Anschlag
Der Junge schrie.
Borric und Erland sahen von den Fenstern der Gemächer ihrer Eltern aus zu, wie Schwertmeister Sheldon seine Attacke gegen Nicholas startete. Der Junge schrie noch einmal aufgeregt auf, begegnete dem Angriff mit einer Parade und ging dann zum Gegenangriff über. Der Schwertmeister wich zurück.
Borric kratzte sich an der Wange, während er das Schauspiel beobachtete. »Der Junge kann ganz schön herumhüpfen, ohne Frage.« Die Prellungen, die von der Übungsstunde heute morgen herrührten, wurden immer dunkler.
Erland stimmte zu. »Er hat Vaters Fertigkeiten mit der Klinge geerbt. Und er kommt trotz seines schlimmen Beins damit zurecht.«
Beide drehten sich um, als die Tür hinter ihnen geöffnet wurde und ihre Mutter hereintrat. Anita bedeutete ihren Hofdamen, sie sollten in der gegenüberliegenden Ecke warten, wo sie sich weiter über den neuesten Klatsch unterhielten, der in Krondor die Runde machte. Die Prinzessin von Krondor stellte sich neben ihre Söhne und spähte durch das Fenster hinaus, wo Nicholas freudig einen zu weiten Ausfallschritt machte und sich plötzlich entwaffnet sah.
»Nein, Nicky! Das hast du doch kommen sehen müssen«, schrie Erland, obwohl sein kleinerer Bruder das durch die Glasscheiben wohl kaum hörten konnte.
Anita lachte: »Er gibt sich solche Mühe.«
Borric zuckte mit den Schultern, und sie wandten sich vom Fenster ab. »Für einen Jungen ist er nicht schlecht. Nicht schlechter jedenfalls, als wir in seinem Alter waren.«
Erland stimmte zu. »Der Affe.«
Plötzlich fuhr seine Mutter zu ihm herum und schlug ihm fest ins Gesicht. Sofort verstummte das Geflüster in der anderen Ecke des Zimmers, und die Frauen starrten mit aufgerissenen Augen staunend die Prinzessin an. Borric sah seinen Zwillingsbruder an, und der wirkte genauso verblüfft wie er selbst. In den ganzen neunzehn Jahren ihres Lebens hatte ihre Mutter nicht ein einziges Mal die Hand gegen einen der Jungen erhoben. Erland war mehr über die Tatsache an sich erstaunt, als daß ihm die Wange weh tat. An Anitas grünen Augen konnte man eine Mischung aus Wut und Entschuldigung ablesen. »Redet nie wieder so über euren Bruder.«
Ihr Tonfall ließ keinen Widerspruch zu. »Ihr habt ihn immer nur verspottet und ihm so mehr weh getan als das ganze unhöfliche Geraune der Adligen zusammen. Er ist ein guter Junge, und er liebt euch, und ihr macht euch ständig nur über ihn lustig und quält ihn.
Ihr seid erst einen Tag wieder im Palast, und er hat euch nur fünf Minuten gesehen, und schon stehen ihm wieder die Tränen in den Augen.
Arutha hat recht. Ich habe euch viel zu lange euer flegelhaftes Benehmen ungestraft durchgehen lassen.« Sie kehrte ihnen den Rücken zu, als wollte sie fortgehen.
Borric, der sich und seinen Bruder aus der peinlichen Situation befreien wollte, sagte: »Ach, Mutter. Du hast uns rufen lassen?
Wolltest du vielleicht etwas mit uns besprechen?«
Anita sagte: »Ich habe euch nicht rufen lassen.«
»Ich war das.«
Die Jungen drehten sich um und entdeckten ihren Vater, der in der kleinen Tür stand, die sein Arbeitszimmer mit dem Wohnzimmer der Familie verband, wie Anita diesen Teil der fürstlichen Wohnung nannte. Die beiden Brüder sahen sich an und wußten, ihr Vater würde lange genug zugeschaut und die ganze Auseinandersetzung zwischen ihnen und ihrer Mutter beobachtet haben.
Nachdem er eine Weile lang schweigend dagestanden hatte, sagte Arutha: »Wenn du uns bitte entschuldigen würdest, ich hätte mit meinen Söhnen gern etwas unter vier Augen besprochen.«
Anita nickte und bedeutete ihren Hofdamen, sie sollten ihr folgen.
Rasch leerte sich das Zimmer, und Arutha blieb mit seinen Söhnen allein zurück. Als die Tür zugefallen war, fragte Arutha: »Und wie geht es euch?«
Erland antwortete: »Nun, Vater, wenn man von der ›Übungsstunde‹ heute morgen einmal absieht, den Umständen entsprechend gut.« Er deutete auf seine verletzte Seite, die recht gut verheilte.
Arutha runzelte die Stirn und schüttelte sachte den Kopf. »James sollte mir nicht sagen, was er sich für euch ausgedacht hatte.« Er lächelte schief. »Ich habe ihn nur gebeten, er solle euch irgendwie sehr eindrücklich beibringen, welche Folgen es hat, wenn ihr nicht das tut, was von euch verlangt wird.«
Erland nickte. Borric sagte: »Nun, das kam nicht so ganz unerwartet. Du hast angeordnet, wir sollten auf schnellstem Wege nach Hause kommen, und wir haben uns ein bißchen herumgetrieben, bevor wir uns zum Palast aufgemacht haben.«
»Herumgetrieben…«, meinte Arutha und sah seinem Ältesten in die Augen, »… nun, ich fürchte, in Zukunft werdet ihr wenig Zeit haben, euch herumzutreiben.«
Er winkte die Jungen näher zu sich heran, und sie kamen zu ihm.
Er ging wieder in sein Arbeitszimmer, und die beiden folgten ihm.
Arutha setzte sich an seinen riesigen Schreibtisch. Hinter dem Schreibtisch gab es eine kleine versteckte Nische, die von einem Stein verborgen wurde, den er jetzt entfernte. Er holte ein Pergament mit dem Wappen der königlichen Familie hervor und reichte es Borric. »Lies den dritten Absatz.«
Borric las, und seine Augen wurden immer größer. »Das ist wirklich eine traurige Nachricht.«
Erland fragte: »Was ist es denn?«
»Eine Botschaft von Lyam«, erwiderte Arutha.
Borric gab das Pergament an seinen Bruder weiter. »Die königlichen Leibärzte und Priester sind überzeugt, daß die Königin keine weiteren Kinder mehr bekommen wird. Und somit wird es in Rillanon keinen Erben für den Königsthron geben.«
Arutha ging zu einer Tür im Hintergrund des Arbeitszimmers und sagte: »Kommt mit!«
Er öffnete die Tür und betrat ein Treppenhaus. Seine Söhne folgten ihm rasch, und bald standen sie auf der Spitze eines alten Turms, der sich fast in der Mitte des Palastes befand und über die Stadt Krondor erhob. Arutha begann zu sprechen, ohne sich zu vergewissern, ob seine Söhne ihm gefolgt waren.
»Als ich in eurem Alter war, habe ich in der Burg meines Vaters oft an der Brustwehr des Außenwerks gestanden. Ich habe hinunter auf die Stadt geschaut, Crydee, und auf den Hafen dahinter. Es ist ein kleiner Ort, doch in meinen Erinnerungen ist er sehr groß.«
Er sah Borric und Erland an. »Euer Großvater hat das gleiche getan, als er ein Junge war, das hat mir unser alter Schwertmeister Fannon einmal erzählt.« Einen Moment lang hing Arutha seinen Erinnerungen nach. »Ich war ungefähr in eurem Alter, als man mir den Befehl über die Garnison übertrug.« Beide Söhne hatten schon häufig Geschichten über den Spaltkrieg und die Rolle ihres Vaters darin gehört, doch diese Geschichte war anders als die, die ihr Vater, Laurie oder Admiral Trask beim Abendessen zu erzählen pflegten.
Arutha drehte sich um und setzte sich in eine der Zinnenlücken.
»Ich wollte nie Prinz von Krondor werden, Borric.« Erland setzte sich in die nächste Mauerzinne; offensichtlich waren die Worte mehr für seinen älteren Bruder als für ihn bestimmt. Sie hatten es beide oft genug gehört. Ihr Vater hatte eigentlich nie den Wunsch gehegt, regieren zu müssen. »Als ich ein Junge war«, fuhr Arutha fort, »hatte ich keinen größeren Wunsch, als Soldat zu werden, vielleicht sogar bei den Grenzbaronen.
Erst als ich den alten Baron von Hohe Burg traf, wurde mir klar, wie sehr mich die Kindheitsträume auch als Erwachsener immer noch verfolgten. Man wird sie einfach nicht so leicht los, und trotzdem muß man, wenn man die Dinge so sehen will, wie sie sind, den Standpunkt eines Kindes aufgeben.«
Sein Blick schweifte zum Horizont. Ihr Vater war stets ein offener Mann gewesen, der die Dinge aussprach, wie sie waren, und nie Schwierigkeiten damit gehabt hatte, seine Gefühle auszudrücken.
Doch nun hatte er offenbar Schwierigkeiten mit dem, was er auf dem Herzen hatte. »Borric, als du noch klein warst, wie, hast du geglaubt, würde dein Leben heute aussehen?«
Borric sah hinüber zu Erland und dann wieder zu seinem Vater.
Ein leichter Wind erhob sich und wehte ihm die dichte, schlechtgeschnittene rötlichbraune Mähne ins Gesicht. »Ich habe eigentlich nie so richtig darüber nachgedacht, Vater.«
Arutha seufzte. »Ich glaube, bei eurer Erziehung haben wir einige schwere Fehler gemacht. Als ihr beide noch kleine Jungen wart, habt ihr euch oft sehr bösartig benommen, und bei einer Gelegenheit habe ich mich sehr aufgeregt. Es war eine kleine Sache, ihr hattet ein Tintenfaß umgestoßen, allerdings dabei eine Urkunde besudelt und das Tagewerk eines Schreibers zerstört. Ich gab dir ein paar auf den Hosenboden, Borric.« Der ältere Bruder grinste bei der Erinnerung daran. Arutha erwiderte das Grinsen nicht. »Anita nahm mir noch am selben Tag das Versprechen ab, ich sollte euch nie wieder anfassen, wenn ich zornig auf euch wäre. Aber dadurch habe ich euch nur verhätschelt und euch nicht richtig auf euer späteres Leben vorbereitet.«
Erland fühlte sich peinlich berührt. Sie waren oft genug gescholten, doch selten ernsthaft bestraft worden, und – vor heute morgen – niemals körperlich.
Arutha nickte. »Ihr und ich, wir sind auf ganz verschiedene Weise erzogen worden. Euer Onkel, der König, hat den Gürtel bei mehr als einer Gelegenheit zu spüren bekommen. Ich habe nur ein einziges Mal Prügel bezogen. Eins habe ich daraufhin schnell begriffen: Wenn Vater etwas befahl, dann hatte man zu gehorchen, und zwar ohne Fragen zu stellen.« Arutha seufzte, und in diesem Seufzer lag eine Unsicherheit, die die beiden Jungen zum ersten Mal in ihrem Leben bei ihrem Vater spürten. »Wir sind alle davon ausgegangen, Prinz Randolph würde eines Tages König werden. Als er ertrunken ist, waren wir sicher, Lyam würde einen weiteren Sohn bekommen. Selbst als die Königin nur Töchter zur Welt brachte und die Hoffnungen auf einen Erben des Throns in Rillanon mehr und mehr schrumpften, haben wir nicht darüber nachgedacht, daß eines Tages du« – er stieß Borric mit dem Finger vor die Brust – »der Herrscher über dieses Volk sein würdest.«
Er sah seinen anderen Sohn an, und mit einer für ihn ungewohnten Geste langte er hinüber und legte seine Hand auf die Erlands. »Mir ist es nicht gegeben, über tiefe Gefühle zu reden, doch ihr seid meine Söhne, und ich liebe euch beide, obwohl ihr meine Geduld immer wieder auf eine harte Probe stellt.«
Beide Söhne führten sich bei dieser ungewöhnlichen Enthüllung seltsam unbehaglich. Sie liebten ihren Vater, doch genauso wie er drückten auch sie ihre Gefühle ungern so offen aus. »Wir verstehen schon«, brachte Borric als einzige Antwort hervor.
Arutha sah Borric in die Augen und fragte: »Wirklich? Versteht ihr wirklich? Dann solltet ihr wissen, von heute an seid ihr nicht mehr nur meine eigenen Söhne, Borric. Ihr seid jetzt die Söhne des Königreiches. Jeder von euch ist ein Prinz von königlichem Blut. Du sollst eines Tages König werden, Borric. Darauf mußt du dich einstellen, denn es ist so, und keine Macht der Welt kann das ändern.
Und von heute an wird euch meine Vaterliebe nicht mehr vor der Unbill des wirklichen Lebens beschützen. Wenn man König ist, hält man die Fäden in der Hand, entscheidet über Leben und Tod von Menschen. Eine einzige gedankenlose Geste kann diesen Menschen den Tod bringen, als hättet ihr die Fäden einer Marionette abgerissen.«
Zu Erland sagte er: »Zwillinge in der Thronfolge bringen oft großes Unheil mit sich und bedrohen den Frieden im Königreich.
Falls es zwischen euch einmal zu Zwistigkeiten kommen sollte, wirst du vielleicht behaupten, die Geburtsfolge wäre vertauscht worden, und viele werden sich einer solchen Forderung nach dem Thron anschließen, um ihre eigenen alten Fehden wieder aufzunehmen.
Ihr kennt beide die Geschichte von Borric dem Ersten und wie er gezwungen war, seinen Bruder, Jon den Heuchler, niederzuringen.
Und ihr habt auch davon gehört, und zwar bestimmt häufig genug, wie ich mit dem König und unserem Bruder Martin in der Gruft unserer Ahnen stand, bevor die Versammlung der Lords einberufen wurde, in der jeder von beiden berechtigte Ansprüche auf den Thron hätte erheben können. Wenn Lyam heute die Krone trägt, so hat er das Martins edler Geste zu verdanken.« Er hielt Daumen und Zeigefinger einen Zoll auseinander. »Trotzdem sind wir in jenen Tagen nur knapp von einem Bruderkrieg verschont geblieben.«
Borric fragte: »Vater, warum erzählst du uns das?«
Arutha erhob sich, seufzte und legte seinem ältesten Sohn die Hand auf die Schulter. »Weil deine Kindheit zu Ende ist, Borric. Du bist nicht mehr länger der Sohn des Prinzen von Krondor. Denn ich werde, sollte ich meinen Bruder überleben, zu deinen Gunsten auf den Thron verzichten.« Borric wollte protestieren, doch Arutha ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Lyam ist ein kräftiger Mann. Vielleicht werde ich schon alt sein, wenn er stirbt, wenn ich nicht sogar vor ihm an der Reihe bin. Jedenfalls würde eine kurze Herrschaft zwischen Lyams und deiner nicht von Vorteil sein. Du wirst der nächste König der Inseln sein.«
Er wandte sich Erland zu und sagte: »Und du wirst immer im Schatten deines Bruders stehen. Für alle Zeiten wirst du einen Schritt vom Thron entfernt sein, doch niemals darauf sitzen dürfen. Man wird dich stets um Gefallen und um Stellungen bitten, doch du wirst nie selbst welche vergeben können; alle werden dich nur als Sprungbrett zu deinem Bruder ansehen. Wirst du mit diesem Schicksal fertigwerden?«
Erland zuckte mit den Schultern. »Das scheint mir gar nicht so ein schlechtes Schicksal zu sein, Vater. Ich werde Ländereien und Titel besitzen und ausreichend Verantwortung zu tragen haben, da bin ich mir sicher.«
»Noch mehr. Du wirst Borric in allen Dingen zur Seite stehen müssen, auch dann, wenn du mit seinen Entscheidungen vielleicht nicht einverstanden sein wirst. Du wirst nie öffentlich deine eigene Meinung kundtun dürfen. Das muß so sein. Und das kann ich gar nicht genug betonen. Zukünftig darfst du niemals, wirklich niemals, dem Willen des Königs in der Öffentlichkeit entgegentreten.« Er trat ein Stück zur Seite und sah sie beide abwechselnd an. »Ihr habt in eurem Leben nur Frieden kennengelernt. Die Streitigkeiten an der Grenze sind schließlich nur Kleinigkeiten.«
Erland sagte: »Für diejenigen von uns, die dort die Kämpfe gefochten haben, aber nicht! Menschen sind dabei zu Tode gekommen, Vater.«
Arutha sagte: »Ich rede von Völkern, von Dynastien, vom Schicksal ganzer Generationen. Ja, bei den Grenzstreitigkeiten sind Menschen ums Leben gekommen, damit dieses Land und sein Volk in Frieden leben können.
Doch es gab eine Zeit, als der Krieg allgegenwärtig war, als die Grenzgefechte mit Kesh jeden Monat neu aufflammten und als die queganischen Galeeren unsere Schiffe nach Belieben kaperten, als die Eindringlinge aus der Welt der Tsurani große Teile vom Lande eures Großvaters besetzt hielten – und das neun Jahre lang.
Ihr werdet viele Dinge aufgeben müssen, meine Söhne. Ihr werdet wahrscheinlich Frauen heiraten müssen, die euch wie Fremde erscheinen. Ihr werdet viele der Rechte aufgeben müssen, die für einfache Leute so selbstverständlich sind: das Recht, eine Taverne zu betreten und mit den Leuten zu trinken, das Recht, einfach aufzubrechen und in eine andere Stadt zu reisen, das Recht, aus Liebe zu heiraten und in Ruhe dabei zuzusehen, wie eure Kinder aufwachsen, ohne die Angst zu haben, sie für irgendwelche Pläne mißbrauchen zu lassen.« Er ließ seinen Blick über die Stadt schweifen und fügte hinzu: »Ihr werdet nicht das Recht haben, am Ende eines Tages mit eurer Frau zusammenzusitzen, die kleinen Dinge des Lebens zu besprechen und euch einfach wohl zu fühlen.«
Borric sagte mit belegter Stimme: »Ich glaube, ich verstehe.«
Erland nickte nur.
Arutha sagte: »Gut, denn in einer Woche brecht ihr nach Groß-Kesh auf, und von dem Moment an seid ihr die Zukunft des Königreichs.« Er machte sich zu der Treppe auf, die hinunter in den Palast führte, und blieb noch einmal stehen. »Ich wünschte, ich könnte euch das alles ersparen, doch das kann ich nicht.« Dann ging er davon.
Beide Jungen saßen eine Weile schweigend da, bis sie sich wie ein Mann umdrehten und auf den Hafen hinaussahen. Die Nachmittagssonne strahlte heiß auf sie herab, und nur die Brise vom Bitteren Meer verschaffte ihnen ein wenig Abkühlung. Im Hafen unter ihnen fuhren Boote, Last- und Stakkähne zwischen den Anlegestellen und den riesigen Segelschiffen, die in der Bucht vor Anker lagen, hin und her und beförderten Lasten und Passagiere. In der Ferne tauchten weiße Punkte auf, Handelsschiffe von der Fernen Küste, dem Königreich Queg, den Freien Städten von Yabon oder dem Kaiserreich Groß-Kesh.
Endlich löste sich die Anspannung auf Borrics Gesicht, und er grinste breit. »Kesh!«
Erland lachte. »Ja, auf ins Herz von Groß-Kesh!«
Beide lachten bei der Aussicht auf fremde Städte und Menschen, bei der Aussicht auf eine Reise in ein Land, welches als fremdartig und geheimnisvoll galt. Und die Worte ihres Vaters wurden mit dem Wind nach Osten verweht.
Manche Bräuche überdauern Jahrhunderte, andere sind schon bald wieder verschwunden. Manche bürgern sich still und heimlich ein, und andere treten mit Fanfarenstößen auf. In den vergangenen Jahren war es zu einem allgemeinen Brauch geworden, den Lehrjungen und anderen Dienern den Nachmittag und Abend des sechsten Tages der Woche freizugeben. Und dieser Brauch hatte sich noch weiter entwickelt: Nun wurden üblicherweise die Geschäfte am Sechstag schon mittags geschlossen, und der Siebentag galt ohnehin als Tag der Muße und der Gottesdienste.
In den letzten Jahren hatte sich allerdings noch eine weitere Sitte verbreitet. Vom ersten Sechstag an, der der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche folgte, begannen Jungen und heranwachsende Männer, Lehrjungen und Dienstboten, Gemeine und Adlige mit den Vorbereitungen. Denn nach sechs weiteren Wochen, nach dem Feiertag der Ersten Schneeschmelze, begann die Zeit des Fußballs, oftmals trotz unfreundlichen Wetters.
Das Spiel, das man einst als Faßball bezeichnet hatte, wurde schon so lange gespielt, wie Jungen aus Flicken genähte Bälle in Fässer traten. Vor zwanzig Jahren hatte der junge Prinz Arutha seinem damaligen Zeremonienmeister aufgetragen, ein Regelwerk für dieses Spiel zu entwerfen, was hauptsächlich aus Sorge um die Junker und die Lehrjungen geschehen war, denn das Spiel war bis zum äußersten rauh. Jetzt hatte der Fußball seinen festen Platz im Leben der Menschen erobert; wenn das Frühjahr nahte, begann die Zeit des Fußballs.
Das Spiel war in allen Schichten gleichermaßen beliebt: von kleinen Jungen, die auf freien Plätzen spielten, bis hin zu einer Stadtliga, in der nach Gildenzugehörigkeit oder von reichen Adligen aufgestellte Mannschaften gegeneinander antraten. Überall sah man Spieler, die hin und her rannten und versuchten, einen Ball ins Netz zu treten.
Die Menge tobte vor Begeisterung, als sich der schnellste Stürmer der Blauen aus dem Gewühl löste und mit dem Ball auf das Tor der anderen Mannschaft zulief. Der Torwart der Roten duckte sich, bereit, nach dem Ball zu springen. Mit einer Körpertäuschung brachte der blaue Spieler den Roten aus dem Gleichgewicht und schoß dann an seiner anderen Seite vorbei. Der Torwart stand mit den Händen in der Hüfte da und verfluchte sich selbst, während die blauen Spieler ihren Torschützen umringten.
»Ach, das hätte er doch kommen sehen müssen«, bemerkte Locklear. »Das war so offensichtlich. Ich hab es ja selbst von hier oben gesehen.«
James lachte. »Und warum gehst du dann nicht runter und spielst für ihn?«
Borric und Erland fielen in James’ Gelächter ein. »Klar, Onkel Locky. Wir haben schließlich hundertmal gehört, wie du und Onkel Jimmy das Spiel zu dem gemacht habt, was es jetzt ist.«
Locklear schüttelte den Kopf. »Das war doch eine ganz andere Sache.« Er betrachtete die Tribünen um das Spielfeld herum, die ein gewiefter Händler aufgestellt und dann mehr und mehr erweitert hatte, bis sich viertausend Bürger hier versammeln und dem Spiel zusehen konnten. »Bei uns gab es damals noch Fässer, und da durfte man nicht einfach davorstehen. Diese Tore mit ihren Netzen und diese Torwarte und all diese anderen Regeln, die euer Vater angeordnet hat…«
Borric und Erland beendeten den Satz wie aus einem Mund: »… das macht doch keinen Spaß mehr.«
Locklear sagte: »Das stimmt doch auch –«
Erland unterbrach ihn: »Nicht genug Blutvergießen!«
»Keine gebrochenen Arme! Keine ausgestochenen Augen!« fügte Borric lachend hinzu.
James meinte: »Eigentlich ist das besser. Es gab eine Zeit –«
Die beiden Brüder schnitten eine Grimasse. Sie wußten, jetzt würden sie die Geschichte hören, wie Locklear von einem Hufeisen getroffen worden war, das ein Lehrjunge unter seinem Hemd verborgen und dann nach ihm geworfen hatte. Und danach würden sich die beiden Barone ihre Meinung darüber sagen, welchen allgemeinen Wert diese Regeländerungen hatten und welche Regeln das Spiel besser machten und welche es behinderten.
Als Borric jedoch keine weitere Bemerkung von James hörte, drehte er sich zu ihm um. James sah gar nicht mehr dem Spiel zu, das gleich zu Ende sein würde, sondern er hatte seine Augen auf einen Mann gerichtet, der fast am Ende der Reihe über den Baronen saß.
Durch ihren Rang und ein wenig an der richtigen Stelle eingesetztes Geld hatten die Söhne des Prinzen von Krondor zwei der besten Plätze für dieses Spiel bekommen, genau an der Mittelfeldlinie und auf halber Höhe der Tribüne.
James sagte: »Locky, sag mal, ist es kalt?«
Locklear wischte sich den Schweiß von der Stirn und erwiderte:
»Du machst wohl Witze, was? Es ist einen Monat nach Mittsommer, und ich fühle mich wie geröstet.«
James deutete mit dem Daumen auf das Ende der Reihe und fragte: »Und wieso hält es unser Freund dahinten dann für notwendig, einen so schweren Mantel zu tragen?«
Locklear sah an seinem Freund vorbei und bemerkte am Ende der Reihe einen Mann, der sich in einen großen Umhang gehüllt hatte.
»Vielleicht ein Priester?«
»Ich kenne keinen Orden, dessen Mitglieder irgendeinen Gefallen am Fußball finden.« James sah zur Seite, als sich der Mann ihm zuwandte. »Beobachte ihn unauffällig über meine Schulter, so, als würdest du mir zuhören. Was macht er jetzt?«
»Im Moment nichts.« Ein Trompetenstoß verkündete das Ende des Spiels. Die Blauen, eine Mannschaft, die von der Müllergilde und der ehrenwerten Vereinigung der Eisenwarenhändler unterstützt wurde, hatten die Roten geschlagen, deren Mannschaft von einer Gruppe Adliger unterstützt wurde. Und da diese Schirmherrschaften dem Publikum bekannt waren, wurde das Ergebnis des Spiels mit allgemeiner Begeisterung aufgenommen.
Die Zuschauer verließen die Tribüne, und der Mann im Mantel stand auf. Locklear riß die Augen auf und sagte: »Er nimmt etwas aus seinem Ärmel.«
James fuhr gerade noch rechtzeitig herum, um zu erkennen, wie der Mann ein Rohr an seine Lippen hob und in die Richtung der Prinzen zielte. Ohne zu zögern stieß James die beiden heftig vorwärts, und sie stolperten eine Reihe nach unten. Der Mann, der vor ihnen gestanden hatte, keuchte würgend und wollte sich an den Hals fassen. Doch er brachte diese Bewegung nie zu Ende, denn als sich seine Hand dem Pfeil näherte, der aus seinem Hals ragte, brach er zusammen.
Locklear reagierte nur einen Augenblick später als James.
Während sich James und die Zwillinge ausgestreckt auf den Boden warfen und dabei einige der Zuschauer umstießen, die sie daraufhin wütend beschimpften, zog Locklear das Schwert und rannte hinter der Gestalt in Mantel und Kapuze her. »Wachen!« rief er, denn vor den Tribünen war eine Ehrenwache postiert.
Als Antwort auf seinen Ruf hörte er Stiefeltritte auf den Holzstufen, da die Soldaten des Prinzen sofort losgelaufen waren, um die fliehende Gestalt abzufangen. Ohne sich viele Gedanken über die blauen Flecke zu machen, die sie womöglich verursachten, schoben die Wachen die unschuldigen Zuschauer grob aus dem Weg. Und die Menge begriff es stillschweigend sofort: Irgend etwas auf der Tribüne stimmte nicht. Während die Umstehenden zur Seite hasteten, wollten die weiter Entfernten die Gründe für die Unruhe wissen.
Der Mann im Mantel sah die Wachen, die bis auf einige Meter herangekommen waren. Zwischen ihm und den Soldaten befanden sich nur noch wenige Menschen. Er legte die Hand auf das Treppengeländer, schwang sich seitlich hinüber und fiel etwa drei Meter tief. Locklear, der nun das Geländer erreichte, hörte einen lauten Plumps und einen Schmerzensschrei.
Zu Boden geworfen, betrachteten zwei Bürger die leblose Gestalt, die neben ihnen lag. Einer der beiden Männer schob sich, ohne aufzustehen, rückwärts davon, der andere krabbelte hektisch zur Seite. Locklear schwang sich über das Geländer, landete auf den Füßen und richtete die Schwertspitze auf den am Boden liegenden Mann. Die Gestalt im Mantel bewegte sich überraschend und sprang auf den jungen Baron zu.
Dem Kerl gelang es, den völlig überraschten Locklear zu überwältigen. Er faßte den Baron um den Bauch und drückte ihn mit Wucht gegen eine Stütze der Tribüne.
Locklear blieb die Luft weg, als er gegen den schweren Holzbalken gestoßen wurde, doch es gelang ihm, den Kerl mit dem Heft seines Schwertes hinter das Ohr zu schlagen. Der Mann stolperte zur Seite und wollte offensichtlich lieber fliehen als weiter kämpfen, doch den lauter werdenden Rufen nach näherten sich die Wachen. Er wandte sich um, schlug nach Locklear, welcher versuchte, wieder zu Atem zu kommen, und traf den Baron mit der Faust am Ohr.
Schmerz und Verwirrung überwältigten Locklear, während sein Gegner in der Dunkelheit unter den Tribünen verschwand. Der Baron schüttelte den Kopf, damit er wieder zu Sinnen kam, dann wandte er sich um und eilte dem Mann hinterher.
In der plötzlichen Dunkelheit unter der Tribüne konnte sich der Mann überall versteckt halten. »Hier drin!« schrie Locklear als Antwort auf die fragenden Rufe von draußen, und binnen weniger Augenblicke stand ein halbes Dutzend Wachen bei ihm. »Verteilt euch und seid vorsichtig.«
Die Männer taten wie befohlen und schlichen langsam unter der Tribüne voran. Die Männer im vorderen Teil der Tribüne mußten gebeugt gehen, da der unterste Absatz nicht höher als eineinhalb Meter war. Einer der Soldaten ging voran und stach mit dem Schwert in die Dunkelheit, falls sich der Flüchtige dort ganz vorn unter der Tribüne verkrochen hatte. Über ihnen verließen die Bürger weiterhin die Zuschauerränge, und ihre Sandalen und Stiefel polterten laut über das Holz. Doch nach wenigen Minuten war der Lärm verstummt.
Dann hörten sie plötzlich vor sich Kampfgeräusche, und Locklear und seine Männer hasteten vorwärts. In der Dunkelheit hielten zwei Gestalten eine dritte fest. Ohne zu erkennen, wer nun wer war, rammte Locklear mit der Schulter den nächststehenden und warf so alle drei zu Boden. Weitere Wachen warfen sich auf die Raufenden, bis der Kampf allein durch ihr erdrückendes Gewicht beendet war.
Dann erhoben sich die Wachen rasch, und die Kämpfenden wurden auf die Beine gezerrt. Locklear grinste; der eine von ihnen war James, der andere Borric. Er betrachtete die leblose Gestalt des Mannes im Mantel. »Zieht ihn hinaus ins Licht«, befahl er den Wachen. Und daraufhin fragte er James: »Ist er tot?«
»Nun, womöglich habt ihr ihm das Genick gebrochen, als ihr alle auf ihn draufgesprungen seid. Meins hätte auch beinahe dran glauben müssen.«
»Wo ist Erland?« frage Locklear.
»Hier«, hörte er die Antwort aus der Dunkelheit. »Ich hab mich an der Seite gehalten, falls der Kerl an diesen beiden vorbeikommt«, meinte er und zeigte auf James und Borric.
»Du meinst, du wolltest deine verletzte Seite schonen«, entgegnete Borric grinsend.
Erland zuckte mit den Schultern. »Kann schon sein.«
Sie folgten den Wachen, die die leblose Gestalt trugen, und traten wieder in die Nachmittagssonne. Weitere Wachen hatten den Eingang zu dem Raum unter den Tribünen abgeriegelt.
Locklear beugte sich vor. »Wollen wir mal sehen, wen wir hier haben.« Er zog die Kapuze zurück, und ein Augenpaar starrte leer in den Himmel. »Er ist tot.«
James kniete sich sofort neben den Mann und drückte dessen Mund auf. Er roch daran und sagte: »Hat sich vergiftet.«
»Wer ist das? Und wieso wollte er dich töten?« fragte Erland.
»Doch nicht mich, du Dummkopf«, brauste James auf. Er zeigte auf Borric. »Er wollte deinen Bruder umbringen.«
Eine Wache trat neben ihn. »Mein Lord, der Mann, den der Pfeil getroffen hat, ist tot. Er starb wenige Augenblicke, nachdem er verwundet wurde.«
Borric wurde plötzlich nervös, zwang sich aber zum Lächeln.
»Aber wieso sollte mich jemand umbringen wollen?«
Erland erwiderte angestrengt lustig: »Vielleicht ein eifersüchtiger Ehemann?«
James meinte: »Nicht dich, Borric conDoin.« Er betrachtete die Zuschauermenge, als suche er nach weiteren Meuchelmördern.
»Jemand wollte den zukünftigen König der Inseln töten.«
Locklear schlug den Mantel des Mannes zurück und enthüllte einen schwarzen Rock. Die Haut des Meuchlers war dunkel, sogar dunkler als die von Gardan, und somit handelte es sich um einen Mann von keshianischer Abstammung, was in diesem Teil des Königreiches durchaus nichts Außergewöhnliches war. In jeder Schicht der Gesellschaft von Krondor gab es braun- oder schwarzhäutige Menschen. Doch dieser Mann trug eigenartige Kleider: einen Rock aus teurer schwarzer Seide und weiche Pantoffeln, wie sie die Prinzen noch nie zuvor gesehen hatten.
James betrachtete die Hände des Toten und bemerkte einen Ring mit einem dunklen Stein, dann suchte er nach einer Halskette, fand jedoch keine. »Was machst du da?«
»Alte Angewohnheit«, war alles, was aus Jimmy herauszukriegen war. »Jedenfalls ist er kein Nachtgreifer«, meinte er. Die Nachtgreifer gehörten zur legendären Gilde der Assassinen. »Aber womöglich steckt noch etwas Schlimmeres dahinter.«
»Was?« fragte Locklear, der sich noch allzugut daran erinnern konnte, wie die Nachtgreifer vor zwanzig Jahren Arutha hatten umbringen wollen.
»Er ist aus Kesh.«
Locklear beugte sich vor und sah sich den Ring genau an. Mit aschfahlem Gesicht erhob er sich wieder. »Noch schlimmer. Er ist ein Mitglied des Kaiserlichen Hauses von Kesh.«
Alle im Zimmer schwiegen. Diejenigen, die auf den im Kreis angeordneten Stühlen saßen, bewegten sich behutsam, als würde sich das Unbehagen über den Attentatsversuch auf Borric im Knarren des Leders und des Holzes, im Rascheln der Kleiderstoffe und im Klimpern der Juwelen ausdrücken.
Herzog Gardan rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. »Es ist widersinnig. Was würde Kesh gewinnen, wenn sie ein Mitglied Eurer Familie ermorden würden? Wünscht sich die Kaiserin den Krieg?«
Erland pflichtete ihm bei. »Sie hat so hart wie jeder andere gearbeitet, um den Frieden zu erhalten, zumindest wenn man den ganzen Berichten Glauben schenken will. Warum sollte sie Borrics Tod wünschen? Wer –«
Borric unterbrach seinen Bruder. »Derjenige – wer auch immer –, der Krieg zwischen dem Königreich und dem Kaiserreich wünscht!«
Locklear nickte. »Die Lage ist doch eindeutig. Der Mordversuch war so durchsichtig, man hält es kaum für möglich.«
»Dennoch…«, dachte Arutha laut nach, »was wäre, wenn dieser Meuchelmörder gar keinen Erfolg haben sollte? Ein Täuschungsmanöver. Was, wenn man mich dazu bringen wollte, meine Gesandten nicht nach Kesh zu schicken und meine Söhne hier zu Hause zu behalten?«
Gardan nickte. »Und dadurch würdet Ihr das Kaiserliche Haus von Kesh beleidigen.«
James, der sich hinter Arutha an die Wand gelehnt hatte, meinte: »Wir haben schon einiges in dieser Richtung getan, indem wir ein Mitglied des Kaiserlichen Hauses ins Jenseits befördert haben. Er war vielleicht nur ein sehr entfernter Cousin, doch nichtsdestotrotz ein Cousin.«
Gardan rieb sich erneut die Nasenwurzel, eine Geste, die eher seine Niedergeschlagenheit als seine Erschöpfung ausdrückte. »Und was soll ich nun dem keshianischen Gesandten mitteilen? ›Ach, wißt Ihr, wir haben da diesen jungen Kerl gefunden, ein Mitglied Eures Kaiserlichen Hauses. Er hat sich in Krondor aufgehalten, aber davon hatten wir leider keine Ahnung. Ach, und wir sind zutiefst betrübt: Unglücklicherweise kam er ums Leben. Ach, dabei fällt mir ein, er wollte doch tatsächlich Prinz Borric ermorden.‹«
Arutha lehnte sich in seinem Stuhl zurück, legte beide Daumen unter das Kinn, drückte beide Zeigefinger an die Stirn und formte so ein Zelt über der Nase. Er starrte abwesend vor sich hin, eine Geste, die alle Anwesenden seit Jahren kannten. Schließlich sah er James an.
»Wir können die Leiche einfach verschwinden lassen«, schlug der junge Baron vor.
Gardan fragte: »Wie bitte?«
James richtete sich auf. »Wir schaffen die Leiche runter in die Bucht und werfen sie ins Wasser.«
Erland grinste. »Ziemlich rauhe Behandlung für ein Mitglied des Kaiserlichen Hauses von Kesh, würde ich sagen.«
Arutha fragte: »Warum?«
James setzte sich auf die Kante von Aruthas Schreibtisch. Er konnte es sich leisten, denn diese Besprechungen mit Mitgliedern der Familie und sehr nahestehenden Beratern waren im Laufe der Jahre immer zwangloser geworden. »Er war kein offizieller Gast der Stadt.
Er war hier, gut, aber woher sollten wir das wissen? Niemand konnte das wissen. Und wenn es hier Keshianer gibt, die von seiner Gegenwart wußten, dann kannten sie auch den Grund seiner Anwesenheit. Und deshalb bezweifle ich, ob sich jemand nach seinem Wohlergehen erkundigen wird. Er ist jetzt ein vergessener Mann, solange wir die Aufmerksamkeit nicht auf seinen Verbleib lenken.«
Trocken fügte Borric hinzu: »Und auf seinen Zustand.«
»Wir könnten natürlich behaupten, er hätte Borric ermorden wollen«, räumte James ein, »doch alles, was wir haben, ist eine keshianische Leiche, ein Blasrohr und ein paar vergiftete Pfeile.«
»Und einen toten Händler.«
»Tote Händler kann man an jedem beliebigen Tag im westlichen Königreich finden, mein lieber Herzog«, bemerkte James. »Ich würde vorschlagen, wir nehmen ihm seinen Ring ab und werfen ihn in die Bucht. Sollen die Keshianer, die ihn geschickt haben, doch eine Weile über seinen Verbleib im unklaren bleiben.«
Arutha sagte eine Zeitlang gar nichts, doch endlich nickte er zustimmend. James machte Locklear mit dem Kopf ein Zeichen, und der wußte Bescheid: Er sollte für diese Aufgabe Männer der fürstlichen Palastwache auswählen. Der jüngere Baron schlüpfte durch die Tür hinaus. Er besprach sich draußen kurz mit Leutnant William und kehrte anschließend wieder auf seinen Platz zurück.
Arutha seufzte. Er sah James an und sagte: »Kesh. Was gibt es sonst noch?«
James zuckte mit den Schultern. »Hinweise. Gerüchte. Der neue Gesandte ist… eine seltsame Wahl. Er ist ›reinblütig‹, doch er ist kein Mitglied des Kaiserlichen Hauses – der Meuchelmörder wäre eine wesentlich einleuchtendere Wahl gewesen. Der Gesandte ist aus rein politischen Gründen ernannt worden. Gerüchten zufolge hat er offensichtlich am Hof von Kesh mehr Einfluß als mancher von kaiserlichem Blute. Mir ist irgendwie schleierhaft, wie er zu dieser großen Ehre gekommen ist – außer, um vielleicht eine Gruppe am Hofe damit zu beschwichtigen.«
Arutha nickte. »Da das alles keinen richtigen Sinn ergibt, müssen wir das Spiel seinen Regeln gemäß mitspielen.« Er schwieg einen Moment lang, und niemand sagte etwas, während der Prinz nachdachte. »Schickt unseren Leuten in Kesh eine Nachricht. Die Spione sollen die Lage klären, bevor meine Söhne ankommen. Wenn uns in Kesh jemand in einen Krieg hineinziehen will, dann wäre ein Anschlag auf die Neffen des Königs ein einleuchtendes Mittel. Ihr werdet die Prinzen nach Kesh begleiten. Ich glaube, niemand findet sich in einem solchen Sumpf besser zurecht als du.«
Baron Locklear fragte: »Hoheit?«
Arutha sah den anderen jungen Baron an und sagte: »Du wirst Baron James begleiten, und zwar als Zeremonienmeister und Protokollchef, und was es sonst noch für dumme Aufgaben gibt. Wir werden schon etwas finden, wo Locklear seinen berüchtigten Charme einsetzen kann. Setzt Hauptmann Valdis in Kenntnis: Er soll deine Aufgaben als Feldmarschall übernehmen. Und Cousin William wird die Führung der Palastwache übernehmen.« Arutha trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Für diese Reise wirst du deine Ämter und Würden niederlegen«, sagte er an James gerichtet. »Du wirst lediglich als Lehrer mitreisen. So hast du alle Freiheiten und kannst kommen und gehen, wie du willst.«
James konnte Aruthas Launen besser deuten als jeder andere, der nicht zur Familie gehörte. Die Denkvorgänge des Prinzen waren so vielschichtig und tiefgehend wie die eines Schachgroßmeisters; Arutha plante alle denkbaren Folgen so viele Züge wie möglich im voraus.
James bedeutete den Jungen und Locklear mit einer Geste, mit ihm nach draußen zu kommen, und als alle vier auf dem Gang standen, sagte er: »Wir brechen früh am Morgen auf.«
Borric entgegnete: »Es gibt keinen Grund, warum wir nicht erst in drei Tagen aufbrechen sollten.«
James erwiderte: »Offiziell schon. Doch falls dein keshianischer Freund hier noch irgendwelche Helfershelfer hat, würde ich es vorziehen, wenn sie unsere Pläne nicht kennen würden.« Er blickte Locklear an. »Ein kleiner berittener Trupp, zwanzig Wachen in Söldnerkleidung. Schnelle Pferde. Und schick eine Nachricht nach Shamata, denn wir werden frische Tiere und Vorräte für zweihundert Reiter brauchen.«
Locklear wandte ein: »Wir werden zur selben Zeit wie die Nachricht in Shamata eintreffen, und zweihundert –«
James schnitt ihm das Wort ab. »Wir reiten nicht nach Shamata. Aber sie sollen glauben, wir würden dorthin reisen. Wir reiten allerdings nach Stardock.«