen und zu trinken. Hole auch Wein aus dem Keller.«
»Wein?«, erkundigte sich Ali überrascht, nachdem Isaak den Raum wieder verlassen hatte. »Ihr wagt es, mir Wein anzubieten? Dafür könnte ich Euch in den Kerker werfen lassen. Ihr wisst doch sicher, dass den Gläubigen der Genuss von berauschenden Getränken verboten ist?«
»Den Gläubigen. Ja, das weiß ich«, sagte Moshe. Diese Worte klangen so leicht, so beiläufig, doch unter dem wissenden Lächeln des alten Mannes errötete Ali wie ein Schüler, der von seinem Lehrer beim Mogeln ertappt worden war. Ob Saddin Moshe sogar erzählt hatte, dass er es mit der Einhaltung der Gebote des Korans nicht so genau nahm? Dass einige Gläubige ihn für einen Gotteslästerer hielten und er deswegen von manchen Herrschern verfolgt wurde? Es war wirklich beschämend, wie gut der Alte über ihn Bescheid wusste. Und er? Was wusste er über den Juden? Nichts - außer seinem Namen.
»Saddin muss Euch wirklich alles über mich erzählt haben.«
»Ihr klingt verbittert, Ali al-Hussein«, bemerkte Moshe. »Aber Ihr solltet Saddin nicht zürnen. Wenn er über Euch spricht, so ...«
»Sprach«, verbesserte Ali den Alten. »Er ist tot.«
Moshe wurde bleich. Er schloss die Augen, seine Lippen bewegten sich wie im Gebet. Nach einer Weile wischte er sich mit der Hand über das Gesicht. »Verzeiht mein Entsetzen, Ali al-Hussein, doch diese Nachricht trifft mich unvorbereitet. Ich habe mehr verloren als einen wertvollen Verbündeten.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Umso weniger dürft Ihr Saddin jetzt noch zürnen, denn wenn er über Euch sprach, so stets als Freund, der um Eure Sicherheit und Euer Leben besorgt war.«
»Ich wünschte nur, er hätte über Euch ebenso bereitwillig gesprochen«, erwiderte Ali.
Moshe zuckte mit den Schultern. »Vermutlich hatte er seine Gründe. Doch wir sollten uns lieber Eurer Frage widmen. Saddin sagte mir, dass Ihr Euch selbst mit den Steinen der Fatima beschäftigt habt. Trifft das zu?«
»Ja, das ist richtig«, antwortete Ali und fragte sich, was sein Sternbild mit dem Saphir zu tun haben könnte. »Allerdings muss ich gestehen, dass ich trotz umfangreicher Nachforschungen bisher wenig herausgefunden habe, das mir weiterhelfen konnte. Nur ein paar törichte, fast vergessene Legenden, Geschichten oder Märchen, an die sich höchstens eine Hand voll alter Menschen erinnern. In den Schriften der Philosophen und Gelehrten hingegen fand ich keine Hinweise. Lediglich einer von ihnen beschäftigt sich mit der Heilkraft von Steinen. Doch dieses Werk ist sehr allgemein gehalten. Jener Saphir, der den Beinamen >Stein der Fatima< trägt, wird darin mit keiner Silbe erwähnt.«
Moshe lächelte. »Nein, natürlich nicht. In diesen Büchern werdet Ihr gewiss keine Hinweise auf den Stein finden. Aber in den Legenden ...«
»Wollt Ihr damit etwa behaupten, dass die Sagen, es handle sich bei dem Saphir um einen Teil des Auges der Fatima, der Lieblingstochter des Propheten, der Wahrheit entsprechen?«, unterbrach ihn Ali. »Das kann ich nicht glauben.«
»Doch gerade darum geht es. Denn alles, was mit dem Stein zu tun hat, ist eine Frage des Glaubens«, erwiderte der alte Jude. »Ob es sich nun wirklich um das Auge der Lieblingstochter des Propheten handelt oder nicht, das sei dahingestellt. Aber lassen wir das für den Moment. Ihr seid schließlich nicht zu mir gekommen, um nach dem Saphir zu fragen. Euch geht es um das Sternbild. Das Auge, das Ihr gesehen habt, existiert wirklich. Und wenn es auf den Sternkarten nicht verzeichnet ist, so braucht Euch das nicht zu verwundern, denn es erscheint nur selten am Himmel, meist sogar nur für wenige Momente, und dann ist es oft nicht einmal für jeden sichtbar. In Eurem Volk wird es >Auge der Fatima< genannt, und es taucht immer im Zusammenhang mit dem Stein auf. Es ist ein Zeichen.«
Ali schüttelte heftig den Kopf. »Aber das ist nicht möglich!«, rief er aus. »Sterne können nicht einfach aus dem Nichts auftauchen und wieder verschwinden. So etwas gibt es nicht.«
»Wer hat denn gesagt, dass die Sterne verschwinden?«, entgegnete Moshe und lächelte, sodass Ali den Eindruck bekam, der Alte mache sich über ihn lustig.
»Treibt keine Spielchen mit mir!« Er verlor allmählich die Geduld. »Dafür habe ich den Weg quer durch die Stadt nicht auf mich genommen. Ich suche Antworten auf meine Fragen. Und solltet Ihr sie mir nicht geben können - oder nicht geben wollen -, so sagt es jetzt, bevor ich noch mehr von meiner kostbaren Zeit verschwende.«
Moshe Ben Maimon hob eine Augenbraue. War er nur überrascht, oder war es ein Zeichen der Nachsichtigkeit und des Spottes? Ali konnte es nicht deuten. Er wurde nicht schlau aus dem Alten.
»Ihr wollt also eine überzeugende Erklärung für das, was Ihr beobachtet habt? Nun, so lasst uns dieses Phänomen so betrachten, wie Gelehrte und Philosophen es vermutlich betrachten würden«, sagte er. Dabei wirkte er amüsiert wie ein Lehrer, der seinem widerspenstigen, begriffsstutzigen Schüler noch einmal die Grundbegriffe der Mathematik erklären musste. »Allah - so nennt Euer Volk Gott doch? - ist der Schöpfer des Himmels und der Erde. Stimmt Ihr mir zu?«
Ali zuckte mit den Schultern. »Ich weiß zwar nicht, was das mit unserem Problem zu tun hat, aber ...«
»Stimmt Ihr mir zu, Ali al-Hussein?«
»Nun ... So steht es wenigstens im Koran.«
»Und nicht nur im Koran, sondern auch in der Bibel der Christen und in den heiligen Schriften meines Volkes.« Moshe nickte zufrieden. Sein Schüler hatte ihm die erwartete Antwort gegeben. »Gehen wir also davon aus, dass dieser Satz stimmt. Allah ist der Schöpfer des Himmels und der Erde.«
Ali verdrehte die Augen. Er kam sich vor, als hätte ihn der Imam zu einem Gespräch über die Pflichten eines Gläubigen in die Moschee geladen. Doch der alte Jude gebot ihm mit einer Geste zu schweigen, noch bevor er seiner Ungeduld Luft machen konnte.
»Wenn Allah also der Schöpfer des Himmels und der Erde ist, so ist Er allmächtig. Erde und Himmel unterstehen Seinem Willen. Stimmt Ihr mir zu?« Ali nickte gelangweilt. »Gut. Wenn jetzt also Allah allmächtig ist und Erde und Himmel Seinem Willen unterstehen, so steht es Ihm natürlich auch frei, zu jeder Zeit und ganz nach Seinem Belieben die Konstellation der Sterne zu verändern.«
Einen Augenblick lang war Ali zu überrascht, um etwas zu erwidern. Er brauchte Zeit, um über die Bedeutung der Worte des Juden nachzudenken. Die Theorie des Alten klang plausibel, einleuchtend. In sich war sie geschlossen und logisch. Doch sie hatte einen gravierenden Schwachpunkt.
»Das kann nicht Euer Ernst sein«, sagte er schließlich. »Ihr könnt nicht wirklich glauben, was Ihr mir eben gerade erzählt habt. Allah soll die Sterne durcheinander gewirbelt und ein Auge daraus geformt haben? Ihr erlaubt Euch einen Scherz mit mir.«
Doch der alte Jude lachte nicht. Im Gegenteil, er wirkte plötzlich sehr ernst. So ernst, dass Ali Angst bekam, der Alte könnte mehr verstanden haben, als ihm lieb war.
»Ich begreife es einfach nicht! Warum um alles in der Welt hat Saddin mich zu Euch geschickt?«
»Weil er weiß, dass es Dinge gibt, die der menschliche Verstand nicht begreifen und schon gar nicht erklären kann. Und weil er bereit ist, daran zu glauben. Im Gegensatz zu Euch.«
»Aber ...«
»Ich habe Euch gefragt, ob Ihr die Wahrheit wissen wollt«, sagte Moshe. »Erinnert Ihr Euch?«
»Ja, natürlich«, erwiderte Ali ärgerlich. »Aber damit meinte ich doch nicht weitere Märchen und Geschichten. Ich wollte die Wahrheit wissen. Ich wollte wissen, was wirklich geschieht und woher und weshalb dieses Sternbild ...«
Der alte Jude schüttelte den Kopf und erhob sich ächzend von seinem Stuhl.
»Ich möchte Euch bitten zu gehen, Ali al-Hussein. Jetzt.«
Ali starrte den alten Mann an. Er konnte nicht glauben, was er eben gehört hatte. Warf ihn der Jude wirklich hinaus, als wäre er nichts weiter als ein streunender Hund? Das war ungeheuerlich. Ihm wurde von einem Augenblick zum nächsten heiß vor Wut, und seine Hände begannen zu zittern.
»Wie könnt Ihr es wagen ...«
»Nein!« Moshe Ben Maimon fuhr ihn so heftig an, dass Ali erschrocken aufsprang. »Wie könnt Ihr es wagen zu behaupten, Ihr wärt auf der Suche nach der Wahrheit? Ihr wollt die Wahrheit doch gar nicht wissen. Ihr sucht nur nach einer bequemen Erklärung, einer Antwort, die sich nahtlos in Eure Lebensanschauung einfügt, ohne dabei Euren eigenen Ideen zu widersprechen. Aber solch eine Antwort kann und will ich Euch nicht geben. Dabei geht es nicht einmal um religiöse Überzeugungen. Es geht lediglich um die Bereitschaft, seinen Geist und seine Seele auch für das Unbekannte, Ungewöhnliche zu öffnen. Und so Leid es mir auch tut, die Angst davor kann ich Euch nicht nehmen.« Er machte eine Pause und schnappte nach Luft. Dann fuhr er deutlich ruhiger fort: »Ja, Ihr habt Angst, Ali al-Hussein. Ihr habt erbärmliche Angst. Ihr fürchtet, dass die Wahrheit Euer Weltbild, das Ihr Euch so mühevoll in all den Jahren zusammengetragen habt, zum Einstürzen bringen könnte. Deshalb verschließt ihr lieber die Augen vor allem, was Euren eigenen, beschränkten Horizont überschreiten könnte. Ich weiß, Ihr wollt das von mir nicht hören. Ihr seid schließlich ein >Gelehrter<, der die Werke aller Philosophen gelesen und vielleicht sogar verstanden hat. Euer Geist ist ja angeblich so frei und unabhängig, Euer Verstand so scharf, dass Ihr Euch nicht einmal mehr an jene Glaubens- regeln zu halten braucht, die Euch als Kind gelehrt wurden. Doch in Wahrheit unterscheidet Ihr Euch in keiner Weise von denen, die Euch in ihrer eigenen Engstirnigkeit als Gotteslästerer bezeichnen und deswegen verfolgen.« Er schüttelte den Kopf. »Es tut mir Leid, Ali al-Hussein, aber ich kann Euch nicht helfen. Wenigstens jetzt noch nicht. Kommt wieder, wenn Ihr dazu bereit seid.«
Alis erste Regung war, etwas zu entgegnen, sich gegen die infamen, haarsträubenden Anschuldigungen des alten Juden zu verteidigen, doch dann siegte sein Stolz. Abrupt drehte er sich um und ging zur Tür. Was sollte er diesem greisen Kerl sagen? Weshalb sollte er sich gegen diese Beschimpfungen zur Wehr setzen? Hatte er das nötig? Nein. Er war Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina, ein Gelehrter, ein Wissenschaftler, der Leibarzt des Emirs. Während andere Jungen seines Alters auf den Straßen gespielt hatten, hatte er allein in seiner Kammer über den Büchern gesessen und studiert - Mathematik, Philosophie, Medizin, Astronomie. Er hatte sein Leben in den Dienst der Wissenschaft gestellt und bereits als Jüngling mehr gewusst als alle seine Lehrer zusammen. Und jetzt sollte er sich von diesem Juden beleidigen lassen? Nein. Er würde schon noch eine glaubhafte, überzeugende Erklärung für oder gegen die Existenz und das plötzliche Auftauchen und Verschwinden dieses seltsamen Sternbildes finden. Auch ohne die Hilfe eines Moshe Ben Maimon.
An der Tür stieß Ali um ein Haar mit Isaak zusammen, der gerade mit einem Tablett mit Speisen und Wein zurückkehrte. Der junge Mann warf Ali einen überraschten Blick zu und sah dann seinen Herrn fragend an.
»Unser Gast will bereits gehen, Isaak«, sagte der alte Jude hinter Alis Rücken. »Leider. Bitte, geleite den Leibarzt des Emirs zur Tür.«
»Spart Euch die Mühe«, erwiderte Ali über die Schulter hinweg. »Den Weg finde ich auch allein.«
Mit langen Schritten eilte er die Treppe hinunter durch den Garten. Voller Zorn warf er die Tür hinter sich zu, froh, endlich dem Haus des Juden entronnen zu sein. Wie konnte Moshe Ben Maimon es wagen, ihn derart zu beleidigen? Ein vermutlich schon seniler Greis, den die Gicht an sein Haus fesselte und der es noch nicht einmal wagte, unter seinem wahren Namen in der Öffentlichkeit aufzutreten, wollte ihn belehren? Das war einfach lächerlich. Ali schäumte vor Wut. Die Stimme des Alten hallte in seinem Kopf nach, und die Verleumdungen brannten in ihm, als hätte man ihm ein glühendes Eisen auf seine Stirn gepresst. Nicht einmal dem kalten Nachtwind gelang es, seine Wangen zu kühlen. Doch am wütendsten war Ali über sich selbst. Deutlich hörte er die Enttäuschung, die in den zornigen Worten des alten Juden mitgeschwungen hatte. Und eine leise, eindringliche Stimme tief in seinem Innern sagte ihm Dinge, die er eigentlich nicht hören wollte: Hatte Moshe Ben Maimon vielleicht sogar Recht mit seinen Anschuldigungen? Ein Gelehrter, ein Wissenschaftler musste stets bereit sein, seine eigenen Lehren und Überzeugungen zu überdenken, abzuändern oder gar fallen zu lassen, um sie zu verbessern und den eventuell neu hinzugewonnenen Erkenntnissen anzupassen. War er dazu wirklich nicht bereit? Fürchtete er sich etwa tatsächlich davor, einer Wahrheit zu begegnen, die imstande war, sein ganzes Weltbild auf den Kopf zu stellen? Wenn ja, dann war er in der Tat nicht besser als jener Muezzin, der heute Vormittag in sein Haus gekommen war und ihm vorgeworfen hatte, zu selten in der Moschee zu erscheinen. Dann war er auf seine eigene Art ebenso verbohrt und verstockt. Und dieser Gedanke gefiel Ali al-Hüssein überhaupt nicht.