12
Ja, Lügen vereinfachten vieles, dachte ich, als ich mich wieder auf der Südautobahn, kurz vor Hartberg, befand. Auf dem Weg in den Sausal, zu Stefan. Drei Tage vor Weihnachten. Emma würde nie mehr ein Wort mit mir reden, wenn sie das erfuhr.
Inzwischen hatte ich mich von den schockierenden Mitteilungen des Dozenten Hasiba erholt. Ich fand, dass ich noch immer nicht genug wusste. Ich war immer noch neugierig. Neugieriger denn je. Und ich wollte weiterhin mit Stefan schlafen. Ich hatte keine Angst. Wir hatten uns die drei Tage vor Weihnachten freigenommen, um möglichst viel Zeit im Bett verbringen zu können. Emma hatte mich gewarnt, sie fürchtete, ich könnte mich in Gefahr bringen, wenn ich Stefan besuchte. Aber ich hatte nicht das Gefühl, ein großes Risiko einzugehen. Mein Freund hatte nicht die leiseste Ahnung, dass ich so viel über Regina und ihn wusste. Und dass es sich bei der Leiche nahezu hundertprozentig um Regina handelte, hieß nicht unbedingt, dass er sie getötet hatte. Es gab zwar Verdachtsmomente, aber keine Beweise.
»Ich freue mich so, dass du mit mir Weihnachten feierst«, hatte Stefan bei meiner Abreise gesagt, meine Hände genommen und sie überschwänglich geküsst. »Es bedeutet mir sehr viel. Jetzt, wo du weißt, was für ein Albtraum meine Ehe in Wahrheit gewesen ist, wirst du das verstehen. Mit deiner Hilfe werde ich die Vergangenheit hinter mir lassen, Sissi, Schritt für Schritt. Bis sie nicht mehr existiert.«
Ich hatte es verstanden. Auch ich wollte Reginas Verrat ein für alle Mal aus meinem Gedächtnis streichen. Dass sich die Situation seit meinem letzten Besuch in der Steiermark aufgrund der neuen Informationen, an die ich gelangt war, geändert hatte, war unleugbar. Nichts von dem, was bisher als sicher, als wahr gegolten hatte, galt mehr. Die Desillusionierung, die auf Procida begonnen hatte, schritt fort, unaufhörlich. Aber das schreckte mich nicht ab, im Gegenteil: Ich musste der Sache auf den Grund gehen. Es war die einzige Möglichkeit. Ich musste ganz genau wissen, was geschehen war.
»Fällt dir nichts auf?«, fragte Stefan.
Wir saßen in der Stube des Winzerhauses beim Essen. Vor den Fenstern fiel Schnee in großen, dichten Flocken. Es war behaglich warm im Zimmer, die Stehlampe und die zahlreichen Kerzen, die schon bei meiner Ankunft gebrannt hatten, tauchten den Raum in ein angenehmes Licht. Stefan hatte sie auf die Regale und die Anrichte, die Kommode, das Beistelltischchen und den Deckel des Stutzflügels, ja selbst auf den Fußboden und die Fenstersimse gestellt und angezündet, um mich zu überraschen. Die Überraschung war ihm gelungen. Und er hatte gekocht, was er selten tat. Er gab sich wirklich viel Mühe, mich zu verwöhnen. Der Tisch war festlich gedeckt und ebenfalls mit einem Arrangement aus hohen weißen, sich nach oben verjüngenden Wachskerzen geschmückt.
»Abgesehen von den Kerzen, meinst du?«, fragte ich.
»Ja.«
»Doch«, sagte ich und musste schmunzeln.
Die vielen Fotos an den Wänden, Erinnerungen an Reisen, die Regina und er, nicht selten in meiner Begleitung, unternommen hatten, waren entfernt worden, man sah nur noch die undeutlichen Konturen der Bilderrahmen an den Stellen, wo sie gehangen waren. Auch die gerahmte Kette mit dem Mondstein, die sie gern getragen hatte, war verschwunden. Desgleichen ihre CDs. Sofort nach meiner Ankunft waren wir über die Treppe ins ebenfalls von zahlreichen Kerzen erleuchtete Schlafzimmer im Dachboden gestiegen und hatten uns im breiten Bett geliebt. Ich hatte auf den ersten Blick bemerkt, dass der Scherenschnitt mit Reginas Profil nicht mehr auf dem Nachtkästchen stand. Und als ich mich später in ihren weinroten Kimono hüllen wollte, der üblicherweise an einem Haken im Badezimmer hing, suchte ich ihn vergebens. Ich hatte all diese Veränderungen registriert, es jedoch vermieden, mich dazu zu äußern.
»Und?«, fragte Stefan.
Ich stand auf, ging um den Tisch herum, legte meine Arme von hinten um seine Schultern, beugte mich zu ihm hinunter und küsste ihn auf den Scheitel und auf die Wangen. Dann setzte ich mich wieder auf meinen Platz.
»Ich bin froh, dass dieses Haus keine Gedenkstätte mehr ist«, sagte ich. »Ein ganz bestimmtes Erinnerungsstück habe ich hier aber nie gesehen.«
Stefan schaute mich interessiert und fragend an.
»Den Buddha, den du Regina in Katmandu geschenkt hast. Aus diesem grauen Stein aus dem Himalaya. Eine beeindruckende Statue. Erinnerst du dich? In den Rücken war ein Drache eingemeißelt, sehr kunstvoll, darunter ein Mantra. Om Mani Padme Hum. Der Wunsch nach Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten.«
Erneut dieser Blick. Vorsichtig. Auf der Hut.
»Ach, der Buddha aus Nepal!«, sagte er nach einer Pause und deutete in die dem Esstisch gegenüberliegende Ecke der Stube. »Er stand lange dort drüben, auf der kleinen Konsole neben dem Klavier. Irgendwann gefiel er ihr nicht mehr, sie fand ihn plump. Sie wollte ihn nicht mehr sehen. Ich weiß nicht, wo er ist. Vielleicht hat sie ihn hergeschenkt. Oder er steht irgendwo im Keller.«
Unsere Blicke trafen sich kurz, bevor sie sich wieder auf die Speisen senkten, die in Tellern und Schüsseln vor uns standen. Eine Weile aßen wir stumm. Schließlich brach Stefan das Schweigen.
»Hast du Lust, in die Christmette zu gehen?«, fragte er leichthin. »Ich weiß, dass du nicht religiös bist. Ich bin es auch nicht. Aber dieser Heilige Abend ist etwas Besonderes, findest du nicht?« Er lächelte mich an. »Der Kirchenchor ist nicht schlecht, die Direktorin der Volksschule leitet ihn. Sie ist immer auf der Suche nach alten Liedern. Ich bin sicher, sie hat für den Gottesdienst ein paar schöne ausgegraben.« Er legte das Messer weg und griff nach meiner Hand. »Es sind unsere ersten gemeinsamen Weihnachten, Prinzessin. Ich möchte diese Tage stimmungsvoll gestalten.«
Ich blickte auf die Hand, die auf meiner lag. Eine schmale, gepflegte, wohlgeformte Hand mit sorgfältig manikürten Fingernägeln. Dass eine solche Hand brutal zuschlug, war schwer vorstellbar.
»Weshalb sagst du nichts?«, fragte Stefan, neigte sich über den Tisch und küsste mich auf die Wange. »Du bist wortkarg heute.«
»Ich bin müde«, log ich. »Die letzten Tage waren ziemlich anstrengend. Es gab viel zu tun vor den Feiertagen.«
In diesem Augenblick wurde heftig an der Haustür geklopft. Stefan nahm die Serviette von seinem Schoß, legte sie neben seinen Teller, stand auf und ging in den Flur hinaus. Ich folgte ihm, blieb auf der Schwelle der Stubentür stehen und lehnte mich mit verschränkten Armen gegen den Türstock.
»Wer kann das sein?«, meinte er. »Ich erwarte niemanden. Außerdem bin ich im Urlaub. Hoffentlich ist es kein Notfall. Falls ein Kind erkrankt ist und man mich braucht, mache ich natürlich einen Hausbesuch. Das kann ich nicht ablehnen.«
Es war kein Krankheitsfall, der dringend Stefans Anwesenheit erfordert hätte, es war Hochwürden Wojcik, der frierend und fassungslos vor der Tür stand. Er hatte sich eine lange, dicke braune Wollweste übergeworfen, darunter trug er die Soutane mit dem Priesterkragen, der sich gelöst hatte und dessen eines Ende auf einer Seite hinausragte. Seine hohlen Wangen bedeckte ein schwarzer Stoppelbart, er hatte dunkle Ringe unter den Augen, und sein Teint spielte ins Gelbgrünliche. Auf seinem Kopf saß eine hellblaue, handgestrickte, schneebedeckte Pudelmütze. Verstört trat er in den Flur.
»Ich bin zutiefst betroffen, Herr Doktor! Eine solche Aufregung, und das so kurz vor der Geburt unseres Erlösers!« Er blickte Stefan ratlos an. »Es ist undenkbar, aber Florian Temmel hat gestanden. Er hat zugegeben, die Person ermordet zu haben, die man tot im Weiher aufgefunden hat. Sie bringen ihn gerade nach Graz. Angeblich ohne seinen Bruder. Das können sie nicht machen, er kann sich kaum ausdrücken! Felix muss doch seines Bruders Hüter sein! Man kann Florian nicht aus seiner Umgebung herausreißen, das verkraftet er nicht.«
»Beruhigen Sie sich, Hochwürden«, sagte Stefan. »Man wird jemanden finden, der sich mit ihm verständigen kann. Kommen Sie in die Stube, setzen Sie sich und trinken Sie ein Glas Wein mit uns!«
»Nein, nein! Ich gehe gleich wieder. Wir dürfen keine Zeit verlieren, wir müssen Florian helfen. Ein solches Geständnis kann doch nicht ernst genommen werden, der junge Mann ist geistig nicht zurechnungsfähig. Bestimmt hat man ihn eingeschüchtert. Und wie kommt die Polizei überhaupt auf die Idee, dass dieser erbarmungswürdige Mensch jemanden töten könnte? Das ist doch widersinnig! Wie sagt unser lieber Herr Jesus? Selig sind die, die da geistig arm sind, denn das Himmelreich ist ihrer. Matthäus, Kapitel fünf, Vers drei. Wir müssen protestieren, Herr Doktor! Auch Sie! Ihr Wort hat Gewicht!«
Er hatte sich in Hitze geredet. Wenigstens noch einer, der den Schwachsinnigen für unschuldig hielt.
»Ich fürchte, wir können nichts tun«, sagte Stefan ruhig. Sehr ruhig. »Die Ermittlungen der Polizei dürfen nicht gestört werden. Lassen Sie die Beamten arbeiten, Hochwürden. Ich bin sicher, es geht alles seinen korrekten Weg.«
»Wie können Sie so gelassen sein? Das Kind ist frei von Schuld!« Der Pfarrer blickte zur gewölbten Decke auf und bekreuzigte sich. »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Lukas 23, Vers 34. Kommen Sie, kommen Sie mit, Herr Doktor!«
»Bitte verzeihen Sie, aber ich bleibe hier«, sagte Stefan kühl. »Ich bin, so wie die meisten im Dorf, nicht von Florians Harmlosigkeit überzeugt.«
»Enttäuschen Sie mich nicht, Herr Doktor! Wir müssen uns hinter das bemitleidenswerte Lamm Gottes stellen. Gerechtigkeit erhöhet ein Volk.«
»Nein«, sagte Stefan. »Es tut mir leid. Wir sollten Vertrauen in die Justiz haben.«
Der Pfarrer maß Stefan mit einem hilflosen, verwirrten Blick. Dann wandte er sich jählings um und verließ das Haus. Wir sahen ihn von hinten, sahen, wie er davoneilte, wie er eine zur Faust geballte Hand zum Himmel erhob und schüttelte. Sein Priesterrock flatterte im Schneetreiben.
»Denn Gott wird alle Werke vor Gericht bringen, alles, was verborgen ist, es sei gut oder böse!«, hörten wir ihn rufen, als er seinen Wagen bestieg. Und dann, leiser: »Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht … Fürchtet euch nicht …«
Ich schaute Stefan direkt ins Gesicht. Er wandte den Blick ab.
Später fuhr ich kurz zu den Großeltern. Der übliche Pflichtbesuch. Es schneite nur noch leicht. Meine Großmutter war allein zu Hause. Der Großvater war bei einem Treffen des Kameradschaftsbundes im Wirtshaus. Die Nachricht von Florians Geständnis hatte sich schon herumgesprochen. Nicht einmal die Exekutive vermochte in diesem Dorf etwas geheim zu halten. Die Großmutter schien jedenfalls nicht unzufrieden mit dem Fortgang der Ereignisse.
»Meine Ahnungen haben mich nicht getrogen«, frohlockte sie mit Grabesstimme, was bei ihr nicht notwendigerweise ein Gegensatz war. »Fluch und Segen zugleich, so ein sechster Sinn. Eine furchtbare Geschichte. Aber es hat sich abgezeichnet. Seit langem. Wir Frauen aus dem Dorf sind jedenfalls sehr erleichtert, wie du dir vorstellen kannst.«
Ich enthielt mich einer Äußerung.
»Weshalb sagst du nichts?«, fragte sie gereizt. »Du wirst doch nicht für dieses geisteskranke Individuum Partei ergreifen wollen?«
Dass ich weiterhin auf jeden Kommentar verzichtete, erboste sie noch mehr. »Wozu habe ich dich eigentlich gebeten, der Sache nachzugehen? Nichts hast du herausgefunden, die Behörden, dumm, wie sie sind, waren schneller als du.« Sie seufzte. »Du magst eine gute Ärztin sein, Sissi. Was nicht verbürgt ist. Alles in allem bist du jedenfalls zu nicht viel nütze. So wie deine Mutter, das muss leider gesagt sein.«
Darauf verfiel sie übergangslos in Klagen über meine angebliche Missachtung der väterlichen Hinterlassenschaft. »Deine Tanten haben den Kaminofen in der Mühle eingeheizt, damit du es bei deiner Ankunft warm hast«, sagte sie vorwurfsvoll. »Wenn Beate nicht zufällig beim Konsum unseren Herrn Doktor König getroffen hätte, wüssten wir überhaupt nicht, dass du Weihnachten hier verbringst. Na ja, offenbar war die Arbeit dieser braven Frauen umsonst. Wie ich dich kenne, wirst du bei ihm im Winzerhaus auf dem Hügel logieren.«
Auf all diese Beanstandungen hin wagte ich es nicht, zu Stefan zurückzufahren, ohne mich zuerst zur Mühle zu begeben.
Während ich den Bach entlangging, immer tiefer in den Graben hinein, hörte es allmählich ganz auf zu schneien. Als ich um die Ecke des Gebäudes bog, schreckte ich zurück. Der Forstgehilfe saß, den speckigen kleinen Lodenhut auf dem Kopf, die dicke, kaputte, notdürftig mit einem rosa Heftpflaster reparierte Brille vor den Augen, die Hände in den Hosentaschen seiner zu dünnen Jacke, eine unangezündete Zigarette im Mund, zitternd vor Kälte auf dem Hackstock. Auf seinem Schoß lag die Axt, die normalerweise in diesem steckte. Es sah aus, als habe er auf mich gewartet. Er stand auf, trieb das Beil mit einem gezielten Hieb in den Stock, nahm die Zigarette aus dem Mund, schob sie in die Brusttasche seiner Jacke und streckte mir die Rechte entgegen. Eigenartig, das Gefühl, eine Hand mit einem fehlenden Zeigefinger zu drücken.
»Ich muss mit dir reden«, sagte er.
Ich fühlte mich überrumpelt.
»Na gut, komm herein«, sagte ich schließlich und sperrte die Tür auf. Ich hatte es aufgegeben, ihn beharrlich in der Höflichkeitsform anzusprechen, es war zu mühsam. Wir traten ein. Es war angenehm warm im Raum. Ohne von mir aufgefordert zu werden, ließ Florians großer Bruder sich in den alten Lehnstuhl fallen und sackte darin zusammen.
»Ich habe deinen Vater hier oft besucht«, sagte er. »Wir haben uns gern miteinander unterhalten. Er wusste viel. Über alles Mögliche.«
Ich zog einen Stuhl heran und setzte mich zu ihm.
»Worum geht es?«
Er blickte zu Boden. Niedergedrückt. Mutlos.
»Es ist nicht so einfach«, sagte er dann und holte tief Luft, bevor er weitersprach. »Es ist wegen der Leiche, die man im Fuchsweiher gefunden hat. Sie haben Florian verhaftet. Und er hat zugegeben, dass er diese Leiche – ich meine, diesen Toten – also, diese Person umgebracht hat. Vielleicht vermuten sie, dass es die alte Baumgartnerin ist? Die Vermisste?« Er schaute mich verzweifelt an. Ich klärte ihn nicht auf. »Aber er weiß doch gar nicht, worum es geht!«, rief er dann. »Sie haben ihn so lange verhört, er war schon ganz verwirrt. Ganz durcheinander. Er kann sich nicht verteidigen. Im Gegenteil, mit seinem ganzen Gehaben schadet er sich noch, obwohl er mit der Sache nichts zu tun hat. Das kommt daher, dass er sein Leben lang angeschwärzt und verleumdet worden ist. Immer war er der Schuldige, der Sündenbock für alles. Nur weil er krank ist. Weil er sich nicht zur Wehr setzen kann. Das geht einem in Fleisch und Blut über. Bis man sich schuldig fühlt. Sich schuldig spricht. Bis man an seine Minderwertigkeit glaubt. Sie wollen ihn aus dem Dorf weghaben. Jeder will ihn loswerden. Nur weil er anders ist.« Nun wurde er wütend. »Er hat nie jemandem etwas zuleide getan, aber alle fallen über ihn her! Sogar der Doktor König, dein Bekannter, der Arzt ist und Verständnis mit einem benachteiligten Menschen haben müsste, macht mit bei der Hetze.« Er schwieg und schaute finster. Dann setzte er sich aufrecht hin. »Aber ich werde dir jetzt was sagen, Sissi: Der hat selbst Dreck am Stecken, der Doktor König. Der ist ein Lügner. Dem wäre es nur recht, wenn Florian verurteilt wird. Alle im Dorf bewundern und verehren den Doktor, alle Frauen himmeln ihn an – aber das ist er nicht wert!«
Ich horchte auf.
»Komm zur Sache«, drängte ich. »Sag, was du sagen willst!«
»Er behauptet, dass seine Frau ertrunken ist. In Italien. Niemand bezweifelt es. Aber ich weiß, dass es nicht stimmt.«
»Was meinst du damit?«
Ich war hellwach.
»Sie kann nicht in Italien gestorben sein.« Er schaute mich an. »Weil sie lebend mit ihm zurückgekommen ist.« In seinem Blick lag eine Art triumphierende Schläue. »Ich habe sie beobachtet. Am Abend nach ihrer Rückkehr aus dem Urlaub. Im Mai vor zwei Jahren. Es war spät. Ich bin zufällig an ihrem Haus vorbeigegangen, als sie ankamen. Ich habe Florian gesucht – manchmal, wenn es draußen warm ist, vergisst er, nach Hause zu kommen, und übernachtet im Freien. Sie sind aus dem Auto gestiegen, haben sich angeschrien. Er hat das Gepäck aus dem Kofferraum gehoben, dann sind sie ins Haus gegangen. Ich hab durch ein Fenster geschaut und gesehen, wie sie sich weiter gestritten haben. Wie er sie an den Schultern gepackt und geschüttelt hat. Es hat mich so abgestoßen, dass ich weggelaufen bin. Ich schwöre es dir, Sissi, ich sage die Wahrheit. Es war dunkel, sie haben mich nicht gesehen. Aber ich sie. Du musst mir glauben.«
Seine eindringlichen Beteuerungen waren nicht nötig. Ich glaubte ihm. Alles passte zusammen.
»Warum hast du nie etwas gesagt?«
»Wer hätte mir geglaubt? Was gilt das Wort eines armen Teufels, eines Hilfsarbeiters mit einem geistig beschränkten Bruder? Gegen das eines angesehenen, wohlhabenden Mannes? Der bei allen beliebt ist. Weil er sich um kranke Kinder kümmert, Kinder heilt.« Er schwieg, seine Miene verzerrte sich. »Der turmhoch über mir steht!« Er begann zu weinen. »Du bist Ärztin, Sissi«, sagte er schluchzend. »Dir wird man Glauben schenken. Hilf meinem Bruder.«
Ich schaute ihn an. In seinem Blick lag keine Spur von dem Spott, der Unverfrorenheit, Anzüglichkeit und leisen Verachtung, die bei unserer Begegnung vor dem niemals fertig gewordenen Haus meiner Eltern darin zu erkennen gewesen waren. Mit einem Mal war ich nicht mehr der Bastard mit der ortsfremden Mutter. Wahrscheinlich hatte er sich an mich gewandt, gerade weil ich eine halbe Ausländerin war. Denn alle Einheimischen, alle, die keine Fremden waren, hatten sich gegen seinen Bruder, einen der Ihren, verschworen.
Noch immer glaubte ich nicht daran, dass Stefan ein so schweres Verbrechen begangen hatte. Mit aller Verbissenheit sträubte ich mich gegen diese Einsicht. Doch dass Florian schuldlos war, stand für mich fest. Und dass ein Unschuldiger für die Tat eines anderen einstehen sollte, ein leidender Mensch, ein halbes Kind, war nicht in Ordnung, ganz und gar nicht. Das durfte man nicht zulassen. Ich würde die Polizei anrufen und aussagen, was ich wusste. Was ich noch nicht wusste, war, dass die Polizei mir zuvorkommen und mich anrufen würde.
Rückblickend betrachtet, war es mehr als waghalsig, ja, vollkommen unvernünftig, wieder zu Stefan ins Winzerhaus zurückzukehren. Aber ich konnte nicht anders. Der Instinkt, der mich vor drohender Gefahr warnte und auf den ich mich normalerweise verlassen konnte, funktionierte nicht mehr, er war längst überlagert von dem obsessiven Drang, bis ins kleinste Detail zu ergründen, was vorgefallen war.
Als ich zurückkam, waren die Kerzen in der Stube bis auf zwei niedergebrannt. Stefan saß, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, im Dunkeln im Schaukelstuhl und wippte leicht vor und zurück. Bei meinem Eintreten erhob er sich und schloss mich in die Arme. In diesem Augenblick läutete sein Handy, das auf dem Tisch lag. Er ging hin, griff danach, blickte kurz auf das Display und nahm das Gespräch entgegen. Ich verließ das Zimmer, damit er ungestört telefonieren konnte, und stieg die Treppe hinauf in den Dachbodenraum, wo meine Reisetasche stand. Nachdem ich aus den Winterschuhen geschlüpft war und ein leichteres, hübscheres Paar angezogen hatte, ging ich wieder hinunter. Stefan hatte eine Lampe eingeschaltet, deren schwacher Lichtschein nur einen Teil des Raumes erhellte, saß noch immer in dem Stuhl und starrte, sanft und regelmäßig schaukelnd, vor sich hin. Ich nahm seine Gesichtszüge nur undeutlich wahr. In seinem Schoß lag das Handy.
»Ein Kriminalbeamter aus Graz hat angerufen«, sagte er, »ein Inspektor Bierbaumer. Deine Telefonnummer war ihm nicht bekannt, deshalb hat er sich bei deinen Großeltern erkundigt. Deine Großmutter hat ihm gesagt, dass du bei mir bist. Meine Nummer steht im Telefonbuch.«
»Was wollte er?«, fragte ich und hoffte, dass ich mich gelassen und unbeteiligt anhörte.
»Du sollst zurückrufen. Es geht um die Leiche im Fuchsweiher. Vielleicht wollen sie deinen Rat?«
»So kurz vor Weihnachten? Ich habe Urlaub. Eine Zumutung. Und weshalb ich? Nur weil ich von hier stamme und zufällig Rechtsmedizinerin bin? Die sollen mich in Frieden lassen.« Ich sprach hastig, überlegte fieberhaft. »Gib mir die Nummer. Ich werde diesem Inspektor sagen, dass ich es ziemlich unverschämt finde, mich hier zu belästigen.«
Stefan reichte mir sein Mobiltelefon.
»Du kannst mit meinem Handy telefonieren«, sagte er. »Name und Nummer sind gespeichert.«
Ich nahm das Handy.
»Ich gehe hinaus in die Diele«, sagte ich. »Um dich nicht zu stören.«
Ich ging aus dem Zimmer, schloss die Tür hinter mir und lehnte mich, davon abgewandt, ein paar Meter entfernt an die Mauer des Vorhauses. Der Putz war rauh. Dann wählte ich die Nummer des Kriminalbeamten. Er nahm den Anruf sofort entgegen und erklärte, dass Fritz Hasiba ihm meinen Namen genannt hatte.
»Wir würden gern Ihre Meinung hören«, sagte der Inspektor. »Ganz inoffiziell. Können Sie kommen und sich die Leiche ansehen?«
Ich zögerte. Es war riskant.
»Okay. Morgen Vormittag. Um elf.«
Er nannte mir die Adresse. Sie war mir ohnehin bekannt.
Ich senkte die Stimme.
»Ich glaube, ich weiß, um wen es sich bei der Leiche handelt.«
Damit beendete ich das Gespräch und wandte mich um. Stefan stand im Rahmen der Stubentür und blickte mich an. Ich hatte keine Ahnung, wie viel von meinen Worten er verstanden hatte. Ob überhaupt etwas. Es war möglich. Ich hatte leise gesprochen, aber sein Gehör war sehr gut. Ich ging auf ihn zu, zwang mich zu einem Lächeln.
»So, diesem Inspektor habe ich meine Meinung gesagt. Die werden den Fall doch wohl ohne fremde Hilfe lösen können«, sagte ich.
Stefan schwieg und fixierte mich weiter. Plötzlich überfiel mich Panik. Ich wollte weg. Sofort. Ich versuchte, ruhig zu bleiben und mir meine Angst nicht anmerken zu lassen.
»Übrigens«, sagte ich beiläufig, »wir brauchen Milch und Brot für morgen früh. Ich fahre zum Konsumgeschäft. Bevor sie schließen. Da kann ich gleich auch bei meiner Tante und bei meinem Onkel vorbeischauen, ihr Haus liegt auf dem Weg. Du kennst meine Verwandten – wenn ich sie nicht wenigstens kurz besuche, fühlen sie sich übergangen.«
»Ist gut«, sagte er, nahm mein Gesicht in die Hände und küsste mich. Es fiel mir schwer, den Kuss zu erwidern.