13

Während ich meinen Polo langsam und unsicher durch die tiefe Schneefahrbahn manövrierte, versuchte ich das hysterische Entsetzen und die unkontrollierbare Angst, die mich angefallen hatten wie rabiate Tiere, zu bändigen, indem ich mich zwang, langsam, tief und bewusst zu atmen. Ich hatte Mühe, mich auf der Straße zurechtzufinden, zumal es inzwischen wieder zu schneien begonnen hatte und die Sicht beeinträchtigt war. Allmählich beruhigte ich mich, war wieder fähig, mich zu orientieren.

Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte Stefan nicht gehört, was ich gesagt hatte. Und selbst wenn er den letzten Satz vernommen hatte, musste das nicht heißen, dass ich in Gefahr war. Weshalb also diese Kopflosigkeit? Es war sein Blick gewesen. Etwas in seinen Augen. Ich merkte, dass ich ständig in den Rückspiegel schaute.

Automatisch schlug ich die Richtung ein, die zum Haus meiner Großeltern führte. Nachdem ich vor ihrem Winzerhof geparkt hatte, ging ich in meinen leichten Schuhen mit den hohen Absätzen durch den Schnee zum Haustor. Die Tür war versperrt, es brannte kein Licht. Wahrscheinlich machte meine Großmutter gerade einen Besuch oder hatte sich ihrem Mann im Wirtshaus angeschlossen. Erneut ergriffen Unruhe und Anspannung von mir Besitz, eine Art unbestimmtes Grauen, das klares Denken verhinderte. Eine Serie von ungeordneten Bildern und Gedanken ohne Zusammenhang zog in gesteigertem Tempo durch meinen Kopf. Ein Film in hoch beschleunigtem Zeitraffer. Mein Hirn suchte nach Möglichkeiten, Auswegen. Zuletzt sah ich meinen Vater vor mir, in dessen Gegenwart ich mich trotz seiner labilen und eigenwilligen Wesensart, seiner psychischen Schwierigkeiten und seiner Alkoholprobleme immer beschützt und geborgen gefühlt hatte.

Die Mühle. Sein Erbe. Mein Erbe. Dort würde ich in Sicherheit sein.

Ich war nie mit Stefan in der Mühle gewesen, war mir ziemlich sicher, dass ich sie ihm gegenüber nicht einmal erwähnt hatte, konnte mir nicht vorstellen, dass er wusste, wo sie sich befand. Die Stelle war entlegen, schwer zu finden. Der große eiserne Schlüssel lag im Handschuhfach meines Wagens.

Zum zweiten Mal an diesem Tag brach ich vom Haus der Großeltern in Richtung Mühle auf. Ich parkte den Polo am Waldrand, an einer Stelle, wo er nicht leicht zu sehen war, und betrat den Pfad, der in den Wald führte. Diesmal war der Weg hinunter in den Graben wesentlich beschwerlicher, da meine Schuhe mit den Absätzen und den dünnen Ledersohlen für das Gehen auf dem schneebedeckten, immer steiler werdenden Steig nicht geeignet waren. Ich glitt mehrmals aus, fiel hin, schürfte mir erst das Knie, dann den rechten Handballen auf. Meine Füße waren eiskalt, nach einer Weile spürte ich sie kaum noch. Da ich nicht vorgehabt hatte, mich im Freien aufzuhalten, trug ich keinen Mantel, nur eine Jacke aus Baumwolle, in der ich schrecklich fror. Ich hoffte, dass es in der Mühle noch warm sein würde. Mir wurde bewusst, dass ich mich auch auf diesem anstrengenden Fußweg fortwährend umsah. Als folge mir jemand. Ich hatte das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Stefan würde mich doch nicht verfolgen! Die Fenster im Haus des Forstgehilfen waren nicht erleuchtet. Ich erschrak, als zwei Krähen einen Meter von mir entfernt mit lautem Gekrächze aufflogen. Ich fühlte mich sehr allein.

Nachdem ich erschöpft vor der Mühle angekommen war, sperrte ich die Tür auf, schlug sie nach meinem Eintreten sofort wieder zu und drehte den Schlüssel im Schloss, so lange er sich drehen ließ, bevor ich auch noch den Riegel vorschob, der innen an der Tür angebracht war. Im Zimmer war es tatsächlich noch warm, durch das Sichtfenster des Kaminofens sah ich die glosenden Holzreste auf dem Rost. Ich öffnete die Feuertür und legte Anzündholz aus einem Weidenkorb auf die Glut. Dann ließ ich Leitungswasser aus dem Wasserhahn des Abwaschbeckens in einen Topf rinnen und stellte das Gefäß auf die Kochplatte oben auf dem Heizkörper. Ich nahm zwei dicke runde Buchenscheite von dem kleinen Stoß Brennholz neben dem Ofen und schob sie über das Anzündholz in den Feuerraum. Danach zog ich meine Schuhe aus, schob den alten Lehnsessel näher zum Ofen hin, wickelte mich in die abgenutzte graubraune Wolldecke, die darauf lag und an der ich noch den Geruch meines Vaters wahrzunehmen glaubte, setzte mich in den Stuhl und streckte die Beine aus, sodass die Wärme, die das Gusseisen des Ofens abstrahlte, meine Füße erreichen konnte.

Mein Denken wurde ruhiger, sachlicher. Dass ich hierhergekommen war, war unüberlegt gewesen, ich hatte kopflos gehandelt. Es gab keinen plausiblen Grund für meine Paranoia. Und wenn es einen gab, war es vernünftiger, unter Menschen zu gehen. Mich an einen so abgeschiedenen Ort zu begeben, machte meine Lage nur noch schlimmer. Mein Vater war tot, er konnte mir nicht mehr helfen, mich nicht mehr behüten. Ich würde mich in der Mühle ausruhen und aufwärmen, einen Parka und ein Paar feste Schuhe suchen, die hier sicher zu finden waren, den Weg durch den Wald zurückgehen und nach Wien aufbrechen. Es war logisch, das einzig Sinnvolle, das ich in meiner Situation tun konnte.

Vor dem Holzstoß türmte sich auf dem Fußboden ein windschiefer Stapel von Zeitschriften. Ich beugte mich hinunter, berührte sie. Es waren alte, zerlesene Fachzeitschriften über Motorräder und über Rockmusik. Bikers News. Spex. Mojo. Motorrad. Spin. Rolling Stone. Jede Menge Exemplare von Rolling Stone. Mehr als die Hälfte der Blätter der obersten Zeitschrift waren herausgerissen. Womöglich hatten meine Großmutter und meine Tanten die heiligen Schriften meines Vaters als Zündpapier verwendet? Ich suchte mir ein paar Nummern von Rolling Stone heraus, strich über das Papier, musste lächeln. Mein Vater. Es stimmte, er konnte nicht mehr auf mich achtgeben, mich nicht mehr beschützen, doch der Gedanke an ihn, das Anfassen der Hefte, die ihm so viel bedeutet hatten, in denen er so oft gelesen, deren Seiten er so oft umgeblättert hatte, lenkten mich ab von meiner Verfolgungsangst, nahmen mir meine Panik.

Half a million strong. Ein Artikel über Woodstock. Ein Schwarzweißfoto, eine riesige Menge junger Menschen, auf dem Erdboden sitzend, liegend, in Jeans, T-Shirts, mit entblößten Oberkörpern. »It was Sunday afternoon, Joe Cocker and the Grease Band had finished their powerhouse set, and suddenly the sky turned black and everyone knew it was going to rain again. It did.« So schrieb jemand namens Greil Marcus. Der Name kam mir bekannt vor. The Madness and Majesty of Pink Floyd. The ugly truths and bitter rivalries behind rock’s most visionary band. John Lennon, nackt und in Embryo-Stellung auf der schwarzen Yoko Ono liegend, ihre Wange küssend, ihren Kopf mit seinem linken Arm einrahmend. January 22, 1981. Ein Foto von Kurt Cobain. Cobain’s death affected fans so deeply that fourteen copycat suicides ensued that year. »›I’ve been relieved of so much pressure in the last year and a half‹, Kurt Cobain says with discernible relief in his voice. ›I’m still kind of mesmerized by it.‹«

Ich war todmüde. Gleich würde ich aufstehen, mir mit dem heißen Wasser im Topf auf dem Ofen einen Tee kochen, ihn trinken und mich dann auf die Suche nach warmer Kleidung und solidem Schuhwerk machen. Die Hitze, die der Ofen mittlerweile ausstrahlte, betäubte mich. Gleich würde ich dieses Haus, dieses Dorf verlassen und nach Wien zurückkehren. In eine Stadt, die nicht meine Heimat war, die ich nicht liebte, nicht einmal mochte, die mir wenig bedeutete, an der ich nicht hing, die aber immerhin die Stadt war, in der ich lebte. Eine Art von Zuhause. Wann die Zeitschriften von meinem Schoß glitten, weiß ich nicht mehr. Wann ich eingeschlafen bin, auch nicht.

»Hallo, Prinzessin«, sagte jemand, lachte leise und berührte mich leicht an der Schulter. Es war in einem Traum. Ich träumte. Langsam, langsam tauchte ich aus meinem Dahindämmern auf, öffnete die Augen halb, hob den Kopf ein wenig, mit Mühe, Millimeter um Millimeter, wie mir schien. Stefan stand schräg vor mir und blickte auf mich herab. Er hatte eine schwarze Tasche in der Hand, eine Art Sporttasche. Ja, es war wie in einem dieser Träume, in denen man gelähmt ist oder sich nur mit größter Anstrengung bewegen kann. In einer Welt aus Watte. Nur – ich war aufgewacht. Ich entsann mich, dass ich die Tür zugesperrt und den Riegel vorgeschoben hatte.

»Wie bist du hereingekommen?«, fragte ich. Es erstaunte mich, dass ich sprechen konnte.

»Durch das Fenster im ersten Stock.«

Mir fiel ein, dass neben dem Schnittholz, das an der Rückseite des Hauses aufgeschichtet war, immer eine Leiter stand. Vielleicht war ein Fenster einen Spaltbreit offen gestanden?

»Wie hast du mich gefunden? Ich habe dir nie von der Mühle erzählt.«

Seine Antwort interessierte mich tatsächlich. Der Gedanke zu fliehen kam mir nicht, ich hatte nicht einmal das Bedürfnis aufzustehen. Es war so wohlig warm in diesem Zimmer, vor dem Ofen.

»Du unterschätzt mich«, sagte Stefan. »Ich bin dir nachgefahren, in angemessenem Abstand natürlich. Es war kein großes Problem, das geparkte Auto zu finden.« Er lächelte nachsichtig. »Und die Mühle? Ich lebe hier, Sissi, ich praktiziere als Arzt, ich spreche mit den Leuten, erfahre vieles. Hast du tatsächlich gedacht, ich würde dich hier nicht finden?«

»Was willst du?«, fragte ich weiter. Obwohl ich die Antwort kannte. Seit wann, war mir nicht ganz klar.

»Dich töten«, sagte er in sanftem Ton. Er hatte es ausgesprochen, die Worte klangen banal. »Aber das weißt du doch, Prinzessin, das weißt du längst. Und du müsstest auch wissen, dass ich nicht erst heute auf diesen Gedanken gekommen bin.« Er blickte mich teilnahmsvoll an. »Wie könnte ich dich leben lassen? Auch wenn die Vorstellung, dich umzubringen, entsetzlich für mich ist.« Er kniete sich vor mich hin, blickte traurig zu mir hoch. »Weshalb konntest du deine Neugier nicht bezähmen? Weshalb konntest du die alten Zeiten nicht auf sich beruhen lassen? Ich bin wirklich in dich verliebt, Prinzessin, hast du das nicht gemerkt?« Tränen traten in seine Augen.

Mit einem Mal begriff ich, dass er verrückt war. Und dass mir dies, zumindest in meinem Unterbewusstsein, schon lange klar war.

»Wir hätten gut miteinander leben können«, sprach er weiter. »Die Vergangenheit wäre immer farbloser geworden, blass und blasser, so wie Regina auf dem Grund des Weihers.« Er begann zu schluchzen, sprach stockend, undeutlich. »Es wäre so einfach gewesen. So einfach. Wir waren auf dem besten Weg. Warum hast du eingegriffen? Warum hast du nachgeforscht?« Er fasste sich wieder, wischte sich die Tränen mit den Fingern von den Wangen. »Hast du ernsthaft geglaubt, ich hätte nicht gewusst, dass du nach Procida gefahren bist?« Er schüttelte den Kopf. »Nachdem ich dich, angeblich in Helsinki, angerufen hatte, wurde ich misstrauisch und kontaktierte Signora Smaldone. Sie hat mir bestätigt, dass du in Procida warst, in ihrer Pension. Auf die Frau ist Verlass, sie mochte Regina und mich. Dich mochte sie weniger. Jedenfalls war es mit diesem Wissen nicht mehr allzu schwierig, die Schritte, die du unternehmen würdest, im Voraus zu berechnen.« Er atmete tief ein und wieder aus. »Zugegeben, ich war unvorsichtig. Ich hätte das Amulett verschwinden lassen müssen. Deine Reaktion auf dem Flohmarkt hat mir augenblicklich bewiesen, dass du im Bilde warst.«

Plötzlich grinste er. Ja, er war verrückt. Im Bruchteil einer Sekunde erkannte ich, dass ich keine Chance hatte zu überleben.

»Aber es machte mir Spaß, das Ding zu spenden. Es war ein Spiel, und ich spiele gern.«

Er stand auf.

»Ich hatte schon länger vermutet, dass du zu viel weißt. Dennoch zögerte ich, war unentschlossen, traf keine endgültige Entscheidung, konnte mir immer noch vorstellen, dass es eine Zukunft für uns gab.« Er öffnete den Reißverschluss der schwarzen Tasche. »Aber nach dem Satz, den du heute an diesen Kriminalbeamten aus Graz gerichtet hast, war mir klar, was zu geschehen hat. Ich wusste, dass du Regina aufgrund des Implantats und der Operationsnarbe sofort identifizieren würdest.« Er sah mich mitfühlend an, strich mir sanft über die Wange. »Dass ich das verhindern muss, verstehst du doch?«

»Regina hat Verwandte, die ihre Identität bestimmen können.«

»Vielleicht. Aber ohne deine Hinweise wird keiner auf die Idee kommen, dass es sich um Regina handelt. Niemand hier weiß von dem Implantat, dem Drehbruch. Wie könnte man auf Regina schließen?« Er lachte. »Sie ist in Italien ertrunken. Alle sind davon überzeugt. Noch dazu hat Florian gestanden.«

»Man wird herausfinden, dass er es nicht gewesen sein kann.«

»Möglich. Aber das spielt keine Rolle. Keiner wird mich verdächtigen, darum geht es. Kein Mensch. Ich bin eine geachtete Persönlichkeit in diesem Bezirk. Mein Wort wird hier nicht angezweifelt.«

Ich dachte an Florians Bruder. Er hatte recht gehabt.

In aller Ruhe entnahm Stefan der Tasche ein aufgerolltes, nicht sehr dickes Seil. Ich machte einen Versuch, mich zu erheben, aber er drückte mich in den Sessel zurück. Ich war unfähig, Widerstand zu leisten. Der Sog der Angst hatte mir jeden Funken Energie geraubt, ich fühlte mich willenlos, paralysiert, ohnmächtig.

»Ich muss es tun, Prinzessin. Verzeih mir.« Noch ein bedauernder Blick. »Es ist deine Schuld, alles hätte anders kommen können.« Er wand das lange Seil geschickt erst um mich und die Decke, in die ich noch immer gehüllt war, sodass ich meine Arme nicht mehr bewegen konnte, und dann noch um die Stuhllehne, an die ich somit gefesselt war. Er zog die Schnur fest, verknotete sie, nahm ein Schweizermesser aus der Tasche, schnitt sie durch und band mit einem Teil der restlichen Länge meine Füße zusammen.

»Ich habe an alles gedacht«, sagte er, nicht ohne Stolz. »Sobald ich deinen Wagen entdeckt und daraus gefolgert hatte, dass du in der Mühle bist, fuhr ich zurück und holte aus dem Haus, was ich brauchen würde.« Er zeigte mir die offene Tasche. »Hier«, sagte er und zog ein Tuch hervor. Es gehörte mir. »Damit werde ich dich knebeln. Ein Klebeband wäre wirkungsvoller, aber ich bin mir nicht sicher, ob es ohne Rückstände verbrennt. Im Gegensatz zu diesem Hanfseil.«

Das war es. Das war der Plan. Und es war kein schlechter. Er hatte vor, die Mühle in Brand zu stecken. Mit mir darin. Wie zur Bestätigung meines Gedankenganges nahm er einen nicht sehr großen Plastikkanister aus der Tasche.

»Das optimale Setting für einen durch Unvorsichtigkeit verursachten Brand«, sagte er und schloss den ganzen Raum in einer ausladenden Geste seiner Hand ein. »Es wird wenig Benzin nötig sein. Man wird nicht eruieren können, dass es sich um Brandstiftung handelt.«

»Doch, das wird man«, sagte ich. »Die Verwendung von Brandbeschleunigern kann heute zuverlässig mithilfe der Kopplung eines Gas-Chromatografen mit einem Massenspektrometer nachgewiesen werden.« Mir war klar, dass ich mich lahm anhörte, wissenschaftlich-theoretisch, so, als hielte ich meine Vorlesung. Das lag daran, dass mir das, was vor sich ging, völlig unwirklich erschien. Es konnte nicht die Realität sein. »Es existieren auch noch andere Verfahren«, setzte ich, ebenso wenig überzeugend, hinzu.

»Das glaube ich nicht«, sagte Stefan. Er hob selbstbewusst den Kopf. »Und wenn schon. Man wird niemals auf mich als Täter kommen.« Er blickte um sich und nickte zufrieden. »Das Gebäude ist klein und alt, praktisch alles ist aus Holz. Fußboden, Decken, Wände. Das brennt wie Zunder. Man sitzt nahe am Feuer. Ein bisschen zu nahe. Die Wärme macht einen schläfrig. Es kann passieren, dass man vergisst, die Feuertür zu schließen. Dass man sie schlecht geschlossen hat, sodass sie sich langsam wieder öffnet. Oder dass man sie bewusst offen gelassen hat, damit es wärmer ist. Ein brennendes Holzstück fällt aus dem Ofen auf den Fußboden.« Mit dem Fuß schob Stefan den Zeitschriftenstapel näher zum Heizkörper hin. »Solche Dinge geschehen ständig. Das Papier fängt sofort Feuer. Aber da ist man schon eingenickt. Gleich neben dem Ofen ist der Brennholzvorrat.«

Ich fragte mich, weshalb ich nicht schrie. Aber wer würde mich hören? Im Haus des Forstgehilfen war niemand. Außerdem würde Stefan mein Schreien auf der Stelle unterbinden. Und warum setzte ich nicht all meine Überredungskünste ein, um ihn von seiner Absicht abzubringen? Weil ich wusste, dass es zwecklos war. Ich hatte Schutz gesucht an dem Ort, wo mein Vater gelebt hatte. Reine Sentimentalität. Ich hatte mich für die verkehrteste, verfehlteste aller Möglichkeiten entschieden.

Opfer und Täter. Ich, die Rechtsmedizinerin, die so viel mit Verbrechen zu tun hatte, so viel über Verbrechen wusste, hatte mich als ideales, geradezu mustergültiges Opfer herausgestellt.

»Du hast es mir leichtgemacht, Prinzessin«, sagte Stefan wie als Antwort auf meine Überlegungen.

»Ich werde dich nicht verraten«, hörte ich mich sagen.

Ich wollte nicht sterben.

»Doch, das wirst du. So wie Regina mich verraten hat. Alle Frauen sind Verräterinnen. Von Natur aus. Aber mich verrät keine mehr.«

»Ich sage es niemandem, ich schwöre es dir!«

Nein, ich wollte nicht sterben.

Stefan antwortete nicht, lachte nur leise und schüttelte den Kopf. Er nahm das Tuch in die Hand. Es war eines meiner Halstücher, ein weiches Seidentuch in fein abgestuften Brauntönen, im Batikverfahren eingefärbt. Ich hatte es in Yogakarta an der Südküste Javas gekauft. Auch die Reise nach Indonesien hatten wir zu dritt unternommen.

»Entschuldige bitte, aber ich muss dich jetzt knebeln. Es ist nötig. Mach es mir nicht schwer.«

Ich versuchte mit dem Kopf auszuweichen, ihn hin und her zu werfen. Er wurde böse.

»Halt still!«, herrschte er mich an. Dann band er mir das Tuch fest um den Kiefer, so, dass es zwischen meinen Lippen lag und die Mundwinkel zurückzerrte. »Atme durch die Nase«, sagte er. Wieder dieses wahnsinnige Lächeln. »Solange es möglich ist.«

Er begann, im Raum hin und her zu gehen.

»Es passierte im Affekt«, sagte er. »Anders als das, was demnächst hier passieren wird. Ich verlor die Kontrolle über mich.« Er machte eine kurze Pause. »Regina hat es verstanden, mich in Wut zu bringen. Es hat ihr Spaß gemacht. Sie hat mir ihre Affären im Detail geschildert, mir die sexuellen Finessen, die sie mit ihren Liebhabern genoss, genau beschrieben, auch die Lust, die sie bei diesen manchmal nicht ungefährlichen Spielen empfand. Sie hat sich an meiner Erniedrigung, meinem Schmerz geweidet.«

Ich wusste, wovon die Rede war, ich kannte Reginas Journale. Aber ich konnte nicht sprechen, also versuchte ich zu nicken und zustimmende Geräusche von mir zu geben. Stefan beachtete mich kaum, schaute mich nicht an, während er weiter auf und ab ging. Auf und ab. Hin und her.

»Auch in Procida betrog sie mich. Mit dem erstbesten jungen Typen. Ich versuchte mich zu rächen, es ihr mit gleicher Münze heimzuzahlen, schlief mit dem jungen Zimmermädchen der Pension, in der wir wohnten, erzählte ihr davon. Es ließ sie kalt. Regina hatte keine Gefühle.«

Der Zeuge Jehovas. Und Elettra. Was mir berichtet worden war, hatte gestimmt.

»Ich hatte mir von der Woche in Italien etwas Ruhe und Frieden versprochen, hatte gehofft, dass die Sonne, das Meer, die südliche Vegetation einen besänftigenden Einfluss auf Regina haben würden. Das war ein Irrtum. Auf der Insel eskalierte die Situation, da unsere Arbeit nicht mehr als Puffer funktionierte. Wir waren ständig zusammen.« Er wandte mir den Blick zu. »Ich habe dir von dem Badeausflug nach Vivara erzählt. Davon, wie sie über die Bucht schwamm und ertrank. Es war ganz anders. Wir stritten uns. Sie sprang ins Wasser und schwamm weg.«

Wieder versuchte ich zu nicken. Hätte ich mich artikulieren können, wäre es mir vielleicht gelungen, mich zu retten. Ich hätte Stefan klarmachen können, dass ich Bescheid wusste, dass ich während der Lektüre von Reginas Tagebüchern mit ihm mitgefühlt hatte. Dass ich von seiner Frau ebenfalls betrogen worden war. Auf andere Weise, aber nicht weniger schändlich.

»Nach ihrem Verschwinden blieb ich noch zwei, drei Tage in Procida, hoffte zunächst, sie würde doch noch, doch wiederauftauchen. Aber es ergab sich keine neue Wendung der Situation, und so beschloss ich, nach Österreich zurückzufahren. Ich wollte nicht länger bleiben. Ich hatte genug.« Er hielt kurz inne in seinem Hin- und Hergehen. »Da rief sie mich an, sehr früh am Morgen. Aus Neapel. Erzählte mir irgendeine Geschichte von ein paar Leuten, die sie aus dem Wasser und zu sich auf ihr Motorboot geholt hatten. Mit denen sie nach Neapel gefahren war. Sie verlangte, dass ich sie am Hafen in Neapel abholte. Sie wollte auf der Stelle nach Hause.«

Er hielt kurz inne, dann ging er weiter hin und her, hin und her.

»Ich brach sofort auf, nahm die nächste Fähre. Ohne den Wirtsleuten Bescheid zu sagen. Ich würde später anrufen und ihnen das Geld für das Zimmer und das Essen überweisen. Sie würden meine überstürzte Abreise verstehen, ich stand unter Schock. Als wir in den Hafen von Neapel einfuhren, sah ich Regina schon von weitem an der Anlegestelle der Fährschiffe stehen. Sie wirkte so klein, so zerbrechlich.« Er schaute mich an. »Ich war so froh, sie zu sehen, Sissi. Trotz allem. Ich nahm sie in die Arme, wollte sie nicht loslassen.« Er machte eine kurze Pause, verzog das Gesicht in einer Grimasse. »Auf der Rückfahrt verging mir die Wiedersehensfreude sehr bald. Regina schilderte mir die Tage und Nächte, die sie mit diesen Männern aus Neapel verbracht hatte, in aller Ausführlichkeit.«

Ich weiß Bescheid. Ich weiß es. Ich litt darunter, es nicht sagen zu können. Ich weiß es. Ich weiß.

»Die Männer hatten offenbar Kontakte zur Camorra. Sie fand das witzig. Aufregend. Abenteuerlich.«

Er blieb stehen, griff sich mit beiden Händen an den Kopf.

»Sie hörte nicht auf, Sissi. Sie hörte einfach nicht auf. Wieder und wieder beschrieb sie mir genüsslich und sadistisch, was sich abgespielt hatte. Ich versuchte abzuschalten, einfach nicht zuzuhören, aber das war schwierig. Ohne irgendwo lange anzuhalten, fuhr ich bis nach Österreich. Mitten in der Nacht kamen wir im Sausal an.«

Er setzte sich wieder in Bewegung. Auf und ab. Auf und ab.

»Ich war völlig überanstrengt vom langen Fahren, ausgelaugt, einem Zusammenbruch nahe. Und voller Wut. Ich konnte nicht mehr. Zuerst Reginas Verschwinden, ein paar Tage darauf ihr Anruf, dann das Zusammentreffen am Hafen in Neapel. Die Tortur der Rückfahrt. Es war zu viel für mich.« Er hielt inne, wie um sich zu sammeln. »Wir gingen ins Haus, ich trug das Gepäck in die Stube. Wir stritten uns. Plötzlich wandte sie sich mir zu, mit einem hintergründigen Lächeln, zog die Kette, die du kennst, unter dem T-Shirt hervor, nahm sie von ihrem Hals und hängte sie mir um.« Wieder verzerrte sich sein Gesicht. »S wie Salvatore, sagte sie. So hieß einer der Typen. Ich habe sie ihm vom Körper gestohlen, sagte sie, während der Orgie. Ein Geschenk für dich, habe ich mir gedacht. S wie Stefan, nicht? Sie begann laut zu lachen. Gefällt sie dir? fragte sie. Gefällt sie dir?«

Er presste die Lippen aufeinander.

»Es ging sehr schnell, ich erinnere mich kaum«, setzte er fort. »Ich nahm den Buddha von der Konsole und schlug damit auf ihren Kopf ein. Wie oft, weiß ich nicht. Auch nicht, woher ich die Kraft dazu nahm. Du kennst die Statue, sie ist schwer.«

Er setzte sich auf den Fußboden, ließ den Kopf hängen, schwieg eine Weile. Das Erzählen hatte ihn erschöpft. Wenn er verrückt war, so war ich es auch: Noch jetzt, kurz bevor er auch mich töten würde, hörte ich trotz meiner Angst mit Interesse zu, empfand eine Art Mitgefühl für ihn. Regina hatte uns beide auf die schlimmste Weise herabgesetzt und ausgenutzt. Er hob den Kopf und sprach weiter.

»Was mich danach noch lange beunruhigt hat, war die Gewissheit, gleich nach unserer Ankunft einen Schatten gesehen zu haben. Die Konturen eines Mannes, der durch eines der straßenseitigen Fenster zu uns hereinschaute. Vielleicht waren es meine überreizten Nerven.« Er stand auf, ging wieder hin und her. »Auch wie ich die körperliche Stärke aufbringen konnte, die Leiche, die Eisenketten, den Sonnenschirmständer und die Buddha-Statue ins Auto zu schaffen, damit zum Teich zu fahren und alles die letzten Meter noch über den Waldboden bis zum Wasser zu schleppen, zu zerren, ist mir unbegreiflich. Die Leiche zu beschweren und schließlich zu versenken. Und dann noch mit der massiven Skulptur um den halben Teich herumzugehen, an einer anderen Stelle ins Wasser zu waten und sie fallen zu lassen. Manchmal tauchen Bilder auf. Im Wachen, im Traum. Die blutige Masse, die Reginas Kopf gewesen war. Ihre verklebten langen Haare. Die Spitzen der eleganten italienischen Schuhe, die aus dem Gras ragten. Die feinen Hände, auf dem Boden dahinschleifend. Der Buddha mit Reginas Blut auf den lächelnden Lippen. Die Worte Om Mani Padme Hum, durchtränkt von dem roten Saft. Ich muss lange für meine Arbeit gebraucht haben. Aber es war tiefe Nacht, und ich war mitten im Wald. Die Gefahr, dass mich jemand überraschte, war gering. Trotz des Terrors in mir wusste ich, dass ich mir Zeit lassen konnte. Panik und Klarsicht können nebeneinander bestehen. Was zu tun war, war eindeutig. Ich war ein Automat. Eine Maschine.«

Stefan blieb stehen, strich sich mit den Händen langsam über das Gesicht. Er wirkte müde. Vieles von dem, was er mir erzählt hatte, war mir bereits bekannt gewesen, vieles hatte ich geahnt. Nun wusste ich alles.

»Ich liebe dich, Sissi«, sagte er. »Das musst du mir glauben.«

Er besann sich wieder auf den Benzinkanister, öffnete den Drehverschluss und begann, den Fußboden mit Benzin zu besprenkeln. Er ging sparsam mit der Flüssigkeit um.

»Ich kann dir versichern, dass du nicht leiden wirst«, sagte er, ohne mich anzusehen. »Man verliert rasch das Bewusstsein.« Er fuhr ruhig in seiner Tätigkeit fort, ging dazu über, die Zeitschriften und das Brennholz leicht mit dem Benzin anzufeuchten.

Er hatte keine Ahnung. Inhalationstrauma. Kopfschmerzen, Schwindel, Sehstörungen, Atemnot, Müdigkeit, Erbrechen. Schließlich tiefe Bewusstlosigkeit und Kreislaufstillstand. So schnell erstickte man nicht an Rauchgasen. Und während man all diese Qualen aushalten musste, erlitt der Körper zudem schwere Brandverletzungen.

Jetzt erst, als es zu spät war, versuchte ich zu schreien. Was aus meinem Mund kam, war ein langgezogenes, unartikuliertes, erstaunlich lautes Geräusch. Es klang, als hätte nicht ich es produziert, sondern jemand anderer.

Stefan schob den Lehnstuhl etwas näher zum Ofen hin und öffnete die Feuertür. Ein Hitzeschwall traf mich.

»Ich gehe jetzt ins Freie, Prinzessin. Ich werde im Schnee vor dem Haus stehen, durch die Fenster schauen und beobachten, ob alles so verläuft, wie ich es mir vorgestellt habe.«

Er verstaute seine Utensilien in der schwarzen Tasche und zog den Reißverschluss zu, dann nahm er ein Holzstäbchen aus dem Weidenkorb und stieß ein Stückchen Glut auf dem Ofenrost an, sodass es auf den dünnen kleinen Flickenteppich fiel, der auf dem Fußboden lag. Ein Flämmchen züngelte hoch. Er griff nach der Tasche, ging rasch zur Tür, entriegelte und öffnete sie und verließ das Haus. Ich hörte, wie er die Tür von außen zusperrte. Noch ein Flämmchen. Ein drittes, höher. Eine Flamme. Ich hatte den Eindruck, Stimmen zu hören. Zwei Männerstimmen. Ein Schreien. Mein Schreien? Nein, es war der Schrei eines Mannes. Dann muss ich das Bewusstsein verloren haben.

Irgendwann erlangte ich es wieder. In einem Bett. Meine Füße und Fußgelenke schmerzten, auch meine Waden. In meiner Ellenbeuge steckte ein Venenkatheter. Ich folgte dem transparenten Schlauch mit dem Blick. Er endete in einer Infusionsflasche aus Plastik, die an einem Ständer hing.

»Heilige Maria, Mutter Gottes, das Kind hat die Augen aufgeschlagen! Ein Weihnachtswunder!« Es war die Stimme meiner Großmutter. Ich wandte den Kopf in die Richtung, aus der sie kam. Sie stand am Fußende des Bettes.

»Unsinn! Es waren die achtundvierzig Medaillen der wundertätigen Madonna Immaculata Milagrosa, die du mir schließlich doch abgekauft hast.« Eine zweite Stimme. »Der minimale finanzielle Aufwand von fünf Euro hat sich gelohnt, ich habe es dir prophezeit.« Nach Inhalt und Klangfarbe musste es sich um das Organ der Witwe Dirnböck handeln.

»Sie sieht recht munter aus.« Das war die Stimme von Onkel Rudolf. Ich bewegte den Kopf nach rechts. Er saß neben mir und schmunzelte, was ihm nur unvollkommen gelang, da er den linken Mundwinkel noch immer nicht hochziehen konnte.

Ich schaute um mich. Ein Krankenzimmer. Mit nur einem Bett. Ein kleiner Raum. Er war gedrängt voll. Um mich herum standen und saßen elf Menschen: meine Großeltern, Tante Dagmar und Onkel Rudolf, Tante Beate und Onkel Hannes, Florian und Felix Temmel, meine Kusine Imelda, die Witwe Dirnböck und Hochwürden Wojcik. Alle lächelten mich an. Am breitesten lächelte Florian. Er trug das violette T-Shirt mit dem grellroten umgekehrten Kreuz darauf. Seine vier Brauenpiercings glitzerten.

Am Heiligen Abend konnte ich aus dem Landeskrankenhaus Wagna entlassen werden. Ich hatte Brandwunden ersten Grades an den Füßen und am unteren Teil der Waden davongetragen, die bald verheilt sein würden.

Inspektor Bierbaumer aus Graz hatte mir einen Krankenbesuch abgestattet, und ich hatte ihm mitgeteilt, was ich wusste. Nicht alles, aber das Wichtigste. Die Grazer Kriminalpolizei arbeitete rasch. Sie setzte sich sofort mit Reginas Zahnarzt in Wien in Verbindung, welcher bestätigte, ihr ein Implantat eingesetzt zu haben. Mithilfe mehrerer Zahnröntgen, die sich in seinen Aufzeichnungen fanden, konnte der Nachweis erbracht werden, dass es sich bei der Leiche zweifelsfrei um Regina König handelte. Auch der ärztliche Nachweis aus der Schweiz, die Operation von Reginas Schienbein betreffend, war eingetroffen, ein weiteres Beweisstück, das Stefan schwer belastete. Im Grunde war es nicht mehr erforderlich. Der Fuchsweiher wurde von neuem durchsucht, man fand die Buddha-Skulptur tatsächlich an einer anderen, seichteren Stelle des Teiches. Florian wurde auf freien Fuß gesetzt. Reginas Überreste zu besehen, blieb mir erspart.

»Was ich gemacht habe? Ganz einfach. Ich habe die Axt aus dem Hackstock gezogen und ihm einen ordentlichen Hieb aufs Haupt versetzt«, sagte Felix Temmel und grinste. «Nicht mit der Schneide, mit der Rückseite. Obwohl er es verdient hätte – ich meine, dass man ihm den Schädel spaltet. Jedenfalls ist er umgefallen und hat sich nicht mehr gerührt.«

»Und dann?«, fragte Tante Beate, die ihm gegenübersaß, beugte sich gespannt über den Tisch und riss die Augen auf.

»Dann habe ich ihm den Schlüssel aus der Hand genommen und die Tür aufgesperrt. In der Stube hat schon alles gebrannt. Ich habe Sissi aus dem Sessel gehoben, bin mit ihr aus dem Haus gelaufen und habe sie in den Schnee gelegt. Neben den Doktor König.«

»Neben den Doktor König«, hauchte Tante Dagmar. »Ergreifend. Trotz allem.«

»Ich bitte dich, Dagmar, verschone uns mit deiner Rührseligkeit!«, sagte meine Großmutter, die Hexe.

»Weiß wie Schnee, rot wie Blut … das arme Schneewittchen«, flüsterte meine Tante, ihrer Schwiegermutter zum Trotz, und sah mich voll Mitgefühl an.

Alle, die mich im Krankenhaus besucht hatten, saßen nun beim Weihnachtsessen um den Tisch in der Stube im Haus meiner Großeltern. Gerade war eine Frittatensuppe aufgetragen worden. Florian schlürfte laut. Dass meine Großmutter beide Brüder Temmel eingeladen hatte, war lediglich damit zu erklären, dass sie sich aufgrund des Christfestes in ungewöhnlich friedfertiger Verfassung befand. Zu einem anderen Zeitpunkt wäre eine solche Großherzigkeit kaum denkbar gewesen, auch wenn Felix Temmel mir das Leben gerettet hatte. Ich trug ihre weichen, flachen Hausschuhe aus grün-braun kariertem Stoff. Normale Schuhe konnte ich noch nicht anziehen.

»Ein Glück, dass ich bemerkt habe, dass etwas nicht stimmt«, erzählte der Forstgehilfe weiter. »Ich bin von der Arbeit nach Hause gekommen und habe auf dem Weg Spuren von Stöckelschuhen entdeckt. Bei diesem Wetter zieht hier doch keine Frau Schuhe mit hohen Absätzen an! Man konnte sehen, dass sie ausgerutscht und ein paarmal hingefallen ist. Das kam mir merkwürdig vor. Und dann hörte ich ihn schreien.«

»Wen?«, fragte Onkel Hannes.

»Gott, Hannes, bist du begriffsstutzig!«, seufzte die Großmutter und verdrehte die Augen.

»Na, den Doktor König. Er brüllte wie ein Verrückter. Ich bin sofort zur Mühle gelaufen. Er stand vor dem Haus, reckte die Arme zum Himmel und heulte und schrie.«

»Was?«, fragte Onkel Rudolf.

»Wie?«, meinte Felix Temmel.

»Was hat er geschrien?«

»Ich weiß es nicht mehr genau, er hat ständig einen Satz wiederholt: Eine liegt im Wasser, die andere stirbt im Feuer. Eine liegt im Wasser, die andere stirbt im Feuer. Dass ihnen recht geschieht. Dass man die Frauen alle umbringen soll. Weil sie die Männer zu Tode quälen. Oder so ähnlich. Ich habe durchs Fenster geschaut und gesehen, dass es im Haus brennt. Dass Sissi gefesselt und geknebelt im Lehnstuhl sitzt. Da habe ich gehandelt.«

Florian, der neben seinem Bruder saß, schaute zu ihm auf und streichelte seinen Ärmel.

»Uda!«, sagte er stolz. »Uta Uda! Tarka Uda!«

»Halt den Mund, Florian!«, sagte meine Großmutter. »Dich versteht doch kein Mensch.«

Florian zog beleidigt den Kopf ein.

»Und dann?«, fragte Tante Beate.

»Dann habe ich sofort Polizei, Rettung und Feuerwehr verständigt. Sie waren ziemlich schnell zur Stelle. Wenn man bedenkt, dass sie sich mit ihren Geräten und den Tragbahren zu Fuß durch den Graben kämpfen mussten. In der Zwischenzeit ist der Doktor zu Bewusstsein gekommen. Da hab ich ihm noch einmal auf den Kopf gehauen.« Er schmunzelte amüsiert. »Der Axtstiel hat gereicht. Sie haben beide ins Krankenhaus gebracht. Ich bin mitgefahren.«

»Du bist ein Held!«, rief Tante Dagmar und klatschte verzückt in die Hände.

Florian nickte vehement.

»Ich halte sie nicht aus«, murmelte die Großmutter. »Wer hält eine solche Schwiegertochter aus?«

»Na ja, dass die Mühle niederbrennt, konnte ich nicht verhindern«, sagte der Forstgehilfe. »Es ging so schnell. Sie ist klein, alles ist aus Holz. Ich war froh, dass ich mich und die beiden Verletzten vor den Flammen in Sicherheit bringen konnte.«

»Du hast mehr Glück als Verstand gehabt, Sissi«, stellte meine Großmutter fest. »Wie üblich. Unbeschreiblich, eine derartige Dummheit! Auf einen Menschen hereinzufallen, dem man seine Brutalität geradezu ansieht. Iss deine Suppe!«

Es verschlug mir die Rede, so verblüfft war ich über diesen Umschwung ihrer Sympathien um hundertachtzig Grad.

»Red keinen Unsinn und lass sie in Frieden!«, sagte der Großvater, der ausnahmsweise wach war und sich ausgiebig Suppe aus der Terrine des Festtagsservice nachschöpfte. »Sei froh, dass sie noch lebt.«

»Genau!«, sagte Onkel Hannes. »Sie könnte verkohlt in der Mühle liegen.«

»Sei still!«, herrschte meine Großmutter ihn an. »Denk an dein Herz.«

»Ach, die Mühle!«, sagte Tante Beate traurig. »Es gibt sie nicht mehr.«

»Also, mich hat der Doktor König auch nicht lange täuschen können mit seiner charmanten Art«, griff die Witwe Dirnböck die Bemerkung meiner Großmutter auf. »Jetzt kann ich es ja zugeben. Er war mir von Anfang an nicht geheuer. Es war sein Gesichtsausdruck.«

»Der Ausdruck eines Gewalttäters, man kann es nicht anders nennen«, brachte Tante Beate es auf den Punkt. Es schauderte sie leicht. »Ich habe es genauso empfunden.«

»Ganz recht«, stimmte die Witwe bei. »Das Gesicht eines Mörders.«

Entgeistert schaute ich von einer zur anderen. Es war nicht zu glauben.

»Na, na, meine lieben Pfarrkinder! Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet!«, warf Hochwürden Wojcik besorgt ein. Niemand hörte auf ihn.

»Was hatten die beiden überhaupt in unserer Gegend zu suchen?«, fragte Onkel Hannes. »Zwei Dahergelaufene.«

»Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein«, mahnte Hochwürden beharrlich weiter.

»Ach was!«, sagte die Großmutter mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Man hat ihn auch als Arzt bei weitem überschätzt. Ich habe da von einem Fall gehört … Er soll ein Kind mit Scharlach völlig falsch behandelt haben. Die Kleine ist gestorben. Mit vier Jahren. Es wurde natürlich vertuscht.«

»Und diese Frau, die er hatte! Eine hochmütige Gans!«, sagte Tante Beate.«

»De mortuis nihil nisi bene«, sagte Hochwürden Wojcik und bekreuzigte sich erschreckt. Diesmal wurde er immerhin zur Kenntnis genommen.

»Was heißt denn das?«, fragte Onkel Hannes.

»Dass man über die Toten nur wohlwollend sprechen soll«, antwortete meine Kusine Imelda unverzüglich, denn sie war gebildet.

»Ja, ja, das mag schon sein«, sagte Tante Dagmar. »Aber es stimmt, dass diese Frau etwas Überspanntes an sich hatte. Etwas Extremes. Eine typische Künstlerin. Es wundert einen nicht, dass sie ein so schreckliches Schicksal ereilt hat.«

»Ihr Mezzosopran war auch nicht so besonders«, sagte meine Kusine Imelda leise. »Ihre Stimme war nicht schlecht, aber nicht so außergewöhnlich, wie alle behauptet haben. Guter Durchschnitt.«

»Da hast du recht, mein Kind«, sagte meine Großmutter und tätschelte Imeldas Hand. Sie hatte sie immer lieber gemocht als mich. »Höchstens. Dein Sopran ist viel schöner, viel harmonischer, kein Vergleich! Wir werden ihn ja heute noch in der Christmette zu hören bekommen.«

Meine Kusine lächelte verschämt und schlug die Glotzaugen nieder.

Wenn es mir möglich gewesen wäre, aufzustehen und zu gehen, wäre ich gegangen. Aber das Gehen tat weh, und in den karierten Stoffhausschuhen meiner Großmutter wäre ich nicht weit gekommen. Mein Polo stand noch am Waldrand, dort, wo ich ihn abgestellt hatte, als ich in die Mühle geflohen war.

»Was passiert denn jetzt mit dem Doktor?«, fragte Onkel Rudolf.

»Es wird ihm der Prozess gemacht, was sonst? In Graz. Mord und Mordversuch«, sagte die Witwe Dirnböck und lächelte hämisch. »Dafür sitzt man ganz schön lange.«

»Wahrscheinlich kommt er in die Anstalt für abnorme Rechtsbrecher«, vermutete Onkel Hannes. »In der Karlau in Graz ist ein Bereich für diese Abartigen reserviert. Das wäre doch das Richtige für ihn.«

»Blödsinn!«, sagte der Großvater und machte eine resolute horizontale Handbewegung in Höhe seines Halses. »Kopf ab, sage ich! Kopf ab!«

Die Großmutter stand auf und strich ihr Festtagskleid glatt. Ihr rabenschwarzes Haar war frisch onduliert. »So, die Gans müsste inzwischen gar sein«, sagte sie. »Es gibt Rotkraut und Erdäpfelknödel dazu.«

Ich beschloss, auf den Besuch der Christmette zu verzichten. Bis auf meine Großmutter, die katholische Hexe, würde man es mir nachsehen.

Erleichtert streckte ich mich im Ohrensessel meines Großvaters aus, der sogar ein Fußteil hatte. Meine Füße schmerzten weniger, wenn ich sie hoch lagerte. Nach ausgiebigem Essen und Trinken, dem Anzünden des Christbaums und der sogenannten Bescherung waren alle bis auf mich zur Messe aufgebrochen. Einzig meine Kusine Imelda war nicht alkoholisiert. Der Großvater hatte sich zu Ehren der Festlichkeit die neue, ovale Medaille mit der Aufschrift Blank die Wehr, rein die Ehr angesteckt. Meine Großmutter hatte sich, wie anzunehmen gewesen war, wenig erbaut gezeigt über meinen Entschluss, der Heiligen Messe fernzubleiben.

»Gerade heute! Du solltest dem Herrn für deine Errettung aus höchster Not danken. Die Gottlosigkeit in Person, dieses Mädchen!«

»Es sind die Gene«, sagte Onkel Rudolf. »Brasilianischerseits. Das Kind ist nur zum Teil verantwortlich. Außerdem ist sie gesundheitlich angeschlagen.« In ihm hatte ich immer einen Fürsprecher.

»Eben deshalb«, sagte meine Großmutter. »Ihre Anwesenheit bei der Mitternachtsmette würde die Genesung erheblich beschleunigen.«

Ich lehnte mich im Stuhl des Großvaters zurück und betrachtete den Christbaum. Ich musste lächeln. Er erinnerte mich an meine Kindheit.

Lametta in großzügigen Mengen, bunte Wachskerzen in silbrigen Kerzenhaltern, farbige Kugeln und gläserne Figuren – ein Tannenzapfen, ein glitzernder Pantoffel, ein Fliegenpilz, ein Vogel mit Glasfaserschwanz –, Schokoladenüsse in glänzendem Stanniol, Fondantringe und Ringe aus Windbäckerei mit bunten Streuseln, Bonbons in pastellfarbenem, gefranstem Wickelpapier. Auf dem Gipfel des Baumes eine goldene Christbaumspitze. Und jede Menge Spritzkerzen, zum Teil verbrannt. Ihr typischer Geruch hing noch im Raum. Ich stand auf, zündete die Kerzen, die meine Großmutter ausgelöscht hatte, nochmals an, setzte mich wieder, blickte wie hypnotisiert auf die flackernden Lichter und versuchte mir ins Gedächtnis zu rufen, was sich in den letzten Tagen, Wochen und Monaten ereignet hatte. Da klingelte mein Handy, das ich aus dem Winzerhaus geholt hatte, zusammen mit allen anderen Dingen, die mir gehörten. Ich hatte mich möglichst kurz im Haus aufgehalten und es verlassen, ohne mich umzusehen.

»Frohe Weihnachten!«, sagte Emma. »Wie geht es dir?«

»Gut«, sagte ich. »Dir auch ein frohes Fest.«

»Ich habe mit Philipp und seinem Vater Weihnachten gefeiert. Es war gar nicht so übel. Schließlich bin ich das Familienleben nicht gewohnt.«

»Ich auch nicht.«

»Bin ich froh, dass ich deine Stimme höre! Ich hatte Angst um dich. Ich hab von dir geträumt, nichts Gutes. Ich sah dich, in dieser unheimlichen Mühle, ganz in Schwarz gekleidet, mit ernstem, traurigem Blick. Eigentlich wollte ich dich schon früher anrufen, habe aber befürchtet, du könntest es als Kontrolle empfinden. Auch als unnötige Beunruhigung. Wir könnten uns morgen treffen.«

Nach kurzem Überlegen beschloss ich, Emma die Wahrheit zu sagen. Es wunderte mich, dass sie nicht schon durch die Medien erfahren hatte, was vorgefallen war.

»Ich bin nicht in Wien, Emma. Ich bin im Sausal.«

Eine Pause.

»Was! Du hast mir versprochen, nicht zu fahren!«

»Ich weiß. Es tut mir leid. Aber es ging nicht anders.«

Noch eine Pause. Ein Räuspern.

»Na ja, ich verzeihe dir. Weil Weihnachten ist.«

Sie würde also doch weiter mit mir sprechen. Ich hatte sie falsch eingeschätzt. So wie vieles in letzter Zeit.

»Deine Besorgnis war nicht unberechtigt«, sagte ich. »Es hat sich einiges abgespielt in den letzten Tagen.«

»Erzähl!«

»Ich rufe dich zurück, von der Festnetznummer meiner Großmutter aus. Das ist bequemer.«

Und ich erzählte.