Ausbildung
Er erhob sich in der Dunkelheit.
Dann warf er sich eine einfache, weiße Robe über, ein Kennzeichen seiner Stellung, und verließ seine Zelle. Er wartete draußen vor dem kleinen, einfachen Raum, der eine Schlafmatte, eine einzige Kerze und ein Regal für Schriftrollen enthielt: alles, was man für seine Ausbildung als notwendig erachtete. Am Ende des Ganges konnte er die anderen sehen. Sie waren alle einige Jahre jünger als er selbst, und jeder stand schweigend vor der Tür seiner Zelle. Der erste schwarzgewandete Meister kam den Korridor entlang und trat vor einen hin. Ohne ein Wort nickte der Mann, der andere schloß sich ihm an, und hintereinander marschierten sie in der Dämmerung davon. Das Morgengrauen sandte sein sanftes, graues Licht durch die hohen, schmalen Fenster des Ganges. Wie auch all die anderen löschte er beim ersten Anzeichen des Tages die Fackel an der Wand gegenüber seiner Tür. Ein anderer Mann in Schwarz kam den Gang entlang, und ein weiterer wartender Jugendlicher ging hinter ihm her. Dann folgte ein dritter, ein vierter. Nach einer Weile fand er sich allein. Der Gang lag in Schweigen.
Eine Gestalt tauchte aus der Dunkelheit auf. Sein Gewand verbarg sein Kommen, bis er nur noch wenige Schritte entfernt war. Er trat vor den jungen Mann in Weiß und nickte und wies dann auf den Korridor. Der Jugendliche ging hinter seinem schwarzgekleideten Führer her. Sie schritten eine Reihe fackelerleuchteter Gänge entlang, bis ins Herz des großen Gebäudes hinein. Hier war das Heim des jungen Mannes, solange er sich erinnern konnte. Bald kamen sie durch eine Reihe niedriger Tunnel, die alt und muffig rochen.
Der Mann in Schwarz hielt vor einer Holztür an, schob einen Riegel beiseite und öffnete sie. Der Jüngling trat hinter dem anderen ein und blieb vor einer Reihe hölzerner Tröge stehen. Ein jeder davon war halb so hoch und halb so dick wie ein Mann. Einer stand am Boden, und die anderen waren über ihm gruppiert, stufenförmig, einer über dem anderen. Alle hatten unten ein einziges Loch, das über dem darunterstehenden Trog gelagert war. Im untersten plätscherte Wasser, als der Boden unter ihren Schritten bebte. Der Mann in Schwarz wies auf einen Eimer, drehte sich um und ließ den jungen Mann in Weiß allein.
Dieser hob sogleich den Eimer auf und machte sich an seine Arbeit. Alle Befehle wurden denen in Weiß ohne Worte gegeben, und er hatte auch schnell gelernt, daß die in Weiß nicht sprechen durften. Er wußte, daß er es konnte, denn er verstand das Konzept und hatte leise versucht, ein paar Worte zu formen, während er im Dunkeln auf seiner Matte lag. Wie bei so vielen anderen Dingen auch verstand er die Tatsache, ohne allerdings sagen zu können, wie es dazu kam. Er wußte, daß er schon existiert hatte, ehe er zum erstenmal in seiner Zelle erwachte. Er war aber nicht im mindesten beunruhigt durch diese Lücke in seinem Gedächtnis. Irgendwie erschien es ihm richtig.
Er begann mit seiner Arbeit. Wie so viele andere Dinge, die man ihm auftrug, schien auch dies ein unmögliches Unterfangen. Er nahm den Eimer und füllte den obersten Trog aus dem untersten.
Wie an den Tagen zuvor, tropfte das Wasser vom obersten in jeden folgenden Trog hinunter, bis der Inhalt des Eimers sich schließlich wieder im untersten Trog befand. Stur setzte er seine Arbeit fort, ließ sein Hirn leer werden, während sein Körper die sinnlose Aufgabe weiterführte.
Wie so oft, wenn er sich selbst überlassen blieb, hüpfte sein Geist von einem Bild zum ändern.
Da waren leuchtende Blitze, Umrisse und Farben, die ihm aber entschlüpften, wenn er versuchte, mit geistigen Fingern danach zu greifen. Zuerst war da der kurze Eindruck eines Baches, krachende Wellen gegen Felsen, schwarze, verwitterte Steine. Kämpfen. Eine merkwürdige, weiße, kalte Substanz lag am Boden – ein Wort, Schnee, das genauso schnell verging, wie es gekommen war.
Ein Raum in einem hohen Turm. All das ging mit blendender Schnelligkeit vorbei, und nur ein schwacher Eindruck blieb zurück.
Tag für Tag erklang eine Stimme in seinem Kopf, und sein Verstand antwortete, während er seine endlose Aufgabe fortsetzte. Die Stimme pflegte eine einfache Frage zu stellen, und sein Verstand antwortete. Sollte dies nicht korrekt geschehen sein, dann wurde die Frage wiederholt.
Wurden mehrere falsche Antworten gegeben, dann hörte die Stimme auf, ihre Fragen zu stellen.
Manchmal kehrte sie dann im Verlaufe des Tages wieder, manchmal nicht.
Der weißgewandete Arbeiter spürte den vertrauten Druck gegen den Stoff seiner Gedanken.
– Was ist das Gesetz? – fragte die Stimme.
– Das Gesetz ist die Struktur, die unser Leben umgibt und die ihm Bedeutung verleiht – antwortete er.
– Welches ist die höchste Verkörperung des Gesetzes? – Das Kaiserreich ist die höchste Verkörperung des Gesetzes – Was bist du? – kam die nächste Frage.
– Ich bin ein Diener des Kaiserreichs - Der Gedankenkontakt zitterte einen Augenblick und kam dann zurück, als würde der andere sorgfältig über seine folgende Frage nachdenken. – In welcher Weise ist es dir gestattet, zu dienen ?
Diese Frage war schon mehrmals gestellt worden, und immer war die Reaktion auf seine Antwort diese innere, schweigende Leere gewesen, die ihm sagte, daß dies nicht korrekt gewesen war. Dieses Mal überlegte er sorgfältig. Er strich all die Antworten, die er früher gegeben hatte, und auch diejenigen, die Kombinationen oder Fortführungen der früheren, falschen waren.
Schließlich antwortete er, – Wie ich es für richtig halte. Eine Woge von Gefühl stürzte von außen auf ihn ein, ein Gefühl der Billigung. Schnell folgte eine weitere Frage.
- Wo ist der dir zugeteilte Platz? - Er dachte darüber nach, wußte, daß die offensichtliche Antwort wahrscheinlich falsch sein würde, daß er sie aber dennoch ausprobieren mußte. Er sagte: - Mein Platz ist hier - Der Geisteskontakt wurde unterbrochen, wie er es vermutet hatte. Er wußte, daß er ausgebildet wurde, aber ihm war nicht klar, wozu. Jetzt konnte er im Licht seiner früheren Antworten über diese letzte Frage nachdenken. Vielleicht würde er so auf die richtige Antwort stoßen.
Sein Nachdenken über die letzte Frage, die man ihm gestellt hatte, wurde unterbrochen, als sich die Tür hinter ihm öffnete und sein Führer ihm bedeutete, ihm zu folgen. Sie schritten lange Gänge entlang, die sich emporwanden zu der Ebene, auf der sie ihr karges Morgenmahl zu sich nehmen würden.
Als sie die Halle betraten, nahm der Führer einen Platz nahe der Tür ein. Andere Männer in schwarzen Roben geleiteten andere weißgewandete Jünglinge in die Halle. Heute war der Tag, an dem der Führer des jungen Mannes neben der Tür stehen und die Jünglinge in Weiß beobachten würde, die zusammen mit dem jungen Mann verpflichtet waren, ihr Essen schweigend einzunehmen. Jeden Tag erfüllte ein anderer Träger der schwarzen Robe diese Funktion. Der junge Mann aß und dachte über die letzte Frage des Morgens nach. Er erwog jede mögliche Antwort, suchte nach eventuellen Fehlern und verwarf sie wieder, wenn er sie entdeckt hatte. Abrupt schoß ihm eine Antwort durch den Sinn, ungewollt, intuitiv, als sein Unterbewußtsein ihm die Lösung dieser Frage zuspielte. Das war schon mehrmals in der Vergangenheit geschehen, wenn besonders verzwickte Probleme ihn daran hinderten, Fortschritte zu machen. Und so war er mit seinen Lektionen rapide vorwärtsgekommen. Er suchte nach möglichen Fehlern in dieser Antwort, doch als er sicher war, daß sie richtig sein würde, stand er auf. Vorwurfsvoll und ein wenig ängstlich betrachteten ihn die anderen, denn dies war eine Verletzung der Regeln.
Er ging hin und trat vor seinen Führer, der ihn mit beherrschtem Gesicht beobachtete. Nur die leicht gehobenen Brauen verrieten seine Neugier. Ohne Einleitung erklärte der junge Mann in Weiß: »Dies ist nicht länger mein Platz.«
Der Mann in Schwarz verriet keinerlei Erregung, sondern legte nur eine Hand auf die Schulter des Jünglings und nickte leicht. Er griff in seine Robe, zog eine kleine Glocke hervor und läutete einmal damit. Augenblicke später erschien ein anderer schwarzgewandeter Mann. Wortlos übernahm er den Platz an der Tür, während der Führer dem jungen Mann bedeutete, ihm zu folgen.
Schweigend gingen sie dahin, wie sie es schon so viele Male zuvor getan hatten, bis sie zu einem bestimmten Zimmer kamen. Der Mann in Schwarz wandte sich dem jungen Mann zu und sagte:
»Öffne die Tür.«
Er wollte schon danach greifen, doch ein Geistesblitz ließ ihn die Hand zurückziehen. Mit vor Konzentration zusammengezogenen Brauen öffnete er die Tür nur kraft seines Willens. Langsam schwang sie auf. Der Mann in Schwarz drehte sich lächelnd um. »Gut«, sagte er leise. Er hatte eine sanfte, angenehme Stimme.
Sie betraten einen Raum, in dem viele weiße, graue und schwarze Roben an Haken hingen. Der Mann in Schwarz forderte ihn auf: »Wechsle dein Gewand gegen eine graue Robe.«
Hastig gehorchte der junge Mann und schaute seinen Führer an. Dieser musterte den neuen Träger von Grau. »Du bist nicht länger zum Schweigen verpflichtet. Jede Frage, die du hast, wird beantwortet werden, so gut es möglich ist. Aber es gibt immer noch Dinge, die warten müssen, bis du die schwarze Robe anlegst. Dann wirst du vollkommen verstehen. Komm jetzt.«
Der junge Mann in Grau folgte seinem Führer zu einem anderen Raum. Kissen lagen hier um einen niedrigen Tisch, auf dem ein Topf mit heißer Chocha stand, einem bittersüßen Getränk. Der in Schwarz schenkte zwei Becher voll, reichte einen dem jungen Mann und bedeutete ihm, sich zu setzen. Sie ließen sich beide nieder, und der Jüngling fragte: »Wer bin ich?«
Der Mann in Schwarz zuckte mit den Schultern. »Das wirst du entscheiden müssen, denn nur du kennst deinen wahren Namen. Es ist einer, der niemals anderen gegenüber erwähnt werden darf, damit sie keine Macht über dich bekommen. Von nun an nennt man dich Milamber.«
Der neu benannte Milamber dachte einen Moment nach. Dann sagte er: »Das wird gehen. Wie heißt Ihr?«
»Mein Name ist Shimone.«
»Wer seid Ihr?«
»Dein Führer, dein Lehrer. Von nun an wirst du andere haben, aber mir wurde die Verantwortung für den ersten Teil deiner Ausbildung übertragen, den längsten Teil.«
»Wie lange bin ich schon hier?«
»Fast vier Jahre.«
Das überraschte Milamber, denn sein Gedächtnis reichte nur kurz zurück, bestenfalls ein paar Monate. »Wann wird meine Erinnerung wieder zu mir zurückkehren?«
Shimone war erfreut, daß Milamber nicht gefragt hatte, ob sie zurückkehren würde. Und das sagte er auch. »Dein Geist wird dein vergangenes Leben wieder wachrufen, in dem Maße, in dem du mit deiner Ausbildung fertig wirst. Zuerst wird dies langsam vor sich gehen, dann später immer schneller. Dafür gibt es einen Grund. Du mußt in der Lage sein, den Reizen früherer Bindungen zu widerstehen, Bindungen an Familie und Nation, Freunde und Heim. In diesem Fall ist das besonders wichtig.«
»Warum dieses?«
»Du wirst das verstehen, wenn deine Vergangenheit zur dir zurückkehrt.« Dies war alles, was Shimone lächelnd antwortete. Seine habichtartigen Züge und dunklen Augen drückten deutlich aus, daß dies das Ende des Themas war.
Milamber wollte verschiedene Fragen stellen, verwarf sie aber, da er sie für unwichtig erachtete.
Schließlich wollte er doch wissen: »Was wäre geschehen, wenn ich die Tür per Hand geöffnet hätte?«
»Du wärst gestorben.« Shimone sagte dies völlig gefühllos.
Milamber war weder überrascht noch schockiert. Er akzeptierte es einfach. »Zu welchem Zweck?«
Shimone war ein wenig überrascht über diese Frage, und er zeigte es auch. »Wir können einander nicht beherrschen. Alles, was wir tun können, ist uns versichern, daß jeder neue Magier fähig ist, die Verantwortung zu tragen, die seine Handlungen ihm auferlegen. Du hast das Urteil gefällt, daß dein Platz nicht länger unter jenen ist, die Weiß tragen, also unter den Novizen. Wenn du dort nicht mehr sein willst, dann mußt du zeigen, daß du fähig bist, mit der Verantwortung dieses Wechsels umzugehen. Die hellen, aber dummen Köpfe sterben oft auf dieser Stufe.«
Milamber dachte darüber nach und erkannte die Richtigkeit einer solchen Prüfung. »Wie lange wird meine Ausbildung noch dauern?«
Shimone machte eine nichtssagende Geste. »So lange du dafür benötigst. Aber du erhebst dich schnell. Deshalb glaube ich, daß sie in deinem Fall nicht mehr lange dauern wird. Du hast gewisse angeborene Gaben, und – und das wirst du verstehen, wenn deine Erinnerung wiederkehrt – einen gewissen Vorteil den anderen, jüngeren Studenten gegenüber, die mit dir angefangen haben.«
Milamber musterte den Inhalt seines Bechers. In der dünnen, dunklen Flüssigkeit schien er ein einzelnes Wort zu erkennen, so, als würde er es aus dem Augenwinkel heraus sehen. Aber jedes Mal, wenn er versuchte, es genauer zu betrachten, verschwand es. Er konnte es nicht festhalten, aber es war ein Name gewesen, ein kurzer, einfacher Name.
Er verbrachte Wochen in der Gesellschaft von Shimone und ein paar anderen. Er wußte jetzt schon mehr von seinem Leben, aber dennoch war es nur ein Bruchteil von dem, was ihm noch fehlte. Er war ein Sklave gewesen, bis man entdeckte, daß er die Kraft besaß. Er erinnerte sich an eine Frau und verspürte ein schwaches Sehnen, als ihr Bild verschwommen vor ihm auftauchte.
Er lernte schnell. Jede Lektion absolvierte er an einem einzigen Tag. Selten benötigte er einmal zwei. Er analysierte schnell jedes Problem, das ihm aufgegeben wurde, und wenn es dann Zeit war, es mit seinen Lehrern zu besprechen, waren seine Fragen scharf, präzise, wohl überlegt und richtig.
Eines Tages wachte er in einer neuen, aber immer noch einfachen Zelle auf. Als er hinaustrat, wartete Shimone schon auf ihn. Der schwarzgewandete Magier sagte: »Von jetzt an darfst du nicht mehr sprechen, bis du die Prüfung beendet hast, die dir auferlegt werden wird.«
Milamber nickte als Zeichen, daß er verstanden hatte, und folgte seinem Führer den Gang hinunter. Der ältere Magier führte ihn durch eine Reihe langer Tunnel an eine Stelle des Gebäudes, an der er nie zuvor gewesen war. Sie erklommen eine lange Treppe, bis sie viele Stockwerke über dem Punkt waren, von dem sie aufgebrochen waren. Immer weiter stiegen sie empor, bis Shimone eine Tür für ihn öffnete. Milamber ging vor Shimone hindurch und befand sich auf einem offenen, flachen Dach, oben auf einem hohen Turm. In der Mitte erhob sich ein einzelner Steinturm. Wie eine Nadel aus Fels zeigte er gen Himmel. Auf seiner Außenseite wand sich eine schmale Treppe hinauf. Die Stufen waren in die Seite der Nadel geschlagen. Milamber folgte ihnen mit den Blicken, bis sie sich in den Wolken verloren, Er fand den Anblick faszinierend, denn er schien mehrere Regeln des physikalischen Gesetzes zu brechen, das er studiert hatte. Dennoch stand es so vor ihm, ja, mehr noch, sein Führer bedeutete ihm, die Treppe zu besteigen. Er machte sich auf den Weg. Als er die erste Umrundung hinter sich hatte, stellte er fest, daß Shimone durch die Holztür verschwunden war. Seiner Anwesenheit beraubt, lenkte Milamber seinen Blick vom Dach fort und nahm die Aussicht in sich auf, die sich ihm von hier oben bot. Er befand sich auf dem höchsten Turm einer riesigen Stadt aus Türmen. Wohin er auch schaute, zeigten Hunderte steinerner Finger nach oben, alles massive Gebäude mit Fenstern. Manche waren zum Himmel hin offen, wie das seine. Andere hatten ein Dach aus Stein oder aus schimmerndem Licht. Aber von ihnen allen hatte nur dieses hier eine dünne Spitze. Unterhalb der Türme bogen sich Brücken durch die Wolken, verbanden sie miteinander, und noch weiter unten konnte man den Rumpf dieses einzelnen, unglaublichen Gebäudes sehen, das alles stützte, was er sah. Es war ein Ungetüm von Konstruktion, das sich meilenweit in jede Richtung erstreckte. Er hatte gewußt, daß es groß sein mußte – aufgrund seiner Gänge innerhalb –, aber dieses Wissen schmälerte seine Ehrfurcht nicht im geringsten, als er es jetzt vor sich liegen sah.
Noch tiefer, kaum daß er es noch erkennen konnte, entdeckte er das schwache Grün von Gras, ein schmaler Streifen, der den dunklen Körper des Gebäudes säumte. An allen Seiten sah er Wasser.
Das mußte der See sein, auf den er einmal einen Blick erhascht hatte. In der Ferne konnte er verschwommen eine Andeutung der Berge ausmachen. Aber wenn er sich nicht sehr anstrengte, um sie zu erkennen, war es, als wenn sich die gesamte Welt unter ihm erstreckte. Er stieg weiter hoch und umrundete dabei den Turm. Jeder Kreis ließ ihn etwas Neues bei der Aussicht entdecken. Ein einsamer Vogel schraubte sich hoch über alles empor. Er kümmerte sich nicht um die Angelegenheiten der Menschheit, sondern breitete seine scharlachroten Schwingen aus, um die Luft einzufangen, während sein scharfes Auge eifrig den See unterhalb beobachtete. Dann erspähte er ein vielsagendes Kräuseln auf der Wasseroberfläche, faltete die Schwingen zusammen und schoß hinab. Für den Bruchteil eines Augenblickes stieß er auf die Oberfläche und flog dann wieder empor, eine zappelnde Beute in den Krallen. Einen Siegesschrei ausstoßend, vollführte er einen Kreis und zog dann westwärts davon.
Eine neue Biegung. Windspiele. Jeder Windhauch brachte Bilder ferner und fremder Länder mit sich. Aus dem Süden kam eine Bö. Sie erinnerte an heiße Dschungel, wo Sklaven schufteten, um aus dem tödlichen, wasserbedeckten Sumpf neues Ackerland zu gewinnen. Eine Brise aus dem Osten trug den Siegesgesang eines Dutzend Krieger aus der Konföderation Thuril herbei. Sie hatten einige Kaiserreich-Soldaten geschlagen. Gleichzeitig war da aber auch das schwache Echo eines sterbenden Tsurani-Soldaten, der um seine Familie weinte. Aus dem Norden kam der Geruch von Eis und das Geräusch von Hufen, als Tausende von Thun über die gefrorene Tundra donnerten, südwärts, in Richtung auf wärmere Lande zu. Aus dem Westen erschallte das Lachen der jungen Ehefrau eines mächtigen Adligen. Sie versuchte soeben, einen halb entsetzten, halb erregten Wächter ihres Hauses dazu zu bringen, ihren Ehemann zu betrügen, der Geschäfte mit einem Händler in Tusan, im Süden, zu erledigen hatte. Aus dem Osten kam der Duft von Gewürzen, als die Händler auf dem Markt im fernen Yankora ihre Ware feilboten. Wieder zum Süden, und da herrschte der Geruch des Salzes aus dem Meer des Blutes. Im Norden gab es windgepeitschte Eisfelder, die noch kein menschlicher Fuß betreten hatte. Aber Wesen, die alt und auf eine den Menschen unbekannte Art weise waren, wanderten darüber hm, suchten nach einem Zeichen am Himmel – einem Zeichen, das niemals erschien. Jede Brise brachte einen Ton, eine Farbe, einen Schatten, einen Duft und einen Geschmack mit sich. Die Welt schwebte so an ihm vorbei, und er atmete sie tief ein, schwelgte darin und genoß es.
Eine Wendung. Von den Stufen unter ihm kam ein Pulsieren. Hier schlug die Welt mit ihrem eigenen Leben. Hinauf, durch das Eiland, durch das Gebäude, durch den Turm, die Spitze, ja, durch seinen Körper hindurch kam das drängende, ewige Schlagen des Herzens des Planeten. Er schlug die Augen nieder und sah tiefe Höhlen. In den oberen arbeiteten Sklaven, die die wenigen, seltenen Metalle bargen, die hier gemeinsam mit der Kohle für die Hitze und dem Stein für das Gebäude gefunden wurden. Darunter lagen andere Höhlen. Einige waren natürlich, andere die Überreste einer verlorenen Stadt. Staub war darübergeblasen und zu Erde geworden, als die Jahrhunderte verstrichen. Früher einmal hatten hier Kreaturen gehaust, die er sich nicht mehr vorstellen konnte.
Noch tiefer schaute er, in eine Region aus Hitze und Licht, in der Urmächte miteinander im Streit lagen. Flüssiger Fels, glühend und brennend, drang gegen seine festen Verwandten vor, suchte sich einen Weg nach oben, angetrieben von Mächten, die so ursprünglich waren wie die Natur selbst.
Und noch tiefer tauchte er hinab, in eine Welt der reinen Macht und Kraft. Hier liefen Adern von Energie durch das Herz der Welt.
Eine Wendung, und er trat auf eine kleine Plattform oben auf der Spitze. Sie war nicht einmal so hoch wie er, ein unglaublich gefährlicher Thron. Er trat in die Mitte und überwand ein Schwindelgefühl, das ihn fast schreiend über den Rand gezogen hätte. Er nutzte seine ganzen Fähigkeiten, alles, was er während seiner Ausbildung gelernt hatte, um dort stehen zu bleiben, denn er wußte, ohne daß man es ihm gesagt hatte, daß ein Versagen hier und jetzt seinen Tod bedeutet hätte.
Er vertrieb die Furcht aus seinem Geist und schaute hinab auf die Szene, die unter ihm lag.
Ehrfurcht ergriff ihn ob der Größe der Leere. Nie zuvor hatte er sich so wahrhaft allein und isoliert gefühlt. Hier stand er nun, und nichts lag mehr zwischen ihm und dem Schicksal, das für ihn ausersehen war.
Unter ihm erstreckte sich die Welt und über ihm ein leerer Himmel. Er sah dunkle Wolken, die vom Süden heraneilten. Der Turm, oder die Nadel darauf, schwankte leicht. Unbewußt verlegte er sein Gewicht, um die Bewegung auszugleichen.
Blitze zuckten, als die Sturmwolken auf ihn zu brausten, und Donner grollte um seinen Kopf.
Der Lärm allein hätte schon ausgereicht, um ihn von der kleinen Plattform zu vertreiben. Er war gezwungen, noch tiefer in seinen inneren Brunnen der Macht einzutauchen, in diesen stillen Ort, der nur als Wallum bekannt war. Und dort fand er die Kraft, dem Angriff des Sturms standzuhalten.
Winde beutelten ihn und schmetterten ihn gegen den Rand der Plattform. Er schwankte und fing sich wieder. Der dunkle Abgrund unter ihm lockte ihn, lud ihn zum Fall. Mit aller Willenskraft überwand er den Schwindelanfall noch einmal und konzentrierte sich auf die vor ihm hegende Aufgabe.
Eine Stimme in seinem Geist rief – Jetzt ist die Zeit der Prüfung gekommen. Auf diesem Turm mußt du stehen, und sollte dein Wille wanken, wirst du hinabstürzen - Eine vorübergehende Pause entstand. Dann rief die Stimme wieder – Gib acht! Schau zu und verstehe, wie es war - Schwärze rauschte empor und umfing ihn.
Eine Weile schwebte er, namenlos und verloren. Ein winziges, flackerndes Bruchstück von Bewußtsein, ein unbekannter Schwimmer in einer schwarzen, leeren See. Dann durchdringt eine einsame Note die Leere. Sie vibriert, ein tonloses Geräusch, Eindringling in seine Sinne. Wie kann es Wahrnehmung geben, ohne Sinne?- fragt sein Geist! – Ich bin! – schreit er. – Aber wenn ich bin, was ist dann nicht ich? – rätselt er.
Ein Echo antwortet. – Du bist das, was du bist, und nicht das, was du nicht bist – Eine unbefriedigende Antwort – grübelt er.
- Gut – erwidert das Echo.
- Was ist das für ein Ton ? – fragt er.
- Ein Wecker, der dich wecken soll - Er schwebt. Um ihn her schwimmt eine Billion Sterne.
Große Gruppen treiben vorbei, strahlend vor Energie. Farbwirbel, gigantische Rots und Blaus, kleinere Oranges und Gelbs, und dann noch die winzigen Rots und Weiß’. Die farblosen und zornigen Schwarzen saugen den Sturm von Licht um sich her auf, und ein paar verdrehen Zeit und Raum und sorgen dafür, daß seine Vision verschwimmt, als er versucht, ihr Vorbeischweben zu ergründen. Von einem zum ändern zieht sich eine Reihe der Kraft, o die sie alle in einem Netz von Macht verbindet. An den Strängen dieses Netzes fließt Energie entlang, hin und her, pulsierend von einem Leben, das kein Leben ist. Die Sterne wissen es, als sie vorbeifliegen. Sie sind sich seiner Anwesenheit bewußt, erkennen sie aber nicht an. Er ist für sie zu klein, um sich seinetwegen zu beunruhigen. Um ihn her erstreckt sich die Gesamtheit des Universums.
An verschiedenen Punkten des Netzes ruhen oder arbeiten Kreaturen der Macht. Ein jedes Geschöpf ist anders als die anderen, und doch sind sie irgendwie alle gleich. Ein paar, das kann er sehen, sind Götter, denn sie sind ihm vertraut, und andere sind mehr oder weniger. Ein jedes spielt eine Rolle. Einige betrachten ihn, denn sein Vorbeitreiben bleibt nicht ohne Beachtung. Einige sind zu groß für ihn, um zu begreifen, und wenn sie es sind, sind sie geringer als er. Andere mustern ihn genau, wiegen seine Macht und seine Fähigkeiten gegen ihre eigenen ab. Er mustert sie seinerseits.
Alle sprechen nicht.
Er schießt zwischen den Sternen und den Wesen der Macht hindurch, bis er einen Stern unter der Vielzahl erspäht, der ihn anruft. Von diesem führen zwanzig Adern von Energie fort, und in der Nähe einer jeden befindet sich ein Wesen der Macht. Ohne zu wissen, warum, versteht er, daß dies die alten Götter Kelewans sind. Ein jedes spielt mit der nächsten Ader von Macht und beeinflußt so die Struktur von Zeit und Raum. Einige Wettstreiten miteinander, andere arbeiten, ohne sich um den Rest zu kümmern, und wieder andere tun nichts, was er erkennen könnte.
Er bewegt sich näher heran. Ein einzelner Planet schwingt sich empor, es ist eine blaue und grüne, von weißen Wolken umhüllte Sphäre. Kelewan.
Er taucht an den Adern der Macht hinab, bis er die Oberfläche erreicht. Und hier sieht er eine Welt, unberührt vom Schritt des Menschen. Er steht auf einer Klippe und schaut hinab auf eine große, grasbewachsene Ebene, die durch einen schmalen Strand vom Meer getrennt ist. Die Luft beginnt zu flimmern und zu leuchten. Die See jenseits der Ebene ist aufgewühlt. So, wie die Luft durch die Hitze des Tages bewegt wird, so rührt sich jetzt das Meer. Schillernde Farben erscheinen in der Luft. Dann – wie durch zwei riesige Hände – wird der Stoff zerrissen, aus dem Raum und Zeit gemacht sind. Der Riß wird immer größer, klaffender, und er kann hindurchsehen. Jenseits dieses Spalts in der Luft zeigt sich ihm eine Vision von Chaos, eine irrsinnige Zurschaustellung von Energie, so als wären alle Linien der Macht in diesem Universum entzweigerissen worden.
Energiebündel explodieren so farbenprächtig, wie es die Zunge eines normalen Sterblichen nicht einmal beschreiben könnte. Tief in diesem gigantischen Riß beginnt eine goldene Brücke aus Licht, die sich nach unten erstreckt, bis sie das Gras der Ebene berührt. Und darauf bewegen sich Tausende von Gestalten und entfliehen dem Wahnsinn jenseits des Spaltes, hin zu der heiter ruhigen Ebene.
Abwärts hasten sie. Einige tragen all ihre Güter auf dem Rücken, andere mit Tieren ziehen Wagen und Schlitten, die hoch mit all ihrer Habe beladen sind. Und alle drängen vorwärts. Sie fliehen vor einem namenlosen Entsetzen hinter sich.
Er mustert die Gestalten, und wenngleich ihm vieles fremd ist, so sieht er doch auch viel Bekanntes. Viele tragen kurze Gewänder, schlicht und einfach, und er weiß, daß er auf die Saat der Tsurani-Rasse hinabblickt. Ihre Gesichter sind einfacher. Sie verraten noch nichts von dem Verschmelzen mit anderen, wie es in künftigen Jahren der Fall sein wird. Die meisten sind hell, mit braunem oder blondem Haar. Zu ihren Füßen rennen bellende Hunde, schlanke und flinke Windspiele.
Neben ihnen schreiten stolze Krieger, mit Schlitzaugen und bronzefarbener Haut. Das sind Männer des Kampfes, aber keine organisierten Soldaten, denn sie tragen Roben von unterschiedlichem Schnitt und Farbe. Alle treten von der Brücke herab. Ein paar weisen Wunden auf, und alle verbergen ihr Entsetzen hinter ausdruckslosen Gesichtern. Auf ihren Schultern tragen sie lange Schwerter aus feinem Stahl, die mit äußerster Sorgfalt angefertigt worden waren. Sie haben die Scheitel ihrer Köpfe rasiert und das Haar außen herum zu einem Knoten zusammengebunden. Sie zeigen den stolzen Blick von Männern, die unsicher sind, ob es ihnen nun besser ergeht, weil sie die Schlacht überlebt haben. Zwischen ihnen gehen andere, Fremde.
Eine Rasse untersetzter, kleiner Menschen schleppen Netze, die sie als Fischer ausweisen. Aber nur sie allein wissen, von welchem Meer sie kommen. Alle haben dunkles Haar, braune Haut und graugrüne Augen. Männer, Frauen und Kinder tragen alle einfache Fellhosen. Ihre Oberkörper sind nackt.
Hinter ihnen kommt eine Nation von großen, edlen, dunkelhäutigen Menschen. Ihre Roben sind vornehm, aus kostbarem Stoff mit sanften, schönen Farben. Viele tragen Gemmen, die ihre Stirn schmücken, und goldene Reifen an den Armen. Und alle beweinen ein Heimatland, das sie nie wiedersehen werden.
Dann kommen Reiter auf unmöglichen Tieren, die wie fliegende Schlangen mit gefiederten Vogelköpfen aussehen. Vor den Gesichtern tragen sie Tier- und Vogelmasken, bunt bemalt und reich gefiedert. Sie sind nur mit Farbe bemalt, denn ihre Heimat war ein heißer Ort. Sie tragen ihre Nacktheit wie einen Umhang, denn in ihrer Gestalt liegt Schönheit, als wäre ein jeder von ihnen von einem Bildhauer geschaffen worden. Sie tragen Waffen aus schwarzem Glas. Frauen und Kinder reiten unmaskiert hinter den Männern. Ihre Gesichter zeugen von der grausamen Welt, vor der sie fliehen: Sie sind hart geworden. Die Schlangenreiter wenden ihre Geschöpfe gen Osten und sausen davon. Die großen, fliegenden Schlangen werden in dem kalten Hochland des Ostens aussterben, werden aber für alle Zeiten in den Legenden der stolzen Thuril fortleben.
Tausend weitere kommen. Alle schreiten die goldene Rampe hinab, um ihren Fuß auf Kelewan zu setzen. Einige bewegen sich fort, als sie die Ebene erreichen und reisen weiter zu anderen Teilen des Planeten. Aber viele bleiben und schauen zu, wie Tausende nach ihnen über die Brücke kommen. Die Zeit vergeht. Die Nacht folgt auf den Tag und macht dann einem neuen Platz, während die Horden vor dem wahnsinnigen Ansturm des Chaos fliehen.
Mit ihnen kommen zwanzig Wesen der Macht. Auch sie fliehen vor der Zerstörung des Universums. Die Menge auf der Ebene sieht sie nicht, aber er beobachtet sie. Er weiß, daß sie zu den zwanzig Göttern Kelewans werden, den Zehn Höheren und Zehn Niedrigeren Wesen. Sie fliegen aufwärts, um die Reihen der Kraft von den alten, schwachen Wesen zu befreien. Es gibt keinen Kampf, als die neuen Götter ihre Plätze einnehmen, denn die alten Wesen der Macht wissen, daß eine neue Ordnung diese Welt beherrschen wird.
Nachdem er tagelang zugesehen hat, bemerkt er, daß der Menschenstrom schwächer wird.
Hunderte von Männern und Frauen ziehen riesige Boote. Sie sind aus einem Metall gefertigt, das in der Sonne leuchtet, und sie bewegen sich auf Rädern aus einer schwarzen Substanz. Sie erreichen die Ebene und sehen den Ozean jenseits des schmalen Strandes. Sie stoßen einen Schrei aus und ziehen ihre Boote ins Wasser. Fünfzig Schiffe setzen Segel und fahren hinaus über das Meer in Richtung Süden, zu dem Land, das Tsubar werden wird, die verlorene Nation.
Die letzte Gruppe besteht aus Tausenden von Menschen in Roben von vielen Farben und Schnitten. Er weiß, daß dies die Priester und Magier vieler Nationen sind. Gemeinsam stehen sie da und halten den wütenden Irrsinn zurück. Während er zuschaut, fallen viele. Ihr Leben brennt wie eine Kerze aus. Auf ein vorher abgesprochenes Zeichen hin drehen sich viele von ihnen um, die auf der goldenen Brücke stehen, und fliehen hinab. Sie alle halten Bücher, Schriftrollen und anderes Wissen m den Händen. Als sie den Fuß der Brücke erreichen, wenden sie sich um und betrachten das Drama, das sich dort abspielt.
Die da oben sehen sich nicht nach den Flüchtlingen um, sondern schauen an, was sie zurückhalten. Jetzt stoßen sie einen Ruf aus, singen einen mächtigen Zauber und greifen zu einem von enormer Kraft. Die unten nehmen ihre Rufe auf; wie ein Echo schallt es zurück, und alle, die sie hören können, winden sich vor Angst bei diesem Geräusch. Die Brücke beginnt sich vom Boden ausgehend aufzulösen. Eine Flut von Haß und Entsetzen ergießt sich durch den Spalt, und diejenigen, die oben stehen, werden von ihr überrannt. Als die Brücke und die Öffnung darüber seinen Blicken entzogen werden, erklingt ein einzelner Schrei der Wut. Er ist so entsetzlich, daß viele von denen, die unten in der Ebene sind, wie von einem Schlag gefällt werden.
Für eine Weile bleiben diejenigen, die dem namenlosen Terror entkommen sind, stumm zurück.
Dann lösen sie sich langsam auf. Hier und da trennen sich Gruppen von den anderen und gehen davon. Er weiß, daß diese zerlumpten Flüchtlinge in den kommenden Jahren diese Welt erobern werden, denn sie sind es, aus denen die Nationen entsprungen sind, die Kelewan bevölkern.
Er weiß, daß er den Beginn der Nationen gesehen hat und ihre Flucht vor dem Feind, dem namenlosen Terror, der die Heimat vieler Rassen der Menschheit zerstört und sie über andere Universen verteilt hat.
Wieder umhüllt ihn der Umhang der Zeit und taucht ihn ein in ein Dunkel.
Gefolgt vom Licht.
Auf der Ebene, die leer gewesen war, erhebt sich jetzt eine große Stadt. Ihre weißen Türme recken sich zum Himmel. Ihre Bewohner sind fleißig, und die Stadt wird wohlhabend. Karawanen mit Handelsgütern kommen über Land, und große Schiffe erscheinen von jenseits des Meeres. Jahre vergehen, und mit ihnen Krieg und Hungersnot, Frieden und Wohlstand.
Eines Tages erscheint ein Schiff im Hafen. Es sieht so verwahrlost aus wie seine Mannschaft.
Eine große Schlacht ist geschlagen worden, und dieses Schiff ist eines der wenigen, die sie überstanden haben. Diejenigen von jenseits des Wassers werden bald kommen, und die Stadt der Ebene wird fallen, wenn ihr niemand zu Hilfe kommt. Läufer werden nach Norden in die Städte entlang des großen Flusses gesandt werden, denn sollte die weiße Stadt fallen, wird nichts die Eindringlinge daran hindern, nach Norden zu ziehen. Läufer kehren zurück und bringen die Neuigkeiten. Die Armeen der anderen Städte werden kommen. Er beobachtet, wie sie sich versammeln und den Eindringlingen in der Nähe des Meeres gegenübertreten. Diese werden zurückgeschlagen, aber die Küste ist groß, und die Schlacht wütet zwölf Tage lang. Hunderttausend Männer sterben, und der Sand färbt sich für Monate rot. Tausend Schiffe brennen, und der Himmel ist von schwarzem Rauch erfüllt. Tagelang senkt er sich auf das Land und bedeckt es meilenweit mit feiner, pudriger Asche. Die weiße Stadt wird zur grauen Stadt. Von diesem Tage an heißt das Meer blutig, und die große Bucht wird zur Schlachtenbucht.
Aber aus dieser Schlacht erwächst eine Allianz, und die Saat des großen Kaiserreiches wird gepflanzt. Es entsteht das weltumspannende Kaiserreich von Tsuranuanni. Im Osten wird der Himmel dunkel. Die Nacht rückt näher.
Als die Sonne aufgeht, steht er neben einem Magier, der die Nacht hindurch gearbeitet hat. Der Mann wird von Sorge ob seiner Berechnungen gepackt, und er sagt einen Zauberspruch auf, der ihn zu einem anderen Ort bringt. Der Zuschauer folgt ihm. In einer kleinen Halle reagieren mehrere andere Magier voll Furcht auf die Neuigkeiten, die der erste Magier ihnen bringt. Ein Bote wird zum Kriegsherrn gesandt, dem Herrscher über das Kaiserreich im Namen des Kaisers. Der Kriegsherr befiehlt die Magier zu sich. Der Zuschauer folgt. Die Magier erklären die Neuigkeiten.
Die Zeichen in den Sternen und auch die alten Schriften künden von einem kommenden verheerenden Unheil. Ein Stern, der von einem Wanderer am Himmel dort gesichtet wird, wo noch nie zuvor einer gesehen worden war, rührt sich nicht. Er wird aber immer heller. Er wird den Nationen die Zerstörung bringen. Der Kriegsherr ist skeptisch, aber immer mehr Adlige sind in letzter Zeit dazu übergegangen, auf die Worte der Magier zu achten. Schon immer hat es Legenden gegeben, in denen die Magier die Nationen vor dem Feind gerettet haben. Aber nur wenige halten sie für wahrscheinlich. Trotzdem, jetzt gibt es diese neue Zusammenkunft von Magiern, die etwas gegründet haben, was sie ›DIE VERSAMMLUNG‹ nennen. Und nur die Magier allein wissen, welchem Zweck sie dient. Nachdem er also nun über den Wandel der Zeiten nachgedacht hat, beschließt der Kriegsherr, die Neuigkeiten dem Kaiser zu übermitteln. Nach einer Weile bringt man
›DER VERSAMMLUNG‹ Kunde vom Kaiser. Seine Forderung lautet: Bringt Beweise. Die Magier schütteln die Köpfe und kehren in ihre bescheidenen Hallen zurück.
Jahrzehnte vergehen, und die Magier machen viel Propaganda. Sie versuchen, jeden Hochgeborenen im Kaiserreich zu beeinflussen, der bereit ist, ihnen zuzuhören. Es kommt der Tag, da wird die Nachricht verkündet, daß der Kaiser tot ist und sein Sohn regiert. Die Magier sammeln sich, und alle, die es können, reisen in die Heilige Stadt, um der Krönung des neuen Kaisers beizuwohnen.
Tausende von Menschen säumen die Straßen, während Sklaven die Edlen des Landes in Sänften zu den großen Tempeln tragen. Der neue Kaiser sitzt auf dem alten, goldenen Thron, der von hundert kräftigen Sklaven getragen wird. Er wird gekrönt, während tief in den Hallen des Tempels des Todesgottes, Turakamu, die symbolische Schlachtung eines Sklaven vollzogen wird. Es ist eine Bitte an die Götter, die Seele des alten Kaisers in Frieden im Himmel ruhen zu lassen.
Die Menge jubelt, denn Sudkahanchoza, vierunddreißigfacher Kaiser, ist beliebt, und heute wird sie ihn zum letztenmal sehen. Nun wird er sich in den Heiligen Palast zurückziehen, wo seine Seele für alle Zeiten über seine Untertanen wacht, während der Kriegsherr und der Hohe Rat das Geschäft übernehmen werden, um das Kaiserreich zu regieren. Der neue Kaiser wird ein beschauliches Leben führen. Er wird lesen, malen, die großen Bücher der Tempel studieren und versuchen, eine reine Seele für dieses schwierige Leben zu bekommen.
Dieser Kaiser ist ganz anders als sein Vater. Nachdem er von der Versammlung die ernste Nachricht erhalten hat, befiehlt er, ein großes Schloß auf einer Insel im Zentrum des gigantischen Sees errichten zu lassen, der sich inmitten der Berge von Ambolina befindet.
Die Zeit…
…vergeht. Hunderte von Schwarzgewandeten Magiern stehen hoch oben auf den Türmen, die sich über die Stadt der Insel erheben. Noch ist sie nicht das prachtvolle, einzige Ding der Zukunft.
Zweihundert Jahre sind verstrichen, und jetzt brennen zwei Sonnen vom Himmel. Eine ist warm und gelbgrün, die andere klein, weiß und wütend. Der Zuschauer sieht, wie die Männer an ihrer Magie arbeiten, dem größten Bann, der in der Geschichte der Nationen verhängt worden ist. Selbst die legendäre Brücke von außen, der Anbeginn der Zeit, war keine so wichtige Tat. Denn damals hatten sie sich bloß zwischen den Welten bewegt, jetzt jedoch wollen sie einen Stern versetzen.
Unter sich kann er die Anwesenheit vieler anderer Magier fühlen, die ihre Macht jenen oberhalb zukommen ließen. In den vergangenen Jahren haben sie an diesem Zauberspruch gearbeitet und haben jeden Schritt, als der Fremde näher kam, mit größter Sorgfalt ausgeführt. Obwohl dieser Zauber über alle Maßen mächtig ist, ist er doch auch sehr zart und empfindlich. Ein Fehltritt, und alle Arbeit wird zunichte gemacht. Er schaut auf und erblickt den Fremden, der auf diese Welt zuhält. Er wird Kelewan nicht treffen. Es besteht aber nur wenig Zweifel daran, daß alles Leben auf diesem Planeten absterben wird, wenn seine Hitze der bereits bestehenden Kelewans hinzugefügt wird. Mehr als ein Jahr lang wird Kelewan dann zwischen seinem Hauptplaneten und dem Fremden in beständigem Tageslicht hängen. Alle Magier sind sich darüber einig, daß nur einige wenige in tiefen Höhlen überleben können. Und diese werden dann auf einen ausgebrannten Planeten zurückkehren. Jetzt müssen sie handeln, ehe es zu spät ist, um es noch einmal zu probieren, wenn der Zauber versagen sollte.
Und so handeln sie jetzt alle und murmeln das letzte Stück der großen Arbeit. Einen Augenblick lang scheint die Welt stillzustehen und unter dem letzten Wort des Spruches zu vibrieren. Langsam wird das Widerhallen lauter, nimmt an Resonanz zu, . entwickelt neue Harmonien, neue Töne und bekommt einen ganz eigenen Charakter. Schon bald ist es laut genug um diejenigen in den Türmen taub zu machen, und sie müssen ihre Ohren bedecken. Die unten am Boden stehen stumm, von Staunen ergriffen. Sie schauen zum Himmel empor, an dem farbenprächtige Sterne auftauchen.
Energieblitze zucken, und das Licht der beiden Sterne verblaßt hinter momentanen, blendenden Spielereien. Einige, die jetzt zusehen, werden für den Rest ihres Lebens blind bleiben. Ihm jedoch macht weder der Lärm noch das Licht etwas. Es ist, als kümmere sich jemand darum, ihn vor ihren Auswirkungen zu schützen. Ein großer Spalt erscheint im Himmel, ganz ähnlich dem, durch den die goldene Brücke vor Urzeiten gekommen ist. Gefühllos sieht er zu, empfindet nichts als Faszination, und auch die nur schwach. Der Spalt wird immer größer am Himmel, zwischen dem Fremden und Kelewan. Er fängt an, sich von ihrem Planeten fortzubewegen, auf den fremden Stern zu.
Aber noch etwas anderes geschieht. Heftiger als zur Zeit der goldenen Brücke, stärker denn je, brodelt Energie aus dem Herzen des Spalts hervor. Eine alles überwältigende Woge von Haß steht dieser chaotischen Szene gegenüber. Der Feind, die teuflische Macht, die die Nationen nach Kelewan getrieben hat, klammert sich noch immer an das andere Universum, und sie hat diejenigen nicht vergessen, die ihr Vorjahren entkommen sind. Sie kann den Spalt nicht überwinden, denn um sich zwischen den Universen zu bewegen, braucht sie mehr Zeit. Aber sie lenkt den Spalt ab, fort von dem Fremden. Er wird größer, und die am Boden sehen, daß er Kelewan verschlingen und den Planeten zurück unter die Herrschaft des Feindes bringen wird.
Der Zuschauer beobachtet all das gleichgültig. Er ist ungerührt, im Gegensatz zu denen, die ihn umgeben, denn er weiß, daß dies nicht das Ende der Welt ist. Ein Spalt eilt auf den Planeten zu, und ein Magier tritt vor.
Irgendwie ist er dem bekannt, der zusieht. Anders als die um ihn her, trägt dieser Mann eine braune Robe, die von einem Gürtel gehalten wird. In der Hand hat er einen Holzstab. Er erhebt ihn über seinen Kopf und murmelt einen Zauberspruch. Der Spalt verändert sich. Farben, die unmöglich zu beschreiben sind, werden zu einem tiefen Schwarz, und er trifft den Planeten.
Der Himmel explodiert, und dann ist alles um ihn her schwarz. Als sich die Dunkelheit hebt, senkt sich am Horizont die Sonne, Kelewans eigene Sonne. Die Magier, die nicht tot oder irrsinnig sind, starren voll Entsetzen empor. Der Himmel über ihnen ist eine totale Leere, ohne Sterne.
Dunkelheit…
…kündet wieder vom Verstreichen der Zeit. Er steht in den Hallen der Versammlung.
Regelmäßig erscheinen Magier. Sie benutzen das Muster des Bodens als Brennpunkt für ihren Durchgang. Ein jeder erinnert sich daran wie an eine Adresse und wünscht sich dorthin. Die Frage, die im Augenblick gestellt werden muß, lautet, was getan werden kann, um Kelewan seinem eigenen Universum wiederzugeben. Eine Nachricht kommt vom Kaiser. Er bittet die Versammlung, das Problem zu lösen, und verspricht den Magiern jegliche Hilfe, die sie verlangen.
Der Zuschauer schreitet durch Generationen hindurch vorwärts, und er findet die Magier erneut auf den Türmen. Doch statt des näher kommenden Fremden betrachten sie jetzt einen sternenlosen Himmel. Ein neuer Zauberspruch, der über Jahre hinweg entwickelt wurde, wird beschworen. Die Erde vibriert heftig. Plötzlich leuchtet der Himmel voller Sterne, und Kelewan befindet sich wieder an seinem normalen Platz.
Der Kaiser übermittelt den Befehl, daß die gesamte Versammlung unverzüglich in die Heilige Stadt kommen soll. Einzeln oder zu zweit benutzen sie Muster, um nach Kentosani zu reisen. Der Zuschauer folgt ihnen. Dort werden sie ins innere Gemach des kaiserlichen Palastes geführt, etwas, was in der Geschichte des Kaiserreiches noch nie vorgekommen ist.
Von den siebentausend Magiern, die sich vor Jahren versammelt hatten, um dem Fremden entgegenzuwirken, sind jetzt nur noch siebenhundert am Leben oder gesund. Sie treten vor Tukamaco hin, vierzigmaliger Kaiser, Nachfahre von Sudkahanchoza und dem Licht des Himmels.
Der Kaiser fragt die Versammlung, ob sie bereit ist, die Aufgabe zu übernehmen, für immer über das Kaiserreich zu wachen und es bis zum Ende der Zeit zu beschützen. Die Magier beraten sich und stimmen zu. Nun verläßt der Kaiser seinen Thron und erniedrigt sich vor den versammelten Magiern, etwas, das noch nie zuvor getan wurde. Dann lehnt er sich zurück, noch immer vor ihnen auf den Knien liegend, und breitet weit die Arme aus. Er verkündet, daß sie vom heutigen Tage an die Erhabenen sein sollen, bar aller Verpflichtungen mit Ausnahme der Aufgabe, die sie soeben übernommen haben. Sie stehen außerhalb des Gesetzes, und niemand darf sie befehligen, einschließlich des Kriegsherrn. Dieser steht mit düster gerunzelter Stirn an seiner Seite. Was immer sie wünschen, gehört schon ihnen. Sie brauchen nur danach zu fragen, und ihr Wort ist Gesetz.
Dunkelheit…
… und die Zeit verstreicht.
Der Zuschauer steht vor dem Thron des Kriegsherrn. Eine Abordnung der Magier befindet sich auch davor. Sie bringen ihm den Beweis für das, was sie behauptet haben. Ein Spalt, der frei ist vom Einfluß des Feindes, ist eröffnet worden, und man hat eine andere Welt gefunden. Sie ist nicht zum Leben geeignet – aber man hat auch noch eine weitere entdeckt, eine reiche, reife Welt. Sie zeigen ihm den Reichtum an Metallen, die überall herumliegen, und sie vergessen alles. Er, der ihnen zuschaut, lächelt vor sich hin, so amüsiert ihn die Eifrigkeit des Kriegsherrn beim Anblick eines gebrochenen Brustschildes, eines verrosteten Schwertes und einer Handvoll verbogener Nägel. Als weiteren Beweis, daß das eine fremde Welt ist, schenken sie ihm eine fremdartige, aber schöne Blume. Der Kriegsherr riecht daran und ist erfreut über ihren vollen Duft. Der Zuschauer nickt, denn auch er kennt die Rose aus Midkemia. Die schwarzen Schwingen der verstreichenden Zeit umfangen ihn erneut.
Wieder stand er auf der Plattform. Er schaute sich um und sah, daß der Sturm rund um ihn her mit aller Kraft wütete. Nur durch seinen Willen, sein Unterbewußtsein, war er in der Lage gewesen, hier auf dieser Plattform stehenzubleiben, während sein bewußter Wille, sein Geist, mit der Geschichte Kelewans beschäftigt war. Jetzt verstand er die Prüfung, denn er stellte fest, daß er völlig erschöpft war, so viel Energie hatte er in dieser Zeit verbraucht. Während man ihm die letzten Einweisungen gab, ihm seinen Platz in der Gesellschaft klarmachte, war er mit den rauhen Kräften der Natur geprüft worden. Er schaute sich ein letztes Mal um. Irgendwie fand er den düsteren Anblick des sturmgepeitschten Sees und die verschlossenen Fenster der Türme zufriedenstellend. Er bemühte sich, dieses Bild einzufangen, als wollte er sichergehen, daß er diesen Augenblick nie vergessen würde, den Moment, da er zu einem Erhabenen geworden war. Denn jetzt gab es keine Lücken mehr in seiner Erinnerung oder seinen Gefühlen. Er schwelgte in seiner Macht: nicht mehr Pug, der Burgknabe, sondern ein mächtiger Magier, so mächtig, daß neben ihm selbst die Vorstellungen seines früheren Meisters Kulgan verblassen mußten. Und nie wieder wird ihm eine dieser Welten, weder Midkemia noch Kelewan, so erscheinen wie früher.
Kraft seines Willens ließ er sich aufs Dach hinab und schwebte sanft durch den tobenden Wind.
Die Tür öffnete sich in Erwartung seines Kommens. Er trat ein, und sie schloß sich hinter ihm.
Shimone wartete auf ihn. Ein Lächeln lag auf seinem Gesicht. Als sie die langen Gänge der von der Versammlung erbauten Stadt entlangschritten, explodierte der Himmel draußen unter lauter Donnerschlägen. Es war, als sollte sein Kommen angekündigt werden.
Hochopepa saß auf seiner Matte und erwartete die Ankunft seines Gastes. Der schwere, kahlköpfige Magier konnte es kaum erwarten, den Eifer und Mut des jüngsten Mitglieds seiner Versammlung abzuschätzen. Erst am vergangenen Tag war dieser Träger der schwarzen Robe auf seinem Sitz erschienen.
Eine Glocke erklang und kündete die Ankunft seines Gastes an. Hochopepa erhob sich und durchquerte sein reich ausgestattetes Gemach. Dann schob er die Schiebetür beiseite.
»Willkommen, Milamber. Ich freue mich, daß Ihr meine Einladung angenommen habt.«
»Es ist mir eine Ehre«, war alles, was Milamber sagte. Dann trat er ein und sah sich im Zimmer um. Von allen Unterkünften, die er im Gebäude der Versammlung bisher gesehen hatte, war dies bei weitem die üppigste. Die Wandteppiche waren aus kostbarem Material, durchzogen von feinsten, kostbarsten Fäden, und verschiedene wertvolle Metallgegenstände schmückten mehrere Regale.
Auch seinen Gastgeber musterte Milamber. Der schwerfällige Magier führte ihn zu einem Kissen an einem niedrigen Tisch und schenkte dann Chocha in ihre Becher ein. Seine plumpen Hände bewegten sich geschickt, leicht, aber präzise. Seine dunklen, fast schwarzen Augen leuchteten unter dichten Brauen hervor, die einen Akzent in einem ansonsten verräterisch nichtssagenden Gesicht setzten. Er war der dickste Magier, den Milamber bisher gesehen hatte. Die meisten Männer, die die schwarze Robe trugen, waren dünn und sahen recht asketisch aus. Milamber spürte, daß dies größtenteils bewußt geschehen war. Es war, als ob jemand, der sich dem Vergnügen des Fleisches hingab, sich keine allzu tiefen, ernsten Gedanken machen könnte.
Nachdem er den ersten Schluck Chocha getrunken hatte, sagte Hochopepa: »Ihr seid so etwas wie ein Problem für mich, Milamber.«
Als dieser nichts darauf erwiderte, fuhr Hochopepa fort: »Ihr sagt nichts.« Milamber neigte zustimmend den Kopf. »Vielleicht ist Eure Vergangenheit schuld daran, daß Ihr vorsichtiger seid, als es hier für gewöhnlich der Fall ist.«
Milamber sagte: »Wenn ein Sklave Magier wird, dann ist das schon etwas, über das man nachdenken muß.«
Hochopepa winkte ab. »Es ist selten, daß ein Sklave die schwarze Robe anlegt, es kommt aber vor. Gelegentlich wird die Kraft erst erkannt, wenn jemand erwachsen ist. Aber das steht jetzt hier nicht zur Debatte. Eure besondere Situation, die es mit sich bringt, daß Ihr für mich so etwas wie ein Problem darstellt, ist die, daß Ihr ein Barbar seid – verzeiht, wart.«
Wieder lächelte Milamber. Als er den Turm der Probe verlassen hatte, waren alle Erinnerungen an sein früheres Leben wieder in ihm wachgeworden. Aber vieles, was seine Ausbildung anbetraf, war noch unklar. Er verstand die Prozesse, die eingesetzt worden waren, um ihm die Kontrolle über seine Magie zu verleihen. Sie hatten ihn unter Hunderttausenden von Sklaven herausgestellt, er war ein Erhabener. Zwischen den zweihundert Millionen Einwohnern des Kaiserreiches gehörte er zu den zweitausend Magiern der schwarzen Robe. Die Wachsamkeit, die er als Sklave erworben hatte, gesellte sich nun zu der ihm angeborenen Intelligenz – und er schwieg. Hochopepa wollte auf irgend etwas hinaus, und Milamber würde abwarten, was das war, ganz gleich, wie ausschweifend der untersetzte Magier auch sein würde.
Als Milamber wieder nichts sagte, fuhr Hochopepa fort: »Eure Lage ist aus mehreren Gründen merkwürdig: Ihr seid der erste, der die schwarze Robe trägt, obwohl er nicht von dieser Welt ist; und Ihr wart Lehrling bei einem Geringeren Magier.«
Milamber zog die Braue hoch. »Kulgan? Ihr wißt von meiner Ausbildung?«
Hochopepa lachte. Es war ein freundliches Lachen, das tief aus dem Bauch kam. Milamber entspannte sich und betrachtete den anderen Mann mit etwas weniger Mißtrauen. »Natürlich. Es gibt keinen einzigen Punkt in Eurer Vergangenheit, der nicht genau untersucht worden ist.
Schließlich habt Ihr eine Fülle von Informationen über Eure Welt geliefert.« Hochopepa sah seinen Gast scharf an. »Der Kriegsherr beschließt vielleicht, eine Welt zu erobern, von der wir herzlich wenig wissen – entgegen der Einwände seiner magischen Ratgeber, wenn ich das hinzufügen darf-, aber wir von der Versammlung ziehen es vor, unsere Gegner vorher zu studieren. Wir waren äußerst erleichtert zu erfahren, daß die Magie in Eurer Welt auf die Priester und die Anhänger des Geringeren Pfades beschränkt bleibt.«
»Da erwähnt Ihr schon wieder eine Geringere Magie. Was bedeutet das? Was meint Ihr damit?«
Nun war es an Hochopepa, ein wenig überrascht dreinzuschauen. »Ich nahm an, Ihr wüßtet das.«
Milamber schüttelte den Kopf. »Der Pfad der Geringeren Magie wird von jenen beschritten, die kraft ihres Willens mit gewissen Mächten arbeiten können – anders als wir Träger der schwarzen Robe.«
»Dann wißt Ihr von meinem früheren Versagen.«
Wieder lachte Hochopepa. »Ja. Wäret Ihr weniger für den Erhabenen Pfad geeignet gewesen, dann hättet Ihr es vielleicht von Eurem Meister gelernt. So jedoch war Eure Fähigkeit zu groß, als daß Ihr als Magier des Niedrigeren Pfades Erfolg hättet haben können. Der Niedrigere Pfad, das ist mehr ein Talent als eine Kunst. Der Erhabene Pfad dagegen ist etwas für Gelehrte.«
Milamber nickte. Jedesmal, wenn Hochopepa ihm ein Konzept erklärte, war es, als hätte er es schon sein Leben lang gewußt. Milamber erwähnte dies.
»Das ist leicht zu verstehen. Während Eurer Ausbildung wurden Euch viele Tatsachen und Konzepte erklärt. Zuerst brachte man Euch die Grundlagen unserer Magie bei, und erst später wurde Euch die Verantwortung dem Kaiserreich gegenüber nahegebracht. Damit all Eure Fähigkeiten voll erschöpft werden können, müssen diese Tatsachen vorhanden sein, wenn Ihr sie benötigt. Das gehört zum Lernprozeß. Aber vieles von dem, was Euch beigebracht wurde, war auch verschleiert. Es sollte erst dann vollständig enthüllt werden, wenn Ihr es benötigt und in der Lage seid, wirklich zu verstehen, was in Eurem Hirn vor sich geht. Es wird eine Zeit geben, da tauchen von Zeit zu Zeit ungebetene Gedanken auf. Wenn Ihr Euch einer Frage nähert, wird die Antwort in Eurem Geist erscheinen. Und manchmal taucht sie auch auf, wenn Ihr sie lest oder hört, als hättet Ihr sie bereits gekannt. Das dient dazu, zu verhindern, daß Ihr unter dem Druck zusammenbrecht, wenn in einem Augenblick das auf Euch hereinbricht, was Ihr in Jahren gelernt habt.«
Milamber sagte: »Trotzdem würde ich gern von Eurem Problem hören.«
Hochopepa strich sich über die Robe und glättete die Falten. »Gewährt mir noch einen Augenblick länger für eine kurze Abschweifung. All das hat damit zu tun, warum ich Euch hierhergebeten habe.« Milamber bedeutete Hochopepa, er solle fortfahren.
»Nur wenig ist von unseren Völkern bis zum Großen Fliehen bekannt. Wir wissen, daß die Nationen aus vielen verschiedenen Welten kamen. Auch gibt es Spekulationen darüber, daß andere vor dem Feind in andere Welten geflohen sind. Vielleicht gehört auch Eure frühere Heimat dazu. Es gibt einige wenige Beweisstücke, die diese Hypothese untermauern, aber bisher handelt es sich dabei nur um eine Mutmaßung.« Milamber dachte an die Schachspiele, die er mit dem Herrn der Shinzawai genossen hatte, und er erwog die Möglichkeit.
»Wir kamen als Flüchtlinge. Von Millionen überlebten nur Tausende. Wir fanden diese Welt alt und verbraucht vor. Einst hatten hier große Zivilisationen geblüht, aber alles, was von ihnen übriggeblieben ist, sind abgenutzte, glatte Steine, dort, wo einstmals Städte standen. Niemand weiß, wer diese Geschöpfe waren. Diese Welt verfügt nur über wenig Metall, und was wir beim Großen Fliehen mit uns gebracht haben, ist im Laufe der Jahrhunderte aufgebraucht worden. Unsere Tiere, unsere Pferde und unser Vieh, sie sind ausgestorben, alle, bis auf die Hunde. Wir mußten uns an unser neues Heimatland gewöhnen – und aneinander.
Wir haben viele Kriege geführt in der Zeit zwischen dem Großen Fliehen und der Ankunft des Fremden. Bis zur Schlacht der Tausend Schiffe waren wir kaum mehr als Stadtstaaten. Aber dann erhob sich die bescheidenste der Rassen, die Tsuranis. Sie eroberten und besiegten alle anderen und vereinigten alles in einem einzigen Kaiserreich.
Wir von der Versammlung unterstützten das Kaiserreich, denn in dieser Welt ist es die einzige, mächtige Kraft, die Ordnung schafft – nicht, weil es edel ist, oder schön, oder auch bloß gerecht.
Sondern weil seinetwegen der Großteil der Menschheit leben und arbeiten kann. Ohne Kriege m der Heimat, ohne Hungersnöte, Seuchen und die anderen Katastrophen der alten Zeiten. Und solange uns diese Ordnung umgibt, können wir von der Versammlung ungehindert arbeiten.
Es war unser Versuch, den Fremden zu verbannen, der es zuerst deutlich machte, daß wir ungestört arbeiten können müssen. Niemand darf uns daran hindern, nicht einmal der Kaiser, und wir müssen alles bekommen, was wir dazu benötigen. Wir haben wertvolle Zeit verloren, weil der Kaiser nicht mit uns zusammenarbeiten wollte, als wir zuerst von dem Fremden erfuhren. Hätten wir sofort Unterstützung gefunden, wären wir vielleicht in der Lage gewesen, mit dem Feind fertig zu werden, als er den Spalt ablenkte. Und deshalb haben wir die Aufgabe übernommen, das Kaiserreich zu verteidigen und ihm zu dienen: als Tausch für unsere totale Freiheit.«
Milamber erklärte: »All das ist augenscheinlich. Aber ich warte noch darauf, von Eurem Problem in bezug auf mich zu hören.«
Hochopepa seufzte. »Alles zu seiner Zeit, mein Freund. Ich muß erst noch einen letzten Kommentar abgeben. Ihr müßt verstehen, warum die Versammlung so arbeitet, wie sie es tut, damit Ihr Hoffnung haben könnt, mehr als ein paar Wochen zu überleben.«
Bei dieser Bemerkung schaute Milamber überrascht auf. »Überleben?«
»Ja, Milamber, überleben, denn es gibt hier viele, die Euch lieber am Grunde des Sees sehen würden.«
»Aber warum?«
»Wir arbeiten daran, die Erhabene Kunst wiedereinzuführen. Als wir vor dem Feind flohen, am Ursprung der Geschichte, überlebte nur ein Magier unter Tausend von denen, die dem Feind gegenübertraten. Zum größten Teil waren dies Geringere Magier und ihre Lehrlinge. Sie verbanden sich zu kleinen Gruppen, um das Wissen zu bewahren und zu schützen, das sie aus ihren Heimatländern mitgebracht hatten. Zuerst suchten und fanden sich die Landsleute, und später entstanden größere Verbindungen. Sie wurden immer zahlreicher, und der Wunsch wuchs, die verlorenen Künste wiederherzustellen. Nachdem Jahrhunderte vergangen waren, wurde die Versammlung gegründet, und es kamen Magier aus allen Teilen der Welt. Und heute sind alle, die auf dem Erhabenen Pfad wandeln, Mitglieder der Versammlung. Die meisten von jenen, die die Geringere Kunst praktizieren, dienen uns ebenfalls, aber man gewährt ihnen eine andere Stufe von Respekt und Freiheit. Sie neigen dazu, Apparate zu bauen – besser, als wir es können –, und sie verstehen auch die Kräfte der Natur besser als wir Träger der schwarzen Roben. Obgleich sie nicht außerhalb des Gesetzes stehen, werden sie doch von der Versammlung vor Einmischung von anderen geschützt. Alle Magier gehören zum Aufgabenbereich der Versammlung.«
Milamber sagte: »Also haben wir die Freiheit, zu handeln, wie wir es für richtig halten, solange wir es im Interesse des Kaiserreiches tun.«
Hochopepa nickte. »Es ist nicht wichtig, was wir tun. Ja, selbst wenn sich zwei Magier über die eine oder andere Aufgabe streiten, ist das egal, solange nur beide daran glauben, im Interesse des Kaiserreichs zu handeln.«
»Dies ist von meinem ›barbarischen‹ Gesichtspunkt aus ein merkwürdiges Gesetz.«
»Kein Gesetz, sondern eine Tradition. In dieser Welt, mein barbarischer Freund, können Tradition und Sitte weit stärker sein als das Gesetz. Gesetze werden geändert, die Tradition besteht fort.«
»Ich glaube, ich sehe, wo Euer Problem liegt, mein zivilisierter Freund. Ihr vertraut mir nicht, daß ich im Interesse des Kaiserreiches handeln werde, weil ich ein Ausländer bin.«
Hochopepa nickte. »Wenn wir sicher gewesen wären, daß Ihr in der Lage sein würdet, gegen das Kaiserreich vorzugehen, dann hätte man Euch getötet. Nun sind wir aber unsicher, neigen aber zu der Annahme, Euch für unfähig zu halten, eine solche Handlung zu begehen.«
Zum erstenmal verstand Milamber nicht mehr, was er hörte. »Ich war der Meinung, daß Ihr Mittel und Wege hättet, um Euch zu vergewissern, daß alle, die ausgebildet werden, dem Kaiserreich treu ergeben sind. Das ist doch die oberste Pflicht.«
»Für gewöhnlich, ja. In Eurem Fall sahen wir uns Problemen gegenüber, die neu für uns sind.
Soweit wir das beurteilen können, habt Ihr Euch der zugrundeliegenden Sache der Bruderschaft der Magier, der Ordnung des Kaiserreiches, unterworfen. Gewöhnlich sind wir sicher. Wir lesen einfach die Gedanken des Lehrlings. Aber bei Euch konnten wir das nicht. Wir müßten auf Drogen zurückgreifen, auf ein Wahrheitsserum, auf lange Verhöre und Übungen, die jede Falschheit aufgezeigt hätten.«
»Weshalb?«
»Den Grund dafür kennen wir nicht. Die Zauber, mit denen man seine Gedanken verschleiern kann, sind uns bekannt. Es war aber nichts dergleichen. Es war, als verfügtet Ihr über eine Eigenschaft, der wir nie zuvor begegnet waren. Vielleicht ein Naturtalent, das uns unbekannt ist, aber in Eurer Welt ist das nichts Besonderes; oder es ist das Resultat Eurer Ausbildung durch einen Meister des Geringeren Pfades. Auf jeden Fall schützte es Euch vor unseren Künsten des Gedankenlesens.
Und es schuf Unruhe in diesen Hallen, dessen könnt Ihr sicher sein. Mehrere Male während Eurer Ausbildung wurde die Frage gestellt, ob Ihr weiterlernen dürft. Und jedesmal wurde unsere Unfähigkeit, Eure Gedanken zu lesen, als Grund für Eure Beendigung aufgeführt. Aber immer waren mehr Mitglieder dafür, Euch weitermachen zu sehen, als dagegen. Im großen und ganzen stellt Ihr einen möglichen Reichtum an neuem Wissen dar, und deshalb verdient Ihr, daß man die vorhandenen Zweifel zu Euren Gunsten auslegt. Natürlich nur um sicher zu sein, daß wir ein so wertvolles Talent nicht verlieren.«
»Natürlich.«
»Gestern wurde die Frage Eurer Weiterführung kritisch. Als die Zeit kam, Euch endgültig in die Versammlung aufzunehmen, wurde die Frage erneut aufgeworfen. Sie endete mit einem Unentschieden. Es gab allerdings eine Stimmenthaltung, die von mir selbst. Solange ich mich nicht der einen oder anderen Seite zugeselle, ist die Frage Eures Überlebens strittig. Ihr seid frei, wie ein Mitglied der Versammlung zu handeln, bis ich meine Stimme vergebe, entweder, um Eure Aufnahme in die Versammlung gutzuheißen, oder nicht. Unsere Tradition läßt einen Wechsel beim Abstimmen nicht zu, außer, man hat sich der Stimme enthalten, Da niemand, der während der Abstimmung abwesend war, seine Stimme später abgeben darf, bin ich nun der einzige, der die Stimmengleichheit aufheben kann. Also entscheide ich nun über das Ergebnis, ganz gleich, wie lange ich es hinauszögere.«
Milamber schaute den älteren Magier lange und scharf an. »Verstehe.«
Hochopepa schüttelte langsam den Kopf. »Ich frage mich, ob Ihr das wirklich tut. Um es einfach zu sagen: Die Frage ist, was soll ich mit Euch machen? Ohne es gewollt zu haben, liegt plötzlich Euer Leben in meinen Händen. Ich muß entscheiden, ob Ihr getötet werden sollt oder nicht. Deshalb wünschte ich, Euch zu sehen. Ich wollte wissen, ob ich mich in meinem Urteil geirrt habe.«
Plötzlich warf Milamber den Kopf in den Nacken und lachte laut. Tränen liefen ihm über die Wangen. Als er sich wieder beruhigt hatte, erklärte Hochopepa: »Ich kann daran nichts Lustiges entdecken.«
Milamber hob die Hände in einer besänftigenden Geste. »Beleidigung lag nicht in meiner Absicht, mein zivilisierter Freund. Aber Ihr müßt die Ironie dieser Situation ebenso gut erkennen wie ich. Ich war ein Sklave, und mein Leben war von der Laune anderer abhängig. Trotz all meiner Ausbildung, und obwohl ich jetzt aufgestiegen bin, hat sich an dieser Tatsache nichts geändert.« Er machte eine kurze Pause, und sein Lächeln war freundlich. »Aber mir ist es immer noch lieber, wenn Ihr über mein Leben entscheidet und nicht mein ehemaliger Aufseher. Das ist es, was ich so lustig finde.«
Hochopepa war von dieser Antwort überrascht, lachte dann aber auch. »Viele von unseren Brüdern kümmern sich nicht um die alten Lehren. Aber wenn Ihr mit unseren alten Philosophen vertraut seid, werdet Ihr mich begreifen. Ihr scheint ein Mann zu sein, der sein Wallum gefunden hat. Ich meine, wir verstehen uns, mein barbarischer Freund. Ich glaube, wir haben einen guten Anfang gemacht.«
Milamber musterte Hochopepa. Ohne den unbewußten Prozeß zu kennen, mit dem dieser seine Entscheidung traf, war er der Meinung, einen Verbündeten gefunden zu haben und vielleicht sogar einen Freund. »Ich glaube es auch. Und ich halte Euch ebenfalls für einen Mann, der sein Wallum gefunden hat.«
Mit gespielter Bescheidenheit sagte Hochopepa: »Ich bin bloß ein einfacher Mann, viel zu sehr Sklave der Vergnügungen meines Fleisches, um einen solchen Zustand der perfekten Mitte erreicht zu haben.« Seufzend beugte er sich vor und redete eindringlich weiter. »Hört mir gut zu, Milamber.
Aus all den vorhin aufgeführten Gründen seid Ihr ebensosehr eine Waffe, die wir fürchten müssen, wie eine mögliche Wissensquelle. Viele unserer Brüder sind kaum mehr als abergläubische Bauern, die allem mißtrauen, was fremdartig und unbekannt ist. Vom heutigen Tage an gibt es für Euch nur eine Aufgabe. Ruht friedlich verborgen in Eurem Wallum und werdet Tsurani. Nach außen hin müßt Ihr mehr Tsurani werden als jedermann sonst in der Versammlung. Ist das klar?«
»Ja.«
Hochopepa schenkte jedem einen weiteren Becher heiße Chocha ein. »Seht Euch besonders vor den Lieblingen des Kriegsherrn vor. Der Fortschritt des Krieges mit Eurer ehemaligen Heimatwelt lastet schwer auf seiner Seele, und er mißtraut der Versammlung. Jetzt, da zwei unserer Brüder im letzten großen Feldzug gestorben sind, sind nur noch wenige bereit, diesem Unternehmen ihre Hilfe zu gewähren. Die wenigen Magier, die noch seinem Kreis angehören, sind überanstrengt, und es geht das Gerücht um, daß er unfähig ist, Eure Welt noch weiter zu unterdrücken, wenn nicht ein Wunder geschieht. Das würde einen einigen Hohen Rat erfordern – den es geben wird, wenn die Thun-Stoßtruppen Landwirte und Dichter werden, und nicht früher –, oder eine große Anzahl von Schwarzen Roben, die bereit sind, seine Bitten zu erfüllen. Das letztere sollte ungefähr ein Jahr nach dem ersteren eintreten. Ihr seht also, daß er sich in einer recht mißlichen politischen Lage befindet. Kriegsherren, die bei der Kriegsführung versagen, neigen dazu, schnell die Gunst des Volkes zu verlieren.« Lächelnd fügte er hinzu: »Wir von der Versammlung stehen natürlich weit über der Politik.« Sem Ton wurde wieder ernst. »Ihr müßt Euch über eines im klaren sein: Er mag Euch als eine potentielle Gefahr ansehen, die entweder andere beeinflußt, ihm nicht zu helfen, oder die aus einer tiefverwurzelten Sympathie für Euer ehemaliges Heimatland offen gegen ihn Opposition ergreift. Vor seinen direkten Handlungen seid Ihr geschützt. Ihr könnt aber immer noch mit seinen Lieblingen zusammenstoßen. Es gibt noch immer welche, die ihm blindlings folgen.«
»Der Weg der Macht ist ein Weg der Windungen in Windungen«, zitierte Milamber.
Hochopepa nickte und schaute ihn zufrieden an. Seine Augen schienen zu funkeln. »Das ist Tsurani. Ihr lernt schnell.«
In den folgenden Wochen wuchs Milamber in die Fülle seiner neuen Position hinein und lernte die Verantwortung seines Amtes zu tragen. Mehr als einmal wurde gesagt – und gelegentlich voll Mißtrauen –, daß es nur wenige gegeben hatte, die schon so kurze Zeit nach dem Anlegen der schwarzen Robe solche Fähigkeiten gezeigt hatten.
Trotz all der Veränderungen in seinem Leben stellte Milamber fest, daß es vieles gab, was noch so wie vorher war. Er entdeckte, daß es immer noch ungenützte Quellen der Kraft in ihm gab, die er zu Zeiten des Bedarfs anzapfen konnte. Er bemühte sich, diese wilden, zusätzlichen Kräfte unter Kontrolle zu bekommen, hatte aber nur wenig Erfolg damit. Er entdeckte außerdem, daß er in der Lage war, die geistigen Bedingungen beiseite zu schieben, die ihm während seiner Ausbildung auferlegt worden waren. Er beschloß jedoch, diese Tatsache niemandem zu offenbaren, nicht einmal Hochopepa. Seine Rückkehr zu dieser geistigen Beschaffenheit brachte auch den nahezu übermächtigen Wunsch mit sich, Katala an seiner Seite zu wissen. Er verdrängte seine Sehnsucht, umgehend zu ihr zu reisen und vom Herrn der Shinzawai zu verlangen, sie freizugeben. Jetzt, da er ein Erhabener war, hätte er das jederzeit tun können. Aber er zögerte aus Angst vor der Reaktion der anderen Magier und aus Angst, ihre Gefühle ihm gegenüber könnten sich geändert haben. Statt dessen vertiefte er sich in seine Studien.
Seine Zeit in der Versammlung ließ seine wahre Identität offenbar werden, wie man es ihm schon vorausgesagt hatte. Diese Identität erwies sich als der Schlüssel für seine ungewöhnliche Meisterschaft auf dem Erhabenen Pfad. Er war ein Geschöpf zweier Welten, Welten, die durch den großen Spalt miteinander verbunden waren. Und solange sie dies waren, bezog er seine Kraft aus beiden. So hatte er doppelt so viel Macht und Kraft wie die anderen Träger der schwarzen Robe.
Dieses Wissen enthüllte auch seinen wahren Namen, diesen Namen, der niemals ausgesprochen werden durfte, sollte nicht ein anderer Macht über ihn gewinnen. In der alten Tsurani-Sprache, die seit der Zeit des Großen Fliehens von niemandem mehr gehört worden war, besagte er »Einer, der zwischen den Welten steht«.