Fallen

Borric spähte um die Ecke.

Im Schatten sah er keine Bewegung, also machte er seinen Gefährten ein Zeichen, sie sollten ihm folgen. Seit fast einer Stunde versteckten sie sich vor verschiedenen Gruppen von Wachen, die die Eindringlinge suchten. Von Nakor hatten sie nichts mehr gesehen, seit er die erste Gruppe der Inneren Legionäre fortgelockt hatte.

Ungefähr ein halbes dutzendmal hatten sie anderen Soldaten nur knapp ausweichen können.

Ghuda legte Borric die Hand auf die Schulter. »So kommen wir sobald nirgends hin«, flüsterte er. »Ich denke, wir sollten uns einen Diener schnappen und ihn fragen, wo diese Freunde von dir untergebracht worden sind. Dann fesseln wir den Mann – er wird eine Weile unbequem zubringen müssen –, und wenn wir diese Sache aufgeklärt haben, schicken wir jemanden, der ihn befreit. Was hältst du davon?«

Borric sagte: »Mir fällt im Moment nichts Besseres ein, also können wir genausogut auch das machen.« Er sah sich um. »Wie wäre es mit einer kurzen Pause?«

Ghuda sagte: »Ich würde mich gern für ein paar Minuten hinsetzen, soviel ist sicher.«

»Also, diese Zimmer hier scheinen leer zu sein.« Er zeigte auf die nächste Tür und sagte: »Wollen wir uns dieses mal ansehen.«

Borric öffnete die Tür so leise er konnte; sie war ein verziertes Ding aus Ebenholz und Rohr, und sie quietschte laut, als er sie aufschob. Nachdem er sie ein paar Zoll aufgedrückt hatte, sagte er: »Vielleicht sollten wir doch dorthin zurückgehen, wo vor den Türen nur Vorhänge waren?«

Plötzlich drückte Ghuda die Tür heftig auf, so daß sie sich mit einem einzigen, überraschend leisen Quietschen öffnete, woraufhin Ghuda die beiden anderen hindurchschob und die Tür hinter sich zumachte.

Borric wäre fast aus dem Gleichgewicht gekommen, und als er sich umdrehte, legte der alte Kämpfer den Zeigefinger an die Lippen und gab ihm so zu verstehen, er solle schweigen. Borric zog sein Rapier und Suli sein Kurzschwert, während Ghuda einen Schritt rückwärts machte und sein überlanges Schwert zog. Er bewegte sich ein wenig von den anderen fort, damit er genug Platz hätte, es zu schwingen, Borric sah sich in dem verlassenen Zimmer um und vergewisserte sich, daß es nichts gab, worüber er stolpern könnte, wenn er kämpfen müßte. Obwohl das wenig genützt hätte, denn wenn sie gezwungen wären zu kämpfen, würden sie es mit einer schier nicht aufhörenden Zahl von Wachen zu tun bekommen.

Hoffnung bestünde dann nur, wenn er irgendwen überzeugen könnte, er sei der andere Sohn von Arutha.

Müde setzten sie sich auf den Boden und reckten ihre Glieder.

Ghuda sagte: »Weißt du, Verrückter, dieses Herumschleichen im Palast kann einem ganz schön Appetit machen. Ich wünschte, ich hätte jetzt eine von Nakors Orangen.«

Borric wollte gerade antworten, als ein gedämpftes Geräusch seine Aufmerksamkeit erregte. Es waren Stimmen, die noch unverständlich waren, jedoch näher kamen, und er sprang auf und schlich zur Tür. Suli kam dazu und drängte sich vor Borric, dem er nur bis zum Kinn reichte. Borric wollte ihn verscheuchen, doch die Geräusche sich nähernder Personen brachten ihn zum Schweigen.

Zwei Männer erschienen und gingen an der Tür vorbei. Der eine war wohlbeleibt und trug einen Amtsstab in der Hand. Der andere hatte einen schwarzen Mantel an, unter dem man nichts erkennen konnte, doch während die beiden vorbeigingen, drehte er sich um, und Borric konnte einen Blick auf sein Gesicht erhaschen. Beide Männer waren angelegentlich in ein Gespräch vertieft, und Borric konnte mithören, was der Wohlbeleibte sagte: »… heute nacht. Wir können nicht länger warten. Wenn sich die Laune der Kaiserin ändert, wird sie vernünftigen Überlegungen wieder zugänglich sein. Ich habe sie überzeugt, Awari in den Norden zu schicken, wo er die Vorbereitungen zur Verteidigung treffen soll, doch dieser Trick wird bald auffliegen. Und dann ist da noch dieser Irre, der im Palast herumläuft und den die Wachen einfach nicht fangen können. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat, aber ich schätze, nichts anderes als Ärger…« Borric konnte die Stimme nicht mehr verstehen, nachdem die Männer um die nächste Ecke gebogen waren.

Suli drehte sich um und zog Borric heftig am Ärmel. »Meister!«

»Was ist?« fragte Borric, der versuchte, das Gesagte in seinem Kopf zu ordnen.

»Dieser Mann, der dünne, das ist der gleiche, den ich in Durbin im Haus des Gouverneurs gesehen habe – der, der diesen goldenen Halsring trug. Der, der für Lord Feuer arbeitet.«

Borric lehnte sich an die Tür und nickte. »Das ergibt Sinn.«

Ghuda hob sein Schwert und fragte: »Und was ergibt es für einen Sinn?«

»Ich weiß jetzt, warum mich seit Durbin der Ärger verfolgt hat wie ein Wüstenschakal eine sterbende Antilope«, murmelte Borric.

»Was?«

»Ich erzähl’s euch später. Ich hoffe, ihr hattet eine angenehme Pause. Jetzt geht es nämlich weiter. Wir werden uns sofort einen Diener schnappen.«

Borric riß die Tür auf, und die quietschenden Angeln gaben fast keinen Laut von sich. Er schlich hinaus auf den Gang, ehe Ghuda noch eine weitere Frage stellen konnte. Borric zögerte einen Moment lang, während die anderen durch die Tür kamen und sie hinter sich schlossen. Er machte Ghuda und Suli ein Zeichen mit der Hand, sie sollten sich an die Wand drücken.

Ein Stück voraus machte der Gang einen Knick und ließ nur eine einzige Möglichkeit weiterzugehen, also folgten sie dem Knick. In diesem Flügel des Palastes brannten keine Lichter, und Borric bezweifelte, daß die keshianischen Adligen gern durch die Dunkelheit stolperten. Und tatsächlich trafen sie wie erwartet auf niemanden.

Als sie das Ende des Gangs erreichten, drehte sich Borric um und flüsterte. »Es kommt jemand.« Er machte Ghuda und Suli abermals ein Zeichen, sie sollten sich an die Wand drücken, während er selbst auf die andere Seite des Gangs schlich.

Eine Frau eilte allein um die Ecke, und Ghuda trat vor und stellte sich ihr in den Weg. »Was –«, wollte sie sagen, doch da ergriff Borric sie von hinten. Die Frau war geschmeidig und muskulös, doch Borric brachte sie in seine Gewalt und zerrte sie in das nächste Zimmer, das an diesem Gang lag.

Licht aus einem Zimmer im Flügel gegenüber schien durch das Fenster und erleuchtete die Szene schwach. Borric hielt die Frau weiterhin fest und flüsterte ihr ins Ohr: »Wenn du schreist, wird es dir leid tun. Wenn du still bist, passiert dir nichts. Verstanden?«

Die Frau nickte einmal, und er ließ sie los. Sie drehte sich abrupt zu ihm um und sagte: »Wer wagt es –« Dann erkannte sie, wer sie festgehalten hatte. »Erland? Was ist denn in Euch gefahren –« Sie riß die Augen auf, als sie die Kleidung und das kurzgeschnittene dunkle Haar sah. »Borric! Wie seid Ihr hierhergekommen?«

Seit Borric sich erinnern konnte, hatte James ihm Geschichten über seine Zeit als Dieb in Krondor erzählt, und eine Sache, die in den an den Haaren herbeigezogenen Geschichten des Grafen immer wieder eine herausragende Rolle gespielt hatte, war sein legendärer »sechster Sinn für Arger« gewesen. Und zum ersten Mal, seit er sich erinnern konnte, verstand Borric, was James damit gemeint hatte.

Etwas in ihm schrie gewissermaßen, daß der Ärger jetzt genau vor ihm stand.

Ghuda zog sein Schwert, zielte mit der Spitze auf die Frau und sagte: »Verrückter, das ist nicht notwendig. Die Frau –«

»Still, Ghuda. Frau, wie ist dein Name?«

»Miya. Ich bin eine Freundin Eures Bruders. Er wird so glücklich sein, Euch lebend zu sehen. Was macht Ihr hier –« Sie lachte, und Borric wußte, dieses Lachen war genauso gezwungen wie künstlich, obwohl es sich natürlich und aufrichtig anhörte. »Ich plappere dummes Zeug. Das muß der Schreck sein, Euch –«

»Im Palast zu sehen«, beendete Borric den Satz.

»›Lebend‹ wollte ich eigentlich sagen«, meinte Miya.

»Das glaube ich kaum. Als du mich gesehen hast, dachtest du, ich wäre mein Bruder. Dann hast du begriffen, daß ich nicht Erland bin. Niemand, der glaubte, ich sei tot, wäre so schnell darauf gekommen. Und du hast nicht gesagt: ›Ihr lebt ja!‹, sondern du hast gesagt: ›Wie seid Ihr hierhergekommen?‹ Und das nur, weil du wußtest, daß ich am Leben war und mich in der Unterstadt aufhielt.«

Die Frau verfiel in Schweigen, und Borric sagte zu Ghuda und Suli: »Sie ist eine von denen, die mich auf Schritt und Tritt von Krondor bis Kesh umbringen wollten. Sie arbeitet für Lord Feuer.«

Miya riß bei der Erwähnung des Namens die Augen auf, ließ sich ansonsten jedoch nichts anmerken. Sie sagte: »Wenn ich laut genug schreie, werden hier innerhalb eines Augenblicks ein Dutzend Wachen auftauchen.«

Borric schüttelte den Kopf. »Dieser Flügel ist schon durchsucht worden. Wir sind ihnen entschlüpft, während sie von Zimmer zu Zimmer gingen. Außerdem sind sie nur hinter einem Mann her.«

Die Augen der Frau blitzten auf, und sie trat einen Schritt zurück, während sie die Entfernung zur Tür abschätzte. »Denk gar nicht erst daran«, sagte Borric. »Das ist vielleicht das Naheliegendste, aber ich bin schneller als du, und außerdem habe ich vier Fuß mehr Reichweite«, sagte er und richtete das Schwert auf sie.

»Ihr werdet hier nicht lebend herauskommen, wißt Ihr das? Die Dinge sind bereits so verzwickt, man kann sie nicht mehr rasch und leicht erklären. Blut wurde vergossen, und die Soldaten marschieren. Euer Vater hat die Armee des Westens in das Tal der Träume entsandt, bereit, anzugreifen.«

»Euer Vater?« fragte Ghuda. »Wer mag er bloß sein, wenn er zu Hause ist?«

Borric sagte: »Mein Vater ist Prinz Arutha von Krondor.«

Ghuda blinzelte wie eine Eule in der Mittagssonne. »Der Prinz von Krondor?«

Suli sagte: »Und ich bin sein Diener, und ich werde auch noch sein Diener sein, wenn er König der Inseln ist.«

Ghuda stand eine Weile schweigend da. »Verrückter … Borric … Prinz … wie ich dich auch immer nennen soll, du kannst mich, wenn das alles vorbei ist, daran erinnern, daß ich dir noch einmal ordentlich eine verpasse.«

»Wenn wir aus diesem Schlamassel herauskommen, würde ich dabei vielleicht sogar stillhalten.« An Miya gewandt, sagte er: »Mein Vater ist vielerlei, aber er ist nicht dumm. Er würde das Kaiserreich mit so großer Wahrscheinlichkeit angreifen, wie ich mich mit einem Amboß in Treibsand wagen würde.«

Ghuda sagte: »So wie ich dich kennengelernt habe, würdest du das glatt machen.«

Borric sagte: »Sie lügt. Und wir müssen zu meinem Bruder.« An Miya gewandt, sagte er: »Du wirst uns zu ihm führen.«

»Nein.«

Borric machte einen Schritt nach vorn und setzte der Frau das Schwert an die Kehle. Als Miya nicht mit der Wimper zuckte, meinte er: »So, du hast also keine Angst vorm Sterben?«

»Du bist kein Mörder«, spuckte Miya aus.

Rauhe Hände zogen Borric zur Seite. Ghuda sagte: »Er vielleicht nicht, Hure.« Seine riesigen Hände ergriffen die Frau an den Schultern, und er zerrte sie zu sich hin. Dem Ausdruck des Unbehagens auf Miyas Gesicht nach konnte sich Borric vorstellen, daß er nicht gerade sanft mit ihr umging. Ghuda zog ihr Gesicht bis dicht vor sein eigenes und zischte: »Aber ich bin da nicht ganz so zimperlich. Ich habe für Reinblütige und solche Leute ganz und gar nichts übrig. Ich hätte lieber eine Schlange bei mir zu Hause als so eine wie dich. Du könntest in Flammen stehen, und ich würde nicht mal die Straßenseite wechseln, um auf dich zu pissen. Hör mal, ich bring dich ganz langsam und unter vielen Qualen um, Mädchen, wenn du uns nicht sagst, was wir wissen müssen. Und ich mach das so, daß du dabei nicht mal schreien kannst.«

Die mit ruhiger Stimme ausgesprochene Drohung des Söldners mußte sie überzeugt haben, denn Miya sagte, wobei sie kaum richtig sprechen konnte: »Ich führe Euch hin.«

Ghuda ließ sie los, und Borric sah, wie Tränen der Angst über die Wangen des Mädchens kullerten. Er steckte sein Rapier weg und zog den Dolch aus dem Gürtel. Dann zeigte er ihr die kurze Klinge und gab ihr einen Schubs auf die Tür zu. »Denk dran, vielleicht kannst du weglaufen. Aber ich kann meinen Dolch schneller werfen, als du rennen kannst.«

Miya machte die Tür auf, und sie folgten ihr. Wahrend sie gingen, sagte Ghuda: »Was hat dich auf ihre Schauspielkünste gebracht?«

»Mein sechster Sinn für Ärger.«

»Ich habe die ganze Zeit geglaubt, so etwas hättest du überhaupt nicht«, sagte der Söldner. »Na, glücklicherweise hat sich dein sechster Sinn noch rechtzeitig gemeldet.«

»Finde ich auch.«

»Aber dir muß doch irgend etwas aufgefallen sein«, sagte Ghuda.

»Was hat dich an ihr gestört?«

»Sie ging in dieselbe Richtung wie die beiden Männer, und einer von den beiden hat mich rechtzeitig gewarnt.«

»Wie hat er denn das gemacht?«

»Er hat mich gejagt, seit wir Krondor verlassen haben. Und er war einer der wenigen Menschen in Kesh, die mich sofort erkennen würden.«

»Wer ist er denn?« fragte Ghuda, während sie um eine Ecke bogen und in einen besser beleuchteten Gang kamen.

Vor sich konnten sie zwei Wachposten sehen, die vor einer Tür standen, und Borric trat einen Schritt näher an das Mädchen heran, falls es sich entscheiden sollte, davonzurennen oder um Hilfe zu rufen. Zu dem Söldner sagte er: »Der Mann war Lord Toren Sie, Keshs Botschafter am Hofe meines Vaters.«

Der Söldner schüttelte den Kopf. »Er ist von kaiserlichem Blut. Einige sehr wichtige Leute möchten dich wohl gern tot sehen, Verrückter.«

»Und andere sehr wichtige Leute möchten die Wahrheit erfahren«, erwiderte Borric. »Und das hält uns alle noch ein bißchen am Leben.«

»Götter, hoffentlich hast du recht«, sagte der Söldner. Miya führte sie an einer Reihe von Wachen, die vor Türen standen, vorbei durch den Palast. Ob es ihnen seltsam vorkam, daß eine Angehörige des kaiserlichen Haushalts drei eigentümlich gekleidete Männer begleitete, ließ sich an ihren Gesichtern nicht erkennen. Miya bog in einen langen Gang ein, und sie kamen an einem halben Dutzend unbewachter Türen vorbei.

Am Ende des Ganges steuerte Miya auf eine große, geschlossene Tür zu und sagte zu Borric: »Hier ist Euer Bruder drin.«

Borric gab ihr einen Schubs. »Öffne sie und geh zuerst hinein.«

Die Frau legte die Hand auf die Klinke, drückte sie hinunter und schob die Tür auf. Sie trat ein und machte die Tür für Borric noch weiter auf. Er folgte ihr, und nach ihm kamen Ghuda und Suli.

Sie führte die Männer durch ein kleines Empfangszimmer zu einer weiteren Tür, wo sich das gleiche wiederholte, nur diesmal stieß sie, nachdem Suli eingetreten war, mit unerwarteter Heftigkeit die Tür zu und schrie: »Es ist Borric von Krondor! Tötet ihn!«

In dem Zimmer saßen Männer in der Uniform der reinblütigen Wachen, und bei Miyas Worten sprangen sie auf und rissen ihre Waffen aus den Scheiden.

 

Die Dienerin kündigte Lord Nirome an, und Erland bat ihn herein.

Der wohlbeleibte Adlige eilte ins Zimmer und verneigte sich vor dem Prinzen. »Hoheit, Lady Miya sagte, Ihr hättet etwas Dringliches mit mir zu besprechen.« Dann bemerkte Nirome James und Gamina, die Erland gegenübersaßen und die er beim Eintreten nicht gleich hatte sehen können.

»Mein Lord, meine Dame. Ich habe Euch nicht sofort bemerkt. Ich bitte um Vergebung.«

Er ist sehr erpicht darauf, mit dir allein zu sprechen, teilte Gamina Erland mit. Er ist sogar sehr verärgert, weil wir auch hier sind.

»Habt Ihr irgend etwas Baron Locklear Betreffendes gehört?«

Nirome zuckte mit den Schultern. »Hätten wir das, dann wäret Ihr natürlich umgehend unterrichtet worden. Ich muß gestehen, die meisten, die zusammen mit Ihrer Majestät beim Rat sitzen, sind persönlich nicht so empört wie die Kaiserin selbst. Wir haben auch nur eine Cousine verloren, während Sie, Die Kesh Ist, eine Tochter geben mußte. Auch wenn Mutter und Tochter in vielen Angelegenheiten des Hofes nicht immer einer Meinung waren, so hegten sie doch starke Gefühle füreinander. Und wie Ihr Euch ohne Zweifel selbst schon gesagt haben werdet, läßt sich hinter dem Ganzen keine Logik erkennen.«

»Ich habe gehofft, Ihr würdet genau das sagen«, meinte Erland.

»Ich bin ein Mann der Vernunft, Hoheit. In meiner Zeit in der Galerie der Herren und Meister habe ich oft die Rolle des Schlichters gespielt, denn wie Ihr ohne Zweifel schon bemerkt haben werdet, gibt es im Reich viele verschiedene Völker. Kesh ist ein Land, in dem unterschiedliche Meinungen herrschen, und unsere Geschichte unterscheidet sich von der des Königreichs doch erheblich. Ihr seid ein einziges geeintes Volk, schon seit den alten Tagen. Innerhalb der Grenzen Eures Reiches leben nur zwei große Volker, das von Yabon und das unserer früheren Landsleute aus Crydee, während Kesh ein Land der tausend Sprachen und Sitten ist.«

Er versucht, Zeit zu schinden, ließ sich James über Gamina hören.

Warum?

Gamina erwiderte: Er möchte mit dir allein sprechen … nein, er möchte dich allein haben … seine Gedanken schwirren umher … er achtet nicht darauf, was du tust, wenn du mit mir sprichst … er denkt an …

Plötzlich wurde Gaminas Gesicht bleich, und eine Sekunde später sprang James auf, das Schwert in der Hand. Der wohlbeleibte Adlige entdeckte etwas Auffälliges in Erlands Gesichtsausdruck, oder er hatte gesehen, wie James aufgestanden war, jedenfalls wandte er sich um und brachte seinen Amtsstab in eine zur Verteidigung bereite Position.

»Was soll das?« fragte Erland.

Gamina sagte: »Borric lebt. Er ist irgendwo hier in der Stadt. Nirome will dich an einen Ort im Palast bringen, wo dich seine Helfershelfer töten können.«

Erland begriff nicht alles sofort. »Was?«

Niromes Gesicht wurde aschfahl. »Was … sagt die Dame da?«

James sagte: »Meine Frau hat gewisse Fähigkeiten, mein Lord. Unter anderem kann sie Falschheit spüren. Nun, welche Rolle habt Ihr bei dem Mord gespielt, der heute abend begangen wurde?«

Nirome schob sich auf die Tür zu, und James zögerte keinen Moment und sprang los, um ihm den Weg abzuschneiden. Erland zog sein Schwert und fragte: »Wo ist mein Bruder?«

Nirome suchte einen Ausweg, und als er keinen fand, sackte er sichtlich in sich zusammen. »Gnade, mein Lord Prinz, bitte Gnade.

Ich werde alles gestehen, doch versprecht mir, Euch bei der Kaiserin für mich zu verwenden. Ich habe nur eine winzige Rolle gespielt, um den Ehrgeiz des Prinzen Awari zu unterstützen. Er hat das Komplott geschmiedet, welches zum Tod seiner Schwester führte, und er plant ebenfalls, Euch zu töten und Sharana zu heiraten.«

 

»Seine eigene Nichte?« fragte Erland.

James fuchtelte ein wenig mit dem Schwert. »Das ist auch schon in früheren Dynastien des Kaiserreichs vorgekommen. Wenn eine Erbfolge als zu schwach angesehen wurde, heiratete der- oder diejenige, der seinen Anspruch auf den Thron laut machen wollte, einfach einen Cousin oder eine Cousine oder gar einen Bruder oder eine Schwester, um seinen Anspruch damit zu kräftigen. Und da die Kaiserin so viele Verwandte hat, sind viele der Reinblütigen untereinander Cousins und Cousinen.«

Nirome sagte: »Genauso ist es. Aber falls wir Euren Freund retten wollen, müssen wir uns beeilen. Er ist verletzt und in einem der unteren Stockwerke des Palastes eingesperrt.«

James sah Gamina an, und sie antwortete: Ich kann es nicht sagen.

Was? fragte Erland.

Er ist sehr schlau, und seine Gedanken sind sehr rege. Er weiß vielleicht nicht, daß ich einen Teil seiner bewußten Gedanken lesen kann, aber er vermutet irgendeine Art von Magie und wiederholt immer wieder nur das, was er uns schon gesagt hat. Es gibt Hinweise auf andere Dinge, und einige Gefühle … er lügt, was die Größe seiner Rolle in diesem Spiel angeht, aber ich kann nicht genau sagen, wie stark. Ihr müßt gut auf ihn aufpassen.

Erland fragte: »Nun, was hat es damit auf sich, Borric sei noch am Leben?«

Nirome sagte: »Ich glaube, es stimmt. Ein Sklave, der von Wüstenräubern noch Durbin gebracht wurde, konnte von dort entkommen. Er wurde verdächtigt, die Frau des Gouverneurs von Durbin ermordet zu haben, um seine Flucht zu tarnen. Und auf ihn paßt genau die Beschreibung Eures Bruders.«

Er … er verbirgt noch einiges vor uns. Aber das, was er gesagt hat, ist einigermaßen wahr.

Erland sagte: »Wir müssen jemanden finden, dem wir vertrauen können.«

Eine Dienerin erschien in der Tür und zog Erlands Aufmerksamkeit für einen Moment auf sich. Nirome schlug mit seinem Amtsstab zu, und weit schneller, als es sein Gewicht hätte vermuten lassen, wich er James’ Hieb aus. Er schrie dem Mädchen zu: »Hol die Wachen!« und fuchtelte wild mit seinem Stab herum.

Das Mädchen zögerte nur einen Augenblick, dann rannte es nach Wachen schreiend zur Tür hinaus. James griff nach Niromes Arm und wurde von dem Stab an der Schulter getroffen. Erland sprang vor und schnappte sich den Stab, wobei er den schweren Höfling zurückstieß. Während der Prinz sein Schwert hob, um den Hofbeamten zu bedrohen, traten Wachen in das Zimmer.

Augenblicklich wurden Schwerter und Lanzen auf James und Erland gerichtet, und der Hauptmann der Wache, der den weißen Kilt der Reinblütigen trug, rief: »Legt die Waffen nieder oder sterbt!«

Erland dachte nur kurz an Widerstand, dann reichte er sein Schwert einer Wache. »Ich möchte sofort eine Nachricht an die Kaiserin schicken. Es ist ein schändlicher Verrat begangen worden.«

Die Wachen ergriffen James und Erland an den Armen, und der Hauptmann fragte: »Sollen wir sie töten?«

Nirome sagte: »Noch nicht! Bringt sie zuerst in den leeren Flügel, und wenn Ihr nicht unser aller Leben aufs Spiel setzen wollt, laßt Euch dabei von niemandem sehen! Ich muß nur Miya und Toren Sie finden, und dann kommen wir zu Euch.«

Plötzlich wurde Erland klar, dieser unterwürfige dicke Mann hatte in diesem Flügel des Palastes Wachen eingesetzt, die Prinz Awari treu ergeben waren – und deshalb war es ihm auch gelungen, Prinzessin Sojiana zu ermorden und die Schuld Locklear zuzuschieben.

»Ihr habt Sojiana ermordet«, sagte Erland. »Und Locklear.«

Niromes Benehmen änderte sich; statt des kriecherischen Speichelleckers stand da mit einem Mal ein grimmiger, entschlossener und zielstrebiger Mann. Er nahm eine Walnuß vom Tisch und knackte sie mit der bloßen Hand vor Erlands Gesicht. »Du dummer Junge. Du bist da in einen Schlamassel geraten, und das Schlimmste ist, du verstehst noch nicht einmal, worum es sich dreht …« Er betrachtete den Prinzen. »Hätte dein lieber Bruder die Güte gehabt, in Krondor zu sterben, und hätte dein lieber Vater daraufhin ein paar drohende Noten an die Kaiserin gesandt, wäre das alles nicht notwendig gewesen. Wenn du jedoch jetzt mitspielst und keinen Wirbel machst, dann schicke ich dich deinem Vater lebend und in einem Stück zurück, denn ich will keine Händel mit einem verärgerten Königreich austragen müssen; und sollte die Kaiserin erst einmal unserem Plan zugestimmt haben, dann brauchen wir dich auch nicht mehr länger.«

Zum Hauptmann der Wache sagte er: »Bringt sie jetzt weg, und paßt auf diese Hexenfrau auf. Sie ist aus Stardock, und sie hat irgendwelche Fähigkeiten, mit denen sie erfahren kann, was man denkt, wenn man nicht vorsichtig ist.« Er sah Gamina an und sagte:

»Vielleicht müssen wir sie sogar hierbehalten. Diese Fähigkeit könnte für uns von Nutzen sein. Doch sollte einer von den dreien Schwierigkeiten machen wollen, töte ihn.«

Die Soldaten gehorchten, ohne zu zögern, und einen Moment später wurden die drei aus dem Gemach gebracht, ohne daß man ihnen die geringste Gelegenheit zur Flucht ließ.

 

Die bewaffneten Männer zögerten einen Augenblick, weil Miyas unerwarteter Alarm sie erschreckt hatte. Borric verschwendete keine Zeit mit Nachdenken; er machte einfach etwas. Er warf seinen Dolch auf den ersten Mann, der sich erhob, und traf ihn in die Brust. Ein weiterer wurde bei einem Ausfall getroffen, bei dem Borric fast zwei Meter überwand, und drei Männer wichen zurück, während sie ihre Waffen zogen.

Ein erstickter Schrei und ein Ekel hervorrufendes Knacken verrieten Borric, daß Ghuda die Frau, die sie in die Falle geführt hatte, mit einem gebrochenen Genick zum Schweigen gebracht hatte.

Dann sagte der Söldner: »Mach Platz, Verrückter.«

Borric wußte, jetzt zog Ghuda sein Bastardschwert, und dafür brauchte er mehr Raum als Borric für sein Rapier und Suli für sein Kurzschwert. Borric sorgte sich um den Jungen, konnte sich jetzt jedoch nicht um ihn kümmern. Denn im Moment hatten es drei wütende Wachen auf ihn selbst abgesehen.

Borric parierte den Hieb eines Mannes mit dem Dolch, traf einen anderen mit dem Rapier in die Kehle und duckte sich unter dem Hieb eines dritten durch. Ein Krachen hinter ihm und ein abgewürgter Schrei sagten Borric, daß Ghuda einen weiteren Mann aus dem Rennen geworfen hatte. Vier Männer waren schon niedergeschlagen, und trotzdem hatten sie die Situation immer noch nicht unter Kontrolle. Borric verstärkte seine Angriffsbemühungen. Er attackierte den Kopf eines Mannes wie ein Wilder und schlug ihm ein Ohr ab. Der Mann ging zu Boden, schrie vor Schmerzen und war nicht mehr fähig, sich zu verteidigen, und Borric tötete ihn mit dem Dolch, während er weiter auf den verbleibenden Mann einschlug.

Borric hörte das durch Mark und Bein gehende Geräusch von Knochen und Fleisch, die von Stahl zerteilt wurden; Ghuda schien den fünften getötet oder zumindest kampfunfähig gemacht zu haben.

Der Prinz parierte einen Hieb, den der letzte Mann, der ihm gegenüberstand, auf seinen Kopf gezielt hatte, und durchbohrte den Kerl.

Borric fuhr herum und sah, wie Ghuda einem Mann in die Leisten trat, während er sein langes Bastardschwert von einem anderen zu befreien suchte, den er gerade damit aufgespießt hatte. Suli war in eine Ecke zurückgedrängt worden, fuchtelte rasend mit seinem Kurzschwert herum und hielt zwei Männer in Schach. Doch ein dritter bewegte sich von links auf ihn zu, und Borric sprang auf einen Tisch und kam noch rechtzeitig hinzu, um den Kerl von hinten zu töten. Dann schlug er zu und verwundete einen der beiden verbliebenen Männer, die Suli angriffen. Doch während der eine zu Boden ging, schlug der andere mit seinem Langschwert zu, und der Junge schrie auf.

Borric hackte mit der Schneide seiner Klinge zu und schnitt dem Mann, der Suli verletzt hatte, wenigstens drei Zoll tief ins Genick.

Der Mann gab einen mitleiderregenden Ton von sich, der sich wie das Quieken einer Maus anhörte, und brach zusammen. Dann war es still.

Borric zog den Toten, der auf Suli lag, von ihm herunter und kniete sich neben dem Jungen hin. Suli versuchte vergeblich, die klaffende Bauchwunde zusammenzuhalten. Borric hatte auf dem Schlachtfeld schon früher solche Wunden gesehen, und er wußte, Sulis Leben würde in wenigen Minuten vorbei sein.

Den Prinzen erfaßte eine kalte Gewißheit, und er ergriff die Hand des Jungen. Suli atmete stoßweise, und seine Augen wurden langsam glasig. Sein Gesicht wurde wächsern, und er versuchte, etwas zu sagen. Endlich brachte er hervor: »Meister?«

Borric packte Sulis Hand fester und sagte: »Hier, Suli.«

»War ich Euer Diener?« fragte der Junge leise.

Borric drückte Sulis Hand noch fester und meinte: »Du warst ein guter Diener.«

»Dann wird es doch ins Buch des Lebens eingetragen werden, daß Suli Abul der Diener eines großen Mannes war, der Diener eines Prinzen.«

Die schlaffen Finger glitten dem Prinzen aus der Hand. »Ja, kleiner Bettler. Du bist tatsächlich als Diener eines Prinzen gestorben.« Borric hatte schon früher mit dem Tod Bekanntschaft gemacht, doch niemals bei einem so jungen Menschen wie Suli.

Seine eigene Unfähigkeit, den Jungen zu beschützen, überwältigte ihn. Eine ganze Minute lang kniete er nur da, und wenn er etwas zu bestimmen gehabt hätte, dann hätte er Sulis Tod nicht zugelassen.

Ghuda sagte: »Wir können nicht länger verweilen. Hier liegen zwölf Leichen auf dem Boden. Sobald jemand hereinkommt, wird die Hölle los sein. Los jetzt!«

Borric erhob sich. Er wußte, er mußte seinen Bruder oder die Kaiserin innerhalb der nächsten paar Minuten finden. Die Feinde waren im Palast unterwegs, und er konnte niemandem trauen.

Sie eilten den Weg zurück, den sie gekommen waren, bis sie einen Gang mit Wachposten erreichten. Borric machte eine Bewegung mit dem Kopf und schlich sich leise an ihnen vorbei in einen anderen, dunklen Gang. Dann, als sie die Hälfte dieses Ganges hinter sich gebracht hatten, hörte er gedämpfte Stimmen. Wie ein Mann drückten sich Borric und Ghuda in eine Türnische, während zwei Männer an ihnen vorbeieilten.

Der wohlbeleibte Mann, den Borric gerade vor ein paar Minuten gesehen hatte, sagte: »Verdammt. Die Sache ist aufgeflogen. Awari sollte nicht so bald vom Tode seiner Schwester erfahren. Findet heraus, wer ihm die Nachricht geschickt hat, und tötet den Mann oder die Frau umgehend. Er war schon auf halbem Wege zu Aruthas angeblicher Armee, als er die Botschaft bekommen hat.«

Borric riß die Augen auf. Prinzessin Sojiana war tot! Vielleicht war deshalb im Palast der Teufel los, weil man einen Mörder suchte – und nicht, weil sich vier Unbekannte hier herumtrieben. Borric machte Ghuda ein Zeichen, er solle ihm folgen, und die beiden warteten einen Moment lang, ehe sie auf den kreuzenden Gang stürzten und die beiden Männer wieder hören konnten.

»Awari ist ein halsstarriger Dummkopf. Er wird heute noch in die Stadt zurückkommen und gleich ins Zimmer der Kaiserin marschieren und seinen Anspruch erheben, während sie noch außer sich vor Zorn und Trauer über Sojianas Tod sein wird, und dann bekommen wir es vielleicht mit einer Rebellion zu tun. Wir müssen ihn dazu bringen, die Armee in den Norden zu führen. Der Mann von den Inseln muß als der Schuldige erscheinen. Wo habt Ihr ihn untergebracht?«

Eine Stimme, die Borric bekannt war, erwiderte: »In einem Kornspeicher in der Nähe der Wohnungen der Diener in den unteren Ebenen«, sagte Toren Sie.

»Bringt ihn in eins der leerstehenden Gemächer der Dienerschaft, und dann laßt ihn von den Wachen finden. Der Hauptmann soll berichten, er sei angetroffen worden, hätte sich der Verhaftung widersetzt und sei dabei getötet worden. In der Galerie setzt das Gerücht in Umlauf, daß er getötet wurde, um zum Schweigen gebracht zu werden. Dann soll der Hauptmann, der ihn gefunden hat, auf geheimnisvolle Weise ums Leben kommen. Ich werde das Komplott in der Galerie öffentlich anprangern. Wenn wir die ersten sind, die einen Verdacht äußern, wird das die anderen von uns ablenken. Sollte erst jemand anfangen, dumme Fragen zu stellen, ist alles zu spät.«

»Aber werden die Inseln dann nicht von dem Verdacht befreit?«

»Nein«, entgegnete der wohlbeleibte Keshianer, »doch alle werden sich fragen, wer seine Finger im Spiel hatte und bis in welche Ränge hinauf die Verräter zu suchen sind. Jeder in der Galerie wird seine Rivalen verdächtigen, mit den Inseln gemeinsame Sache gemacht zu haben. Alles was ich brauche, sind zwei Tage voller Verwirrung und Unsicherheit. Ich muß die Gewißheit erlangen, daß diejenigen, die Sharana unterstützen, genauso stark sind wie die Fürsprecher von Awari.«

Die beiden Männer erreichten die Tür des Zimmers, das Borric und Ghuda gerade erst verlassen hatten, gingen jedoch daran vorbei und steuerten auf eine Tür am Ende des Gangs zu. »Wo ist eigentlich Miya?« fragte der wohlbeleibte Mann, während er sich der Tür zuwandte und sie öffnen wollte. Dabei mußte er einen Blick auf die beiden Gestalten erhascht haben, die ihnen folgten, denn er rief: »Wer ist da?«

Borric trat aus dem Dunkel und ins Blickfeld der beiden Männer vor der Tür. Der dünnere sagte. »Ihr!!«

Borric lächelte grimmig, während er sein Schwert hob, und sagte: »Ghuda, ich habe die Ehre, dir Lord Toren Sie, den Gesandten Ihrer Majestät, der Kaiserin von Kesh, am Hofe des Prinzen von Krondor vorzustellen.«

Der zweite Mann wollte in das Zimmer stürzen, doch Ghuda schnitt ihm den Weg ab. »Und dieser hier«, fuhr Borric fort, »ist mir unbekannt, doch der Kleidung nach muß er ein Mitglied des kaiserlichen Hauses von Kesh sein.«

Toren Sie sagte: »Wenn ich schreie, wird innerhalb von Sekunden ein Dutzend Wachen hier auftauchen.«

Borric erwiderte: »Schreit nur, und Ihr werdet tot sein, ehe uns die ersten Wachen erreicht haben.«

Toren Sie starrte ihn an: »Was wollt Ihr?«

Borric richtete die Spitze seines Rapiers auf den Kehlkopf des Gesandten und sagte: »Eine Audienz bei der Kaiserin.«

»Unmöglich.«

Borric fuchtelte mit dem Rapier dramatisch unter Toren Sies Kinn herum, wobei die Klinge zu singen begann. »Ich habe zwar noch nicht alles verstanden, was hier vor sich geht«, sagte er, »soviel habe ich allerdings schon begriffen: Sollten wir die Kaiserin lebend erreichen, seid Ihr höchstwahrscheinlich ein Mann des Todes. Wenn Ihr dieses Schicksal irgendwie vermeiden wollt, solltet Ihr mir besser endlich erzählen, was ich wissen muß.«

Der dicke Mann sagte: »Wir werden Euch alles erzählen, was Ihr wissen müßt. Doch wir sollten das lieber hier drin machen. Da können wir uns wie anständige Menschen hinsetzen.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete der Mann die Tür, und nur Ghudas schneller Reaktion war es zu verdanken, daß sie den beiden nicht ins Gesicht knallte. Der große Söldner stieß hart gegen die Tür, die sich sperrte, dann plötzlich ließ ihr Widerstand jedoch nach, und Ghuda stolperte fast hindurch. Borric ergriff Toren Sie an seinem Halsring und verdrehte das Schmuckstück, wobei der geschmiedete goldene Kragen dem Mann fast die Luft abschnürte. Er zog ihn hinter Ghuda in das Zimmer hinein und konnte gerade noch sehen, wie der wohlbeleibte Mann auf eine Tür auf der anderen Seite des Empfangszimmers zustürmte. Ghuda war bereits an der Tür, als der Mann hindurchrannte und schrie: »Tötet sie!«

Borric zögerte nicht, er schlug dem Gesandten hart mit dem Heft seines Schwertes an die Schläfe. Der Mann sackte bewußtlos auf dem Boden zusammen, und Borric stürmte auf die andere Tür zu.

Als er dort ankam, sah er Ghuda mit offenem Mund dastehen, und der wohlbeleibte Mann baumelte wie von unsichtbarer Hand gehalten ein Stück über dem Boden in der Luft. In dem Zimmer lagen kreuz und quer verteilt ein gutes Dutzend Wachen in der Uniform der Inneren Legion und dazu noch einige in der der Reinblütigen, und alle waren bewußtlos. Und genauso bewußtlos waren James, Lady Gamina und Erland.

Auf einem großen runden Tisch saß Nakor, schnitt eine Grimasse und gab seltsame Laute von sich, während er mit zwei Fingern auf den schwebenden Mann zeigte. Als er Borric und Ghuda sah, hörte er auf zu grunzen und sagte: »Borric! Ghuda!« Im selben Augenblick fiel der wohlbeleibte Mann mit einem dumpfen Schlag zu Boden, und Ghuda bückte sich und packte ihn im Genick.

Borric ging dorthin, wo seine Freunde lagen, und fragte: »Nakor, was hast du angestellt?«

»Ich habe mich nur ein bißchen mit den Wachen vergnügt, und wir haben ›Fang-mich‹ gespielt, doch irgendwie sind sie verschwunden. Also habe ich nach ihnen gesucht. Dabei habe ich dich gesehen, oder zumindest hab ich gedacht, du wärst es gewesen, und du wurdest von Wachen begleitet, aber ich hab mir überlegt, ich sollte dich doch mal fragen, wo du diese ausgesuchten Kleider herbekommen hast und wo du meine Freunde Ghuda und Suli gelassen hast. Wo ist Suli denn?«

Ghuda warf Borric einen Blick zu, und der sagte: »Suli ist tot.«

»Das ist sehr traurig«, sagte der kleine Mann. »Er war ein guter Junge, und er wäre ein guter Mann geworden. Das wird er wahrscheinlich bei seiner nächsten Drehung im Rad des Lebens nachholen. Ist dies dein Bruder?« fragte er und zeigte auf Erland.

»Ja«, erwiderte Borric. »Was hast du mit meinen Freunden gemacht?«

»Ach, ich kam hier in das Zimmer, und plötzlich waren alle sehr aufgeregt. Einige von denen hier haben sich gar nicht gefreut, mich zu sehen, und ich war das Spiel langsam leid, und ich dachte, du würdest irgendwann früher oder später hier vorbeikommen. Nicht wahr? Da hatte ich doch recht?«

Mit einemmal fiel die Anspannung von Borric und Ghuda ab, und beide brachen in schallendes Gelächter aus. »Ja, da hast du recht gehabt«, meinte Borric. Der grinsende kleine Mann schien den Spaß genauso zu genießen wie sie, und sie konnten eine Weile gar nicht mehr aufhören zu lachen. Zuletzt liefen ihnen die Tränen übers Gesicht. Borric fragte: »Du hast alle betäubt? Wie hast du das wieder hinbekommen?«

Nakor zuckte mit den Schultern. »Ist so ein Trick.«

Borric lachte von neuem. »Und was jetzt?«

Nakor griff in seinen Rucksack und fragte: »Wollt ihr eine Orange?«

 

»Ich hätte nie geglaubt, so etwas mal zu dir zu sagen«, meinte Erland, »aber ich habe dich tatsächlich vermißt.«

Borric nickte: »Geht mir genauso. So, und was sollen wir jetzt machen?«

James schüttelte die Nachwirkungen von Nakors Betäubung ab, während Gamina noch immer nicht richtig bei Bewußtsein war.

Ghuda stand da und beobachtete die wiederbelebten Wachen, und er sah so aus, als würde er sie bei jeder falschen Bewegung in Stücke reißen, also saßen sie still da und machten keinen Ärger.

Erland war als erster wieder aufgewacht, laut Nakor, weil er der jüngste war. Die beiden Brüder hatten sich schnell darüber ausgetauscht, was jeder wußte, und sie waren zu dem Schluß gekommen, hier im Palast hatte ein riesiger Verrat stattgefunden.

James meinte: »Vielleicht können wir der Kaiserin irgendwie Bescheid geben …?«

»Wie?« fragte Borric.

»Gamina«, antwortete Erland.

Borric sah seinen Bruder verständnislos an, und der erklärte ihm: »Sie kann mit ihren Gedanken sprechen, weißt du nicht mehr?«

Borric nickte, und er wurde rot. »Dann hätte ich ja in Gedanken um Hilfe rufen können, als ich in den Palast kam, und sie hätte mich gehört.«

»Und warum hast du das nicht gemacht?« fragte James, während Gamina sich zu regen begann.

Borric grinste dümmlich. »Ich habe nicht daran gedacht.«

»Und«, fragte James, »wie bist du der Berührung ihrer Gedanken entgangen, als sie heute abend über dich gestolpert ist?«

Borric deutete mit dem Daumen auf Nakor. »Er hat es bemerkt und sie irgendwie ausgeblendet.«

James fragte: »Ihr seid ein Magier?«

Nakor machte ein unfreundliches Gesicht. »Nein. Ein Isalani. Magier sind düstere Wesen, die in Höhlen arbeiten und schreckliche Dinge tun. Sie machen große Magie. Die Menschen mögen die Magier nicht. Ich kann nur ein paar Tricks und bringe die Leute damit zum Lachen. Das ist alles.«

Während Gamina richtig zu sich kam, sagte James: »Dem Anblick der Wachen und unseres dicken Freundes dort drüben nach sind Eure Tricks zwar nicht gemein, aber nicht immer lustig.«

Nakor grinste noch breiter als gewöhnlich und meinte: »Ich danke Euch. Ich bin ziemlich gut bei dem, was ich tue, und ich dachte wenigstens, es wäre lustig.«

Gamina hatte Borric entdeckt und sagte: »Du lebst ja noch?«

»Offensichtlich«, erwiderte Borric lachend.

Gamina nahm ihn in die Arme und sagte: »Und wieso habe ich dich in der Wüste nicht gefunden?«

Borric schien die Frage zuerst nicht zu verstehen, dann begriff er langsam. »Natürlich. Diese blöde Robe, die ich vor unserem Aufbruch gewonnen habe. Die Sklavenhändler haben mich für einen Magier gehalten und mir Handschellen angelegt, mit denen Magier irgendwie ihre Kräfte nicht anwenden können.«

»Bah!« sagte Nakor. »Das würde nichts nützen, wenn diese Magier wüßten, was sie zu tun haben.«

James sagte: »Vielleicht. Auf jeden Fall stellt sich als nächstes die Frage, wie wir von hier aus zur Kaiserin kommen.«

»Das dürfte nicht schwierig sein«, meinte Nakor. »Ihr braucht mir nur zu folgen. Und ich nehme diese Kerle hier mit.«

Ghuda hatte die Wachen entwaffnet und zerrte den bewußtlosen Toren Sie ins Zimmer. Bei vier bewaffneten Gegnern, Borric, Erland, James und Ghuda, wagten die vierzehn Gefangenen nicht, irgendwelchen Ärger anzufangen.

Nirome warnte sie: »Sobald wir andere Soldaten treffen, werdet Ihr unsere Gefangenen werden. Dieser ganze Bereich wird von Männern bewacht, die Awari treu sind.«

Nakor grinste. »Schon möglich.«

Als sie den Gang erreichten, wo wieder Wachen standen, griff Nakor abermals in seinen Rucksack und holte etwas hervor. Borric und Ghuda waren schon fast gelangweilt, doch die anderen waren zutiefst erstaunt. Denn als der kleine Isalani die Hand wieder hervorholte, saß ein rot und golden gesprenkelter Falke auf ihr, der kaiserliche Vogel von Kesh, das am meisten verehrte und heiligste Symbol des Reiches. Der Falke schrie und breitete die Flügel aus, doch er blieb auf dem Handgelenk des kleinen Mannes sitzen, während der den Gang entlangging.

Die Wachen, an denen sie vorbeikamen, starrten nur den erhabenen Vogel an. Nakor sagte zu jedem Wachposten: »Bitte, kommt mit uns. Wir besuchen die Kaiserin.«

Egal, was Nirome und Toren Sie auch sagen mochten, die Wachen waren beim Anblick des Falken wie hypnotisiert. Sie gesellten sich zu den Leuten von den Inseln und der Gruppe ihrer Gefangenen, und als sie den Saal der Kaiserin betraten, folgten Nakor und seinen Gefährten an die zweihundert Mann.

Der Zeremonienmeister fragte: »Was hat das zu bedeuten?«

Borric und Erland traten vor, und Erland sagte: »Die Prinzen Borric und Erland von den Inseln wünschen eine sofortige Audienz bei Ihrer Majestät. Wir möchten mit der Kaiserin nur eine kleine Angelegenheit von Verrat besprechen.«

Die Galerie der Herren und Meister hielt gerade eine außerordentliche Sitzung ab, als die eigentümliche Prozession mit Nakor und dem Falken an der Spitze den Saal betrat. Sie erreichten das Podest und verneigten sich, und Lakeisha erhob sich halb von Ihrem Thron. »Was für eine Verrücktheit soll das jetzt wieder sein?«

Ihre Blicke suchten die Gesellschaft zu ihren Füßen ab, und plötzlich wurde ihr klar, daß Borric neben seinem Bruder stand. »Ihr – falls ich mich nicht irre – solltet doch angeblich tot sein.«

Nirome versuchte, etwas zu sagen. »Majestät, diese Verbrecher –«

Ghuda legte dem dicken Mann die Klinge auf die Schulter und sagte: »Es ist nicht höflich zu sprechen, ehe man die Erlaubnis dazu bekommen hat.« An die Kaiserin gewandt, sagte er: »Tut mir leid, Beste. Fahrt bitte fort, wenn Ihr möchtet.«

Lakeisha schien zu spüren, daß hier einige Geheimnisse gelüftet werden sollten, und sie beschloß, an der unhöflichen Ausdrucksweise des Mannes zunächst einmal keinen Anstoß zu nehmen. »Danke«, sagte sie trocken. An Nakor gewandt, sagte sie: »Beginnen wir mit Euch, kleiner Mann. Ihr wißt, den kaiserlichen Falken zu besitzen, kommt einem Todesurteil gleich.«

Nakor grinste. »Ja, Kaiserin. Aber ich besitze ihn nicht. Ich bringe den Falken nur zu Eurer Erhabenheit.« Und ohne die Erlaubnis abzuwarten, stieg der verwegene kleine Isalani die Stufen des Podestes hoch. Zwei schwarzgekleidete Izmalileibwächter wollten ihm den Weg versperren, doch er wich ihnen einfach aus und ging hinter den Thron. Dort war das leere Sonnensymbol angebracht. Der kleine Isalani setzte den Vogel darauf ab, und der Falke flatterte mit den Flügeln.

Die Kaiserin sagte: »Nur ein Männchen darf sich auf die Kaiserliche Sonne setzen, Isalani.«

»Nakor versteht, Kaiserin. Das ist ein Junge. Er wird viele kleine Falken für Euch zeugen. Ich hab ihn letztes Frühjahr in den Bergen westlich von Tao Zi gefangen. Dort oben gab es noch ein paar andere. Wenn Ihr Euren kaiserlichen Falkner hinschickt, kann er sie holen. Das Geschlecht wird wieder aufleben.«

Seit dem Tod ihrer Tochter hatte die Kaiserin nicht mehr gelächelt. Jetzt kam sie nicht umhin. Etwas in den Worten des kleinen Mannes hatte sie berührt, und sie wußte, ihr Gespräch handelte nicht nur von den seltsamen Vögeln, sondern auch von der kaiserlichen Familie. »Das ist ein sehr wertvolles Geschenk.«

Der Isalani blieb kurz vor dem Thron stehen, ehe er sich wieder auf den Weg nach unten machte, und sagte: »Ihr würdet weise daran tun, wenn Ihr den beiden Zwillingen glaubt, weil die beiden anderen« – er zeigte auf Nirome und Toren Sie – »böse Männer sind.«

Die Kaiserin betrachtete die Szene vor sich und sagte schließlich: »Prinz Erland, warum erzählt Ihr nicht einfach, was Ihr wißt, damit wir endlich etwas Licht in diese Angelegenheit bringen können.«

 

Erland und Borric erhielten die ungeteilte Aufmerksamkeit aller im Saal, während sie ihre verschiedenen Vermutungen vortrugen und einen Sinn in die Ereignisse zu bringen versuchten, die sich seit dem Überfall in der Wüste ereignet hatten. Ununterbrochen sprachen sie eine ganze Viertelstunde lang. Dann beschloß Erland die Erwägungen darüber, was zu ihrem Erscheinen hier im Saal geführt hatte, und sagte: »Was mich schließlich gänzlich von Niromes Schuld an Sojianas Tod überzeugt hat, war, daß er eine Nuß mit der bloßen Hand knacken konnte. Sojiana wurde das Genick gebrochen – diese Tat konnte nur jemand mit kräftigen Händen begehen. Locklear ist ein Meister des Schwertes, doch ihm fehlt für so etwas die nötige Kraft.« Er zeigte auf Nirome. »Das ist der Mörder. Er ist der geheimnisvolle Lord Feuer!«

Die Kaiserin erhob sich und sagte: »Mein Lord Nirome –« Doch von der Tür hörte man jemanden rufen: »Mutter!« Prinz Awari trat ein und wurde von einem Dutzend Offizieren seiner Armee, eingeschlossen die Lords Ravi und Jaka, begleitet. Er kam vor den Thron, verneigte sich und sagte: »Was hat i mit dieser schrecklichen Nachricht auf sich, Sojiana sei tot?« Die Kaiserin betrachtete das Gesicht ihres Sohnes einen Augenblick lang eingehend. »Wir sind gerade dabei, das festzustellen. Bleib und schweig eine Weile still.

Auch deine Zukunft |st von dieser Angelegenheit betroffen.« Sie wandte sich Nirome zu und sagte: »Ich wollte Euch gerade fragen, mein Lord Nirome, was Ihr angesichts dieser Anschuldigungen zu entgegnen habt?«

Der wohlbeleibte Höfling sagte: »Unser Aller Mutter –«

»Bitte«, unterbrach ihn die Kaiserin, »diesen Titel verachte ich von allen am meisten. Und im Moment besonders.«

»Höchst erhabene Herrscherin, habt Gnade. Ich tat nur, was ich als Bestes für das Reich erachtete, ich wollte nur Euren Sohn an die erste Stelle bringen. Doch ich wollte dabei nie jemanden verletzen.

Die Mordanschläge auf Prinz Borric waren nur ein Trick, damit die Männer von den Inseln die Stadt nicht erreichen sollten. Wir wollten die Aufmerksamkeit von Sojianas Anhängern in den Norden lenken, deshalb fälschten wir auch die Beichte, denen zufolge sich die Armee der Inseln zum Angriff sammelte. Doch der Mord an Eurer Tochter war nicht mein Werk! Es war Awari, der seine Rivalin beseitigen wollte.«

Prinz Awari wurde aschfahl und hatte sein Schwert schon halb aus der Scheide, als Lord Jaka ihn zurückhielt. Die Kaiserin schrie: »Genug!« Sie sah sich im Saal um und sagte: »Gibt es keinen anderen Weg zur Wahrheit als diesen?« An die Zwillinge gewandt, sagte sie: »Eure Ausführungen sind überzeugend, doch wo ist der Beweis?«

Sie sah zu Gamina hinunter. »Ihr könnt Gedanken lesen, sagt Ihr?«

Gamina nickte, doch Nirome schrie: »Sie ist die Frau eines Fremden, Majestät! Sie würde lügen, um ihrem Mann zu dienen, und dessen Anliegen sind allein die Inseln!«

Gamina wollte etwas entgegnen, doch die Kaiserin sagte: »Ich bezweifle, daß Ihr mich anlügen würdet, meine Liebe.« Sie deutete in die Runde und zeigte auf die nun gefüllte Galerie über ihr. »Doch ich weiß nicht, ob die anderen hier so freundlich wären und Euch Glauben schenken würden. Falls es Euch noch nicht zur Kenntnis gekommen ist, wir befinden uns in einer eher angespannten Lage.«

Ein Wachhauptmann der Inneren Legion eilte in den Saal und flüsterte dem Zeremonienmeister etwas ins Ohr. Der wiederum machte eine Geste, mit der er um Erlaubnis bat, sich der Kaiserin zu nähern. Sie stimmte zu, und er hastete zum Podest.

Als er die Nachricht des Hauptmanns überbracht hatte, lehnte sich die Kaiserin zurück. »Also, nun, da habt Ihr es. Uns wurde berichtet, zwei Kompanien der Palastwache hätten sich in einem Flügel verbarrikadiert, in offenem Widerstand gegen den Befehl, die Waffen niederzulegen, und in der ganzen Stadt sind bewaffnete Truppen unterwegs.«

»Nun«, sagte sie und erhob sich von ihrem Thron. »Wir sehen uns einer bewaffneten Rebellion in unserer eigenen Stadt gegenüber! In Kesh gilt der Kaiserliche Friede, und demnach wird derjenige, der zuerst sein Schwert zieht, oder derjenige, dessen Gefolgsmann er ist, mit dem Tod bestraft, möge er nun von einfacher Herkunft oder von höchstem Adel abstammen. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«

Die letzten Worte waren an Lord Ravi gerichtet, der wie erstarrt dastand.

Die Kaiserin setzte sich wieder und sagte: »Wieder einmal stehe ich Verrat und Untreue gegenüber, doch ich habe immer noch kein Mittel, mit dem ich die Wahrheit herausfinden könnte.«

Nakor räusperte sich hörbar.

»Ja?« fragte Lakeisha. »Was ist?«

»Kaiserin, es gibt eine alte Methode der Isalani, wie man die Wahrheit herausbekommen kann.«

»Ich würde mich freuen, sie zu erfahren.«

Grinsend sagte Nakor zu Ghuda: »Bring den fetten Lord nach vorn vor das Podest.« Während der Söldner dies tat, setzte Nakor seinen Rucksack auf dem Boden ab und wühlte darin herum. Nach einem Augenblick sagte er »Aha!« und zog etwas heraus.

Alle in seiner Nähe traten unwillkürlich einen Schritt zurück, denn Nakor hielt eine Kobra von unglaublicher Schönheit und Größe in der Hand. Die Schlange maß fast zwei Meter und war so dick wie der Unterarm eines Mannes. Die Schuppen glänzten wie getriebenes Gold, und die Brillenzeichnung und der Hals waren so grün wie dunkelster und klarster Smaragd. Aus Augen wie feurige Opale, in deren Blauschwarz eine rote Flamme tanzte, betrachtete die Schlange die Menge, in der sich ein erschüttertes Gemurmel breitmachte. Eine blutrote Zunge fuhr zuckend aus dem Maul, und die Kobra enthüllte beim Zischen zwei furchterregende elfenbeinfarbene Giftzähne. Sie wand sich hin und her und zischte abermals, als Nakor sie vor Nirome auf den Boden setzte. Der Höfling zuckte zurück auf die Stufen des Podestes, und Nakor sagte: »Dies ist die Schlange der Wahrheit von Sha-shú. Wer vor ihr lügt, umarmt den Tod.« Und an Nirome gewandt, fügte er fröhlich hinzu: »Es ist ein sehr schmerzhafter Tod.«

Die Schlange glitt vor Niromes Füße und richtete sich vor ihm auf, als würde sie dem wohlbeleibten reinblütigen Lord in die Augen sehen. Die breite Brillenzeichnung flackerte, und silberne Funken tanzten über den Rücken des Tieres.

Nakor sagte: »Die Schlange wird nicht zuschnappen, solange Ihr die Wahrheit sagt. Eine einzige Lüge, und Ihr sterbt. Und zwar ohne Warnung. Sie ist unfehlbar.«

Nirome konnte sich kaum bewegen, so sehr schien ihn die sich vor ihm wiegende Schlange in ihren Bann zu schlagen. Dann, als sie nur noch vielleicht einen Fuß von ihm entfernt war, sagte er:

»Genug! Ich werde alles sagen! Ich war es, der das alles von Anfang an geplant hat.«

Verschiedene Mitglieder der Galerie unterhielten sich flüsternd miteinander. Die Kaiserin fragte: »Und welche Rolle hat Awari bei dieser ganzen Sache gespielt?«

Niromes Angst schlug in Wut um, und er wandte sich der Kaiserin zu. »Awari! Dieser aufgeblasene Pfau, dieser Narr. Er dachte, ich wollte seinen Anspruch auf den Thron stärken. Nein, ich wollte ihm die Schuld für Sojianas Tod in die Schuhe schieben oder ihn zumindest so verdächtig erscheinen lassen, daß ihn niemand mehr ernsthaft als Erben des Throns in Betracht ziehen würde.«

»So«, sagte die Kaiserin und lehnte sich zurück, »du hättest also Sharana an meiner Statt auf den Thron gesetzt. Aber warum?«

»Weil Ravi und seine Verbündeten keine weitere Kaiserin akzeptiert hätten. Die Völker des Südens sind wieder einmal zum Aufstand bereit, und bei einer Rebellion der Bruderschaft des Pferdes, die den Paß durch den Ring von Kesh hält, wäre Niederkesh für alle Zeit verloren gewesen. Und Lord Jaka und die anderen Reinblütigen hätten sich niemals vor einem nichtreinblütigen Gemahl verbeugt. Also gab es nur eine Lösung.«

Lakeisha nickte. »Offensichtlich. Man hätte Sharana mit einem verheiratet, der auch einen Anspruch auf den Thron besitzt. Man hätte sie zur Gemahlin desjenigen gemacht, der nach meinem Tod zum Kaiser gekrönt werden würde.« Sie seufzte. »Und wen hätte man Besseres dafür finden können als den großen Schlichter Lord Nirome. Das einzige Mitglied der Galerie, das keine Feinde hat. Der einzige Mann, der sich gleichermaßen mit Reinblütigen und Nichtreinblütigen versteht.«

Die Kaiserin legte die Hände vors Gesicht, und einen Moment lang schien es, als würde sie weinen. Sie nahm die Hände wieder herunter, und ihre Augen waren tatsächlich rotgerändert, doch Tränen konnte man keine sehen. »Soweit sind wir also gekommen: Die besten Komplotte dienen nur noch dem Aufstieg ihrer Drahtzieher und nicht mehr dem Wohl des Kaiserreiches.« Sie seufzte laut und fragte: »Mein Lord Ravi, hätte man diesen Plan so umsetzen können?«

Der Meister der Bruderschaft des Pferdes verneigte sich. »Herrin, ich fürchte, der Verräter hat recht. Bis heute nacht dachten wir, der Prinz, Euer Sohn, wäre für Sojianas Tod verantwortlich. Wir hätten Sharana nicht als unsere Herrscherin gebilligt, doch wir hätten uns auch nicht von jemandem beherrschen lassen, an dessen Händen kaiserliches Blut klebt. Nirome wäre uns als die vernünftigste Wahl erschienen.«

Die Kaiserin schien ihre Kraft zu verlieren, und sie sank zurück in ihren Thron. »Oh, weh!« schrie sie halb. »Alles taumelt auf die Grube zu! Alles erbebt am Rande des Chaos, und nur das gnädige Schicksal hat uns diese beiden Jungen an den Hof geschickt.«

Erland sagte: »Majestät! Wenn ich Euch um eine Gunst bitten dürfte?«

Lakeisha sagte: »Euch ist das größte Unrecht zugefügt worden, scheint es, Prinz Erland. Was wünscht Ihr?«

»Ich möchte Nirome eine Frage stellen.« Und er fragte den zitternden Lord: »Locklear ist des Mordes an Sojiana beschuldigt worden. Ich habe Euch erklärt, nur ein Mann mit starken Armen und Beinen hätte sie auf solche Weise töten können. Habt Ihr sie umgebracht und meinen Freund beschuldigt?«

Nirome warf einen Blick auf die lauernde Schlange und hauchte: »Ja.«

James fragte: »Wo ist Locklear jetzt?«

Nirome wäre am liebsten in den steinernen Stufen versunken, als er sagte: »Er ist tot. Seine Leiche wurde in einer Kornkammer in den unteren Ebenen versteckt.«

Gaminas Augen begannen sich mit Tränen zu füllen, und James und die Zwillinge standen wie vom Blitz getroffen da. Sie hatten zwar insgeheim allen Hoffnungen zum Trotz befürchtet, daß Locklear höchstwahrscheinlich ermordet worden war, doch ehe sein Tod nicht bestätigt würde, hatten sie nicht wirklich daran glauben können. Borric war als erster in der Lage, etwas sagen zu können.

»Majestät, ich weiß, Kesh hat keine Schuld am Tode eines unserer Gesandten.

Das Königreich der Inseln wird keine Wiedergutmachung fordern.« Er sprach ruhig und gefaßt, doch jeder in seiner Nähe konnte die Tränen in seinen Augen stehen sehen.

Die Kaiserin erhob sich und wandte sich der Galerie zu. »Hört mein Urteil!« Sie zeigte auf Nirome. »Dieser Mann hat sich mit seinen eigenen Worten verdammt.« Sie starrte den Verräter an.

»Nirome, der du nicht länger Lord bist, mit deinen eigenen Worten hast du deine Bosheit gestanden, und für diese sollst du sterben.«

Der wohlbeleibte Mann versteifte sich und sagte: »Ich verlange, von eigener Hand sterben zu dürfen.«

»Du hast überhaupt nichts mehr zu verlangen!« bellte ihn die Kaiserin an. »Du gehörst von diesem Moment an nicht mehr zu den Reinblütigen. Du wirst keinen süßen Tod haben, den dir ein gnädiges Gift schenken würde, keine mit Leichtigkeit aufgeschnittenen Handgelenke in einem heißen Bade, in dem du in einen unendlichen Schlaf hinwegdämmern könntest. In alten Zeiten war für jene, welche ihre Könige und Königinnen verraten hatten, eine bestimmte Strafe vorgesehen. Seit Jahrhunderten wurde ein solches Urteil nicht mehr verkündet. Nirome, höre, wie dein Schicksal lautet: Die heutige Nacht wirst du in einer Zelle verbringen, in der du über deine Schandtaten und deinen bevorstehenden Tod nachdenken kannst, und bei jedem Schlag zur Viertelstunde soll dir eine Wache dieses Urteil erneut vorsagen, damit du keine Ruhe findest. In der Dämmerung schließlich wird man dich in den Tempel bringen, und dort wird die Wache dein Urteil dem Hohepriester von Guis-wa vorlesen, so daß der Jäger mit dem Roten Maul hört, daß du keines Platzes bei der Ewigen Jagd würdig bist. Dann soll man dich zum Fuß des Plateaus bringen und nackt ausziehen. Daraufhin sollen dich ein Dutzend reinblütige Wachen auspeitschen und durch die Straßen der Stadt treiben. Solltest du fallen, werden sie dir glühende Kohlen auf den Rücken legen, bis du dich wieder erhebst und weiterläufst. Am Tor der Stadt wirst du in einen Käfig gesperrt werden, und dein Urteil wird zu jeder vollen Stunde von Wachen verlesen werden, damit alle Vorbeiziehenden deine Verbrechen hören mögen. Selbst dem Niedrigsten meiner Untertanen sollen Bambusstöcke gegeben werden, damit er dich foltern kann, und so wirst du den Zorn derer spüren, die du verraten hast. Aber auch das sollst du überleben und keinen gnadenvollen Tod finden. Wenn du fast tot bist, so soll man dich aus dem Käfig holen und dir Wasser mit saurem Essig und Brot mit Salz geben, damit du dich erholen magst. Sodann wirst du mit Peitsche und glühenden Kohlen an den Rand des Overnsees getrieben, in den Sumpf, wo die ersten Könige der Reinblütigen jagten. Dort soll man dir den bitteren Wein des Betrugs und das verfaulte Fleisch des Verrats zu essen geben. Daraufhin wird dir deine Männlichkeit genommen werden. Du wirst gefesselt und in den Sumpf geworfen werden, wo sich die Krokodile des Overnsees an dir gütlich tun sollen. In jedem kaiserlichen Dekret und in jeder Aufzeichnung unserer Zeit soll dein Name ausgestrichen werden, damit nie wieder jemand von dir spricht. An seiner Stelle wird eingetragen werden ›einer, der sein Volk verriet‹, und es wird verboten werden, einem Reinblütigen je wieder den Namen Nirome zu geben. Eines Tages werden dann selbst die Götter nicht mehr wissen, wer du warst. Und in der schwarzen Leere der Namenlosen und Vergessenen soll deine Seele die ewige Einsamkeit erleiden. So habe ich es erlassen!«

Der Zeremonienmeister rief aus: »Sie, Die Kesh Ist, hat gesprochen. So soll es geschehen!«

Wachen eilten herbei und zögerten, als sie die Kobra erreichten.

Nakor machte ihnen ein Zeichen, die Schlange würde ihnen nichts tun, und die Wachen ergriffen den entsetzten Nirome. »Nein«, kreischte er, als sie ihn aus dem Saal zerrten, und seine Schreie hallten durch den riesigen Raum.

Die Kaiserin sagte zu Toren Sie: »Du, der du einmal mein Freund warst, sollst mir alle aufzählen, die an diesem Komplott beteiligt waren, und gegebenenfalls werde ich gnädig mit dir verfahren: Vielleicht wirst du eines schnellen Todes sterben, oder vielleicht wirst du nur verbannt. Solltest du dich weigern, so wirst du deinem Freund in seiner Erniedrigung und seinen Schmerzen folgen.«

Lord Toren Sie verbeugte sich und sagte: »Euer Majestät ist sehr gnädig. Ich werde alles enthüllen.«

Während er hinausgeführt wurde, machte die Kaiserin Nakor ein Zeichen. »Macht etwas mit diesem Ding.«

Der grinsende Zauberer eilte hin und fragte: »Dies hier, Kaiserin?« Er langte nach unten und ergriff die Kobra in der Mitte, und als er sich aufrichtete, hielt er nur eine Leine in der Hand. »Es ist doch nur ein Stück Seil.«

Er wickelte die Leine auf und steckte sie zurück in seinen Rucksack. Erland riß die Augen auf, doch Borric sagte: »Es ist nur ein Trick.«