16. Juli
Liebe Susanne!
Ich habe jemanden kennengelernt. Sie heißt Mara und ist quasi aus dem See gestiegen, wie eine Nixe, obwohl sie aus der Slowakei kommt. Kennen Sie Zvolen? Das muss eine kleine, ganz reizende Stadt sein. Eine Universitätsstadt außerdem. Mara macht ihren Doktor in Biologie. Am Kleinen Elbsee studiert sie das Verhalten von phoxinus phoxinus, also, wie Sie zweifellos wissen, der Elritze. Mara spricht ein ausgezeichnetes Deutsch, von einem kaum auffallenden Doppel-s-Fehler abgesehen.
Sie ist keine Studentin im Sinne von Mädchen frisch von der Schulbank. Ja, sie ist jünger als ich, aber nicht viel jünger. Wenn sie mit dem Studium endgültig fertig ist, möchte sie als Gewässerexpertin für den Umweltschutz oder einen Nationalpark arbeiten. Vielleicht in den Karpaten. In der Niederen Tatra. Das ist nicht weit von dort, wo sie aufgewachsen ist. Da könnte sie in der Nähe ihrer Familie bleiben, und außerdem ist die Tatra »unfazzbar schön«.
Wegen eines schweren Gewitters musste Mara in der Hütte übernachten. Mara sieht übrigens sehr gut aus. Aber glauben Sie bitte nicht, dass ich irgendwelche Hintergedanken hatte! Wir haben unseren Abend auch zu dritt beschlossen, denn plötzlich kam August bei der Tür herein.
In den Armen hielt er Aisha, seine Hündin. Habe ich Ihnen schon von Aisha erzählt? Wie Sie wissen, verehrte Verlegerin, bin ich ja in Berlin und Umgebung nicht gerade als Hundefreund bekannt. Aisha ist eine Ausnahme. Sie ist schwarz mit einem weißen Fleck auf der Brust. Auch die Schwanzspitze ist weiß. Und dieser Hundeblick aus den dunkelbraunen Augen! Diese Augen sehen aufmerksam in die Welt, mit einer unglaublichen Hingabe und einer sanften Melancholie. Wenn August aufsteht oder sich fortbewegt, dann folgt ihm dieser Blick. Der Hund bewegt sich nicht, nur die Augenbrauen zeichnen kleine Fragezeichen in die Luft.
August war in einem entlegenen Teil seines Reviers, mitten auf einem Bergrücken, von dem Gewitter überrascht worden. Da es zu gefährlich gewesen wäre, in dieser Höhe, die keinerlei Schutz vor Blitzschlägen bietet, weiterzugehen, hatte er sich mit seinem Hund in einer Felsnische verkrochen. Beim Abstieg in der Dämmerung hatte sich Aisha an einer scharfen Steinkante die Pfote aufgeschnitten. Nun musste August außer seinem Jagdgewehr und dem Rucksack auch noch den Hund tragen, der ziemlich stark blutete und nicht weitergehen konnte.
Erschöpft war August bei der Hütte angelangt und hatte Licht gesehen. Da bis zu seinem Auto noch ungefähr eine Stunde Fußmarsch zurückzulegen gewesen wäre, bat er darum, über Nacht in der Hütte bleiben zu dürfen.
Ich sagte natürlich gleich zu, obwohl ich eine gewisse Unsicherheit in Maras Blick erkennen konnte. Jetzt saß die Arme mit zwei wildfremden Männern allein in einer Hütte am Ende der Welt.
Als erstes versorgten wir Aishas wunde Pfote: Ich holte frisches Wasser, August wusch die aufgeplatzte Pfote damit ab. Dann desinfizierte er mit Schnaps. Für den Verband mussten wir eines Ihrer Geschirrtücher (Blümchenmuster) opfern, aber ich nehme einmal an, Ihnen als Tierfreundin macht das nichts aus.
Von seiner Lederhose wollte sich August auch in der Nacht nicht trennen, die müsse, sagte er, am Körper trocknen, weil sie sonst ihre Geschmeidigkeit verliert. Er streckte sich einfach auf seiner Seite der Eckbank aus und sagte noch: »Morgen wird’s schön.« Wenige Sekunden später hörten wir ihn tief und regelmäßig schnaufen, und es klang ähnlich wie das Rauschen der Bäume im nächtlichen Wind. Das Prasseln des Regens auf dem Dach hatte aufgehört. Mara und ich lächelten einander ein wenig ratlos an. Augusts Müdigkeit wirkte wie ansteckend. Natürlich überließ ich Mara mein Bett. Sie nahm es ohne große Umstände an.
Ich setzte mich zum Hund auf den Boden und streichelte ihn. Aisha sah mich zuerst verwundert an, dann ließ sie ihren Kopf mit einem Seufzer auf den Boden fallen. Eine Welle der Entspannung glitt sichtbar durch ihren Körper. Was für ein weiches, warmes Fell. Ich löschte die Kerze und legte mich auf meinen Teil der Bank.
Der Duft von frischem Kaffee weckte mich. August hatte Feuer gemacht und stand wohlgelaunt am Herd. »Kein Wolkerl am Himmel«, sagte er, »und die Pfote ist auch schon viel besser.«
Er brachte mir eine Tasse Kaffee ans Bett, also an den Tisch. Es dauerte nicht lange, und Mara erschien. Sie ist offensichtlich kein Morgenmensch. Ich sehe so etwas auf den ersten Blick. Morgenmenschen sehen in der Früh ungefähr so aus wie am Abend. Bei Nicht-Morgenmenschen hinterlässt der Schlaf kleine Polster auf den Wangen, Verschwollenheiten in den Augenlidern, eine Ungenauigkeit im Blick und ein leichtes Schwanken im Körper. Schlaftrunkenheit.
August und ich grüßten artig. Ich half Mara dabei, sich auf einen Sessel zu setzen, August brachte heißen Kaffee. Sie sagte nichts und wir auch nicht. Ich sah ihr zu, wie sie allmählich das Bewusstsein erlangte, wie ihr Blick sich klärte, Haare und Haut sich glätteten, als würden sie von unsichtbarer Hand gestreichelt.
Nun sind beide fort. August begleitete sie ans andere Ufer zu ihren Sachen, die zweifellos fürchterlich nass sind. Sein Auto steht in der Nähe, er wird sie dann in ihr Quartier bringen, das Moped hängt er hinten aufs Auto.
Morgen kommt Mara angeblich wieder.
Wissen Sie eigentlich, was der Name Alfred bedeutet?
Herzliche Grüße
Alfred Firneis
PS: Drei Stunden später – bin doch nach Grünbach hinunter gefahren, um diesen Brief aufzugeben und einzukaufen. Saß in der Gams auf ein Bier. Hier ist jetzt alles voll mit Wiener Touristen. Wenn man länger nicht in Wien war, klingt die Sprache der Wiener merkwürdig. Die Frauen ziehen die Selbstlaute so entseeetzlich in die Lähhhnge, und die Männer hochnäseln mit einer Wichtigkeit, als würden Sie gerade direkt vom Kaiser kommen. Das Frollein von der Post will übrigens dasselbe wie Sie: Ich soll endlich abgeben. Auf Wiedersehen!
17. Juli
»Phoxinus phoxinus gilt als sehr gefährdet«, erklärte Mara.
Sie war am späten Vormittag gekommen, das Holpern und Knattern ihres Mopedmotors vorausschickend, und tatsächlich, Fred konnte Mara zwischen den Bäumen ausmachen, wie sie auf dem uralten Puch-Mofa ihrer Zimmervermieterin über die Schotterstraße tuckerte und blaue Rauchwölkchen hinterließ. Ihre Haare wirbelten im Fahrtwind, und Fred sah ihr konzentriertes Gesicht. Von Helmpflicht hatte man im inneren Elbtal offensichtlich noch nichts gehört. Zitronenfalter, hatte Fred gedacht, als Mara in ihrem luftigen, gelben Sommerkleid den Pfad herabgeschwebt war.
Nun knieten sie nebeneinander auf dem Steg. Mara hatte einen Block mit, darauf kritzelte sie Wörter und Zahlen, importance 250–330 konnte Fred entziffern, effects, gender und performing.
»Spricht man in der Slowakei Englisch?«, fragte er.
»Man schaut nicht in die Schriften von anderen Menschen«, tadelte Mara, obwohl sie am Vortag Freds Schnipsel genauso neugierig begutachtet hatte.
»Tut mir leid. Ich weiß das normalerweise. Ich verwildere hier«, antwortete Fred, während er gleichzeitig die Wörter patterns und behaviour erspähte.
Er sah zu, wie die gestreiften Fischchen im flachen Wasser in geordneter Formation im Kreis schwammen. Manchmal ergriff den Schwarm ohne ersichtlichen Grund eine plötzliche Erregung, die Formation wich dem Chaos, scheinbar zappelte jeder Fisch, wie er wollte, und die Wasseroberfläche brodelte.
»Was machen die Fische?«, fragte Fred.
»Sex«, antwortete Mara trocken.
»Oh«, sagte Fred.
»Ich bin hier, um ihr Fortpflanzungsverhalten zu studieren«, erklärte die Forscherin.
»Diese Fische kommen fast nur noch in klaren Seen in den Alpen vor. Slowakisches Ministerium für Umwelt überlegt ein Programm der Wiederansiedelung in den Wazzern der Karpaten. Ich gehöre zu einem Team und wir machen eine Evaluation von den biologischen Auswirkungen von diesem Projekt.«
»Bleibst du lange hier?«
»Nein. Ich muzz Ergebnizze bringen. Und die Zeit für reproduction ist bald vorbei.«
»Sex aus«, stellte Fred trocken fest, aber das kam ihm so blöd vor, dass er eine Frage nachschob: »Haben die Fische Spaß dabei?«
»Phoxinus ist ein typischer … wie sagt man … Schwarmlaicher. Das heizt, es müzzen viele sein, damit sie in Stimmung kommen.«
»Aha«, sagte Fred.
»Nicht so wie bei uns«, fügte Mara hinzu und lächelte Fred an.
»Nicht so wie bei uns«, hallte es in Freds Kopf nach. Vielleicht kann sie einfach die Wirkung ihrer deutschen Sätze nicht so richtig einschätzen. Während Fred am Rand seines Blickfelds wahrnahm, dass Mara unter ihrem Kleid einen schwarzen Bikini trug, setzte er ein sehr wissenschaftliches Gesicht auf und sagte: »Ich habe mich sehr oft gefragt, ob es so etwas wie Schwarmintelligenz gibt. Ich glaube jedenfalls nicht daran. Zumindest nicht beim Menschen. Das, was man Schwarmintelligenz nennt, ist meistens nur die Faulheit des Einzelnen. Aber ich bin kein Wissenschaftler.«
»Die Frage nach swarm intelligence und collective behaviour ist auch bei Wizzenschaftlern sehr umstritten. Es werden dann von manchen Kollegen Diskurse geführt, die in den Bereich von Religion oder Mystik gehen, verstehst du? Sie sagen, ein übergeordneter Geist, wie ein spirit, bestimmt den Schwarm, denn wenn es diesen spirit nicht gibt, warum weiz dann jeder Fisch, was er zu tun hat? Man hat dazu viele Experimente gemacht, mit Mäusen, mit Fischen. Man kann Schwärme darauf trainieren, zum Beispiel auf die Farbe Gelb zu reagieren, verstehst du?«
Mit einem Seitenblick auf Maras Kleid sagte Fred: »Ja, das verstehe ich.« Mara ging darüber hinweg und fuhr fort: »Es ist möglich, einen Schwarm zu konditionieren. Mischt man einen Schwarm, der auf gelbes Futter reagiert, mit einem Schwarm, der auf blaues Futter reagiert, so übernimmt der kleinere Schwarm in der Regel das Verhalten des grözeren Schwarms. Es kommt aber auch darauf an, wie stark die Konditionierung ist. Eine komplizierte Frage.«
»Ist es möglich, vom Verhalten von Tieren auf das Verhalten von Menschen zu schließen?«, wollte Fred wissen.
»Natürlich«, lachte Mara. »Möglich ist es. Ob es richtig ist, ist eine andere Frage. Manche Kollegen beschreiben zum Beispiel das World Wide Web als eine Art Schwarm, eine Form von kollektiver Intelligenz.«
»Ich weiß nicht«, sagte Fred diplomatisch, obwohl ihm das Wortpaar kollektive Verblödung auf der Zunge lag, aber er wollte Mara nicht mit einer antitechnologischen Suada langweilen.
Mara schrieb etwas in ihren Block und sah von den Fischen auf: »Ich fürchte, wir verlieren durch diese künstliche Verbindung des Internet unsere natürliche Verbindung. Verstehst du, Bindung. Relation. Verbindung zu Natur. Verbindung zu Menschen. Verbindung zu allem.«
»Das ist aber nicht sehr wissenschaftlich«, warf Fred ein.
»Nein«, sagte Mara und legte sich auf den Steg. »Die besten Dinge sind nicht sehr wizzenschaftlich.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel der Himmel.«
Fred nahm das als Aufforderung, sich ebenfalls auf dem Steg auszustrecken. Ihre Köpfe lagen nebeneinander. In ihren Augen spiegelte sich der Himmel.
»Die Wolken sehen aus wie Seidentücher«, hauchte Mara, als wäre das ein Geheimnis.
»Schlechtwetter kommt«, flüsterte Fred. »Diese Wolkenfetzen bedeuten kalte Luft in der Stratos- oder irgendwas –sphäre.«
»Siehst du den Drachen?«
»Drachen?«
»Dort vorne …« Mara zeigte mit dem Finger. »Das ist der Drachenkopf. Er speibt gerade Feuer.«
»Speit.«
»Siehst du hier der Körper? Mit ganz vielen Zacken.«
»Ja!« Fred begann allmählich zu sehen. »Und Stacheln.«
»Und hier der lange Drachenschwanz! Der ist gefährlich!«, sagte Mara und fügte nach einem Augenblick des Schweigens hinzu: »Der Himmel ist das Beste auf Erden.«
Fred hob seinen Kopf und sah Mara an: »Wer ist jetzt der Dichter? Du oder ich?«, hörte er sich sagen, und es klang viel weniger witzig als gemeint.
Mara setzte sich auf: »Du bist der Dichter! Und ich wünsche mir so sehr – ein Gedicht von dir!«
»Ich schreibe nicht auf Bestellung.« Wieder hatte Fred schroffer geklungen, als er wollte.
»Oh, hab ich dich beleidigt …« Mara streichelte über die feinen Haare auf Freds Arm. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Er setzte sich auf.
»Tut mir leid … ich … schreibe momentan nicht.«
»Das kann sich ändern«, sagte Mara. Vielleicht gab es im wissenschaftlichen Bereich auch Schreibblockaden, dachte Fred, aber er wollte das Thema keinesfalls vertiefen.
Mara zeigte auf den Himmel im Westen. »Siehst du die Schildkröte? Ist sie nicht wunderbar mit ihrem runden Panzer?«
»Panzer«, wiederholte Fred. »Panzer ist kein poetisches Wort.«
»Du bist der Dichter.«
»Schwimmen wir eine Runde?«, fragte Fred. »Mir ist heiß.«
Der See klärte Freds Gedanken und machte Mara hungrig. Sie setzten sich an den Tisch vor der Hütte, tranken das frische Quellwasser und aßen eine Kleinigkeit. Mara sagte, sie müsse noch einige Beobachtungen aufzeichnen. Ob es Fred etwas ausmache, wenn sie hier sitzen bliebe? Das machte Fred nichts aus. Auch er nahm seinen Block zur Hand.
»Ich dachte, du schreibst nicht«, sagte Mara.
»Ich schreibe auch nicht. Ich mache mir höchstens ein paar Notizen.«
Fred hörte Maras Kugelschreiber über das Papier rasen. Er dachte nicht daran, zu schreiben, er konnte ohnehin nur schreiben, wenn er allein war. Oder allein in einer Masse, also im Zug oder in einem Lokal. Doch Fred wollte gerne neben Mara sitzen bleiben, und um sich zu beschäftigen, notierte er, was ihm gerade in den Sinn kam. Zum Beispiel:
»Trotz Sommerwärme manchmal der Eindruck, das Blut gefriert in den Adern. Stockt. Das ist der Pragmatismus. Anpassung an die Gegebenheiten = Verlust der Träume. Oder verlachen wir die Träume? Im mittleren Lebensalter werden wir alle zu Kaltblütern.« Fred starrte auf den See.
»Duu, Mara?«
Mara schrieb etwas zu Ende, dann sah sie auf. »Ja?«
»Sind Fische Kaltblüter? Und was sind Kaltblüter eigentlich?«
»Kaltblüter ist ein alter Begriff. Wir sagen heute poikilotherms. Wechselwarme Tiere. Das heizt, sie pazzen ihre Körpertemperatur der Umgebung an.«
»Sehr pragmatisch.«
»Ja.«
»Haben Fische Gefühle?«
»Sie haben Strezzhormone und Glückshormone.«
»Also kennen sie Angst und Liebe?«, fragte Fred.
»Möglich«, antwortete Mara. »Aber wir dürfen nicht erwarten, dazz diese Gefühle den menschlichen Gefühlen gleichen.« Mara wandte sich wieder ihrem Block zu.
Fred schaute auf den See und dachte an die Schwärme der kleinen Fische. Sie passten ihre Körpertemperatur der Umgebung an. Wenn die Sommersonne das Wasser erwärmte, wurde der Schwarm schwärmerisch und begann mit der Fortpflanzung. Im Winter schwimmen die Fische dann wohl nur so rum und suchen kaltblütig nach Nahrung.
»Angekommen im Lebensalter des kalten Blutes.« Diese Wortspur hinterließ Freds Bleistiftspitze auf dem Papier. Manchmal wunderte er sich selbst darüber, welche Gedanken er absonderte. »Wie ist Liebe möglich, wenn man ahnt, wie sie ausgehen wird? Wie und warum dazu aufraffen, sich mit einem anderen Körper zu vermischen? Eine andere Seele zu erkennen? Wozu? Angepasst an die nachlassende Temperatur. Seelentemperatur. Alterungsprozess! Praktisch soll es sein. Pragmatisch. Wie bei Fischen.«
Fred sah kurz auf, dann schrieb sein Bleistift in Großbuchstaben den Satz: »WIE IST LIEBE UNTER FISCHEN MÖGLICH?« Er unterstrich den Satz zweimal und sah Mara an. Die ließ sich nicht von ihren Aufzeichnungen abbringen. Sie hielt ihren Block so, dass Fred nicht lesen konnte, was sie schrieb.
Sie sieht deutlich jünger aus als ich, dachte Fred. Sie ist deutlich jünger als ich. Aber Mädchen ist sie keines mehr. Ich wette, sie hat in ihrem Badezimmer Cremen stehen, auf denen Dinge wie Anti-Age oder Repair stehen. Oder haben Biologinnen so was nicht? Er wandte sich wieder seinem Block zu. »Auflösung der Formen«, schrieb sein Bleistift. »Zerfall der Welt. Sinnlosigkeit des Ruhms. Körper = Verfall.«
Darunter begann Fred eine Art Liste mit jenen Verfallserscheinungen, die er in den letzten Monaten bei sich beobachtet hatte:
– »Hände = Elefantenhaut. Adern hervortretend wie Gebirgszüge. Nägel = glanzlos, trüb.
– Hals = Schildkrötenhals. Mind. 1000 Jahre alt. Jetzt neu – Falten auch im Nacken! Unterschied: Schildkrötenhals = beweglicher.
– Gesicht, kleine Adern Höhe Backenknochen. Alkohol?
– Augen: Schwarze/graue Flecken auf Pupille. Augenweiß = gelblich. Leber?!
– Nase = Haare!
– Ohren = Haare!
– Oberkörper = Weiße Haare.
– Haare = Immer weniger Haare!«
»Hängebrüste«, sagte Fred laut.
»Wie bitte?«, fragte Mara.
»Ich habe Hängebrüste«, sagte Fred.
»Was?« Mara sah ihn an und prustete los. »Ist mir nicht aufgefallen. Schreibst du jetzt ein Gedicht darüber?« Und wieder lachte sie aus voller Kehle. Fred verzog keine Miene.
»Findest du nicht, dass ich wahnsinnig alt aussehe?«
»Ich kenne dich nur so.«
»Als du mich das erste Mal sahst, dachtest du da: Was für ein alter Mann?«
Mara konnte sich nicht mehr halten vor lachen. Stöhnend presste sie hervor: »Ja – dachte ich – alter Mann – alter, dicker Mann – mit unfazzbaren Hängebrüsten!« Mara musste aufstehen, weil das Lachen im Sitzen zu sehr schmerzte. Fred sah sie staunend an.
Dann musste er auch lächeln.
Mara trank einen großen Schluck Wasser und beruhigte sich. Sie setzte sich wieder neben Fred, der besorgt seinen Block zuklappte, damit sie ja nicht sehen konnte, was er geschrieben hatte.
»Und«, fragte sie, »schreibst du ein Gedicht? Schreibst du vielleicht über mich? Machst du dich über meine Figur lustig?«
»Aber nein! Du bist wunderschön. Und jung!«
»Ich bin nicht so jung.«
»Aber lebendig.«
»Inspiriert dich das?«
»Ich glaube nicht an Inspiration.«
»Aber irgendwas muzz dich anregen, Fred? Ich meine, zu einem Gedicht?«
Fred sah auf den See und schwieg. Dann sagte er vorsichtig: »Entschuldige, aber bei Interviews fand ich das immer die lästigste und … sinnloseste Frage. Ich weiß doch nicht, was mich inspiriert. Schon allein, darüber nachzudenken, tötet jede Art von Inspiration!«
»Tut mir leid. Ist wirklich eine blöde Frage!«
»Den Journalisten hab ich dann immer gesagt – die S-Bahn. Die S-Bahn inspiriert mich. Ich setze mich in die S-Bahn und fahre stundenlang durch die Stadt. Damit waren die zufrieden. Das war so ein Bild von einsamer Cowboy in der Großstadt, das hat denen gefallen. Natürlich bin ich in meinem Leben noch nie in die S-Bahn gestiegen, um mich inspirieren zu lassen. Der Gedanke allein, etwas zu tun, damit es einen inspiriert, ist schon völlig verkehrt.«
»Weil Druck kommt.«
»Genau!«
»Also entstehen deine Gedichte aus der Entspannung?«
»Nein. Eher aus einer Anspannung. Aber nicht aus einer absichtlichen.«
»Gedichte sind unabsichtlich?«
»Vielleicht absichtslos. Ich habe im Glückstaumel aufregender Affären geschrieben.«
»Aha.«
»Ich habe aus Liebeskummer geschrieben.«
»Aha.«
»Ich habe aus Zorn, aus Angst, aus Gekränktsein geschrieben.«
»Oh.«
»Aber weißt du, was mich stets am meisten inspiriert hat?«
»Was?«
»Ein Abgabetermin.«
»Also sollte dir einen geben dein Verlag.«
Fred seufzte: »Ich will nicht mehr. Ich fühle mich wohltemperiert. Wie deine Fische.«
»Ist praktisch.«
»Ja. Aber todlangweilig.«
»Deine Persönlichkeit macht eine Verwandlung. Wir kennen das in der Biologie in vielen Formen. Die Schlange häutet sich, die Vögel mausern sich, und so weiter. In der Zeit sind die Tiere meistens häzzlich und sehr verletzlich. Aber dann sind sie ganz neu.«
Fred stand auf und schaute skeptisch. »Ich habe das Gefühl, ich verwandle mich gerade von einem Schmetterling in eine Raupe.«
Mara lächelte nachsichtig: »Die Schlange wächst, sie häutet sich. Der Hirsch bekommt jedes Jahr ein prächtigeres Geweih!«
»Mara – bei mir wird nichts mehr prächtiger!«
»Vielleicht die Seele, Fred? In meiner Heimat haben wir einen Spruch – erst nach der Blume kommt die Frucht.«
»Mara, du bist wunderbar.«
»Würdest du ein Gedicht für mich schreiben?«
»Ich kann es nicht. Sorry.«
18. Juli
Hallo Susanne,
heute regnet es. Aber wie es regnet! Ähnlich wie am Tag meiner Ankunft. Ich weiß nicht, ob ich noch lange hier bleibe. Der Herbst lässt grüßen. Ich weiß schon, Sie werden mich jetzt auslachen, 18. Juli und Herbst. Aber glauben Sie mir, ich kann ihn schon riechen.
Manchmal habe ich den Eindruck, ich werde ruhig, immer ruhiger, bis ich in der Welt verschwinde. Einfach aufgehe hier in der Natur und weg. Ich fliege mit den Vögeln oder schwimme mit den Fischen. Kein unangenehmer Gedanke.
Mara wird heute wahrscheinlich nicht kommen. Wenn es so schüttet, kann man keine Fische beobachten. Sie ist wirklich eine Seele von Mensch. Ich habe sie von Herzen gern. Aber glauben Sie nicht, da könnte sich etwas anbahnen. Erstens bin ich – glaube ich – nicht ihr Typ, und zweitens – was soll schon dabei rauskommen? Sie ist eine aufstrebende Wissenschaftlerin, wohnt in der Slowakei, hat andere Freunde, andere Pläne, das wäre alles nur kompliziert. Sie wohnt allein, hat sie mir erzählt, nachdem ihre Tochter, die sie sehr jung bekommen hat, gerade ausgezogen ist. Mara ist also »zu haben«, hätte ich vielleicht früher gedacht, aber das liegt mir heute fern. Das klingt wie ein Sonderangebot des Schicksals, und ich misstraue Sonderangeboten prinzipiell. Vielleicht hängt mir die Geschichte mit Charlotte viel mehr nach, als ich gedacht hatte. Ich bin vielleicht einfach noch nicht soweit. Manchmal frage ich mich sogar, ob ich jemals wieder soweit sein werde.
Wenn das Leben langsam die letzten Kapitel schreibt, ist es angebracht, sich mehr mit dem Geistigen zu beschäftigen. Das finden Sie bestimmt albern, weil ich in Ihren Augen jung und gesund bin. Meinetwegen, ich gebe Ihnen ein wenig recht. Dennoch spüre ich, es ist an der Zeit für mich, zu lernen, ein alter Mann zu werden.
Mara und ich haben gestern fast den ganzen Tag miteinander verbracht und merkwürdige Gespräche geführt. Zum Beispiel über Biologie (Fische), Anatomie (Hängebrüste – die habe ich) und am Ende über Mythologie (Elfen). Sie war völlig erstaunt, dass ich als »deutscher (!) Dichter« noch nicht bemerkt hatte, dass der Elbsee von der Wortherkunft nichts anderes sei als der Elfensee. Mara glaubt tatsächlich an alle möglichen Geistwesen. Das sei in den Karpaten so normal wie zum Beispiel in Island, meinte sie, und auch kein echter Gegensatz zur Wissenschaft. Für Mara sind Gnome und Zwerge so real wie Fische und Enten. Und viel realer als Bankguthaben und Börsenkurse.
Als die Dämmerung sich langsam über den Talkessel senkte, fuhr sie zurück in den Ort. »Wenn es hell ist, siehst du die Dinge an«, sagte sie. »Wenn es finster wird, sehen die Dinge dich an.«
Der Gedanke verfolgte mich die halbe Nacht.
Am Morgen stand ich lange vor der Tür und sah auf den See. Er dampfte und rauchte wie ein Geysir (von wegen Island). Der Wind blies fette Wassertropfen von den Blättern. Ein Käuzchen rief, bevor es schlafen ging. Und plötzlich – plötzlich – bitte lachen Sie mich nicht aus – plötzlich konnte ich den Tanz der Elfen sehen, wie sie über das glänzende Wasserparkett schwebten, hin und her und im Kreis, und ihren luftigen Reigen im Schilf fortsetzten. Das war keine Einbildung, auch keine poetische Vision, keine Metapher! Und ich war nüchtern wie ein Krokodil. Ich sah sie. Die Elfen. Und ich kann Ihnen sagen, das erschreckte mich nicht. Was mich erschreckte oder geradezu schockierte war vielmehr die Einsicht – wie konnte ich als Dichter nur glauben und sagen, dass ich keine Seele habe? Wie konnte ich vergessen, dass wir aus einer anderen Welt kommen und in eine andere Welt gehen? Wie konnte ich vergessen, dass es meine Aufgabe ist, vom Durchschimmern dieser Welt zu berichten?
Aber frohlocken Sie nicht, liebe Verlegerin. Ich weiß nicht, ob ich die Kraft haben werde, von diesen Welten zu berichten. Den Willen dazu. Die Kinder lehren wir das Gebet zu ihrem Schutzengel. Aber wir Großen sind von allen guten Geistern verlassen. So sieht die Welt auch aus. Und warum sind wir von den guten Geistern verlassen? Weil wir sie vergessen haben. Und weil wir sie schon so lange vergessen haben, leben wir nun in einer Welt, in der die Anderswelt nur noch für manche Kinder und Irre existiert.
Zählen Sie mich getrost zu letzteren.
Ganz der Irre,
Alfred
19. Juli
Liebe Susanne,
ich habe sie heute wieder gesehen, Titania und den Rest der coolen Elfengang.
Mehr fällt mir jetzt nicht ein.
Regen.
20. Juli
Regen.
Wollte mit den Elfen reden und auch mit einem Zwerg, der hinter der Hütte im Wald wohnt. Aber sie verschwinden, wenn ich den Mund aufmache.
21. Juli
Regen.
Überlegung, ob ich in den Ort fahren soll. Damit ich wenigstens mit irgendwem reden kann. Habe aber Sorgen wegen der Straße. Überall Wasser. Mara ist ein seltsamer, ein schöner Name.
Grüße Fred
PS: Sollte es jemals wieder ein Buch von mir geben, der Titel »Liebe unter Fischen« böte sich an. Fürchte aber, es bleibt beim Titel.
22. Juli
Der Regen hatte aufgehört. Zart schimmerte die Sonne durch eine bleigraue Wolkendecke. Als Fred ein Motorengeräusch vernahm, frohlockte er. Doch es war nicht Mara, die den schmalen Pfad zwischen Parkplatz und Hütte hinunterlief, sondern Aisha. Sie wedelte übermütig und begrüßte Fred, indem sie eine Art klagenden Gesang anstimmte, was ihn sehr rührte. Darüber musste er unbedingt mit Mara reden: Ob Hunde tatsächlich die einzigen Wesen sind, denen Menschen mehr bedeuten als ihre eigenen Artgenossen.
August tauchte auf. Unrasiert, Zigarette im Mundwinkel, unwilliger Schritt – er wirkte schlecht gelaunt.
»Sauwetter, elendes«, fluchte er und knallte einen Brief auf den Tisch. »Da – Post. Hast du einmal zu den Pflanzen geschaut, Dichter?«
Fred schüttelte den Kopf. »Gießen war ja nicht notwendig.«
»Aber Schnecken klauben«, brummte August und machte sich auf den Weg zu seiner Plantage.
»Es ist, wie es ist«, rief ihm Fred ironisch nach.
August blieb missmutig stehen. »Eh.«
»Na eben nicht«, lächelte Fred, den anderer Leute schlechte Laune stets heiter stimmte. »Man kann eben auch etwas ändern!«
»Jo«, brummte August, »und wenn man’s geändert hat, dann ist es wieder, wie es ist.«
»Gut, und ich habe eben auf die Schnecken vergessen. Ist, wie es ist«, stichelte Fred. Er wunderte sich selbst, warum ihn dieser Satz so ärgern konnte.
August wandte sich ab. Fred begleitete ihn nicht zu seiner Plantage. Er verspürte nicht die geringste Lust, sich irgendwelche Vorwürfe wegen der Pflanzen machen zu lassen. Stattdessen öffnete er den Brief. Susanne hatte ihn, wie beim letzten Mal, getippt und ausgedruckt.
Berlin, am 19. Juli
Lieber Herr Firneis!
1) Danke für die Postkarte! Ich wusste gar nicht, dass es so was noch gibt. Die Papierschnipsel mit dem Schriftwerk habe ich ebenfalls erhalten. Ich werde bei Gelegenheit eine Collage daraus machen. Zum Lesen war das ja weniger geeignet. Angesichts Ihrer Handschrift dachte ich, Sie wollen mich verarschen. Ich konnte nur ein einziges Wort lesen (Realität), und das war durchgestrichen.
2) Den Vierzeiler konnte ich halbwegs entziffern. Seit wann reimen Sie?! Herr Firneis, gereimte Gedichte entsprechen den Anforderungen der Zeit nicht. Sowas kann ich nicht verkaufen! Der letzte, der in Reimen schrieb, war meines Wissens Klopstock, und der ist mindestens seit Jahrhunderten tot! Na gut, lassen wir noch Kästner gelten. Wenn Sie jetzt sagen, Sie wollen einen Retro-Band herausgeben, mit Haikus, Sonetten, Oden und Balladen, dann muss ich Ihnen sagen, da sind Sie zu alt dafür. Eine gutaussehende Zwanzigjährige mit einem gereimten Sonett, das lässt sich vermarkten, aber Sie! Firneis! Sie dürfen nicht reimen! Stellen Sie sich mal vor, was Sie im Spiegel und in der Süddeutschen über sich lesen würden. Tun Sie mir und vor allem sich das nicht an!
3) Zu Ihrem Satz: »Das, was mich am meisten daran hindert, in der Glückseligkeit des Seins aufzugehen, sind Worte.« Mit dem Halbsatz davor haben Sie ziemlich ins Schwarze getroffen, Firneis, nämlich: »Vielleicht hören Sie das als meine Verlegerin nicht gerne.« In der Tat, ich höre das nicht besonders gerne. Erstens denke ich als Ihre erste Lektorin, dass als adäquate Mehrzahl von Wort diesfalls »Wörter« zu gebrauchen wäre. Und zweitens wünsche ich Ihnen natürlich jede erdenkliche Glückseligkeit, aber können Sie die nicht anders erreichen als durch die Verbannung von Wörtern? Überlegen Sie mal, lieber Alfred – Sie schreiben sehr gut. Und außer Schreiben können Sie nichts.
4) Schon viel besser gefällt mir diese Mara. Diese Frau scheint ja hoch interessant zu sein, und fast bin ich ein wenig eifersüchtig, lieber Fred. Jedenfalls scheint mir das ein sehr inspirierender, positiver Kontakt zu sein. Sie können Mara von mir aus gerne einladen, öfter in der Hütte zu übernachten. Wenn Sie das denn überhaupt wollen. Irgendwie wirken Sie sehr distanziert. Spiegelt diese Distanz zu Mara nicht vielleicht Ihre Distanz zu sich selbst? Oder liegt in Ihrer Interesselosigkeit eine gewisse Koketterie? Wenn ich Ihnen einen Tipp geben darf: Eine gewisse Unnahbarkeit wirkt zwar sexy, ABER: Wir Frauen mögen es dann auch wieder ganz gerne, wenn man Interesse an uns zeigt. So ab und zu ein kleines aufblitzendes Interesse, das ist wie ein Leuchtturm, der uns zeigt, dass unser Schiff noch auf Kurs ist. Bei allzu großer Neutralität unserer lieben männlichen Mitmenschen neigen wir schnell dazu, uns als Wrack zu fühlen. Bei fortgesetzter Interesselosigkeit als Strandgut.
5) Grüßen Sie Aisha und genießen Sie die schöne Zeit!
Mit den besten Grüßen und Wünschen aus Berlin, Ihre Susanne Beckmann
PS: Ich habe übrigens für Sie gegoogelt. Alfred bedeutet so viel wie Der von Elfen Beratene oder Elfenfürst.
Das PS rührte an Freds Herz. Der Rest des Briefes weniger.
»Grüße«, sagte Fred zur Hündin, die gerade von der Inspektion der Pflanzen zurückkam. Er bemerkte, dass sie immer noch ein wenig hinkte.
»Nächstes Mal, wenn’s so regnet, gehst du bitte Schnecken klauben, ja?«, blaffte August.
»Meine Verlegerin zickt mich an und du auch. Scheint ein toller Tag zu werden«, sagte Fred und suchte sogleich Trost bei Aisha, die sich bereitwillig streicheln ließ und ihm hingebungsvoll die Hand ableckte.
»Ist der Wanderweg hinten beim See in Schuss?«, fragte August.
»Keine Ahnung. Ich kenne ihn nicht.«
»Ist eh klar. Sonst hättest du auch nicht versucht, über die Steilwand von hier wegzukommen. Komm, Aisha.« Der Hüne und die Hündin machten sich auf, den Zustand der Wege nach den Regenfällen zu kontrollieren, denn auch das gehörte zu den Aufgaben eines Försters. Augusts Haare standen – von hinten gesehen – wie kleine Hörner in die Höhe. Macht ja nichts, dachte Fred, jeder kann mal einen schlechten Tag haben.
Er holte all die Seiten aus der Hütte, die er an seine Verlegerin geschrieben hatte, und überflog sie schnell. Er hatte Susanne in erster Linie über Regen und Elfen geschrieben. Sollte er ihr diese merkwürdigen Zeilen überhaupt schicken? Sie würde sich ja doch nur über ihn lustig machen. Andererseits: Bei allem, was er ihr schon geschrieben hatte, war es auch schon egal. Er steckte also das Zettelwerk in ein Kuvert, beschriftete es und legte den Brief in Augusts Gefährt. Fred wollte sich die Reise in den Ort ersparen. Was weniger mit Bequemlichkeit zu tun hatte als mit der Sorge, Mara zu verpassen. Eine kleine Seepromenade konnte nicht schaden. Vielleicht forschte sie in einer anderen Bucht?
Fred fand den Wanderweg, von dem August gesprochen hatte, und wunderte sich, wie er ihn hatte übersehen können. Der Weg schlängelte sich manchmal direkt am Wasser entlang, manchmal stieg er auf Felsen über das Ufer hinauf, manchmal ruhte er im schattigen Wald. Die Erde dampfte und roch sehr erdig. Fred hörte Aisha bellen. Aishas Gebell klang eigenartig. Nicht schalkhaft, wie Fred es kannte, wenn sie vor einem Mausloch kläffte, ahnend, die Maus damit wohl nicht zum Verlassen ihres Verstecks bewegen zu können. Das Bellen klang schrill und ängstlich. Fast panisch. Automatisch beschleunigte Fred den Schritt. Dann begann er zu laufen. Durch den Wald, hin zu den Felsen. Er musste aufpassen, nicht auszugleiten, denn die Steine waren sehr rutschig. Fred sah die schwarze Hündin, sie stand auf einem Felsvorsprung und bellte unaufhörlich Richtung Wasser. Irgendetwas stimmte nicht. In wenigen Schritten war Fred bei ihr und sah hinunter. August, mit Lederhose, Hemd, Jacke und seinen schweren Bergschuhen, strampelte im Wasser. Fred lachte.
»Du ausgerutscht! Das passt gar nicht zu dir!« Es sah zu komisch aus, wie hilflos dieser kräftige Mensch mit Armen und Beinen ruderte, dabei aber keinen Ton von sich gab als ein gepresstes Prusten. Sehr bald begriff Fred, dass es nichts zu lachen gab, aber da war August schon fast untergegangen. Fred streifte in Windeseile seine Schuhe ab und sprang in den See. Er brauchte kurz, um sich im Wasser orientieren zu können. August hatte den Kopf wieder über die Wasseroberfläche gebracht und schnappte nach Luft. Fred hatte keine Ahnung, wie er diesen Riesen packen sollte, aber da der Mensch in Notsituationen zum Glück nicht so lange überlegt wie bei der Bestellung im Restaurant, legte er ihm den Arm um den Hals, als ob er ihn erwürgen wollte, glitt unter ihn und versuchte, rückwärts schwimmend das rettende Ufer zu erreichen. Hier beim Steilufer, wo August in den See gefallen war, gab es keine Möglichkeit zu landen, und der flache Kieselstrand befand sich sicher in zwanzig oder dreißig Metern Entfernung. Auf halbem Weg glaubte Fred plötzlich, selbst ertrinken zu müssen. Das Ufer so weit entfernt – und seine Beine schafften es plötzlich nicht mehr, ihn über Wasser zu halten. Auch der rechte Arm, mit dem er paddelte, versteifte sich. Fred ließ August los und brüllte ihn an: »Halt doch still! Schlag nicht dauernd um dich!!«
Fred fasste ihn mit dem anderen Arm unter und holte tief Luft. August einfach ersaufen zu lassen war keine Möglichkeit, und die Klarheit dieses Gedankens mobilisierte noch einmal Freds Kräfte. Als er ihn über die Kieselsteine ans Ufer zog, keuchte er mehr als August. Aisha kam angelaufen und schleckte August über das Gesicht. Der lächelte schwach.
»Was ist los?«, frage Fred, als er wieder reden konnte. »War das ein Schwächeanfall? Oder hast du einen Infarkt? Hast du Schmerzen?«
»Es geht schon«, antwortete August.
»Warum bist du nicht zum Ufer geschwommen?«
»Geht schon.«
»Ist dir schwindlig? Hast du Kopfweh?«
»Ich muss ausgerutscht sein.«
»Aber warum schwimmst du nicht?«
»Ich kann nicht schwimmen.«
Erschöpft ließ Fred seinen Kopf auf den Boden sinken. So lagen die beiden Männer gut eine halbe Stunde nebeneinander am Ufer des Elbsees und starrten in den Himmel, dessen dunkles Grau sich ein wenig aufhellte.
Mara saß bereits auf dem Steg, als Fred und August langsam auf die Hütte zuwankten. Mara winkte. Fred winkte zurück. »Wir ziehen uns schnell was Trockenes an«, rief er Mara zu. »Wir waren ein bisschen schwimmen.«
In der Hütte gab Fred August ein trockenes Hemd. »Warum kannst du nicht schwimmen? Jeder kann doch schwimmen.«
»Meine Mutter wollte mir das Schwimmen beibringen, indem sie mich in den Elbsee geworfen hat. Ich war sechs Jahre alt, also schon sehr spät dran, hat sie gefunden. Aber ich war immer schon ein sturer Hund und bin einfach abgesoffen. Hab mich auf den Grund vom See gesetzt und gewartet, was passiert. Dann ist ein Fischweib gekommen und hat mich gerettet.«
»Ein Fischweib?«
»Eine Mischung aus Frau und Fisch. Also oben Frau und unten Fisch.«
»Aber nicht wirklich.«
»In meiner Erinnerung ist es wirklich. Meine Mutter behauptet, sie hat mich gerettet.«
August und Fred gingen auf den Steg. Mara legte ihren Block beiseite und stand auf. An diesem Tag sah sie aus wie eine Abenteurerin, in ihrer Hose mit den vielen Seitentaschen und dem karierten Wanderhemd. »Was ist pazziert?«
»Ich erzähl’s dir später«, sagte Fred bescheiden.
»Ich muss wieder ins Büro«, sagte August.
»Büro?«, fragte Mara.
»Der Holzgroßhändler kommt«, brummelte August und wirkte fast wieder so missmutig wie vorher. »Genug gejammert. Grüß euch!«
»Die Nixe.« Fred deutete auf den Arm, den August grüßend erhoben hatte. »Das Fischweib, das dich gerettet hat? Deine Beschützerin?« August nickte, rief seinen Hund und ging.
Fred fühlte sich mit einem Schlag unfassbar müde.
»Ich glaube, mich hat das alles viel mehr mitgenommen, als ich gedacht habe«, sagte er und erzählte Mara, was passiert war.
August hupte in der Kurve, von der aus man noch einen Blick auf den See werfen konnte.
»Dieser Riesenmann abgesoffen wie ein Baby!« Plötzlich rannen Tränen aus Freds Augen. Mara nahm ihn in die Arme.
»Mein heulender Held«, sagte Mara, um etwas Lustiges zu sagen, weil sie sonst auch weinen musste. Sie weinte immer mit, wenn jemand weinte.
»Ach Mara«, sagte Fred, als er sich gefangen hatte. Ein Kuss lag in der Luft. Mangels Entschlusskraft blieb er dort schweben, unverwirklicht.
»Ach Fred«, sagte Mara, als der sich von ihr löste. Sie ließ ihre Hand auf seiner Schulter liegen.
Sie sahen ins Wasser zu Maras Fischen und beobachteten, dass immer wieder große Saiblinge in die Schwärme der Elritzen stießen, um zu jagen.
»Sie werden beim Lieben getötet«, sagte Fred.
»Das ist die Natur.«
»Und was ist unsere Natur?«, wollte Fred wissen. Die Liebe ist auch für uns gefährlich, dachte er, wir rennen ins Verderben, getrieben von unseren geheimen Sehnsüchten. Sollen wir sie alle fallen lassen, weil sie unvernünftig sind? Oder nicht weise genug? Sind wir nicht auf der Welt, um diese Sehnsüchte zu leben, eben weil wir die Möglichkeit haben, sie zu leben? Oder sind wir im Gegenteil hier, um ihnen zu widerstehen, zu entsagen? Die Religionen sagen: Entsagen. Widerstehen. Die netteren Religionen sagen: Erkennen, dass es sich bei diesen Sehnsüchten und Wünschen um Illusionen handelt. Aber wie sollen wir das erkennen? Und wie sollen wir die Weisheit, etwas nicht zu tun, von der Feigheit, etwas nicht zu tun, unterscheiden?
»Ist die Natur der Liebe tödlich?«, fragte Fred nach.
»Die Natur der Mara ist, dazz sie Hunger hat«, sagte Mara.
»Ich mag hungrige Frauen. Wollen wir Raubfische fangen? Oder stört das deine wissenschaftlichen Versuche?«
»Die Laichzeit ist vorbei. Durch den Regen ist das Wazzer abgekühlt.«
In einem Eck des Holzschuppens lehnte eine Angel. In einem Einmachglas daneben fanden sie Bleigewichte und Haken. Mit einer Geschicklichkeit, die ihn selbst ein wenig überraschte, bereitete Fred die Angel vor. Mara fischte eine Elritze von der Wasseroberfläche, die die Anstrengungen der Fortpflanzung nicht überlebt hatte. Die Methode mit dem toten Fisch als Köder erwies sich als äußerst erfolgreich.
Obwohl das natürlich streng verboten war, entzündeten sie ein kleines Lagerfeuer am Seeufer. Den Revierförster kannten sie schließlich, und bei dem hatten sie etwas gut. Der Tag war windstill, aber grau geblieben, und so wärmten sie sich an den Flammen, während sie ihre Haselnusszweige, die als Fischspieß dienten, über dem Feuer drehten. Später aßen sie, mit den Fingern, und erzählten sich Lagerfeuergeschichten aus Kindheitstagen.
Doch die Freude währte nicht lange. Maras Stimmung schlug um. Sie blieb seltsam einsilbig.
»Alles gut mit dir?«, fragte Fred.
»Ich muzz fahren«, antwortete Mara.
»Du kannst gerne hier bleiben. Auch länger, wenn du willst«, sagte Fred.
»Ich bin nicht ich«, sagte Mara. Klang ihre Stimme anders?
»Ich bin auch durcheinander«, beruhigte Fred. »Und dass ich nicht ich bin, habe ich vor ein paar Tagen ganz deutlich gefühlt. Das Tolle daran ist, es stimmt. Das, was wir für unser Ich halten, ist ja nur die Abbildung des Blicks, den die anderen auf uns werfen. Mit der Zeit glauben wir, tatsächlich jene Person zu sein, für die uns die anderen halten. Wir glauben, die Rolle weiterspielen zu müssen, die die anderen für uns vorgesehen haben. Schlimmer noch, wir glauben, diese Rolle zu sein!«
»Genau das ist es, Alfred«, sagte Mara.
Als er sie »Alfred« sagen hörte, lief ihm ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Mara stand auf.
»Sehen wir uns morgen?«, fragte Alfred.
Mara lächelte: »Bleib bitte sitzen. Ich hazze dramatische Verabschiedungen.« Sie reichte ihm die Hand, küsste ihn auf die Wange und hauchte etwas in sein Ohr, das sehr nett klang.
Dann lief sie allerdings blitzschnell den Pfad hinauf, zu ihrem Moped. Von oben winkte sie noch einmal. Sie hatte Tränen in den Augen. Als Fred das sah, rannte er den Abhang hinauf. Aber da war sie schon weg. Sollte er ihr nachfahren? Aber nein. Keine Abschiedsszene. Keine Verfolgungsjagd. Alles war so leicht. So schwerelos. Was sollte schon sein?
Fred schwamm eine große Runde durch den Elbsee. In der glatten Wasseroberfläche spiegelten sich die hellen Felsgipfel, die Wolken, der schwarze Wald. Fred zog eine Furche durch das Wasser, die sich hinter ihm wieder schloss. Schön, dass man im Wasser keine Spuren hinterlässt, dachte er.
Als er auf dem Steg saß, um zu trocknen, dachte er an Mara, und sein Brustkorb weitete sich. Er hatte Sehnsucht nach Mara. Mara.
An diesem Abend begann Alfred Firneis wieder zu schreiben.
Er schrieb in vier Stunden acht lange Gedichte. Er trank ein Glas Wasser, atmete vor der Hütte einmal tief durch, dann überarbeitete er die Gedichte zwei Stunden lang.
Er trank ein Glas Wein, drehte sich eine Zigarette, las die Gedichte noch einmal.
Brauchbar, dachte er.
Vielleicht sogar richtig gut.
23. Juli
Elisabeth Halbig hatte die halbe Nacht mit sich gehadert. Sie war wütend gewesen, und außerdem traurig, verzweifelt, sie hatte geflucht und geheult. Dann hatte sie wie bewusstlos geschlafen.
Jetzt, in der Früh, wusste sie genau, was zu tun war. Sie würde keine Mail schreiben, sie würde anrufen. Jetzt. Sofort.
»Hallo«, sagte Elisabeth, »hier spricht Lisi. Ich kann das nicht mehr. Ich schaff’s nicht mehr … Okay, in einer Stunde.«
Die hat auch nie Zeit, wenn man sie anruft, dachte Elisabeth-Lisi. Jedenfalls nicht für mich. Sie holte den Vertrag aus der Nachttischlade. Den Vertrag, der am Anfang der ganzen Misere stand. Er steckte in einer Klarsichtfolie. Der Vertrag war mit der Hand geschrieben. Obwohl sie den Inhalt genau kannte, las sie ihn noch einmal durch:
Vertrag
zwischen
Susanne Beckmann (Auftraggeberin)
und
Elisabeth Halbig (Auftragnehmerin)
1) Vertragsziel ist es, den Autor Alfred Firneis zum Verfassen von Gedichten zu bewegen.
2) Der Auftragszeitraum beläuft sich auf zehn Tage. Diese Frist kann nach Absprache verlängert werden.
3) Die Auftragnehmerin erhält eine Tagespauschale von Euro 100,– sowie den Ersatz der Reisespesen (Benzingeld, Übernachtung).
4) Falls der o. genannte Autor zwölf oder mehr Gedichte schreibt, wird ein Erfolgshonorar von Euro 50,– pro Gedicht fällig.
5) Die Auftragnehmerin verpflichtet sich, diesen Auftrag sowie die Identität der Auftraggeberin geheim zu halten.
6) Die Auftraggeberin verpflichtet sich, das Pseudonym der Auftragnehmerin (Mara) zu respektieren und ihre wahre Identität nicht preiszugeben.
Berlin, am 8. Juli, Unterschriften
Hätte ich das bloß nie unterschrieben, dachte Lisi. Aber sie hatten so viel und so gut geredet auf Susannes kleiner Dachterrasse, wo sie zwischen Lorbeerbäumchen und Rosmarinsträuchern mittendrin saßen im Himmel über Berlin. Gut, ich war ein bisschen beschwipst, dachte Lisi. Eine Ausrede, die sie ihrem Mann, der schon lange ihr Ex-Mann war, nie hatte durchgehen lassen.
Immerhin: Ich habe protestiert, dachte Lisi und sah aus dem Fenster auf die wiederkäuenden Kühe. Ich habe ihr gesagt: »Susanne, das ist die bescheuertste Idee, die ich je gehört habe.«
8. Juli
»Susanne, das ist die bescheuertste Idee, die ich je gehört habe.«
»Er hat eine Depression. Oder ein Burnout. Oder beides«, sagte Susanne. »Weißt du, Lisi, du musst es so sehen: Du rettest damit auch einen Menschen!«
An diesem lauen Juliabend erzählte Susanne Lisi alles, was sie über Alfred Firneis wusste: Von seiner Jugend in Wien, von seiner Mama im Altersheim, von seiner Ex-Freundin Charlotte, der Fernsehmoderatorin, die Lisi natürlich kannte, denn so lange war es nicht her, dass ihre Tochter den Kinderkanal geschaut hatte. Von Alfreds ungesundem Hang zu Wein. Von der zugemüllten Wohnung und dem Putzfimmel, der ihn in der Hütte erfasst hatte. Von seinen wunderbaren Gedichten. Von denen sie abhängig war. In erster Linie finanziell.
»Wir hatten einen solchen Erfolg mit seinen beiden Gedichtbänden, dass ich übermütig geworden bin. Ich habe keine Rücklagen gebildet. Ich habe einige Bücher rausgebracht, von denen ich wusste, die sind zwar gut, aber die wird kein Mensch kaufen. Dann kamen die Steuernachzahlungen und die Steuervorauszahlungen, gleichzeitig.«
»Frag deinen Bruder«, sagte Lisi. »Der ist doch reich.«
»Mein Bruder ist pleite wie ich«, antwortete Susanne. »Er hat das Werk von Generationen in den Sand gesetzt. Ich wenigstens nur mein eigenes.«
Lisi hatte Susanne noch nie so niedergeschlagen erlebt. »Das ist mein Lebenswerk, das da den Bach runtergeht«, sagte sie immer wieder. Und auch ihre beiden Angestellten und alle Autorinnen und Autoren, alle würden mit hinabgezogen. »Mein Bankberater redet immer von Krise und Klemme«, erzählte die Verlegerin. »Ich musste mich sehr zurückhalten, ihn nicht zu schlagen.«
Als Ersatzhandlung nahm sie einen großen Schluck Prosecco und zerbiss krachend zwei weitere Grissini. »Wenn ich ein neues Buch von Alfred Firneis bringe, bekomme ich jeden Kredit der Welt.«
»Das ist die bescheuertste Idee, die ich je gehört habe«, wiederholte Lisi. »Außerdem wird es nicht funktionieren, weil diese Dinge eben nicht so einfach funktionieren! Und das weißt du auch ganz genau.«
Wieder zerbiss Susanne zwei Grissini.
»Und bitte hör auf, so laut Grissini zu essen. Das macht mich nervös!«
»Das sind Dinkelgrissini«, antwortete Susanne entschuldigend.
»Die machen mich doppelt nervös!« Lisi fühlte sich unter Druck gesetzt. Drückerisiert, wie ihre Tochter gesagt hatte, als sie noch klein war.
»Hast du es mit einer Escortagentur versucht?«, fragte sie.
»Ich habe überlegt«, antwortete Susanne, »aber weißt du, was das kostet?«
»Ach so, ich bin die Billiglösung!«
»Aber nein! Die Frauen dort – die haben kein Niveau. Nicht so wie du! Bitte, Lisi!«
»Du drückerisierst mich!«, protestierte Lisi.
Susanne seufzte und steckte das soeben auserwählte Grissini wieder in das Glas zurück: »Nichts für ungut, Lisi. Du hast recht, es ist idiotisch. Ich sah eben keinen anderen Ausweg mehr. Es war eine Verzweiflungstat. Ich dachte, es würde dir vielleicht Spaß machen. Sozusagen die letzte Chance zu sein.«
Das war wieder einmal typisch Susanne, dachte Lisi. Sie hat eine Gabe, an der richtigen Stelle Druck rauszunehmen. Und zwar den ganzen Druck auf einmal. Dann wirst du wie von einem Vakuum hineingezogen und machst, was sie will, ohne es überhaupt zu bemerken.
»Dann genießen wir noch den schönen Abend hier«, seufzte Susanne. »Die Wohnung werde ich mir nämlich auch nicht mehr leisten können.«
Eine Flasche Prosecco später war es Lisi, die Grissini in sich hineinstopfte. Dinkelgrissini. Was hatte sie nicht alles gemacht in den letzten Jahren? Mal Salsa, mal Samba, mal Body-Workshop, mal Buddha-Retreat, Karma und Dharma, Craneosakrales und Pilates, Ausdruckstanz, Imagination, Improvisation, Naturgeister I, Naturgeister II, Bachblüten, Ayurveda, Stimmtraining, Atemseminar, Theater der Unterdrückten … Fast nichts Menschliches und wenig Göttliches war ihr fremd. All das hatte ihren Horizont erweitert und ihre Geldbörse geleert.
Was Susanne ihr anbot war im Prinzip ein Job wie jeder andere. Und jetzt, da ihre Tochter aus dem Haus war und ihr Ex-Mann keine Alimente mehr zahlte, brauchte sie jedes Zusatzeinkommen ganz dringend, auch wenn sie sich einigermaßen mit den regelmäßigen Einsätzen für ein großes, auf Filmcrews spezialisiertes Catering-Unternehmen über Wasser hielt. Sie war für Organisation und Anlieferung zuständig und mochte die Arbeit an der Schnittstelle zwischen Küche und Set. Der nächste Dreh startete erst Mitte August, und dieser Zwischen-Job kam ihr eigentlich gelegen.
Doch im Laufe langer Abende neigte Lisi dazu, sentimental zu werden, und sie hasste sich selbst, wenn sie ihre Mitmenschen mit dieser Mischung aus Selbstüberschätzung und Selbstmitleid überschüttete. Gerade wollte sie ansetzen, von ihrer Kindheit zu erzählen: »Und mein Bruder, der hat einfach alles richtig gemacht. Er ist Arzt geworden, wie Vater, Orthopäde, wie Vater, BMW-Fahrer, wie Vater, doppelter Vater, wie Vater«, aber sie wusste schon, sie musste jetzt aufhören, denn sie hatte aus dem Buch »Jetzt und hier« gelernt, dass Selbstüberschätzung und Selbstmitleid die niedrigsten Äußerungen des Ego darstellten. Aber sie war nun leider bereits in Fahrt gekommen.
»Du hast es ja gut«, sagte Lisi. »Ich, ich wohne jetzt ganz alleine. Und ich habe kein Geld!«
Susanne antwortete gelassen: »Lisi, ich darf dich darauf aufmerksam machen, dass beides auch auf mich zutrifft.«
»Aber ich«, setzte Lisi nach, »ich bin von meiner Schauspielagentin aus dem Angebot der Agentur ausgemustert worden, mit den Worten: Sie haben schließlich nichts davon, wenn Sie als Karteileiche geführt werden.«
»Du hast es mir bereits erzählt«, seufzte Susanne.
Lisi schwieg beleidigt und dachte nach. Zugegeben, die Eckdaten ihrer Künstlerbiografie erwiesen sich bei näherer Betrachtung als relativ dürftig. In Wahrheit bedurfte es dazu keiner näheren Betrachtung. Man sah es aus weiter Ferne, Elisabeth Halbig aus Troisdorf bei Köln war eine Niete. Das, hätte Lisi losschluchzen können, ist das einzige, was ich wirklich richtig kann: eine Niete sein.
Sprachen: Hochdeutsch, Kölsch
Ausbildung: Stimmtraining, Theater der Unterdrückten, Improvisation (3 Workshops), Atmung (Abschlussdiplom)
Bisherige Engagements: F. Schiller, Kabale und Liebe, Rolle der Luise
(Es stand nicht dabei, wann sie diese Hauptrolle der Weltliteratur verkörpert hatte, und auch nicht, dass es sich bei dem Aufführungsort um den Turnsaal des nach dem Dichter benannten Gymnasiums gehandelt hatte.)
Weitere Rollen: Apachin in »Winnetou III« bei den Karl-May-Festwochen in Bad Winzenberg. (Es wurde weder erwähnt, dass es sich um eine stumme Rolle handelte, noch, dass Lisi eine von etwa zwanzig Apachinnen war, sowie, dass es die Hauptaufgabe dieser Apachinnen darstellte, leicht bekleidet für einen gewissen erotischen Touch der Indianerproduktion zu sorgen.)
Die Rubrik Film/Fernsehen fehlte komplett im Agenturprofil von Elisabeth Halbig aus Troisdorf bei Köln.
All das erwähnte Lisi aber nicht. Selbstmitleid ist peinlich, unproduktiv und weckt bei allen anderen kein Mitleid, sondern allenfalls Aggression, soviel hatte sie schon gelernt.
»Kann ich noch ein letztes Glas haben?«
An der Art, wie Susanne nickte, merkte Lisi, dass es bald an der Zeit war, zu gehen. Eigentlich, dachte Lisi, während sie sich einschenkte, wäre es einfach nur blöd, Susannes Angebot abzulehnen. Das Engagement war kurz, ohne Erfolgszwang, menschlich interessant und an der frischen Luft. Und vielleicht sogar mit so etwas wie Selbstverwirklichung verbunden. Sie konnte die Schauspielerei wieder üben, Geld verdienen und vor allem: Sie würde eine gute Tat tun. Für ihre Freundin Susanne, aber auch für diesen Dichter, und letztendlich für die ganze Menschheit, der sie als Muse indirekt zu unsterblichen Gedichten verhelfen würde. Außerdem, das hatte sie bei dem letzten Seminar mit dem Titel »Lass deine Kraft fließen« gelernt, blockiert es deine Energie, wenn du dich im Widerstand zum Leben befindest.
Lisi stand auf und sagte: »Ich mach es!«
Susanne schien geradezu überrumpelt: »Wie ist das jetzt passiert?«
»Ich habe nachgedacht.«
»Denk lieber noch einmal drüber nach.«
»Nein«, sagte Lisi bestimmt. »Lass uns einen Zettel schreiben, damit ich mich auch morgen noch daran erinnern kann.«
»Lass dir Zeit«, meinte Susanne. »Überschlaf das in Ruhe. Die Mission beginnt ohnehin erst in einigen Tagen.«
»Nein. Ich kenne mich. Ich brauche das schwarz auf weiß.«
Also setzten die beiden Freundinnen den Vertrag auf, mehr aus Jux denn aus Notwendigkeit, kopierten ihn in Susannes Drucker und unterschrieben ihn.
Lisi umarmte ihre Freundin zum Abschied und gönnte sich ausnahmsweise ein Taxi, um in ihre zu groß gewordene Wohnung in der Nähe des alten Flughafens Tempelhof zu fahren.
12. Juli
»Wie heißt dein Fachgebiet?«
»Ich bin Biologin und Ozeanologin.«
»Genauer?«
»Gewäzzerforscherin.«
»Genauer?«
»Binnengewäzzer.«
»Fachausdruck?«
»Limnologie. Ich bin Limnologin.«
Das Wort kam Lisi auch nach dreitägigem Üben immer noch nicht ohne Zungenschlag über die Lippen.
»Schrecklich. Es klingt, als würde ich lallen. Lllimnollogie. Lllllimmmnolllogie.«
»Entspann dich«, beruhigte Susanne. Sie fand Freude daran, Lisi als Coach und als Regisseurin zur Verfügung zu stehen. Als Bühne diente das Wohnzimmer ihrer Hauptdarstellerin. Das brachte für Susanne den Zusatzvorteil, nur am Vormittag im Verlag zu sein, den drängenden Anrufen der Autoren und den vorwurfsvollen Blicken der Mitarbeiterinnen entgehen zu können.
Susanne dachte daran, wie sie Lisi kennengelernt hatte. Es war bei der ersten Probe zur Aufführung einer Dramatisierung von »Nebelschatten« gewesen. »Nebelschatten« war jener Roman aus der Liste ihres Verlags, der sich für eine Dramatisierung zweifellos am schlechtesten eignete. Deshalb war Susanne der Einladung zur Leseprobe gefolgt. Sie wollte ihre Autorin vor einem Fiasko bewahren, was sich in der Folge als unmöglich erwies. Aber das Zurückziehen der Aufführungsrechte hätte in der Branche wohl mehr Wirbel verursacht als die Aufführung Schaden, und so ließ Susanne das winzige Off-Theater walten. Die Leseprobe überstand sie jedenfalls nur Dank Lisi, die sich ständig über Marotten von Schauspielern lustig machte. Das konnte Lisi gut, weil sie die Marotten selbst hatte, aber gleichzeitig die Intelligenz, sie zu erkennen.
Als sie beispielsweise vom Regisseur unterbrochen wurde, warf sie ihr Manuskript mit der enervierten Handbewegung einer Diva von sich und schleuderte »Kinder, unter solchen Umständen kann ich nicht arbeiten!«, in die Runde, was großen Effekt machte. Sie lehnte es bereits im Vorfeld ab, den ihr zugeteilten Rollennamen Uschi zu akzeptieren. (»Warum nicht gleich Muschi?«) Am meisten musste Susanne lachen, als Lisi, nachdem sie ihren ersten Satz ohne Unterbrechung vom Papier abgelesen hatte, ergriffen in die Runde blickte und fragte: »War ich gut?«
Nach Probenende gingen Susanne und Lisi in dieselbe Richtung. Sie sprachen übereinstimmend von Hunger und einigten sich sehr schnell auf ein Thai-Lokal mit günstigen Mittagsmenüs. In der Folge widerlegten sie die Regel, wonach man ab dreißig keine neuen Freunde mehr gewinnt. Es spielte auch keine Rolle, dass Lisi jünger war als Susanne. Susanne kannte viele jüngere Menschen. Das brachte ihr Beruf mit sich. Das hielt sie auch selbst jung.
Sie sahen einander in regelmäßigen Abständen. Susanne rief Lisi an, um sich auszuweinen, als ihr Vater gestorben war. Lisi rief Susanne an, um sich auszuweinen, als ihre Tochter ausgezogen und sie allein in der Wohnung zurückgeblieben war. Im Sommer fuhren sie gemeinsam an den Müggelsee schwimmen und nach Stralsund Fisch essen. Von ihren Männergeschichten erzählten sie einander immer, außer, die Episode war sogar dafür zu peinlich. Was dieses ebenso schöne wie leidige Kapitel betraf, schlugen ihre Herzen im Gleichklang. Die Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängigkeit war bei beiden um einen Hauch ausgeprägter als jene nach der Geborgenheit einer festen Beziehung. Meistens jedenfalls.
»Atme. Flüstere. Limnologie. Und vergiss nicht deinen tschechischen Akzent.«
»Wir haben doch gesagt, ich bin Slowakin!«
»Ich fürchte, diese Unterscheidung werde ich nicht mehr in mein Leben integrieren können.«
»Solltest du aber!«
»Ich weiß. Und woher kommst du?«
»Aus Troisdorf, aus der Kölner Gegend, weißt du doch.«
»Nee. In der Rolle.«
»Natürlich.« Lisi memorierte diensteifrig. »Zvolen. Stadt in der Mittelslowakei. 42.000 Einwohner. Renaissance-Kirche, barocke Häuser auf dem Hauptplatz, Technische Universität, Institut für Limnologie. Nähe zum Tatra Nationalpark.«
»Okay«, sagte Susanne. »Und jetzt gehen wir noch mal deine Sprache durch. Die Sache mit dem Doppel-s- und scharfes-ß-Fehler ist doch süß, nicht wahr?«
»Süz«, bestätigte Lisi. Um nach einer kurzen Pause hinzuzufügen: »Vielleicht auch vollkommen bescheuert. Wozu mache ich mir die Mühe?«
»Welche Mühe?«
»Mit dem ausländischen Akzent. Und dem slowenischen Lebenslauf. Ich meine, mit dem slowakischen Lebenslauf. Wozu das alles?«
»Weil es die Rolle interessanter macht. Erstens für Alfred, weil du dann eine fast exotische Frau bist. Und zweitens für dich, weil du dich mehr aufs Spielen konzentrieren musst.«
»Ich weiß nicht.«
»Lisi, wenn du eine deutsche Forscherin bist, wird er dich besuchen wollen! Er wird deine Telefonnummer verlangen! Er wird auf Unis nachforschen können und die Sache ganz schnell aufdecken!«
»Das stimmt.«
»Slowakei ist viel besser. Da kennt er sich nicht aus. Und Sprachen kann er auch nicht.«
»Du hast sicher recht.«
»Also: Dein Name ist?« Susanne wählte den Schnellfragetest.
»Mara.«
»Du arbeitest über?«
»Fische.«
»Genauer?«
»Irgendwas mit Ritzen.«
»Elritzen.«
»Das merke ich mir nicht!«, rief Lisi aus.
»Fred wohnt in einer …«
»Klazze Hütte.«
»Du wirst ihn nicht …«
»Küzzen.«
»Dein Name ist?«
»Mara.«
»Deine Fische heißen?«
»Elritzen. Warum darf ich ihn nicht küzzen?«
»Du darfst, was du willst. Hauptsache, er schreibt.«
»Ich werde ihn nicht küssen«, sagte Lisi bestimmt. »Es ist eine Rolle, und ich bin ein Profi.«
»Die Einstellung gefällt mir.«
»Ich hab trotzdem irgendwie Angst.«
»Was soll schon sein?«
»Weiß nicht. Zum Beispiel verstehe ich Freds Gedichte nicht.«
»Erstens musst du sie nicht verstehen«, sagte Susanne, »und zweitens versteht er sie selber nicht.«
»Sei nicht albern.«
»Nein, er hat das wirklich gesagt. Ein Gedicht, hat er gesagt, ist nicht dazu da, verstanden zu werden. Jedenfalls nicht mit dem Verstand.«
»Oh, oh, du meinst, man sieht nur mit dem Herzen gut.«
»Er hat es so erklärt: Versuch einmal, einen Apfel einfach nur anzuschauen. Ohne ihn zu bewerten – die Haut ist runzlig, ist der Bio oder gespritzt … ohne zu benennen – giftgrün, das müsste ein Granny Smith sein, oder ist das eine Art von Golden Delicious. Probier das mal, hat er gesagt. Und wenn du es mit einem Apfel geschafft hast, dann versuche es mit den Worten eines Gedichts. Lies sie laut. Lass sie klingen. Versuche nicht, sie zu verstehen. Lass sie wirken.«
»Das klingt spannend!«
»Ja, das war in der Zeit, als er noch geschrieben hat.«
»Ich werde es nicht schaffen!«
»Doch! Und du kannst mich jederzeit anrufen!«
»Und welches Kostüm soll ich tragen? Ich meine, was soll ich bloß anziehen?«
Susanne und Lisi suchten gemeinsam ein gelbes Sommerkleid aus und eine Forscher-Kluft mit Cargo-Hose und zwei schöne Bikinis. Außerdem hatte Susanne das »Große Handbuch der vergleichenden Verhaltensforschung« für Lisi besorgt.
Lisis Zustände wechselten zwischen leichter Euphorie und schweren Zweifeln: »Ich leg ihn rein. Ich hau ihn übers Ohr. Ich betrüge ihn.«
Susanne konterte: »Du führst ihn zu sich selbst. Du befreist ihn. Du rettest ihn.«
»Damit beginnen immer Katastrophen«, sagte Lisi. »Damit, dass man wen retten will.« Als sie sich am nächsten Tag ins Auto setzte, um nach Grünbach im Elbtal zu fahren, konnte sie die unangenehme Vorahnung nicht ganz abschütteln, sie würde recht behalten.
23. Juli
Obwohl die Sonne schien und die Kühe bereits ihre Siesta hielten, traute sich Lisi nicht, das Pensionszimmer zu verlassen. Sie wollte Fred nicht begegnen. Sie musste jetzt cool bleiben. Die Kurve kratzen. Die Notbremse ziehen.
Lisis Handy läutete. Auf dem Display Susannes lachendes Gesicht. Da gibt es nichts zu lachen, dachte Lisi, als sie abhob. Sie erzählte ihrer Auftraggeberin in allen Details, was am Vortag vorgefallen war. Alles andere hatte sie schon erzählt, die Übernachtung auf der Hütte, und wie liebevoll Fred für sie gekocht hatte. Sie hatte von Freds Unwillen zu schreiben erzählt, Augusts Erscheinen geschildert, und sie war nicht müde geworden zu betonen, wie stolz sie auf sich war, weil sie ihre Rolle so gut gespielt hatte. Fred hatte ihr gefallen, jeden Tag, jede Stunde besser.
»Als er auf dem Steg stand und weinte … da habe ich mich in ihn verliebt. Schrecklich und unwiderruflich verliebt.«
»Ein flennender Mann ist nicht sexy«, wandte Susanne ein.
»Er war sexy!« Lisi unterdrückte ein Schluchzen. »Er hat vorher ein Menschenleben gerettet. Unter Einsatz seines eigenen Lebens! Wie ein Held stand er da, überwältigt von seinen Gefühlen.«
»Na und? Du hast dich in ihn verliebt.«
»Aber er sich nicht in mich!«
»Vielleicht schon.«
»Woher willst du das wissen?«
»Aus seinen Briefen.«
»Zeig sie mir!«
»Nein!«
»Was hat er über mich geschrieben?«
»Für seine Verhältnisse hat er regelrecht geschwärmt.«
»Er hat sich nicht in mich verliebt. Er hat sich in Mara verliebt. Ich bin aber Elisabeth Lisi Halbig.«
»Na und?«
»Ich will, dass er in mich verliebt ist!!«
»Wozu?!«
»Er ist ein Mann für’s Leben.«
»Jetzt übertreibst du aber gewaltig.«
»So viele solche Männer werde ich nicht mehr kennenlernen! Ich habe mich einem männlichen Menschen noch nie so verbunden gefühlt. So innig verbunden!«
»Und wenn es so wäre: Was ist schlecht daran?« Susanne klang jetzt schon leicht genervt. Auch Lisi erhob die Stimme: »Ich kann dir sagen, was schlecht daran ist! Schlecht daran ist, dass es sich um Betrug handelt! Ich habe ihn reingelegt. Wir haben ihn reingelegt! Du bist die Zuhälterin, und ich bin die Nutte, die ihn aufs Kreuz gelegt hat.«
»Ich dachte, ihr habt nicht miteinander geschlafen.«
»Haben wir auch nicht. Ich bin ja keine Nutte!«
»Ich bin auch keine Puffmutter. Und jetzt hör mir mal zu, Lisi: Komm langsam wieder runter. Du kennst unsere Abmachung. Fred wird es nie erfahren. Nie.«
»Das ändert nichts daran, dass ich ihn reingelegt habe.«
»Vertraust du mir nicht?«
»Es geht um mich! Ich kann ihm nie wieder in die Augen sehen! Ich kann doch jetzt nicht einfach zu ihm gehen und sagen: Hallo, ich heiße gar nicht Mara, war nur ’n kleiner Witz, in Wahrheit bin ich die Lisi aus Troisdorf, ich bin auch keine erfolgreiche Forscherin, sondern eine unerfolgreiche Schauspielerin, meine Tochter hat mich soeben verlassen, deren Vater habe ich vor Ewigkeiten verlassen, und was ich mir vom Leben erwarte, bevor mich eine Krankheit dahinrafft, sind ein paar gelungene Fernsehabende!«
»Lisi, es ist schrecklich, wie du übertreibst.«
»Du hast leicht reden!«
»Na klar hab ich leicht reden! Heute haben sie mein Bücherlager gepfändet!«
»Das geschieht dir recht!«
»Beruhige dich!«, befahl Susanne. »Atme!«
»Ich will aber nicht atmen!«
»Dann erstick eben!«
Tatsächlich hatte Lisi das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Susanne hatte aufgelegt. Lisi lief schluchzend im Zimmer auf und ab, was bei den Dimensionen des Zimmers keine echte Erleichterung brachte.
Sie öffnete das Fenster und beobachtete die Kühe, die einen unfassbaren Gleichmut ausstrahlten. Das ärgerte Lisi. Denen war einfach alles egal! Aber dann versuchte sie, bewusst zu atmen, schließlich hatte sie darin ein Diplom. Den Kühen ist nicht alles egal, sagte sie sich. Nein, die Kühe ruhen in sich. So wie der Berg. Der Berg ist immer der gleiche. Er steht da, unverändert, unverwundet. Ob es regnet, schneit, ob es stürmt: Der Berg verändert manchmal seine Erscheinungsform. Aber es ist immer derselbe Berg.
Ruhe strömte durch Lisis gesamten Körper. Der Berg. Der Berg zu dessen Füßen ein See lag an dessen Ufer eine Hütte stand auf deren Holzbank Fred saß und auf sie wartete. Fred! Alfred Firneis!
Ruhig, Elisabeth. Atme.
Mich nervt das Atmen!
Ruhig, Elisabeth. Gedanken kommen, Gedanken gehen. Lass sie ziehen.
Lass mich in Ruhe mit dieser ganzen Meditations-Scheiße!
In deinem Herzen geht die Sonne auf. Sie zaubert ein Lächeln auf deinen Mund.
Oder auch nicht.
Die Sache mit der Ruhe wollte einfach nicht gelingen.
Lisi setzte sich mit einem Stoßseufzer an das Katzentischchen in ihrem Zimmer. Sie nahm ihren Schreibblock und den Kugelschreiber, überblätterte ihre ganzen Pseudo-Notizen über das Verhalten von Fischen und begann, eine Liste zu schreiben. Den Trick mit den systematischen Listen hatte sie von Susanne, nur schaffte Lisi es selten, systematisch zu bleiben, und so endeten ihre Listen regelmäßig im Chaos.
»Fakten«
1) Ich bin verliebt in Alfred Firneis.
2) Das ist ein Problem, weil ich nicht ich (Lisi) bin, sondern Mara.
3) Warum muss ich mich ausgerechnet in einen Mann verlieben, wenn ich nicht ich bin?!
Punkt drei strich Lisi wieder durch. Das gehörte nicht zu den Fakten. Sie überlegte noch, aber weitere nennenswerte Tatsachen fielen ihr nicht ein. Also schrieb sie einen zweiten Titel auf die Seite: »Möglichkeiten und Folgen«
1) Ich gehe zu Fred und sage ihm die Wahrheit. Ich sage ihm, ich bin nicht Mara, sondern Lisi. Ich sage ihm, seine Verlegerin hat mich bezahlt, aber ich bereue alles sehr und liebe ihn fortan als Lisi.
»Folgen«
a) Fred könnte sehr verletzt sein über diesen Missbrauch des Vertrauens. Verletzt von Susanne und von mir.
b) Fred verzeiht mir und liebt mich auch. Dann könnten wir Susanne alles erklären. Oder wir verpassen Susanne gemeinsam einen Denkzettel, weil sie so doofe Ideen hat.
c) Fred bin ich egal. Er ist sauer auf Susanne, und sie auf mich.
2) Ich behalte alles für mich und
reise ab. Ich verschwinde einfach, ohne Fred etwas zu sagen.
Vorteil: Ich verletze den Vertrag nicht und wahre mein Gesicht.
Folge: Ich werde Fred nie wieder sehen. Folge: Das kränkt mich und
wahrscheinlich auch Fred.
Lisi dachte weiter nach. Aber es fiel ihr nicht mehr viel ein. Außer:
»Unmögliche Möglichkeiten«
1) Ich bin ab jetzt Mara aus Zvolen in der Mittelslowakei. Ich könnte immer wieder auf Dienstreisen nach Berlin oder nach Grünbach kommen, ganz egal. Und falls Fred einmal meine Familie kennenlernen will, muss ich das entweder verhindern oder für ein paar Tage eine Familie chartern. Vorteil: Ich kann in Freds Nähe bleiben. Nachteil: Ich betrüge ihn weiter und verstricke mich immer tiefer. Außerdem sehr anstrengend.
2) Ich könnte sagen, Mara ist meine Zwillingsschwester, die jetzt nach Zvolen zurückgekehrt ist. Aber ich, Lisi, habe nun Zeit für Fred und übernehme die Schicht. Nachteil: Wenig glaubwürdig.
3) Ich könnte so tun, als wäre ich unter Drogen gewesen oder hätte eine kurzfristige Bewusstseinsspaltung erlitten. Ich könnte vorschützen, mich gar nicht an Mara erinnern zu können. Nachteile: Wird er Lisi auch mögen? Ist Mara nicht die viel bessere Lisi? Ist eine Bewusstseinsspaltung sexy?
Das Schreiben machte Lisi ruhiger. Schreiben beruhigte sie schon seit ihrer Kindheit. Da war sie Fred ganz ähnlich. Überhaupt, Fred! Fred …
Was würde Fred weniger verletzen – der schnöde Betrug oder das wortlose Verschwinden? Zweifellos das Verschwinden, dachte Lisi. Sie musste weg, so weh es auch tat. Die eigene Liebe zu opfern aus Liebe zu Fred: Das blieb die edelste Möglichkeit. Die einzige Möglichkeit.
»Zusammenfassung«
Ich muss meinen Fehler büßen, indem ich auf die Liebe zu ihm verzichte, und zwar aus Liebe zu ihm.
Lisi packte hastig ihre Sachen zusammen. Das gelbe Kleid. Den schwarzen und den weißen Bikini. Den Schreibblock. Ihrer verwunderten Zimmerbesitzerin erzählte sie etwas von einem wichtigen Termin in Berlin. Sie bedankte sich für das schöne Zimmer und für das Moped. Sie setzte ihre Sonnenbrille auf und duckte sich so tief wie möglich unter das Lenkrad ihres kleinen, roten Peugeot.
Sie atmete nicht erleichtert auf, als sie das Schild »Auf Wiedersehen in Grünbach« sah, denn sie wäre eigentlich sehr, sehr gerne von Fred Firneis entdeckt, überrascht und an der Flucht gehindert worden. Aber es durfte kein Zurück geben.
Sie musste dieses Opfer bringen.
Auch wenn es Fred vielleicht verletzte – sie musste aus seinem Leben verschwinden, um ihn vor der noch gröberen Verletzung durch die Wahrheit zu behüten.
24. Juli
Warum immer mir? Warum immer dasselbe? Fred hatte mit dem Haus- respektive Hüttenputz begonnen, aber das euphorische Gefühl vom ersten Mal wollte sich nicht und nicht einstellen.
Es gibt zwei Dinge, die wirklich schlimm für mich sind, dachte Fred, während er auf dem Boden kniete und den Holzboden schrubbte:
Das eine ist, wenn mich jemand belügt. Das macht mich wütend, aber wenigstens nur wütend.
Das andere ist, wenn jemand plötzlich verschwindet. Das macht mich hilflos. Das bringt mich fast um.
Die Urangst, verlassen zu werden, war für Fred ein jederzeit abrufbares Gefühl. Und eines noch dazu, das in seinem Leben ständig wiederkehrte. Fred zerstritt sich mit niemandem. Fred brach aus keiner Beziehung aus. Fred wurde verlassen. Von seinem Vater. Von seinem Freund Kurt, mit dem er als Kind jede freie Minute verbracht hatte, und der plötzlich nicht mehr mit ihm spielen wollte. Von seiner ersten Liebe Nadia, mit der er ein Rendezvous bei der Bushaltestelle hatte, und die kühl winkend davonfuhr, während Fred dem Bus nachlief. Von seiner zweiten Liebe Kathi, die – aus seiner Sicht völlig grundlos und ohne eine Erklärung abzugeben – von einem Tag auf den anderen nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. »Bist du eh nicht böse?«, diese Frage hörte Fred dann manchmal Jahre später, und dieses indirekte Eingeständnis, sich mies verhalten zu haben, machte es um nichts besser.
Zuletzt hatte ihn Charlotte verlassen. Eines Tages war sie plötzlich weg. Und so sehr er auch sich selbst dafür verantwortlich machte, und so sehr er das Muster aus Ängsten und deren permanenter Wiederkehr durchschaut hatte, so sehr schmerzte es doch jedes Mal.
Plötzlich ganz allein dastehen. Seit mein Vater sich aus meinem Leben verabschiedet hat, lebt diese Angst in mir, dachte Fred, während er sich nun mit einer Drahtbürste am Tischherd zu schaffen machte. Für ein achtjähriges Wiener Kind der siebziger Jahre befand sich Berlin auf einem anderen Kontinent, hinter dem Eisernen Vorhang. Und auf der anderen Seite befand auch ich mich, und manchmal glaube ich, immer noch da zu sein, hinter dem Eisernen Vorhang. Wenn meine Mutter mal später vom Einkaufen zurückkam, weil sie irgendwen getroffen hatte und noch auf einen Kaffee gegangen war, bin ich zu Hause fast vor Angst gestorben. Mir war ganz klar, dass ich nun alleine bleiben würde, sie hatte sich sicher auch aus dem Staub gemacht, oder war unter ein Auto gekommen oder ermordet worden, in einem Keller gefangen, die Polizei würde mir die traurige Nachricht überbringen oder die Verbrecher würden anrufen oder die Leute vom Kinderheim, die mich abholen, sie würden mir sagen, deine Mama kommt leider nicht wieder, sie ist weg, sie ist fort, sie ist tot, für immer, auf ewig, und ich konnte nichts mehr denken und nichts mehr tun, ich war sogar zu starr zum Heulen, ich saß einfach nur da, mit eiskalten Händen und eiskalten Füßen, und im Kopf war auch kein Blut. Erst als ich die Schlüssel an der Wohnungstür schleifen hörte, das Abstellen des Einkaufskorbs im Vorzimmer, da begannen mir die Tränen heiß über die Wangen zu laufen, ich wischte sie weg und lief hinaus, umarmte Mama, sie war so weich und warm und lebendig. Da. Für mich. Um mich.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Nichts«, sagte ich.
Sie fragte nie nach, warum ich weinte. Das Gefühl des Alleinseins kehrte wieder, auch wenn ich nicht alleine war. Alleinsein ist nicht das richtige Wort. Getrenntsein. Getrennt von allem. Würde keiner von mir glauben. Wo ich doch so witzig bin!
Fred wischte die Gedanken im wahrsten Sinne des Wortes beiseite. Er war jetzt bei den Fenstern angelangt. Er hielt kurz inne und sah auf den See. Dort, auf dem Steg, waren sie vorgestern noch gelegen. Er hatte geglaubt, Mara würde ihn auch mögen. Anscheinend war dem doch nicht so. Gestern hatte er den ganzen Tag auf sie gewartet. Heute wartete er nicht mehr. Mara würde nicht mehr kommen. Sie war weg. Fred spürte so etwas.
Plötzlich hörte er ein Motorengeräusch. Vielleicht hatte er sich diesmal geirrt! Fred sprang vor die Hütte. August kam ihm entgegen. In der Hand trug er eine riesige Seite Speck. Er drückte sie Fred in die Hand.
»Danke«, sagte August schlicht.
»Wäre nicht nötig gewesen«, meinte Fred. Verlegen streichelte er Aisha.
»Was ist«, fragte August, »rauchst du nicht mehr?«
»Schon«, antwortete Fred ertappt. Mit diesem August war man immer in der Defensive. Außer, wenn man ihm mal das Leben rettete. Aber die Gelegenheit ergab sich zweifellos nicht sehr oft.
Sie setzten sich an den Tisch vor der Hütte, drehten ihre Zigaretten und rauchten.
»Die meisten Menschen leben so, als ob sie nie sterben würden. Und sie sterben so, als ob sie nie gelebt hätten«, sagte August.
Fred ließ den Satz einwirken und nickte. Dann sagte er: »Du kannst einem aber auch verdammt auf die Nerven gehen mit deinen alpinen Lebensweisheiten.«
August lachte. »Na endlich bist du einmal ehrlich! Ich hab schon geglaubt, du kommst nie drauf, wie lästig ich bin. Wo ist eigentlich deine Freundin?«
»Welche Freundin?«
»Na komm, tu nicht so. Deine Nixe. Dein Fischweib.«
»Sie ist nicht meine Freundin. Und ich weiß nicht, wo sie ist.«
»Ui, habt’s ihr gestritten?«
»Nein.«
»Habt’s ihr wenigstens Sex gehabt?«
»Das geht dich nichts an.«
»Interessiert mich trotzdem.«
»Nicht einmal ein bisschen.«
»Dabei glaube ich, die ist gut im Bett.«
Fred seufzte genervt: »Gut im Bett, gut im Bett, was heißt schon gut im Bett? Entweder zwei verstehen sich, dann haben sie Spaß, und wenn nicht, dann lässt man es sowieso besser bleiben.«
»Du bist aber auch ein Komplizierter«, stellte August fest. »Immer nachdenken da drinnen in deinem schönen Kopf. Immer alle Gehirnwindungen schön der Reihe nach durchgehen, ob man nicht irgendwo eine Schwierigkeit finden kann. Ein Hindernis. Und wer suchet, der findet!«
»Du nervst wirklich, August.«
»Du wolltest Sex mit ihr. Sie wollte Sex mit dir. Und was ist das Ergebnis? Sie ist weg und du bist beleidigt.«
»So einfach ist es eben nicht immer!«
»Doch, es ist genau so einfach!« Jetzt war es August, der genervt schien. »Schau dir doch die Welt an! Es gibt nur ein Thema: Sex. Fortpflanzung. Die Weitergabe der Gene. Den Kreis am Laufen halten. Was wollen die Blumen? Sex. Was wollen die Frösche? Sex? Was wollen die Hirsche? Sex. Was wollen deine Fische? Sex. So einfach ist das.«
»Ach so ist das«, sagte Fred und wunderte sich über seinen zynischen Tonfall, »und was ist mit dem Wasser? Was will das? Und die Wolken, wollen die Sex? Bisschen sehr einseitig, deine Weltsicht.«
»Sie wird wiederkommen, dann könnt ihr es ja nachholen.«
Fred boxte August auf den Arm. Fest, wie er sich einbildete, aber der Arm war hart wie Stein, und August lachte, während Fred sich die schmerzende Faust rieb.
»Kann sein, dass sie wiederkommt«, sagte Fred, der allerdings vom Gegenteil überzeugt war. »Aber ich werde dann nicht mehr da sein. Weil ich nämlich morgen Früh nach Berlin zurückfahre.«
»Was machst du dort?«, fragte August.
»Was mache ich hier?«, fragte Fred zurück.
»Gehen wir noch einmal auf den Berg, Dichter?«, fragte August.
»Da fragst du noch?«, fragte Fred.
Munter gingen die beiden hinter der Hütte den Pfad hinauf, der am Wasserfall vorbei den mit alten Fichten bewachsenen Hang bergan führte, und es schien, als wären sie alte Freunde.
Entweder ging August langsamer, oder Fred hatte an Kondition gewonnen. Jedenfalls hielt er mit dem jungen Förster Schritt.
Aisha bellte, als sie den Gipfel erreichten. Der Alpenkamm lag vor ihren Augen, die Welt zu ihren Füßen. Und August stieß seinen jodelnden Urschrei aus.
Er sah Fred herausfordernd an.
»Heute versuche ich es gar nicht«, sagte Fred. »Ich bin nicht in der Stimmung.«
»Mit schlecht gestimmten Instrumenten soll man nicht spielen«, sagte August.
»Wieder eine deiner unerträglichen Weisheiten«, gab Fred zurück.
In stiller Eintracht tranken sie Wasser, aßen Speck und Brot.
August zeigte auf ein hohes Wolkenfeld, das im Westen aufzog. »Morgen schlägt das Wetter um. Für zwei Wochen.«
»Das siehst du an diesen harmlosen Wolken?«
»An den Wolken sehe ich, dass das Wetter umschlägt.«
»Und für zwei Wochen, wo siehst du das?«
»Auf www.wetter.at.«
Sie stiegen zügig ab. Als sie bei der Hütte ankamen, sagte August: »Ich muss los. Sieht man sich wieder?«
»Keine Ahnung«, antwortete Fred. Er kniete sich hin und streichelte Aisha. »Wer weiß das schon?«
August und Fred umarmten einander kurz, aber herzlich.
»Servus«, sagte August.
»Servus«, sagte Fred.
25. Juli
Wie von August und www.wetter.at prophezeit, regnete es am nächsten Morgen in Strömen. Alfred Firneis packte seine Siebensachen zusammen. Das war schnell geschehen, denn viel mehr als sieben Sachen gab es tatsächlich nicht zu packen. Die »Endreinigung« hatte er schon hinter sich gebracht. Fred musste nur zweimal zu seinem Auto laufen, dann war er bereit zum Aufbruch. Oder sollte er noch warten? Würde Mara vielleicht doch noch auftauchen?
Fred ging ein letztes Mal auf den Steg. Es war ihm egal, dass er nass wurde. Hier hatte ihn Mara umarmt. Dieses herrliche Wasser hatte sie umschlossen gehalten. Möglicherweise trug es noch irgendwelche Informationen, die sie vereinten. Fred und Mara. Mara und Fred. Dort drüben hatten sie die Fische gegrillt. Fred hörte Maras Lachen. Sah ihr Gesicht. Er spürte Bitterkeit in den Mundwinkeln und Sehnsucht im Herzen. Ein gelbes Ahornblatt kam dahergeflogen. Es blieb auf dem nassen Holz des Stegs kleben.
Fred fröstelte. Er lief zur Hütte zurück. Bis zuletzt hatte er überlegt, was er mit den hier entstandenen Texten machen sollte. Mit den Gedichten, die er für Mara geschrieben hatte. An Mara. Er stopfte den Packen in den Ofen. All das war nun hinfällig. Mara. Und die Gedichte. Fred wartete, bis das Papier restlos verbrannt war.
Er schloss ab und ging zum Auto, ohne sich umzudrehen.
Er versperrte den Schranken zur Forststraße. Adieu, Elbsee! Adieu, Hütte! »Eine Elfe wird dich immer lieben.« Warum hatte Mara ihm das ins Ohr geflüstert? Um ihn zu verhöhnen?
Fred ließ den Motor laufen, als er seinen Wagen vor dem Gasthaus zur Gams parkte. Er würde sich nicht lange aufhalten.
»Hier sind die Schlüssel. Ich fahre heim. Auf Wiedersehen.«
»Hast es eh lang ausgehalten«, brummte Lois, der Wirt.
»Eh«, sagte Fred und ging zur Tür.
»Hast dich verändert?«, rief ihm Lois fragend nach.
»Wieso?«
»Jeder, der einen Monat oben bleibt, verändert sich«, sagte der Wirt.
»Einen Monat?«, fragte Fred ungläubig.
Lois sah auf einen handschriftlichen Zettel, der dem Kuvert mit dem Schlüssel beigelegt war. »Du bist am 27. Juni gekommen und heute ist der 25. Juli. Vier Wochen.«
»Unglaublich.«
»Und?«
»Was?«
»Verändert?«
»Nein. Servus.«
Aber natürlich dachte Fred über die Worte des Wirts nach, als er aus dem Tal in die Ebenen des Alpenvorlands hinausfuhr. Die Person, die vor vier Wochen im Gasthaus zur Gams Bier und Wein in sich hineingeschüttet hatte, wies mit der Person, die jetzt in melancholischer Ruhe nach Berlin fuhr, nur wenig Ähnlichkeit auf. Nicht einmal äußerlich. Fred betrachtete sich im Rückspiegel. Seine Haut war braun gebrannt, seine Augen klar. Morgen würde er zum Frisör gehen.
Als Alfred Firneis kurz nach Regensburg in einen Stau geriet, dauerte es eine gute halbe Stunde, ehe ihm auffiel: Der Stau war ihm egal. Weder ergriff ihn Unruhe, noch Ungeduld, noch Panik.
Nein, ich habe mich nicht verändert, dachte Fred.
Ich bin ein anderer Mensch geworden.
Aber das ging den Wirt von der Gams gar nichts an.
Während Alfred Firneis widerstandslos im Stau stand, stürmte Elisabeth Halbig unangekündigt in das Büro der Verlegerin Susanne Beckmann in Berlin Mitte. Das Büro bestand aus zweieinhalb kleinen Zimmern: Eines für Susanne, eines für die Lektorin und die Pressebetreuerin, ein halbes für das Lager. Susannes Vater hatte das Büro für seine Tochter gekauft, als Immobilien in Mitte noch zu Schnäppchenpreisen verscherbelt wurden. Als Vorschuss auf das Erbe, wie es damals geheißen hatte. Leider folgte dem kein Nachschuss, wie mittlerweile nach Abschluss der Verlassenschaft klar war.
»Man erreicht dich nicht«, sagte Lisi wütend. »Du redest nicht mit mir. Du denkst wohl, die Transuse hörst du dir nicht an. Aber ich will mit dir reden! Ich schmore jetzt seit über 36 Stunden in meiner affenheißen Wohnung in meinem eigenen Saft! Und während ICH sofort zu dir gekommen bin, als du Sorgen hattest und während ICH mir das alles stundenlang angehört habe und während ICH diese geisteskranke Idee für gut befunden habe und während ICH 800 Kilometer hin- und 800 zurückgefahren bin und während ICH eine Rolle sehr gut gelernt und sehr gut gespielt habe, rufst DU mich nicht einmal eine klitzekleine Sekunde zurück!!«
Lisi war zufrieden mit sich. Sie hatte so ziemlich alles vorgebracht, was sie sich vorgenommen hatte. Und da hatte sich einiges aufgestaut, seit dem Telefongespräch aus Grünbach. Nun sah sie sich erstmals um. Susanne saß hinter ihrem Schreibtisch und starrte sie an.
»Kein Wunder, dass du keine Zeit hattest«, brachte Lisi bitter vor. »Du hast ausgebaut. Das Büro ist größer geworden. Hat die Bank wohl schon gezahlt? Er wird schon brav schreiben, dein Starautor, den du auspresst wie eine Zitrone. Jetzt leidet er ja schön, das ist sicher gut für die Kunst. Das hast du dir schön ausgedacht. Gratuliere!«
»Bist du fertig?«, fragte Susanne, und das klang nicht süffisant, sondern traurig. Da Lisi nichts sagte, fuhr sie nach einer kleinen Pause fort: »Das Büro ist nicht größer, sondern leerer. Der Kopierer wurde heute abgeholt. Und gestern schon die vier Bilder, auf die mein Vater so stolz war. Max Ernst, du kanntest sie ja. Das wird für die Außenstände bei den Druckereien reichen. Meine beiden Mädels sind so rührend und machen am Abend zwei Stunden Bürodienst, unbezahlt. Ich dachte nicht, dass es so etwas heutzutage noch gibt.«
»Tut mir leid«, sagte Lisi. »Ich kann jetzt einfach an nichts anderes denken.«
»Ist schon gut.«
»Warum verkaufst du die Hütte eigentlich nicht? Die gehört doch dir?«
»Ich würde nichts lieber machen! Ich mag diese Bude nicht! Ich will nicht ohne Strom leben! Aber die Hütte steht auf gepachtetem Grund. Der Grundeigentümer muss dem Verkauf zustimmen. Und er will die Hütte selbst haben. Du kannst dir vorstellen, was ich dafür bekomme. Das reicht nicht mal für ’nen anständigen Kopierer.«
»Scheiße.«
Susanne reichte ihr ein paar Blätter: »Das ist der Entwurf für die Herbstvorschau. Der neue Lyrikband Liebe unter Fischen von Fred Firneis ist der Spitzentitel. Tolles Cover, nicht? Das volle Programm: Lesetour mit dem Autor, Interviews, Vorabexemplare, Startauflage 100.000 … Die Vertreter jubeln. Die Buchhändler bestellen wie verrückt. Tja. Schade nur, dass es kein Buch gibt.«
»Vielleicht hat Fred ja doch ein paar Gedichte … Also ich glaube eigentlich nicht, aber vielleicht …«
»Was er mir geschickt hat, war seltsam. Haikus und gereimte Sachen und so.«
»Vielleicht hat er irgendwo einen geheimen Vorrat?«
»Das wäre wie ein Wunder.«
Susanne griff in eine Lade und holte einen Fünfhundert-Euro-Schein heraus.
Sie legte ihn vor Lisi auf den Tisch. »Der letzte Rest meiner Schwarzgeld-Kasse. Ist einmal eine Anzahlung.«
»Ich will das Geld nicht«, sagte Lisi.
»Bitte«, sagte Susanne. »Es steht dir zu. Den Rest bekommst du in besseren Zeiten.«
»Nein.«
»Du hattest wirklich Arbeit und Auslagen. Und es war eine Scheißidee von mir. Bitte.«
Lisi legte den Schein zurück: »Du kannst es besser brauchen.«
»Du brauchst es auch.«
»Ich will es nicht.«
»Nur kein falscher Stolz. Es ist okay für mich. Danke, Lisi. Ich ruf dich an, wenn’s mir besser geht.«
»Ich nehme es nicht.«
»Wirst du schon.«
»Es ist Blutgeld, verstehst du nicht?« Lisi wollte laut werden, aber ihre Stimme kiekste. »Es ist schlimmer als Blutgeld, es ist Seelengeld. Damit verkaufe ich meine Liebe. Und jede Chance, dass sie jemals erfüllt wird.«
»Ich fürchte, in dem Fall ist sie sowieso im Arsch.«
»Ja.«
»Sag mir, was ich tun kann, Lisi!« Susanne klang aufrichtig verzweifelt. »Von mir aus ist unsere Abmachung hinfällig. Ich kann zu Fred in die Hütte fahren oder ihm einen Brief schreiben und ihm alles gestehen. Ihm sagen, es war eine miese dumme Idee von mir.«
»Das macht meine Rolle bei der versuchten Verwirklichung dieser Idee nicht besser.«
»Sag’s du ihm! Und schieb alles auf mich! Ist ja auch alles meine Schuld! Ich hab nichts zu verlieren, Lisi. Jetzt nicht mehr.«
»Ich auch nicht, Susanne. Und weißt du, was besonders schlimm ist für mich? Ich spiele die Mara viel bezzer als die Lisi.«
»Wir spielen immer, wer es weiß, ist klug.«
»Lass mich in Ruh. Fred wird Lisi hassen.«
»Vielleicht nicht.«
»Ich selbst hab Mara auch lieber als Lisi.« Nun war Lisi den Tränen nahe.
»Sag mir, was ich machen soll«, flehte Susanne.
»Nichts. Wir können nichts machen. Dein Verlag ist im Eimer. Meine Liebe ist im Eimer. Und tschüss.« Lisi stand auf, sah ratlos um sich, weil Susanne nicht reagierte und ging dann hinter den Schreibtisch. Sie drückte Susanne einen Kuss auf die Wange und sagte: »Wird alles schon wieder werden. Irgendwann.«
Susanne griff auf die andere Tischseite, nahm den Geldschein und drückte ihn Lisi in die Hand.
Lisi sah den Fünfhunderter kurz an, dann zerriss sie ihn in kleine Stücke und verließ das Büro.
26. Juli
Als Fred erwachte, wusste er nicht gleich, wo er sich befand. Auch in Berlin zwitscherten die Vögel – nur anders. Vor allem roch es anders. Kreuzberg roch nach Asphalt, nach Staub, Gewürzen und Benzin. Grünbach roch nach Wasser, Erde und Fichtennadeln. Fred duschte kalt, was das zur Gewohnheit gewordene morgendliche Bad im See nicht ersetzen konnte. Er hatte Kopfweh.
Fred hatte seine Wohnung unverändert vorgefunden. Klar, so lange war er nicht weg gewesen – was sollte sich groß verändert haben? Die Luft war stickig gewesen, aber das ließ sich schnell ändern. Özer hatte sein gutes Aussehen bewundert, ihm zwei Flaschen Wein und eine kleine Dose von seinem feinen, türkischen Tabak verkauft. Die Flaschen hatte Fred leider beide ausgetrunken.
Ein Kater – an dieses etwas deprimierende Gefühl konnte er sich kaum mehr erinnern. Kater sind nur dann nicht deprimierend, wenn der Abend davor lustig war. Toller Abend, sagt man sich dann. Werde eben alt, sagte sich Fred heute.
Er griff zum Hörer.
Immerhin, das Telefon haben sie mir noch nicht gesperrt, dachte Susanne, die wie jeden Morgen im Büro saß, obwohl es nicht viel zu tun gab. »Beckmann.«
Fred Firneis meldete sich zurück und bedankte sich für die Zeit auf der Hütte. Susanne war in erster Linie traurig. Dennoch freute sie sich, seine Stimme zu hören. Sie mochte diesen Firneis, obwohl sie ihn – wie alle Schriftsteller – nicht wirklich ernst nehmen konnte. Sie hörte sich seine Berichte an. Der Name Mara tauchte oft darin auf. Sehr oft sogar.
Auf dem Schreibtisch vor Susanne lagen die Teile des Fünfhunderters, den eben diese Mara zerrissen hatte. Den wird man kleben und eintauschen können, dachte Susanne, die für dramatische Auftritte nichts übrig hatte. Sie klemmte den Hörer zwischen Schulter und Ohr ein, und während sie mit ihrer Tixorolle zur Tat schritt, kam ihr eine Idee. Eine letzte, vielleicht rettende Idee.
»Sehr kreativ war sie wohl nicht, die Zeit auf der Hütte«, seufzte Susanne.
»Die letzten Tage schon«, meinte Fred, etwas zögerlich. »Das hatte wohl auch mit Mara zu tun.«
»Das heißt, ich darf mir Hoffnungen machen? Haben Sie geschrieben, Herr Firneis?«
»Ja. Ganz brauchbare Sachen. Sie wissen, ich bin selbstkritisch.«
»Bis zu einem gewissen Grad, ja.«
»Ich konnte plötzlich wieder schreiben.«
»Und sind es genügend Texte für ein Buch?« Susannes Stimmung begann sich eindeutig zu bessern.
»Für ein schmales Bändchen wären es genug gewesen.«
»Was wollen Sie mit diesem Vergangenheitskonjunktiv andeuten?«
»Ich habe sie verbrannt.«
»Scherz?«
»Echt. Sie haben ja gesagt, Sie wollen nichts Gereimtes. Und keine Haikus und keine Beschreibungen und keine Gefühle …«
»Das habe ich nie gesagt!!«
»Ich dachte, Sie wollen eigentlich gar keine Lyrik. Nun, dann eben nicht.«
Susanne hätte am liebsten zu brüllen begonnen und diesen geisteskranken Autor beschimpft, aber sie besann sich auf ihre Stärke, nämlich einen kühlen Kopf zu bewahren. Sie hatte nur die eine Chance, ihren Verlag zu retten. Und die würde sie nun ergreifen.
»Herr Firneis«, sagte sie mit eisiger Stimme. »Ich weiß, wer Mara ist. Ich weiß, wo Mara ist. Sie können die Informationen von mir erhalten. Unter einer Bedingung: Ich will die Gedichte. Arbeitstitel: Liebe unter Fischen. Jetzt ist es zehn Uhr. Sie haben nun exakt dreißig Stunden Zeit, die vernichteten Texte zu rekonstruieren oder neue zu schreiben. Und stellen Sie mir keine Fragen über Mara. Morgen erfahren Sie alles. Ich erwarte Sie morgen, am 27. Juli, um 16 Uhr im Verlagsbüro.«
Susanne legte auf. Sie schnappte den wiederhergestellten Geldschein, um ihn auf die Bank zu tragen. Nicht auf ihre Bank. Auf eine, wo sie niemand kannte. Falls Fred tatsächlich liefern sollte, würde sie den Vertrag brechen und Lisis Identität preisgeben müssen, was sie möglicherweise die Freundschaft kosten würde. Doch im Laufe der Jahre hatte sie sich abgewöhnt, ein schlechtes Gewissen für Dinge zu haben, die noch gar nicht geschehen waren.
Etwa zur gleichen Zeit befand sich Lisi bereits in der Nähe von Leipzig. Von hier aus würde sie nach Süden abbiegen und ihrem Herzen folgen. Das sagte sie sich jedenfalls vor, ohne sich restlos sicher zu sein, ob sie ihrem Herzen folgte oder schlicht den Verstand verloren hatte.
Nach der idiotischen Szene mit Susanne gestern war sie in ihre Wohnung in Tempelhof zurückgekehrt, hatte vom Balkon aus auf den Parkfriedhof geschaut und eine Zigarette nach der anderen geraucht. Sie rauchte genau einmal im Jahr, und dieser Tag war heute. Wenn ich so weiterrauche, kann ich mich gleich in ein Grab legen, hatte sie gedacht, obwohl sie ja früher oder später ohnehin in einem Grab landen und verfaulen würde mitsamt ihrer Yoga-Figur und ihren Gefühlen. Dieser Gedanke bewog Lisi sogleich, eine Flasche Limoncello zu öffnen, Dinkel-Grissini in sich hineinzustopfen, noch eine Muratti anzuzünden und Bilanz zu ziehen. Bilanz zu ziehen kann für Unternehmen schwierig sein; für einen Menschen in der Krise ist es fatal. Nach drei Gläsern des Zitronenlikörs, den sie aus dem vielleicht letzten gemeinsamen Urlaub mit ihrer Tochter aus Apulien mitgebracht hatte, schrieb sie ein großes Plus auf ein großes Blatt Papier. Sie zermarterte sich lange, sehr lange den Kopf, fand aber nur drei als Erfolg zu wertende Punkte, weshalb das große Blatt Papier deprimierend leer blieb:
1) Ich habe eine tolle Tochter (die ich fast nicht mehr sehe)
2) Ich bin relativ glücklich geschieden
3) Ich habe einen erfolgreichen Bruder
Ein weiteres Glas lang überlegte sie, ob sie die bereits ins Spiel gebracht Yoga-Figur anführen sollte. Aber erstens bildete der Körper weder einen verlässlichen noch einen bleibenden Wert, und zweitens würde sie ihn fortan mit Limoncello, Grissini und Muratti vernichten. Das ist meine Mittelmeerdiät! Lisi freute sich. Dabei fiel ihr auf, sie verfügte über eine ordentliche Portion Selbstironie. Ja, das konnte als nächster und letzter Punkt angeführt werden:
4) Ich kann mich wunderbar selbst verarschen.
Nach dem nächsten Gläschen war sich Lisi aber nicht mehr ganz sicher, ob es tatsächlich als großer Pluspunkt zu werten war, bei der Demontage der eigenen Persönlichkeit autonom zu sein.
Ganz sicher hatte sie dieses Talent von Mama. Nicht jenes zur Selbstkritik, sondern das zur Lisi-Kritik. Im Rahmen eines verlängerten Wochenendes zur therapeutischen Aufarbeitung des Themas »Familiendrama« hatte Lisi damals mit der Kursleiterin drei Hauptphasen ihrer Kindheit herausgearbeitet: Von 0–7 hatte ihre Mutter sie wie eine Puppe behandelt, eine Art Spielzeugbaby, dem man entzückende Kleidchen anzieht und Zöpfchen flicht und das man danach stolz der Öffentlichkeit präsentieren kann. Zwischen 7 und 14 war sie weitgehend auf Desinteresse gestoßen, was man – bei positiver Sichtweise – als Freiheitsphase hätte interpretieren können. Ab 14 kannte Lisi von Seiten ihrer Eltern nur noch Kritik. Ihre Mutter führte die Anklage. Ihr Vater schlug sich auf die Seite der Stärkeren, also ihrer Mutter. Im Prinzip gab es nichts, was sie richtig machte. Wenn, war es der Erwähnung natürlich nicht wert. Sie hatte falsche Freundinnen, falsche Schuhe, falsche Schulnoten, falsche Interessen, sie las die falschen Bücher, sah die falschen Filme, trug die falsche Kleidung, ihre Männer waren schrecklich, ihre Berufsvorstellungen naiv, ihre Rollen lächerlich, ihre Wohnung geschmacklos … Bei ihrem großen Bruder war das alles nie ein Thema. Der wuchs in tatsächlicher Freiheit auf, umhüllt von der Gewissheit, er würde seinen Weg schon gehen, und sehet, so kam es. Er durfte sogar eine Schwäbin heiraten, nach Heidenheim an der Brenz übersiedeln, alles kein Problem, er durfte das machen. Lisi dagegen musste nach einem Besuch bei ihren Eltern regelmäßig in ihren eigenen Pass schauen, um sich zu vergewissern, dass sie schon volljährig war. »Sie müssen die alten Muster auflösen«, hatte die Familientherapeutin gesagt, was dazu führte, dass Lisi ihr Muster aktivierte und sich dachte: Wieder etwas, das ich muss und nicht kann. Wobei Lisi mit zunehmendem Alter klar wurde: Die Unzulänglichkeit lag nicht an ihr oder in ihr, sondern nur im Blick ihrer Eltern. Es handelte sich um eine Unzulänglichkeit durch Geburt, so, wie andere als Königin geboren werden, nur eben umgekehrt. Durch Handeln würde das Manko nie verschwinden, im Gegenteil, es würde klarer und härter ans Tageslicht treten. Alle Bemühungen blieben nicht nur vergeblich, sie erwiesen sich sogar als kontraproduktiv. Würde Lisi einstimmig zur Bundespräsidentin gewählt: Bei der Inauguration hätte sie garantiert die »Haare nicht sehr gut«, die Rede, »na ja«, »und das Amt ist auch nicht mehr das, was es einmal war.«
Was die Punkte auf dem großen Blatt mit dem großen Minus betraf, schrieb Lisi also nicht alles auf, was ihr durch den Kopf ging, weil sie das meiste ohnehin auswendig kannte. Von »zerstöre bei Reparaturversuchen alle Geräte« über »kann meinen Videorecorder nicht programmieren« bis hin zu »beruflicher Höhepunkt: werde als Karteileiche geführt« reichte das gedankliche Spektrum. Ja, sie konnte mit den Zulieferern des Catering-Unternehmens genauso gut reden wie mit den Servierkräften und den Produktionsleitern, sie galt als sozial kompetent, und doch: Ihre wackelige Selbstsicherheit stürzte in sich zusammen, wenn ihre Mutter sie fragte, ob sie immer noch »Brötchen streiche«. Und es stimmte ja – sie hatte versagt. Denn eigentlich sollte sie auf der anderen Seite des Sets stehen. Im Scheinwerferlicht, vor den Kameras. Ein Gedanke, der ihre Vorstellungskraft in letzter Zeit auch nur noch selten beflügelte, höchstens in den raren Augenblicken, wenn sie sich selbst im Spiegel als Fünfundzwanzigjährige wahrnehmen konnte. Meistens aber nahm sie sich – was ebenso nicht der Realität entsprach – als Sechzigjährige wahr. Wenn gute Laune ihre Selbstironie beflügelte, schaffte sie es immerhin, sich angesichts der tiefen Ackerfurchen in ihrem Gesicht als vielfältige Persönlichkeit zu bezeichnen.
Wann hatte ihr Leben diese seltsame Abzweigung Richtung Schräglage genommen? Was war früher gewesen? Welche Träume hatte sie gehabt?
Letzteres wusste Lisi ziemlich genau:
1) Ich will etwas tun, was mir Freude macht. Ich weiß nur nicht, was.
2) Ich will die Welt retten. Ich weiß nur nicht, wie.
3) Ich will geliebt werden. Ich weiß nur nicht, von wem.
Die Flasche Limoncello stand anklagend leer auf dem Balkon, als die Nacht sich auf die Gräber und Wohnungen von Berlin senkte – und was waren Wohnungen im Prinzip anderes als Gräber auf Abruf – Aufbewahrungsorte von Friedhofsdeserteuren – von Krematoriumsflüchtlingen! Lisi bemerkte, dass ihre Gedanken ein wenig lallten, aber sie war sich sicher: Sie musste weg. Ein paar Tage raus aus der Stadt. Egal wohin. Richtung Süden. Vielleicht nach Grünbach am Elbsee. Warum nicht nach Grünbach am Elbsee?? Das war ein Kraftort. Überhaupt, der Kleine Elbsee – ein magischer Platz, der die Seele durch Elfenzauber wieder in Balance bringt. Und Fred … Alfred! Vielleicht würde sie ihm ja zufällig begegnen.
Möglicherweise würde sie ihm alles gestehen.
Sie sollte ihm alles gestehen!
Das würde sie zwar aller Voraussicht nach die Freundschaft zu Susanne kosten. Aber sie musste es riskieren. Einmal im Leben richtig riskieren. Nicht vernünftig handeln. Nicht leiden. Sich nicht in die Opferrolle fügen. Nicht edel sein. Nicht gut sein. Einfach den Weg des Herzens gehen. Was predigen immerzu alle Weisheitslehrerinnen und Gurus? Der Weg beginnt JETZT.
Bleibt nur ein Problem, dachte sie: JETZT bin ich eindeutig zu betrunken, um loszufahren.
Anderntags war die Trunkenheit verschwunden, nicht aber der Entschluss, die Stadt zu verlassen. Ob das mit Grünbach allerdings eine gute Idee war …? Auch das prächtige Haus ihres Bruders stand ihr schließlich jederzeit offen.
Sie näherte sich dem Autobahnkreuz Nürnberg und stand vor der Entscheidung: Fahre ich nach Heidenheim an der Brenz und verkrieche mich für einige Tage im Schoß der Familie? Oder fahre ich nach Grünbach am Elbsee an den Busen der Natur, der sich allerdings bei schlechter Entwicklung sehr schnell in den Arsch der Welt verwandeln konnte?
Natürlich will ich nach Grünbach, gestand sie sich ein. Natürlich will ich nach Grünbach, um Fred zu sehen. Und das ist keine sehr gute Idee, weil ich noch immer keine Ahnung habe, was ich ihm erzählen soll. Außerdem bin ich eine Frau mit Selbstachtung und kein Teenager-Girlie, das in der hormonellen Verwirrung erster Verliebtheit einem Mann nachläuft, den es gar nicht kennt.
Im Grunde bin ich keine Frau mit Selbstachtung, sondern eine, die Selbstachtung nach außen hin darstellt. So, wie Schauspieler überhaupt nur deshalb Schauspieler sind, damit sie ihr Leben spielen können. Was aber, wenn die Selbstachtung genau darin bestünde, die gespielte Selbstachtung über Bord zu werfen?
Wie würde es sich anfühlen, einmal nicht zu spielen, sondern zu sein?
Andererseits, Heidenheim lag sehr nahe. Sie könnte im Gästehäuschen im Garten ihres Bruders ein paar erholsame Tage verbringen. Sich von ihren Neffen die neuesten Computerspiele zeigen lassen, mit ihrer Schwägerin reden, mit der sie sich in mancher Hinsicht besser verstand als mit ihrem Bruder, Wanderungen unternehmen, Knöpfle mit Bratensauce essen, zur Ruhe kommen …
Vor der entscheidenden Wegkreuzung machte Lisi bei einer Raststätte Halt, um Zeit zu gewinnen. Außerdem brauchte sie einen Kaffee, ein WC und Sprit.
An der Kassa passierte es. Beim Zahlen fiel eine Münze zu Boden. Lisi bückte sich. Als sie sich wieder aufrichtete, fühlte sie den Schmerz. Er nahm seinen Ausgangspunkt am unteren Ende der Wirbelsäule und breitete sich schlagartig zwischen Scheitel und Fußsohlen aus. Mit Tränen in den Augen räumte Lisi das Restgeld in ihre Börse und humpelte zu ihrem kleinen Wagen. Ihre Hände fühlten sich taub an, als sie die Tür öffnete. Sie stützte sich mühsam auf und ließ sich mit größter Vorsicht in den Fahrersitz sinken. Sie zog die Beine nach, erst das rechte, dann das linke. Der Schmerz pochte gegen den Autositz. Von der Anstrengung wäre ihr fast schlecht geworden.
Einmal im Jahr passierte ihr das: Hexenschuss. Während die meisten Menschen in winterlicher Kälte darunter leiden, erwischte es Lisi meistens im Sommer. »Aber warum gerade jetzt?«, fragte sie sich verzweifelt. Und musste dann über sich selbst lächeln. Es passiert immer gerade jetzt, also im falschen Augenblick, der irgendwie genau der richtige ist, weil es für einen Hexenschuss naturgemäß niemals einen richtigen Augenblick geben kann.
Ich wollte losfahren! Hinaus! Mich befreien! Und jetzt das!
Lisi startete den Wagen. Nun war alles klar: Sie würde die Abzweigung Richtung Westen nehmen und zu ihrem Bruder fahren, dem Orthopäden. Er würde sie mit Spritzen wieder halbwegs schmerzfrei machen und ihr dann ein paar osteopathische Behandlungen verpassen, für die war er weithin berühmt.
Ich werde mich in das Nest der idyllischen Kleinfamilie hocken, dachte Lisi. Alles wird gut werden. Alles wird seinen geregelten Lauf nehmen.
Als sie die ersten Verkehrsschilder sah, die auf das Nahen des Autobahnkreuzes hinwiesen, bekam sie eine entsetzliche Wut. Eine Wut, von der sie nicht geahnt hatte, dass sie in ihr steckte. Wut auf den Hexenschuss, Wut auf das spießige Haus ihres Bruders, Wut auf das gelungene Leben ihres Bruders, Wut auf Susanne, Wut auf das Schicksal, vor allem aber Wut auf sich selbst. Ist es nicht immer dasselbe? Immer genau dasselbe? Sie schlug auf das Lenkrad ein und es war ihr egal, dass sie dabei hupte. Bevor ich irgendetwas Unvernünftiges tue, fallen mir tausend Ausreden ein, warum es unvernünftig ist, etwas Unvernünftiges zu tun. Und der Scheiß-Hexenschuss ist nichts anderes als eine Scheiß-Ausrede! Am Ende meines Lebens werde ich dem Tod einreden, dass es sehr unvernünftig und obendrein ungesund ist, zu sterben. Aber dem wird das egal sein.
Lisi lächelte entschlossen und zufrieden, als sie ihren Bruder rechts liegen ließ und geradeaus weiterfuhr, Richtung Süden.
Auch Fred war wütend. »Kommt nicht in Frage«, sagte er laut, als er das Telefon auflegte. Leider war Susanne ihm zuvorgekommen. »Ich lasse mich doch nicht erpressen!« Wie kam sie eigentlich dazu! Und was war mit Mara? Woher kannte Susanne Mara? Hatte sie sie entführt? Hielt sie in einem Keller gefangen? Woher wollte sie wissen, ob ich mich überhaupt für Mara interessierte? Wahrscheinlich bluffte sie einfach nur. Beim Bluffen war sie Weltklasse, sonst hätte sie sich mit ihrem Zwergverlag nie behaupten können in der großen Welt der Bücher. Mit ihren Fähigkeiten würde sie an jedem Pokertisch der Welt reüssieren. Aber nicht bei ihm. »Einfach vergessen!«, schrie Fred zum offenen Fenster hinaus.
Auch andere Verleger bringen Lyrikbände heraus.
Auch andere Töchter haben schöne Mütter.
Wobei Fred – kaum war das Gedachte im Kopf formuliert – schmerzlich bewusst wurde, dass er mit Susannes Zwergverlag harmonierte und dass es ihm selbst am meisten leid tat um die verlorenen Gedichte. Und dass er von allen Müttern und Töchtern der Welt momentan nur mit Mara Kontakt aufnehmen wollte. Vielleicht gerade, weil diese den Kontakt mit ihm so schnöde abgebrochen hatte. Eine Tochter war sie auf jeden Fall. Eine Mutter? Vielleicht. Es musste sich doch irgendwas über sie herausfinden lassen!
Er stürmte auf die Straße hinunter, marschierte geradewegs in das nächste Elektronikgeschäft und kaufte sich das billigste internetfähige Flachgerät, dessen schicke englische Fachbezeichnung er zu lernen sich aus Prinzip weigerte.
Zu Hause schaffte er es überraschend behände, die Maschine in Betrieb zu nehmen, und dann googelte er eine Stunde lang. Es gab fast 200 Millionen Einträge zu dem Begriff Mara. Außerdem über 100 Millionen Bilder zu Mara, von denen die ersten dreitausend nach schneller Sichtung Frauen und Männer zeigten, die mit seiner Mara überhaupt nichts zu tun hatten. Vor allem aber tauchten Fotos von einem Tier auf, das wie eine Kreuzung aus Hase, Schwein und Känguru aussah.
Mara Slowakei grenzte den Begriff bereits auf 150.000 Einträge ein. Mit klopfendem Herzen sah er die ersten hundert durch, fand aber nichts außer Informationen über einen Stausee sowie über professionelle Altenbetreuung. Wie hieß doch schnell Maras Beruf – etwas wie Limbo … Unter den Suchbegriffen Mara Limnologie Zvolen Slowakei gab es nur noch 7 Einträge, meist rumänische pdf-Dateien, deren Inhalt sich ihm nicht erschloss und in welchen »Mara« den bereits zuvor identifizierten Stausee bezeichnete.
Mara – ein Phantom?
Mara – ein Pseudonym?
Mara – ein Trick?
Am liebsten hätte Fred sein neues Gerät zusammengeknüllt wie ein Blatt Papier und dann weggeworfen.
Mara konnte ihm wirklich egal sein.
Er könnte zum Beispiel Charlotte anrufen. Wollte er aber nicht.
Oder mit Benno saufen gehen. Wollte er auch nicht.
Oder Susanne beschimpfen. Wollte er auch nicht mehr.
Was wollt ihr denn?
Mara! Mara! Mara!
Er könnte sich ins Auto setzen und wieder zurückfahren an den Elbsee und warten.
Das wollte er aber auch nicht. Am Elbsee regnete es. Und Mara war nicht dort.
Als Lisi am Elbsee eintraf, regnete es. Der Mutanfall am Autobahnkreuz Nürnberg hatte ihr eine beschwingte Fahrt eingebracht. Der Glückspegel sank freilich buchstäblich schrittweise, als sie sich am unteren Ende des Forstwegs aus dem Auto schälte, um zum Elbsee hinaufzuhumpeln. Fahren wollte sie bei dem Regen lieber nicht. Sie brauchte für den knappen Kilometer Schotterstraße so lange wie eine ziemlich gebrechliche Neunzigjährige, und sie fühlte sich auch so. Von der Kurve über dem See aus spähte sie zur Hütte hinüber. Die schien fest verschlossen. Kein Rauch aus dem Kamin. Lisis Herz klopfte. Und wenn Fred doch da war? Drinnen saß und schrieb? Sie hatte sich die ganze Fahrt lang die Gedanken darüber verboten, was sie ihm sagen sollte, aus Angst, sie würde bei näherer Überlegung doch noch umdrehen. Aber nun sank ihr Mut, und sie machte kehrt.
Um kurz danach wieder umzudrehen.
Jetzt war sie fast 800 Kilometer gefahren, jetzt würde sie – ohne zu überlegen! – die letzten hundert Meter auch noch gehen.
Der weiße Benz stand nicht da. Die Fensterläden waren geschlossen. Die Tür war versperrt. Wie schön könnte sie es jetzt mit Fred in der Hütte haben, bei einem knisternden Feuer … Aber wahrscheinlich dachte der gar nicht mehr an sie.
Lisi schleppte sich auf den Steg, und ihr Sinn für Dramatik ließ sie ihr linkes Bein eine Spur schwerer nachschleppen als nötig. Dafür brauchte sie gar kein Publikum.
Sie blickte auf den See, in dem sich der graue Himmel spiegelte, zwischen dem Nadelstichmuster der Regentropfen. Sie fühlte dieselben Nadelstiche in ihrem Herzen. Und in ihrem Rücken.
Bald würde es finster werden. Sie brauchte irgendein Quartier. Oder sollte sie doch noch zu ihrem Bruder fahren?
»Mara!« Eine Männerstimme hinter ihr. Lisi fuhr zusammen, griff sich mit schmerzverzerrtem Gesicht ans Kreuz und drehte sich langsam um.
Ich drehe gleich durch, sagte sich Fred, wenn ich nicht etwas unternehme.
Was ich aber nicht tun werde: Susanne anrufen. Susanne – da war er sich nun sicher – hatte alles inszeniert. Ihre Verschwörung sah so aus: Sie hatte ihm an dem Abend hier in der Wohnung heimlich ein Gift verabreicht, das Herzrhythmusstörungen verursachte. Danach hatte sie ihn einliefern lassen und eine Ärztin bestochen, damit die ihm sagte, er solle Ruhe in einer Berghütte finden. Dann hatte sie die Berghütte gemietet und diesen August gekauft, der wahrscheinlich irgendein Holzknecht war, den sie von früher kannte, damit der ihm das Leben retten konnte. Diesen August hatte sie auch mit billigen Lebensweisheiten aus einem alpinen Bauernkalender versorgt, damit Freds Gehirn ein bisschen was zum Kauen bekam. Und zur Krönung hatte sie ihm die slowakische Altenpflegerin ihres Vaters geschickt! Das lag klar auf der Hand! Hatte nicht ihr Vater gesagt, die Pflegerin sehe aus wie eine Striptease-Tänzerin und koche auch so? Dieser Scherz hatte Susanne endgültig verraten. Den hätte sie sich verkneifen sollen. Mara hatte eindeutig etwas von einer Tänzerin, so etwas Leichtes, Schwebendes. Und sie konnte nicht kochen! Hatte sie selbst gesagt! Dann hatte sich die Krankenpflegerin als Krakenforscherin ausgegeben, um ihn ein bisschen irre zu machen. Und er war auf das alles reingefallen! Es war so unerhört, so perfid! So durchdacht gleichzeitig!
Mit Susanne wollte Fred nichts mehr zu tun haben. Aber er musste sich jetzt trotzdem Luft machen. Es musste raus, raus, raus!!
Als Lisi sich mühsam umgedreht hatte, erkannte sie August. Er hielt eine Pflanze mit spitzen, gezackten Blättern in der Hand und winkte ihr zu.
Sie humpelte ihm entgegen. Er kam, um sie zu stützen.
»No?«
»Hexenschuss«, sagte Lisi. Aisha leckte ihre Hand, und das wirkte tröstlich.
»Die ersten Pflanzen müssen ins Trockene gebracht werden.« August hielt Lisi das Elbtaler Gewürzkraut unter die Nase, als wäre es heilsames Riechsalz. »Die Dolden sind schon ganz harzig.«
»Wo ist Fred?«, fragte Lisi.
»Weg«, antwortete August. »Zurück nach Berlin.«
»Oh«, sagte Lisi.
In diesem Augenblick läutete Augusts Handy. »August hier«, sagte August, und dann, erstaunt: »Fred!« Und dann noch – »Ja, sie ist hier!« Dann lauschte er kurz, mit immer konsternierterer Miene, und aktivierte schließlich die Lautsprecherfunktion, sodass Lisi mithören konnte:
»... und ich habe nicht nur SIE durchschaut sondern euch ALLE durchschaut! Die schlimmste Enttäuschung aber bist DU August … Machst du alles für Geld? Oder was hat sie dir geboten? Oder machst du so was gratis? Bist du eh mit der Mara zusammen und ihr habt es einfach nur aus Spaß gemacht? Für mich war es aber kein Spaß!! Das ist wirklich das Allerletzte!! Schämt euch! Schäm dich!«
»Fred?« August fragte leise, fast verzagt nach. Aber Fred hatte bereits aufgelegt.
»Ruf ihn an!«, flehte Lisi. »Dem geht’s nicht gut.«
August wählte die Nummer, aber Fred ging nicht ran.
Er wählte die Nummer noch einmal.
Abermals der Anrufbeantworter.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Lisi verzweifelt. »Der dreht völlig durch!«
»Ich schmier dir den Rücken ein. Ich hab eine Salbe, die wirkt Wunder. Schwarzwurz, kennst du?«
»August, wir müssen was tun!«, schrie Lisi, leicht panisch. Dann hielt sie inne und fragte: »August, bist du auch gekauft?«
»Was?«
»Nichts.«
»Was meinst du mit auch? Und warum redest du ohne Akzent?«
»Du musst mir helfen, August. Bitte bitte bitte. Wir müssen nach Berlin. Sofort. Aber ich schaff’s nicht ganz allein. Bitte fahr mit nach Berlin!«
»Mir ist es egal«, sagte August, »fahren wir halt. Ich muss nur der Anni abtelefonieren. Und der Arbeit.«
Augusts Haflinger stand auf dem Parkplatz auf der anderen Seite des Sees. Er müsse noch kurz zum Auto, erklärte er Lisi, die Salbe holen, die habe er immer dort gelagert, sie helfe bei Schlangenbissen, Verstauchungen, Schürfwunden, Schwarzwurz eben. Lisi sah ratlos drein. Sie hatte den Kopf woanders.
»Schwarzwurz, man kann auch Beinwell sagen«, fügte August hinzu.
Er stützte sie die Straße hinunter zu ihrem Auto. »Ist wie ein Ausflug mit dem Altersheim«, sagte August.
Als sie beim Auto ankamen, war es finster. Sie fuhren auf den Parkplatz am Ende der Straße.
»Machen Sie sich bitte frei«, sagte August, als sie bei seinem Geländefahrzeug angekommen waren. »Na den Rücken. Zum Einreiben.« Zum Glück, bemerkte Lisi, waren seine Hände weniger rau als sein Benehmen.
August packte ein paar Dinge in seinen Rucksack, suchte überall im Auto nach einer Hundeleine, die er nicht fand, und fragte: »Soll ich fahren?«
»Mit deinem Auto?«
»Mit meinem Auto brauchen wir drei Tage. Und das überlebt dein Kreuz nicht.«
»Aber wie kommst du zurück, wenn wir mit meinem Auto fahren?«
»Ich bin immer noch irgendwie zurückgekommen.«
Lisi reichte August den Schlüssel. Es störte ihn nicht, dass sie sich auf die Rückbank legte. Aisha thronte auf dem Beifahrersitz und schien stolz, endlich einmal in einem richtigen Auto fahren zu dürfen.
»Ich fahre Passau–Regensburg?«
Lisi antwortete nicht, sie war in Gedanken versunken.
»Hallo. Mara!«
»Mara«, das ging ihr durch und durch.
»Ich bin gekauft«, sagte sie.
»Das verstehe ich nicht«, sagte August.
»Bist du echt?«, fragte sie.
Nach einer Pause antwortete er: »Echter geht fast nicht.« Und dann mussten sie beide lachen, überdreht und hysterisch.
Aber irgendwann schaffte Lisi es dann doch, ihre Geschichte loszuwerden.
»Ihr macht’s Sachen«, sagte August, »das glaubt man ja gar nicht. Armer Fred. Aber der ist ja genauso kompliziert.«
Lisi seufzte. Ihr Geständnis hatte sie sowohl erleichtert als auch ermüdet.
»Stört es dich, wenn ich ein bisschen schlafe?«
»Schlaf nur.«
Als der Sprit auszugehen drohte, schlief Lisi immer noch. August fuhr bei einer Raststätte ab. Als er den Motor abstellte, wachte Lisi auf.
»Wo sind wir?«
»Hof.«
»Wie spät ist es?«
»Zwei.«
»Warum sind wir in Hof?«
»Über Hof ist kürzer, hat das Navi auf meinem Handy gesagt.«
»Danke.«
»Wie geht’s?«
»Keine Ahnung.«
Als sie aus dem Auto kroch, wusste Lisi: Nicht besonders gut. Ihre Glieder fühlten sich wie gelähmt an. Der Kreislauf stockte. Sie musste sich am Autodach festhalten, weil ihr schwarz vor den Augen wurde. August tankte. Sie tranken Espresso und kauften zwei Dosen Energy-Drink. »Davon wird mir immer schlecht«, sagte August, »das hält auch wach.«
Sie drehten eine kleine Runde mit Aisha und gaben der Hündin zu trinken.
»Ich fahre weiter«, sagte Lisi.
»Ist mir recht«, gähnte August. Kaum hatte er auf dem Beifahrersitz Platz genommen, schlief er ein. Doch er schlief nicht lange. Nach einer halben Stunde streckte er sich. »Geht wieder. Soll ich fahren?«
»Was soll ich ihm sagen?«, fragte Lisi, ohne darauf einzugehen.
»Ist doch egal. Erzähl ihm alles, was du gerade mir erzählt hast, und aus.«
»Mit dir ist immer alles so einfach, August.«
»Ich weiß auch nicht, warum es alle so gerne kompliziert haben.«
»Ich kann ihm unmöglich unter die Augen treten.«
»Aber ja, ich helfe dir dabei, dann geht’s schon.«
»Bitte nicht!«
»Glaubst du jetzt, ich fahre zum Spaß mit nach Berlin?«
»Warum bist du mitgefahren?«
»Ich wollt immer schon einmal nach Berlin. Und komm immer nur bis Linz.«
Das glaubte ihm Lisi nicht ganz.
»Du bist gekränkt, weil Fred geglaubt hat, du bist auch gekauft«, riet sie.
»Ah geh. So leicht bin ich nicht gekränkt«, sagte August beleidigt.
Lisi lächelte.
Der Himmel über Berlin wechselte von Anthrazit in Taubengrau, als sie von der A100 abfuhren.
»Hab ich mir ganz anders vorgestellt, Berlin«, sagte August.
»Alle stellen sich Berlin anders vor. Das Tolle an Berlin ist, dass es Berlin gar nicht gibt«, sagte Lisi. »Es gibt mindestens tausend verschiedene Berlins. Nur der Himmel, der ist überall gleich. Aber das wissen wir ja seit Wim Wenders.«
»War das ein Himmelsforscher?«
»Wim Wenders?«
Lisi war sich nicht sicher, ob August sie auf den Arm nahm. Das wusste man bei ihm überhaupt nie so genau. Darum reagierte sie nicht. »Wir sind gleich da«, sagte sie nur.
Unter der Autobahnbrücke sahen sie drei Skins, die einen Jugendlichen eingekreist und gegen einen breiten Betonpfeiler gedrängt hatten. Als sie vorbeifuhren, kassierte der Junge eine Ohrfeige. »Bleib stehen«, sagte August.
»Was ist denn?«
»Da wird einer gehaut.«
»Solche Keilereien gibt es ständig.«
»Dreh jetzt um und fahr dorthin.«
»Wenn du willst, rufen wir die Polizei.«
»Du sollst umdrehen.«
»August – das ist Berlin. Du kannst dich hier nicht in alles einmischen.«
Als August Anstalten machte, aus dem fahrenden Auto zu springen, machte Lisi kehrt. Die Skins bearbeiteten ihr Opfer mittlerweile zu dritt: Der lange, sportliche Schläger hielt den jungen Mann fest; der kleine Fette mit dem Tattoo im Nacken bearbeitete ihn mit den Händen; der junge, Milchgesichtige trat ihm mit seinen Springerstiefeln gegen und zwischen die Beine. Aber noch schlugen sie nicht voll zu, sondern ergötzten sich an der Angst des jungen, verträumt wirkenden Mannes, wie sich eine Katze in aller Ruhe an der letzten Panik eines Mäuschens erfreut. Der lockige junge Mann blutete aus der Nase. In erster Linie schien er um seine schöne, helle Jacke besorgt zu sein, ein Geschenk seiner Mutter oder seiner Freundin?
Als der Lange sah, dass der rote Wagen in ihrer Nähe hielt, machte er den Fetten darauf aufmerksam. Das Milchgesicht sah mit provokanter Verachtung in Lisis und Augusts Richtung. Die drei Glatzen erhöhten die Schlagzahl.
August stieg aus.
»Hö!«, rief er.
Die Skins sahen ihn an. Als der Hüne mit seinen gewaltigen Schultern und den muskelprallen Oberarmen in Bergschuhen und kurzer Hirschlederhose ohne das geringste Zögern auf sie zuschritt, wurden sie von Panik erfasst.
»Mann, seht euch den Freak an!«, rief der Fette.
August staunte, wie schnell die rennen konnten.
Er staunte auch, als das Opfer der drei Skins ebenfalls weglief, als er sich näherte.
»Hallo!«, rief August. »Alles okay?« Aber da war der junge Lockenkopf schon verschwunden.
»Stadtmenschen«, stellte August fest, als er wieder in den Wagen stieg. Er streichelte Aisha, als wollte er sich versichern, dass er und sie gemeinsam noch mit der Natur verbunden waren.
Lisi blieb bei einem türkischen Bäcker stehen, der rund um die Uhr arbeitete, und kaufte Brot, dessen köstlicher Duft alsbald das Auto erfüllte.
Sie gingen ein paar Schritte mit Aisha, bevor sie auf dem Balkon von Lisis Wohnung frühstückten. In einer Ecke stand noch die leere Flasche Limoncello. Immerhin hatte sie den vollen Aschenbecher weggeräumt. Ihr ekelte bei dem Gedanken. Zum Glück rauchte sie nur einmal im Jahr.
»Und wegen dem frischen Brot wohnst du also in Berlin?«, fragte August etwas ungläubig, als er auf die Straße und den Friedhof blickte.
»Ja, unter anderem«, meinte Lisi.
Das Essen machte beide so richtig müde. Die Stadt würde ohnehin erst in einigen Stunden erwachen.
»Darf ich das Sofa nehmen?«, fragte August.
»Nimm doch das Bett.«
»Mit dir oder ohne dir?«
»Ohne dich, heißt es.«
»Ich bin zu müde für Grammatik«, sagte August. »Aber sonst bin ich für alles zu haben. Musst es mir nur sagen.«
Wieder wusste Lisi nicht so genau, wie sie damit umgehen sollte. So wie sie es einschätzte, bot ihr August aus purer Höflichkeit Sex an. Einfach, weil sich das für einen Mann so gehörte. Jedenfalls für einen Mann aus den hinteren Alpen. Sie würde August erst später um eine kleine Schwarwurzel-Salbung bitten, zur Sicherheit.
»Gute Nacht«, sagte sie.
»Nacht ist gut«, murmelte er mit geschlossenen Augen. Seine riesige Hand ruhte auf Aishas Kopf.
»Danke, August«, sagte Lisi noch. Aber sie war sich nicht sicher, ob er das noch hörte.
27. Juli
Erst nach dem kurzen Morgenschlaf hatten die beiden den Eindruck, im nächsten Tag angekommen zu sein. Lisi war vom Geräusch ihrer Dusche aufgewacht. Normalerweise machte ihre Dusche keine Geräusche, außer, sie duschte selbst. Deshalb war das Rauschen wohl in ihr Bewusstsein eingesickert und hatte sie geweckt.
Lisi bereitete Kaffee zu. August kam aus dem Badezimmer, ein Handtuch um die Hüften gewickelt. Lisi konnte nicht umhin, ihn anzustarren. Ich bin eine aufgeklärte, emanzipierte, urbane, freie Frau, sagte sie sich, warum muss ich da bloß hinschauen?! Sie hatte noch nie einen so starken Mann gesehen. Muskulösere vielleicht, so Fitness-Studio-Fritzen, die in Wahrheit nur in sich selbst verliebt waren und auch beim Sex in erster Linie darauf bedacht, ihre eigene Schönheit zu bewundern. Aber August hatte Muskeln, die durch Arbeit entstanden waren. Lisi wäre am liebsten hingegangen, um ihn ein wenig zu betatschen. Das Verhältnis von Muskeln und Sehnen scheint perfekt, dachte Lisi, kam sich aber gleichzeitig vor wie ein Metzger beim Entwickeln eines Wurstrezeptes.
»Is was?«, fragte August.
»Ich frage mich nur gerade, wie das Wiedersehen mit Fred werden soll.«
»Schade, dass es in Berlin kein wirklich kaltes Wasser gibt«, antwortete August, ohne darauf einzugehen.
Auch Lisi duschte sich die lange Nacht so gut es ging vom Körper. Dann bat sie August um eine kleine Schwarzwurzel-Einreibung. »Ich spür den Schmerz noch«, sagte Lisi, »aber kein Vergleich zu gestern!«
»Kein Wunder«, sagte August, »ich habe heilende Hände.«
»Echt? Du kannst heilen?«
»Na sicher!« August lachte: »Warum glaubst du eigentlich alles, was man dir erzählt?«
Dann tranken sie Kaffee. Lisi drehte ihren Computer auf. Ihre Tochter hatte ihr eine kurze Mail geschrieben, darüber freute sie sich, denn sie wusste, dass eine Mail zu schreiben für die twitternde Facebook-Generation fast dem Verschicken eines handgeschriebenen Briefes mit Marke und Poststempel gleichkam. Lisi akzeptierte, dass die Jungen anders waren. Sie hatte nichts gegen Technik. Sie interessierte sich einfach nicht dafür.
»Wo hast du denn deinen Computer her«, fragte August, »aus dem technischen Museum?«
»Den hat mir mein Bruder geschenkt. Seine Kinder wollten ihn nicht mehr.«
Sie suchten nach Fred Firneis, nach Alfred Firneis, nach Firneis Gedichte und so weiter. Lisi seufzte wie eine Schülerin, wenn Bilder von Fred aufpoppten. August seufzte, weil der Computer so langsam war: »Wenn ich zu Fuß durch Berlin gehe, hab ich ihn schneller.«
»Es wird uns wahrscheinlich nichts anderes übrig bleiben. Im Telefonbuch steht keine Adresse. Versuch noch mal, ihn anzurufen, bitte!«
August wählte die Nummer, die er gespeichert hatte.
»Anrufbeantworter. Wir gehen zu dieser Susanne«, sagte August. »Die weiß, wo er wohnt.«
»Sie hat mich manipuliert. Uns manipuliert. Fred und mich!«
»Du hast dich manipulieren lassen.«
»Ja!«
»Und das nimmst du ihr besonders übel. Aber es ist dein Problem.«
»Okay.« Das war so ein Selbstfindungs-Seminar-Okay, dachte Lisi selbstkritisch. Es bedeutet nicht: Alles ist bestens, sondern ganz im Gegenteil: Was für eine Riesenscheiße, aber, okay, sehen wir uns das mal aus der Nähe an.
»Gut«, fügte sie mit einer diesmal deutlich schnippischen Stimmlage hinzu, »dann fahren wir eben in den Verlag. Keine Ahnung, ob sie überhaupt da ist, ihr Verlag ist ja angeblich pleite.«
»Können wir nicht zu Fuß gehen?«
»August, wir sind in einer Großstadt. Von hier nach Mitte laufen wir zwei Stunden.«
»Ich will nicht laufen, ich will gehen.«
»Ich mach dir ’nen Vorschlag: Wir fahren mit der U-Bahn zum Alexanderplatz und gehen dann zu Fuß zur Tucholskystraße.«
»Ich habe keine Leine und keinen Beißkorb.«
»So gefährlich siehst du auch wieder nicht aus.«
Ein älterer Herr in der U-Bahn machte zwar Anstalten, sich bei August über den frei laufenden Hund zu beschweren, aber der sah ihn nur etwas streng an, und das anfängliche Geschimpfe des Mannes verwandelte sich in ein verlegenes Stammeln. Sonst gewann Aisha nur Freunde, und sie genoss es, sich von den Schulkindern streicheln zu lassen, die ihre Sommerferien nutzten, um in irgendwelche Bäder oder Parks zu fahren.
Aisha wich nicht von Augusts linkem Bein, sie suchte sogar den Körperkontakt, als sie – mit einem kleinen Umweg über die Volksbühne und, August zu Ehren, über die Auguststraße – in die relativ ruhige Straße gingen, in der das Verlagsbüro lag.
»Was ist eigentlich das Besondere an Berlin?«, fragte August etwas ratlos.
»Vielleicht, dass es nichts Besonderes gibt«, antwortete Lisi. Ihr Herz klopfte stark, als sie die Türklingel neben dem Schild mit dem Namen des Verlags drückte.
Der Öffner summte, sie gingen hinauf. An der Tür oben stand Susanne. Sie lächelte müde.
»Lisi.«
»Susanne.«
Die beiden Frauen umarmten einander. Nicht so, als wäre nichts geschehen. Aber so, dass Begrüßung und Versöhnung Hand in Hand gingen.
»Das ist August. Und das ist Aisha.«
»Ah! Der süße Hund!«, rief Susanne aus. »Und der berühmte August! Fred war ja regelrecht verliebt in Sie.«
»Ist er doch schwul?«, fragte August.
»Keine Spur. Ich meine das mehr so metaphysisch.«
»Meta oder physisch, sag der Lisi jetzt, dass du mich nicht gekauft hast.«
»Ich kenne Sie doch gar nicht!«
»Und gib uns die Adresse und die Telefonnummer vom Fred. Weil ich muss die beiden da zusammenbringen.« Er zeigte mit dem Kopf auf Lisi.
»Gute Idee«, sagte Susanne cool. »Aber noch geht es nicht. Fred muss schreiben. Er liefert heute um vier sein Buch.«
»Ist mir relativ wurscht«, sagte August. »Ich will die Nummer jetzt.«
»Und mir«, sagte Susanne, »ist es hundertmal wurschter als dir.«
Da musste Lisi lachen, und August, der nicht gewöhnt war, dass jemand anders das letzte Wort hat, fügte hinzu: »Wenn du wüsstest, wie wurscht mir das erst ist!«
»Warum bist du dann in Berlin?«, fragte Susanne.
»Fred hat mein Leben gerettet. Hab ich mir gedacht, gut, dann rette ich halt seine Liebe. Aber wenn du mich fragst, das ist ein Spinner. Lisi wird sich plagen mit ihm.«
»Das hab ich auch gesagt.« Susanne fühlte sich bestätigt. Überhaupt, dieser August gefiel ihr. Endlich mal ein Mensch, bei dem man wusste, woran man ist. Gott, wie hatte sie diese ganzen Katastrophenmeier satt!
»Gut«, sagte August. »Dann warten wir eben bis um vier.«
»Falls Fred kommt«, sagte Susanne. »Bei dem weiß man nie.«
»Und was glaubst du?«, fragte Lisi besorgt.
»Ich glaube, er kommt«, sagte Susanne.
»Na dann, könnt ihr mir ja vorher noch irgendwas Interessantes von Berlin zeigen. Bis jetzt hab ich nämlich noch nichts gesehen. Irgendwas wie den Eiffelturm oder den Markusplatz oder den Broadway.«
»Das Tolle an Berlin ist, dass es eigentlich nichts Tolles gibt.« Sagte diesmal Susanne.
»Na toll«, meinte August. »Dann rauchen wir eben eine.« Er kramte seinen Tabaksbeutel aus der Hosentasche, worin sich eine wunderbar harzige Blütendolde des Elbtaler Gewürzkrautes befand, welche August teilweise in seine Zigarette einbaute.
»Du hast Gras mitgenommen?«, fragte Lisi.
»Warum nicht?«
»Über die Grenze?! In meinem Auto?!«
»Es gibt ja keine Grenze mehr.«
»August!«
August ließ sich die Freude nicht nehmen. Nachdem er genüsslich geraucht hatte, meinte er: »Ich hab Hunger. Gibt’s vielleicht irgendein interessantes Wirtshaus in Berlin?«
»Ich werde uns im Borchardt einen Tisch bestellen. Dann können wir unserem Gast immerhin den Gendarmenmarkt zeigen«, sagte Susanne.
»Im Borchardt?« Lisi zeigte ein gewisses Entsetzen. »Wir wollten doch heute zu Mittag essen, und nicht in drei Monaten.«
Susanne verschwand kurz im Nebenzimmer, um ungestört zu telefonieren.
»Dreizehn Uhr«, sagte sie lässig, als sie zurückkam.
Lisi war so richtig erstaunt: »Wie hast du das gemacht?«
»Ich hab auf den Namen Brad Pitt reserviert«, sagte Susanne. »Das geht immer. Keiner will sich Brad entgehen lassen.«
»Und wer soll zahlen?«, fragte Lisi.
Susanne holte einen 500er-Schein aus ihrer Tasche: »Geklebt und eingetauscht.« Lisi grinste beschämt.
Sie nahmen die U-Bahn und stiegen bei der Französischen Straße aus. August sah sich die große Stadt mit neugierigen und leicht geröteten Augen an.
Als sie das Lokal betraten und nach dem Tisch für Mister Pitt fragten, wurden sie zwar ein wenig misstrauisch beäugt, aber dennoch mit einem Platz an der Fensterfront bedacht.
Susanne nahm die auf der Etagère servierten Austern, Lisi das Kaninchen-Carpaccio, August bestellte etwas Butter zum gut gefüllten Brotkorb. »Ist ja schade drum.« Und während Susanne und Lisi sich für Schnitzel als Hauptgang entschieden, nahm August die Blutwurst, »Elsässer hin oder her, wird eh eine ganz normale Blutwurst sein. Aber das Schnitzel ess ich nicht, weil so gut, dass es den Preis wert ist, kann es gar nicht sein!«
Als die Vorspeisen kamen, schnappte sich August eine Auster: »Muss ich einmal kosten.« Er tat es Susanne gleich und schlürfte die Muschel aus. Sein Gesicht verzog sich. Er spuckte die Auster in seine Hand und gab sie Aisha.
»Pfui Teufel! Dem Hund schmeckt so was, aber das kann ja kein Mensch fressen!«
Er aß schnell ein Butterbrot nach. Der Wein kam. Da sich korrektes gendermäßiges Verhalten selbst in Lokalen der gehobenen Kategorie noch nicht durchgesetzt hat, zeigte der Kellner August die Flasche.
»Sau-vig-non!« buchstabierte August ratlos, jede Silbe betonend. Als ihm der Kellner einschenkte, empörte er sich: »Na, Sie Lümmel! Geben Sie den Frauen auch was! Ich sauf die sicher nicht allein!«
»Du sollst kosten«, flehte Lisi.
August stürzte den Schluck hinunter.
»Passt eh.«
Der Wein war schnell getrunken, eine nächste Flasche wurde bestellt.
»Ich hab geglaubt, du hast kein Geld«, bemerkte August.
»Bei uns in Bayern sagt man: Ist die Kuh hin, ist das Kalb auch hin. Soll heißen, es ist auch schon egal.«
»Mir musst du das nicht übersetzen«, sagte August, »wir haben in Österreich denselben Spruch.«
Ihre Wangen röteten sich, der Wein machte sie fröhlich und übermütig. Lisi lachte laut, als August seine Blutwurst mit der Hand aß und vom Kellner wissen wollte, ob das Champagnerkraut mit Moët & Chandon oder Taittinger gemacht war.
Susanne stutzte. August hatte die Namen der Champagner perfekt ausgesprochen. In all die ausgelassene Stimmung hinein sagte sie: »August, du hast dich verraten. Du hast Französisch gelernt. Ich sag dir jetzt was auf den Kopf zu: Du bist aus einem gutbürgerlichen Haushalt und hast eine klassische Bildung genossen.«
»Aber geh«, sagte August. »Nur weil ich mich wie ein Trottel benehme, muss ich ja noch kein Trottel sein. Ich trink eben gern Champagner nach der Waldarbeit. Moët & Chandon, aber manchmal auch ein Gösser Bier.«
Es war klar, dass August das Thema nicht vertiefen wollte. Ohnehin wurde es Zeit, ins Verlagsbüro zurückzukehren.
Die drei schlenderten über den Gendarmenmarkt, und August bestand darauf, beim berühmten Chocolatier ein paar Confiserien zu erstehen, die er in der U-Bahn weitgehend alleine aufaß, wobei er die Augen genüsslich verdrehte.
»Kleine Naschkatze«, lächelte Susanne.
»Glaubst du, wird er kommen?«, fragte Lisi.
»Ja«, antwortete Susanne.
»Gott sei Dank bin ich betrunken«, stöhnte Lisi.
Als der U-Bahn-Schacht sie ausspuckte, mussten sie die Augen zusammenkneifen. Das Berliner Grau war heller geworden.
»Ich habe überlegt«, sagte Susanne. »Ihr könnt jetzt nicht mitkommen. Ich muss kurz mit Fred allein sein. Bitte. Ich schick ihn euch nach.«
»Wohin?«, fragte Lisi, trotzig und enttäuscht.
»Du hast doch dein Handy mit?«
»Klar.«
»Na also. Du zeigst August ein wenig Berlin und dann sag ich euch einen Treffpunkt.«
»Ich kenne Berlin schon«, meinte August, der Lisi unterstützen wollte.
»Unter den Linden zum Beispiel«, schlug Susanne vor.
»Linden kenn ich auch schon«, sagte August.
Da Lisi sich gerade sehr für eine Auslage interessierte, oder vielmehr für ihr Spiegelbild in deren Scheibe, konnte Susanne August kurz beiseite nehmen.
»Hör zu, August. Du musst das mit den beiden in die Hand nehmen. Sonst wird das nichts. Du kennst sie ja. Wenn du den Engel siehst, okay?«
»Welchen Engel?«
»Achtung, sie kommt.« Susanne wandte sich an Lisi: »Deine Haare sind eh gut.« Lisi lächelte ertappt. »Und wenn er dann doch nicht kommt? Ich meine, in deinem Büro wäre Fred sozusagen in der Falle.«
»Genau, Lisi. Und das ist nicht gut. Man darf Fred nie zu etwas zwingen. Wenn du ihm einen Filmtipp gibst, fühlt er sich drangsaliert. Empfiehl ihm ein Buch, und er glaubt, er wird in seiner Freiheit eingeschränkt. Glaub mir, Lisi, er muss dir nachlaufen.«
»Na sicher«, assistierte August. »Wo kämen wir denn hin, wenn jetzt die Frauen den Männern nachlaufen müssten?«
»Und wenn er mir nicht nachlaufen will?«, fragte Lisi vorwurfsvoll, was Susanne wenig beeindruckte: »Dann, liebe Lisi, vergiss es einfach.«
»Du hast ja so recht«, sagte Lisi. Um gleich wieder von Zweifeln gepackt zu werden. »Und was ist mit unserem Vertrag?«
»Vergiss unseren Vertrag.«
»Du meinst, ich kann ihm die Wahrheit sagen?«, fragte Lisi ungläubig.
»Du kannst ihm sagen, was du willst. Sogar die Wahrheit.«
»Und was mache ich bis dahin?«
»Du zeigst unserem Gast alles, was man in Berlin gesehen haben muss.« Susanne winkte knapp. »Viel Spaß. Bis denne.«
Als Susanne kurz nach 16 Uhr in die Tucholskystraße abbog, überholte sie raschen Schrittes einen Mann, der sie freundlich grüßte.
»Frau Beckmann! Guten Tag!«
»Oh. Sie sind das.«
»Sie scheinen ja nicht gerade erfreut zu sein, mich zu sehen.«
»Wundert Sie das?«
»Ehrlich gesagt nicht.«
Es handelte sich leider nicht um Alfred Firneis, sondern um Dr. Meiningen von der Bank.
»Ist aber nett, dass Sie sich persönlich die Mühe machen.«
»Wir sind immer gute Partner für unsere Kunden, Frau Beckmann.«
Ach, wie ich diese Schleimer hasse, dachte Susanne, aber andererseits stimmte es, während andere Gläubiger schon nach der dritten Mahnung mit dem Exekutor vor der Tür standen, war die Bank ungewöhnlich lange geduldig geblieben. Susanne wusste aber genau, warum Dr. Meiningen sie zu ihrem Büro begleitete. Es war ihr nur gelungen, den Termin zu verdrängen, vollkommen zu verdrängen, was zweifellos auch mit der zusammenbrechenden Infrastruktur ihres Verlags zu tun hatte.
»Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten, Herr Dr. Meiningen? Meine Espressomaschine und eine zweite Sitzgelegenheit habe ich noch.«
»Gerne.«
Der Filialdirektor wartete höflich, bis Susanne den Kaffee serviert und sich ihm gegenüber gesetzt hatte. Während die Espressomaschine warmlief, rief Susanne Alfred an, aber der hob natürlich nicht ab.
»Frau Beckmann, leider muss ich Ihnen mitteilen, dass ich es gegenüber der Zentrale nun nicht mehr verantworten kann, Ihren Kredit bei unserem Institut nicht fällig zu stellen. Leider muss ich morgen die nötigen Schritte einleiten.«
»Was bedeutet das konkret?«
»Darf ich in aller Offenheit zu Ihnen sprechen?« Susanne konnte rhetorische Fragen nicht ausstehen, deshalb antwortete sie nicht. Aber das hatte Dr. Meiningen ohnehin nicht erwartet.
»Es wird im Zuge des Konkursverfahrens mittelbar zur Zwangsversteigerung der Immobilie kommen.«
Susanne erblasste. Natürlich war ihr immer klar gewesen, irgendwann würde irgendwer auf die Wohnung zugreifen, die ihr Vater ihr einst gekauft und in der sie sich das Verlagsbüro eingerichtet hatte. Aber irgendwann, irgendwer, das klang doch deutlich besser als Zwangsversteigerung der Immobilie.
Sie legte dem Filialdirektor die geplante Herbstvorschau des Verlags hin. Auf der Titelseite das Foto eines kleinen Sees, im Hintergrund Berge. Ein Holzsteg führt auf den See, zwei Handtücher liegen darauf, ein blaues und ein weißes.
»Liebe unter Fischen«, sagte Susanne. »Wir haben damit jetzt schon mehr verdient als alle Außenstände des Verlags zusammen ausmachen. Die Vorbestellungen sind eine Sensation.«
»Sie hatten es erwähnt«, sagte Dr. Meiningen, »aber da gab es doch ein kleines Problem …«
Susanne sah auf die Uhr. Es war halb fünf. »Das kleine, ich würde fast sagen nebensächliche Problem bestand darin, dass das Buch noch nicht geschrieben war. Ich sage war, denn nun ist es geschrieben, und ich werde es in wenigen Minuten in Händen halten.«
Es war blöd, August angerufen zu haben. Saublöd, albern und defizitär. Defizitär, das hatte Charlotte gerne gesagt, wenn ihr etwas nicht gepasst hatte. Aber ein Künstler ist nun mal ein defizitäres Wesen, sonst wäre er kein Künstler.
In der Krise des Zorns hatte Fred Herzrasen bekommen. Die Ärztin war ihm wieder eingefallen, und er hatte seinen glühenden Kopf unter laufendes Kaltwasser gehalten, wobei merkwürdigerweise der seltsame Satz, den die Enkelin der Ärztin gesagt hatte, wieder in ihm aufgetaucht war – immer, wenn ich nicht weiß, was ich tun soll, rede ich mit der kleinen Fee, die in meinem Herzen wohnt. Da bekomme ich eine Antwort.
Mit Dankbarkeit dachte Fred an sein Leben in der Hütte am Ufer des Gebirgssees.
Stille erfüllte ihn.
Eine Welle Sehnsucht schlug in sein Herz.
Mara, Mara, Mara …
Der Geist des Sees war über ihn gekommen, so hatte er es für sich formuliert, albern vielleicht, aber es hatte seinem Gefühl entsprochen. Dem festen, geradezu unerschütterlichen Gefühl, kein defizitäres, sondern ein göttliches Wesen zu sein. Nicht getrennt zu sein, sondern verbunden mit allem.
Das war gestern Abend gewesen. Fred hatte sich an das offene Fenster gestellt, durchgeatmet, und wie ein Zauber hatte ihn ein Strömen von Dankbarkeit ausgefüllt und der Wille, der Welt, was heißt der Welt, dem ganzen Universum etwas davon zurückzugeben. Was kümmerten ihn die Ränkespiele, die Dünkel der anderen? Er war in diesem Augenblick nicht in der Lage, diese Sucht nach Geld, nach Ansehen, nach den wohligen Schauern dessen, was die Menschen als Liebe bezeichnen, mit sich in Verbindung zu bringen.
In ekstatischer Freude, die Fred sich weder erklären konnte noch wollte, machte er sich an die Arbeit. Das Abrufen seiner See-Stimmungen funktionierte mit einer geradezu magischen Genauigkeit. Fred schrieb in wenigen Stunden all die verbrannten Gedichte wieder auf. Kurz nach Mitternacht war er fertig. Er legte sich erschöpft ins Bett, doch sein Schaffensrausch hielt ihn wach, immer und immer wieder sprang er auf, um noch einige Zeilen zu korrigieren, und bis zum Morgengrauen entstanden danach noch sieben neue Gedichte.
Als er am frühen Nachmittag erwachte, schielte er zunächst misstrauisch nach dem neuen elektronischen Gerät, das ihm in der Nacht zum Freund geworden war. Er sprang auf, öffnete die Datei – und sah mit einem gewissen Befremden, dass sein neuer Gedichtband fix fertig gespeichert war.
Allerdings war seine Euphorie einer unguten Verstimmung gewichen. Und als er das Gerät ausschaltete, wusste er nicht, warum er Susanne Beckmann diese Texte anvertrauen sollte. Schließlich bin ich Künstler und kein Lohnschreiber, den man mit einem fiesen Ultimatum erpresst, sagte sich Fred. Wo bleibt der Respekt?!
»Willst du mit dem Ausflugschiff auf der Spree fahren?«
»Ist sicher schön. Aber weißt du, Lisi, das Wasser und ich, das ist keine Liebesgeschichte.«
»Möchtest du ins Bodemuseum?«
»Nein.«
»Ins Pergamonmuseum? Es ist weltberühmt!«
»Nein.«
»Ins Museum für Islamische Kunst?«
»Nur, wenn Aisha auch hinein darf.«
»Kann ich mir nicht vorstellen.«
»Ich mag Museen nicht so.«
»Ich auch nicht.«
»August, darf ich dich was fragen? Aus was für einer Familie kommst du?«
August hielt inne, sah Lisi tief in die Augen und seufzte bedeutungsschwer: »Ich habe einen Vater und eine Mutter.«
»Und was waren die von Beruf?«
August verstand: Lisi würde hartnäckig bleiben. »Meine Mutter war Köchin und mein Vater Fürst.«
»Fürst?«
»Der Fürst, dem der ganze Grund bei uns gehört. Jedenfalls die Gründe und Wälder, die nicht der Kirche gehören.«
»Und deshalb hast du so einen fürstlichen Namen! August!«
»Nein, August heiße ich, weil ich im August geboren bin. So ist das in Afrika. Und bei uns in den Alpen.«
»Gott sei Dank bist du nicht im März geboren. Klingt jedenfalls alles sehr archaisch.«
»Altmodisch jedenfalls. Ein lediges, nicht angenommenes, aber akzeptiertes Kind. Ich bin mit den Kindern der Holzarbeiter und der Dienstboten aufgewachsen, aber ich durfte Forstwirtschaft studieren. Ich kenne die höfischen Regeln. Aber die des Waldes sind mir lieber.«
»Und deshalb benimmst du dich so gerne schlecht?«, fragte Lisi halb beeindruckt, halb amüsiert.
»Nein. Das schlechte Benehmen ist genetisch. Das hab ich von meinem Vater.« Lisi lachte. August insistierte, und erst jetzt zeigte er so richtig, wie er die Hochsprache beherrschte, wenn er denn wollte: »Glaub mir, es ist keine Platitüde, wenn ich dir sage, dass ich unter den Mägden und Holzknechten noblere Menschen kennengelernt habe als unter Fürsten und Grafen. Aber das alles bin nicht ich. Das ist nur meine Geschichte. Hallelujah. Ende der Predigt.«
Sie waren zu einem prächtigen Boulevard gekommen. »Unter den Linden«, erklärte Lisi. »Hat auch mal ein Fürst anlegen lassen, ich glaub als Reitweg oder so.«
»Muss für den Forstmeister eine ziemliche Herausforderung gewesen sein, so viele gleich große und gleichartige Linden auf einmal aufzutreiben.«
Sie schlenderten weiter Richtung Brandenburger Tor. Lisi erklärte dies und das, musste sich aber eingestehen, eine lausige Fremdenführerin zu sein, weil sie zwar einige Gebäude kannte, aber von keinem einzigen viel mehr wusste als den Namen.
»Weißt du, was ich an Berlin mag?«, fragte August. »Du kannst mit einer kurzen Hirschlederhose und einem Hund ohne Leine spazierengehen, und kein Mensch schaut dich blöd an.«
»Drum wohne ich hier«, sagte Lisi. »Du bist den anderen egal. Hat natürlich auch Schattenseiten.«
Lisi holte ihr Telefon aus der Tasche und vergewisserte sich, dass es eingeschaltet war.
»Bist du nervös?«, fragte August.
»Wenn du dabei bist, fast nicht«, antwortete Lisi.
August drückte Lisis Hand, und sie wandelten weiter unter den Linden, als wären sie das Paar, das es zusammenzuführen galt.
»Verdient haben Sie es nicht, aber hier ist das Buch. Datei Fische. Diesen Tabletten-Computer oder wie das heißt können Sie behalten, ich brauch das Ding nicht mehr.«
Alfred Firneis war grußlos in Susannes Büro spaziert. Nun knallte er ihr sein schickes neues Gerät auf den fast leeren Schreibtisch und fügte mit gespielter Emotionslosigkeit hinzu: »Wo ist Mara?«
Diesen lümmelhaften Auftritt hatte er in der U-Bahn geistig eingeübt. Er fiel ihm schwer, weil er sich – im Gegensatz zu August – um schlechte Manieren richtiggehend bemühen musste. Das Buch für sich zu behalten oder gar noch einmal zu vernichten war ihm als wenig sinnvoll erschienen, und ebenso kindisch wäre es ihm vorgekommen, stolz zu bleiben und Mara nie wiederzusehen. Auch wollte er sich nicht noch einmal die Blöße geben, sich als Opfer eines Komplotts zu stilisieren. Aber ein kleiner böser Auftritt war das Mindeste, was er seiner Eitelkeit schuldig war.
»Das ist Dr. Meiningen von der Bank.«
»Tag«, sagte Fred.
»Guten Tag. Jetzt ist wohl alles gerettet, nicht?« Dr. Meiningen erhob sich und drückte Susanne die Hand: »Frau Beckmann, so leicht geht es natürlich nicht. Wenn ich in der Zentrale anrufe und sage, hallo, die Gedichte sind da, lachen mich die aus. Wenn ich Glück habe. Wenn ich es richtig verstehe, können Sie sich nicht mal den Druck leisten.«
»Das ist das geringste Problem. Ich nehm einfach ’ne Druckerei, wo wir keine Schulden haben.«
»Frau Beckmann. Ich gebe Ihnen noch zwei weitere Tage. Dann kommen Sie bitte mit einem Papier zu mir, mit einem Druckauftrag, einem Buch, egal, irgendwas für die Zentrale. Guten Tag.« Hacken leicht zusammengeschlagen, der Mann war bei der Volksarmee gewesen, keine Frage, auf Wiedersehen.
»Ich weiß, Sie halten ihn für einen Arsch«, sagte Susanne zu Fred, nachdem sie Dr. Meiningen hinausbegleitet hatte. »Aber der Mann ist wirklich schwer in Ordnung.«
»Wo ist Mara?«
»Jetzt seien Sie doch nicht selbst der Arsch. Trinken Sie ein Glas Prosecco mit mir.«
»Ich hasse Prosecco.«
»Herr Firneis. Bitte!«
Die Mischung aus mütterlicher Strenge und verzweifelter Suche nach einem Trinkkumpanen brachte Fred zum Schmunzeln. »Okay.« Er merkte, wie er sich entspannte.
»Ist meine letzte Flasche«, sagte Susanne und stellte sie vor Fred hin, weil sie schon immer der Meinung gewesen war, das Entkorken von Flaschen sei eine typische Dienstleistung des Mannes, wenn nicht gar dessen zentraler Schöpfungsauftrag.
Sie prosteten einander zu und sahen sich lange in die Augen, sie ein bisschen müde, er ein wenig lauernd.
»Was für eine lange Geschichte bis zu diesem Augenblick«, seufzte Susanne.
»Wie laufen die Vorbestellungen?«
»Wir haben praktisch schon 60.000 Stück verkauft.«
»Was ist eigentlich mit meinem Vorschuss?«
»Wird Ihnen in den nächsten Wochen überwiesen.«
Fred lachte schallend. Den Satz kannte er gut.
Susanne zeigte auf den Entwurf zur Herbstvorschau, die direkt vor Fred auf dem Tisch lag, weil der Mann von der Bank sie nicht mitgenommen hatte.
»Wie finden Sie das Foto?«
»In echt ist es schöner.«
»Liebe unter Fischen, das passt perfekt dazu.«
Susanne schnappte sich die ausgedruckten Seiten und las Fred den Vorschautext vor: »Fred Firneis. Liebe unter Fischen. Neue Gedichte. In einem lyrischen Parforceritt nimmt Fred Firneis alle Hürden, die nach Adornos Verdikt nicht mehr überwindbar schienen. Von Asphalt- und Großstadtgedichten über extrem reduzierte, traditionelle Haikus bis hin zu pastoral anmutenden Gleichnissen, die er in Reimform zu kleiden wagt, zeigt uns die schillerndste Persönlichkeit deutschsprachiger Lyrik in der Nachfolge Kleists und Eichendorffs die gesamte Vielfalt seines Könnens – in einem Wettstreit zwischen Trauer und Hoffnung, Weltschmerz und Erleuchtung, und das stets mit einer Ironie, von welcher sich schwer sagen lässt, ob sie als romantisch oder postmodern zu bezeichnen sei.«
»Bisschen lang der Satz«, sagte Fred. »Aber im Prinzip alles richtig. Ich wundere mich nur, dass Sie die Haikus und die Reime erwähnen.«
»Ein paar Haikus können nicht schaden. Außerdem hab ich dadurch mehr Seiten, dann können wir mehr verlangen. Und die Reime fand ich am Ende ganz charmant. Ein ordentlicher Verriss im Spiegel ist unterm Strich eine feine Sache.«
»Ihnen kann’s ja egal sein.«
»Sie haben gereimt, nicht ich! Aber so viel war’s denn auch wieder nicht. Sonst gar nichts einzuwenden?«
»Postmodern. Das Wort gefällt mir nicht. Postmodern ist scheiße. Postmodern ist tiefste Achtziger. Eine Ironie, von der sich sagen lässt, sie sei romantisch und unsterblich, das wäre angebracht gewesen.«
»Es gibt noch einen Schlusssatz«, sagte Susanne. Sie wusste, beim Loben von Künstlern konnte man gar nicht übertreiben. Das fiel denen einfach nicht auf. Es gab keine Peinlichkeitsgrenze. »In der Nachfolge aller Größen des Genres von Ovid über Shakespeare, Matthias Claudius und Bob Dylan bis Falco ist Fred Firneis der absolute Popstar zeitgenössischer Lyrik.«
Fred rümpfte die Nase. »Bob ist so alt. Können Sie nicht Brecht nehmen? Und Falco ist so tot. Wie wäre es mit Madonna?«
Susanne grinste. Fred spürte, dass er errötete, aber er überspielte es: »Klar, ich weiß, der Satz steht nicht wirklich drinnen, aber Sie sollten überlegen, ihn in die nächste Ausgabe aufzunehmen.« Fred stand auf. Er wollte jetzt gehen. Die Sache mit Mara musste von Susanne kommen. Es schien ihm zu jämmerlich, nun noch einmal nach ihr zu fragen. Susanne nahm Fred bei den Händen und küsste ihn auf beide Wangen.
»So überschwänglich kenne ich Sie gar nicht«, bemerkte Fred verwundert.
»Sie haben heute meinen Verlag gerettet. Danke.«
»Wenn Sie mir gesagt hätten, dass es so wichtig ist, hätte ich Ihnen schon was geschrieben. Warum sagen Sie denn nichts?«
»Nehmen Sie außer sich selbst eigentlich sonst irgendetwas wahr?«
»Gelte ich nicht als ausgezeichneter Beobachter?«
»Ihrer selbst.«
»Sie denken ja auch nur an sich.«
»Ich denke vielleicht an meinen Vorteil. Aber immerhin nehme ich noch andere wahr.«
»Wollen Sie mir jetzt eine Szene machen?«
»Ich will Sie nur bitten – nehmen Sie Mara als Mensch wahr. Sie ist eine Gute.«
»Wer ist Mara? Wo ist Mara?«
»Fred, gehen Sie zum Engel, dort werden Sie weitersehen.«
»Welcher Engel?!«
»Na die Goldelse.«
»Ich soll zur Siegessäule gehen?«
»Dort werden Sie Mara treffen.«
»Ist das nicht ein bisschen zu phallisch als Treffpunkt?«
»Herr Firneis! Bitte! Seien Sie einmal in Ihrem Leben nicht kompliziert!«
»Ich werde mir große Mühe geben.«
»Leben Sie wohl.«
August stand vor dem Brandenburger Tor und glotzte es an wie viele hundert andere Touristen auch. »Und ist das so toll das Brandenburger Tor?«
»Nö«, sagte Lisi.
»Außergewöhnlich wird es vor allem durch die hässlichen Gebäude in der Nachbarschaft«, sagte August. »Aber die Straße da ist toll. Eine schöne Gerade.«
»Da sind nach dem Krieg Flugzeuge gelandet, hab ich mir sagen lassen. Das ist die Straße des 17. Juni.«
»Und was war am 17. Juni?«
»Keine Ahnung. Die Love-Parade. Oder irgendwas mit der DDR.«
Lisis Telefon läutete. »Ja«, sagte sie. Und: »Okay.« Und: »Wir sind praktisch auf dem Weg.« Und, mit Blick zu August: »Huh.«
»Klopft das Herzerl?«, fragte August.
»Ja.«
»Na dann ist es ja gut.«
»Wieso ist das gut?«
»Wenn es nicht klopft, bist du tot.« August hatte seine Freude mit Lisis Nervosität.
»Wir müssen da runterlaufen«, sagte Lisi und zeigte auf die schöne gerade Straße.
»Schon wieder laufen?«
»Gehen!«
»Moment.« August zog sich die schweren Bergschuhe und die dicken Wollsocken aus. Dann ging er zu einem japanischen Touristen, der mit offenem Mund das Brandenburger Tor anstarrte. Der Mann schien seine Gruppe verloren und auf das Aufwachen vergessen zu haben. »Please«, sagte August und faltete seine Hände zu einer hohlen Form. Der Japaner kramte nach Geld, aber August zeigte auf die große Wasserflasche, die der Tourist in der Hand hielt. »Water, please.« Aisha verstand und stellte sich an, um zu trinken. Jetzt verstand es auch der Mann mit der Flasche und lächelte freundlich. Er goss Wasser in Augusts Hände, und Aisha schlabberte es gierig auf. Nun tauchte die Gruppe des Japaners wieder auf, das Bildmotiv rief Entzücken und Gelächter hervor, und einige Tage später wurde in Tokio, in Osaka und Yokohama folgendes Foto vorgezeigt: Ein bloßfüßiger Mann in Lederhosen kniet vor dem Brandenburger Tor, ein Tourist gießt Wasser in seine gefalteten Hände, aus denen ein schwarzer Hund trinkt. Aisha hatte Durst, und August Spaß beim Posieren für die begeisterten Japaner.
»Bitte, August!«, flehte Lisi. »Wir müssen los!«
»Gleich.« Zehn Fotos noch, alle aus der Gruppe mussten das Motiv haben, dann stand August auf, faltete höflich die Hände vor seinem Herzen, verneigte sich, schnappte seine Schuhe, und sie konnten losgehen.
»Wir müssen genau da hin. Zu der Säule«, erklärte Lisi.
»Hast du Angst?«, fragte August.
»Naja, eigentlich … so bisschen mulmig vielleicht … also … ja, ich habe Angst.«
»Unsere Angst entsteht meistens nicht aus der Sorge, dass wir so klein und begrenzt sind«, sagte August. »Unsere größte Angst ist, dass wir unendlich mächtig sind.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Lisi.
»Ich auch nicht«, antwortete August. »Aber es ist, wie es ist. Ich muss mal.«
»Ich eigentlich auch.«
»Na dann ab hinter die Bäume.«
Als sie sich kurz darauf wiedertrafen, zeigte sich August begeistert: »In Berlin gibt es ja mehr Wald als in ganz Österreich!«
»Du übertreibst.«
»Jedenfalls mehr Wildschweine. Der Boden ist schon halb hin.«
»Können wir jetzt weitergehen, oder willst du weitere Fährten analysieren?«
»Schimpf nur rum, wenn es dich erleichtert.«
Aber es erleichterte Lisi gar nicht. Die Siegessäule war jetzt nur noch wenige hundert Meter entfernt. Der Unterbau mit den kleineren Säulen und der schwebende, goldene Engel an der Spitze des steinernen Turms waren schon deutlich zu erkennen.
»Er glaubt immer noch, ich bin Mara, eine Wizzenschaftlerin aus der Slowakei. Susanne hat ihm nichts verraten.«
»Vielleicht schon?«
»Nein! Sie hat es mir ja gerade vorhin gesagt. Am Telefon.«
August blieb stehen. »Hör zu, Lisi. Ich weiß, dass du ihm gefällst. Sieh’s einmal so: Fred liebt deine Augen, deine Haare, deine Brüste, deinen Hintern, deinen Geruch. Er will Sex mit dir haben!«
»Sehr romantisch!«
»Ich will ja nur, dass du dich entspannst!«
»Und ich will, dass er mich liebt!«
»Sex ist doch schon einmal eine gute Grundlage.«
»Bei dir ist immer alles so einfach.«
»Es geht gar nicht einfacher. Die ganze Natur will nichts anderes als Sex.«
»Hör jetzt auf!«
»Ich will ja nur sagen, ob du Mara heißt oder Lisi, Greti oder Yvonne, ob du über Fische forschst oder Fische verkaufst oder Filmstar bist oder Brote streichst, das ist ihm egal. Er steht auf dich.«
»Ich streiche keine Brote. Ich arbeite für ein Cateringunternehmen.«
»Lisi, nur ein Tipp. Versuch, in der nächsten halben Stunde nicht kompliziert zu sein. Einfach. Nicht kompliziert.«
»Kannst du mich jetzt bitte allein lassen.«
»Kein Problem. Komm, Aisha.«
August machte kehrt. Er war nicht wirklich beleidigt, verspürte aber ohnehin kein gesteigertes Bedürfnis, beim Zusammentreffen von Lisi und Fred dabei zu sein.
»August! Bitte!« Lisi war ihm nachgelaufen. »Es tut mir leid. Bitte. Bitte komm mit. Vielleicht erkenne ich ihn ja gar nicht wieder ohne dich.«
August machte wiederum kehrt: »Alles, wie du willst. Ich möchte nur anmerken, zugegeben, schlecht benehmen kann ich mich ganz gut, aber so unhöflich wie du bin ich noch lange nicht.«
Lisi drückte August einen entschuldigenden Kuss auf die Wange. Statt die sichere Unterführung zu nehmen, überquerten sie laufend die breite Straße, die wie ein Ring um die Siegessäule lag, und liefen die Stufen zu dem Monument hinauf. Lisis Herz klopfte wie wild, aber ihr war nicht übel. Immer, wenn ihr bei aufregenden Begegnungen leicht übel war, wurde nichts draus, so gut kannte sie sich schon aus jahrelanger Selbstbeobachtung. Diesmal fühlte sie sich in ihrer Panik durchaus wohl.
»Riesig«, sagte August. »Aber auch nicht wirklich schön.«
»Berlin ist nicht schön. Aber sexy«, wandelte Lisi einen Ausspruch des Bürgermeisters ab.
Sie waren zweimal um die Säule gelaufen, richtig gelaufen, selbst die etwas erschöpfte Aisha fand Gefallen an diesem lustigen Spiel.
»Er ist nicht da«, wimmerte Lisi, deren Mut wieder zu sinken begann.
»Kann man hinaufgehen?«, fragte August.
»Klar.«
»Dann los.«
Lisi zahlte den Eintritt. 285 Stufen später waren sie auf der Aussichtsplattform angelangt.
»Hallelujah, die Viktoria!« August begrüßte die Siegesgöttin wie eine alte Freundin.
»Im Volksmund heißt sie Goldelse«, keuchte Lisi, die sich vorsichtig umsah. Denn so komplett außer Atem wollte sie nicht auf Fred treffen. Obwohl. Auch schon egal! Kein Fred in Sicht. Überhaupt hatten sich nur wenige Menschen den herben Aufstieg angetan.
»Und der Ausblick!«, rief August. »Das ist ja zum Verrücktwerden schön!«
Und dann stellte er sich gerade hin, ließ zuerst einen juchzenden Schrei los, der in einen lauten, aber langsamen, fast elegischen, von tiefer Freude erfüllten Jodelgesang überging: »Hul-jo-i-diri-di-ri, hol-la-rai-ho-i-ri.« Lisi rann ein kalter Schauer über den Rücken, so exotisch und so schön war das: Und dann – was war das – eine zweite Stimme gesellte sich dazu, von der anderen Seite des Turms, da jodelte noch jemand: »Hul-jo-i-diri-di-ri, hol-la-rai-ho-i-ri«. August spielte sogleich mit der zweiten Stimme, antwortete auf die musikalische Frage, zunächst verhalten, dann juchzend, und die Wirbelsäule vibrierte, auf der Höhe des Herzens, genau dort, wo bei Engeln die Flügel angewachsen sind, und die Siegessäule vibrierte mit.
»Hul-jo-i-diri-di-ri, hol-la-rai-ho-i-ri!«
Der Gesang endete, und Fred und August liefen einander in die Arme und hielten sich ganz fest.
»Du bist nicht gekauft …«, sagte Fred, und es klang eher nach einer Feststellung als nach einer Frage.
»Du bist ein solcher Depp«, antwortete August liebevoll, und dann herzten sie einander noch einmal. Beide hatten Tränen in den Augen.
»Na toll, die haben sich gefunden«, dachte Lisi, die etwas abseits stand und ebenfalls Tränen in den Augen hatte, aus Angst, aus Ergriffenheit, aus Zorn, das wusste sie nicht so genau. Nein, Lisi, sagte sie sich, zwei Männer lieben sich, das ist gerade auf der Siegessäule so okay wie sonst fast nirgends auf der Welt, und du – wirst – jetzt – einmal in deinem Leben – einfach – nicht – kompliziert sein!
Da hatte Fred sie schon entdeckt, und er löste sich von August und ging auf sie zu und nahm sie bei den Händen. Lisi ergriff kurz entschlossen die Initiative und legte ihre Lippen auf jene von Fred und ließ sie versuchsweise dort liegen. Das fühlte sich gut an. Fred erwiderte ihren Kuss und nahm sie ganz fest in die Arme.
Jetzt werde ich ihm die ganze Sache mit Mara gestehen müssen, dachte Lisi. Jetzt gleich, und nicht erst später!
Oder vielleicht doch ein kleines bizzchen später?
28. Juli
Die Sonne stieg langsam, aber zielstrebig in den Himmel.
Zwei Hände fanden sich in den zerwühlten Laken. Ein fragender, kleiner Druck.
Eine bejahende Antwort aus der anderen Hand.
»Ich fühle mich müde, aber verjüngt«, sagte sie und kicherte wie ein Mädchen.
»War eine lustige Nacht«, bestätigte er.
Susanne stand auf und stellte Wasser für den Kaffee zu.
»Ich wette, die sitzen immer noch irgendwo rum und reden«, rief August ihr in die Küche nach.
»So boshaft kenne ich dich gar nicht.«
»Du kennst mich überhaupt nicht.«
»Das stimmt.«
August stand ebenfalls auf und streckte sich. Susanne betrachtete ihn aus den Augenwinkeln. August war unverschämt jung. Was war ihr da eingefallen? Immerhin, volljährig, absolut volljährig, tröstete sie sich, und der Restalkohol half sicher dabei. Eventuell auch die Restwirkung der Elbtaler Gewürzkräuter. Das war ihr erster Joint seit mindestens 15 Jahren gewesen!
»Im Grunde«, sagte August und trank ein Glas Wasser, bevor er den Satz fortsetzte, »hab ich für Dichter überhaupt nichts übrig. Die meisten Gedichte entstehen nur, weil irgendwer zu wenig Sex hat.«
»Die meisten Verbrechen auch«, konterte Susanne.
August gab ihr brummend recht. Überhaupt fühlte er sich ein wenig brummelig. Immer diese verzweifelte Suche nach Liebe, hatte er gestern laut und seufzend zu Aisha gesagt, als sie von der Siegessäule abgestiegen waren, unbemerkt von Lisi und Alfred. Dann hatten sie sich in den Park gelegt und ein wenig gedöst. Da er in Berlin sonst niemanden kannte, hatte er sich zu Susanne begeben, die gerade in aufgeräumter Stimmung aus ihrem Büro gekommen war, ihn zuerst zum Essen ausgeführt, danach zu sich heimgeführt und letztendlich verführt hatte.
»Das mit Fred und Lisi hat keine große Zukunft, glaube ich«, unkte August und fügte augenzwinkernd hinzu: »Aber wir zwei …«
»August, ich könnte deine Mutter sein!«
»Du bist aber wesentlich lustiger als meine Mutter.«
August ging ins Bad, dann saßen sie in der Küche und tranken Kaffee.
»Ich geh jetzt eine Runde mit dem Hund und dann führst du mich nach Grünbach, okay.«
Susanne lachte: »August! Ich muss arbeiten. Ich kann dich nicht nach Grünbach bringen. Ich bin gerade dabei, meinen Verlag zu retten!«
»Na sicher bringst du mich nach Grünbach. Das Buch schickst du zur Druckerei, und los geht’s.
»Ich habe nicht mal ein Auto.«
»Das ist dein Problem.«
»Nimm den Zug.«
»Mit dem Zug brauche ich drei Tage.«
»Dann frag Lisi.«
»Vielleicht hat sie andere Sorgen. Außerdem hast du uns allen diese Suppe eingebrockt!«
»Ich kauf dir ein Flugticket.«
»Und du glaubst, ich sperre meinen Hund in einen Käfig in den Frachtraum?«
»Ich weiß was. Ich werde Bassam anrufen.«
»Bassam.«
»Er ist einer unserer Autoren und Taxifahrer.«
»Ich hoffe, er fährt besser, als er schreibt.«
»Er ist ein hervorragender Schriftsteller! Sonst wäre er nicht in meinem Verlag.«
»Und warum muss er dann Taxi fahren?«
»Weil er in meinem Verlag ist.«
»Und für dein Papier fällen wir unsere Bäume.«
»Er wird dir einen Preis machen.«
»Er wird dir einen Preis machen.«
Als August von der Hunderunde zurückkam, war auch Susanne geduscht und angekleidet. »Bassam kommt in einer halben Stunde«, sagte sie.
»Ich hoffe, der ist lustig, dein Bassam«, grummelte August.
»Ich bin mir sicher, ihr werdet viel Spaß haben.«
Sie standen auf der Dachterrasse von Susannes Wohnung, zwischen Lorbeerbäumchen und Rosmarinsträuchern, sahen auf grüne Baumkronen, teilten sich noch eine große Flasche Wasser und gestanden sich ein, beide sehr neugierig zu sein, was wohl aus Lisi und Fred geworden war.
»Ich rufe Fred einfach an«, sagte Susanne. »Ich wollte ihm ohnehin sagen, dass seine Gedichte gut sind. Was heißt gut, sie sind tatsächlich sensationell.«
Sie stellte ihr Handy auf Lautsprecher, wählte und hielt es zwischen August und sich in die Höhe.
»Anrufbeantworter von Alfred Firneis. Bitte hinterlassen Sie keine Nachricht. Ich rufe nicht zurück.«
»Na klar«, sagte Susanne. »Wir werden uns die Geschichte wohl selbst ausdenken müssen.«
»So oder so«, sagte August lächelnd, »es ist, wie es ist.«
Ende