siebzehn
Liebes, liebes, hoch verehrtes Tagebuch, welches ich nicht führe – das wäre ja auch zu viel Aufwand, nur um es später zu verbrennen – letztens hatte ich jedenfalls Geburtstag, kommt vor. Natürlich war es ein ganz toller Tag, so wie alle anderen tollen Tage in meinem Dasein als ich. Just an jenem Freudentag rief Heike an, obwohl sie sich sonst dadurch auszeichnet, nicht anzurufen und sehr schön zu sein. Die meisten Menschen sind ja weit an schön vorbei oder knapp an schön vorbei, aber Heike ist volle Punktzahl, totaler Treffer und man kann sie trotzdem wieder erkennen. Heike hat Sommersprossen, und eine Brille ohne Rand, und sie könnte in jedem Nachschlagewerk stehen unter: verflixt kluge und verflixt schöne Frau. Sie sieht dänisch aus, oder ich irre mich mächtig gewaltig. Wie soll ich auch genau wissen, wie sie aussieht, nur weil sie angerufen hat? Ich weiß auch nicht mehr, wie sie sich anfühlt. Ich weiß jetzt nur wieder, wie sie sich angehört, die liebe Heike, genauso böse wie alle anderen auch. Immer entscheiden sich die Damen für den anderen, wenn es heißt Peter oder Blödarsch. Und als ich dachte, jetzt zieh ich auch mal so ’ne Nummer durch: Ich lass mich auf eine verheiratete Frau ein und spann sie aus und nehm sie weg und behalt sie … da ist es genau wie immer. Die Frau entscheidet sich für den Blödarsch, der nicht mehr mit ihr schläft, der aber früher ganz feine Namen für sie hatte. Und diese Lücken kann ein Zweitmann füllen: poppen und Kosenamen. Heikel habe ich sie genannt. Liebes Tagebuch, irgendwann ist Schluss mit Scheitern, mein Scheiterhaufen ist groß genug. Da kann ich gut drauf brennen, mit dir zusammen, meinem lieben Tagebuch.
Heikes Stimme war am Telefon so dünn wie immer, wie eine Stimme eben ist, wenn ein Mädchen zu lange zu laut im Chor geträllert hat. Heike hat kaputte Stimmbänder von all den fröhlichen Liedern über Postwagen und die Hei-hei-mat. Also ist sie nicht Sängerin geworden, aber das nur in einem Haufen anderer Dinge, die Heike nicht geworden ist: die Mutter meiner Essen, die Köchin meiner Kinder, die Putze meines Lebens und die Liebe meiner Wohnung. Nicht mal nur meine Geliebte und dann ruft sie an. Alles Gute zum, viel Gesundheit, hab ich genießt nach ihr, oder was? Die hat Nerven. Ich nicht. Ich fange sofort an zu schwitzen. Das Gekippel zwischen dem Drang, sie anzubrüllen und dem Drang, sie während des Sexes anzubrüllen, treibt mir den Schweiß raus, unter der rechten Achselhöhle seltsamerweise mehr. Ich schätze mal, weil ich den Hörer mit rechts so verkrampft halte.
Ihre Stimme fiept. Die Verbindung ist schlecht. Wir haben eine Viertelstunde geredet, wie alles so ist, wie es eben so ist. Sie sagte, dass wir mal wieder telefonieren und dann rief sie nicht an. Nachdem ich tagelang gebrütet hatte, ob ich eine Kollision vermeiden sollte und währenddessen das Telefon hypnotisierte, rief ich dann eben an, wenn die Heike nicht zum Berg kommt … Von wegen, ich rief einfach an, das war sehr schwer, aber der Abend war unterm Tiefpunkt. Ich wollte mich im Aquarium ersäufen oder eben Heike anrufen. Wir haben eine Stunde miteinander gesprochen. Sie sagte fast vor jedem Satz meinen Namen, aber das klang nicht pädagogisch. Sie wollte nur sicher sein, dass ich ihrer dünnen Stimme zuhöre.
«Peta!» Sie sagt immer Peta.
Also hörte ich zu.
«Ich weiß ja, dass das alles für dich … dass alles nicht leicht war.»
Ja, leicht ist was anderes: das Einmaleins, das Hopplahopp, Januar, Februar, März, April und sie ruft an – nach einem Dreivierteljahr. «Ja», sagte ich.
Ja, es war schwer, wie Wackersteine im Leib, mit denen ich in einen See geschubst wurde, noch mit Schwimmflügeln dran, weils lustig aussieht, aber nicht hilft. Plumps, tot. Da fühlt man nichts mehr. Ach, liebes Tagebuch, wenn du wüsstest, was du nicht wissen kannst, weil ich dich ja gar nicht habe, aber wenn du wüsstest, dann wüsstest du, wie schwer es war. So viel warten und hoffen, dass es nachlässt, sich einzubilden, diese Frau wäre ein Guckloch in der Wand.
«Peta …», wisperte es aus dem Guckloch, «… wir können uns doch mal wieder sehen.»
Na, da hatte ich ja einen Batzen zu bedenken, zwischen wieder sehen und auf Wiedersehen und auf Nimmerwiedersehen. Wir rudern mit Floskeln herum. Ich rudere um die Stelle im See, an der ich untergegangen war. Um was sie herum ruderte, weiß ich nicht, um den heißen Brei vielleicht. Wir hatten beide nur ein Paddel und saßen in zwei Booten. Zusammen in einem Boot mit zwei Paddeln hätte das Sinn ergeben oder ein kitschiges Bild, das häng ich mir nicht mal hinter den Schrank.
«Peta!»
Also hörte ich ihrer Zellophanstimme zu, nicht nur weil sie meinen Namen gesagt hatte, sondern weil es nichts anderes zu hören gab, außer der Aquariumpumpe, die, wenn man sie aufnimmt und rückwärts abspielt, auch nur blubbert.
«Wenn du meinst, dass du noch nicht so weit bist …»
Jaja, wenn ich das meinen würde, dann könnten wir sicherlich Freunde bleiben und mal ins Kino gehen. Da ist es dunkel, wir können flüstern, dass mir ihre Stimme die Wirbelsäule erigiert.
«Heike.» Ich nahm an, dass sie das mochte. «Wenn du dir unsicher bist …»
Heike zieht oft ihre Augenbrauen hoch. Das ist eine gängige, voll funktionsfähige Antwort, ihrer Meinung nach. Am Telefon funktioniert das aber nicht. Das ist wie einem Blinden winken. Also fing ich an zu ackern für ein «Hm». Verstehst du? Weißt du? Ich kam mir vor wie Jürgen.
«Hm», sagte sie kleinlaut und kurzlaut.
«Heike, ziehst du die ganze Zeit die Augenbrauen hoch?», fragte ich.
Wir lachten kurz und ab da schien alles einen Hang runterzurollen, so von allein und schief. Wir haben beschlossen, dass ich sie besuche. Juchhu oder nicht. Da wir uns kennen, beschlossen wir außerdem, könnte nichts passieren, was wir nicht wollen. Ist natürlich Dummfug mit Soße, wird schon schief gehen. Wenn sie rollig ist, dann rollts halt.
Am Freitag habe ich die Woche dann tatsächlich überstanden. Ich habe Jürgen überlebt und mich auch ganz gut gehandhabt – ruhig, ruhig, Zeit vergeht von alleine, du kannst nichts aufhalten, du kannst nur Frau Kobow die Tür aufhalten.
«Schönes Wochenende!»
Das wird sich zeigen. Ich kann wirklich nichts aufhalten, den Wind nicht und Heike nicht, weil ich glaube, dass ich da immer noch Gefühle investiere, bis ich Bankrott gehe. Wenn ich mir wenigstens einreden könnte, geil zu sein, aber so befriedigt wie Tanja hat mich noch keine Frau aus dem Bett in den Alltag entlassen. Das ist es leider nicht, warum ich zu Heike fahre. Leider Liebe.
Freitag bereite ich mich auf das Wochenende vor, so wie früher. Mann, Mann, früher, verklärter Mist! Ich rasiere mir ein Gesicht, ich packe einen Koffer, der eine Sporttasche ist und bin nicht aufgeregt. Oder doch? Unter Alkohol darf man nicht Auto fahren, aber so? Ich bin ja angeschnallt und das Radio schalte ich auch an. Ich habe mir abgewöhnt, im Auto Kassetten zu hören, und dann habe ich mir angewöhnt im Auto Radio zu hören. Das ist ein gutes Training für mich. Ich muss nehmen was kommt. Wenn Heike will, will ich auch und ertrage auch die scheiß Monkeys und wenn sie nicht will, habe ich noch nie gewollt und ertrage zurück den Scheiß George Michael.
Ich lege eine Pause an einer gemütlichen deutschen Raststätte ein: Latrine, Rührei, beides verkeimt. Normalerweise würde ich rauchen, aber ich habe keine Kippen mitgenommen. Letztes Mal bei Heike war abends Stromausfall und ich wollte das Feuerzeug dazu benutzen, den Weg zum Bett zu finden, in dem der schöne weibliche Heizkörper lag. Heike fragte leise, ob ich schon wieder rauchen müsste. Ich könnte doch mal Rücksicht nehmen, weil sie gerade aufgehört hatte zu rauchen. Also schwieg ich und rauchte eine, dann ging ich ins Bett, ohne Licht und stieß mir den Fuß. Ich bekam kein Mitleid und dann führten wir dieses Flüstergespräch, bis zur Rückkopplung, pst, pst, pst, du, nein du, scheiße. Heike schreit nicht. Heike fiept und sie sagt Sachen wie: «Wirst du verletzt oder fühlst du dich verletzt?» Jedenfalls tat mein kleiner Zeh weh, den ich mir angehaun hatte, der war verletzt. Fakt!
Ich habe darum diesmal gar keine Zigaretten mit. Zu Hause liegt eine volle Packung bereit, mich willkommen zu heißen, als Zigarette danach oder als Zigarette ganz danach. Anders kann ich mich auf Heike nicht vorbereiten. Ich kann Durchfall haben und das habe ich auch und ich kann sie mit dem Handy anrufen und sagen, dass ich bald da bin.
«Schon?», fragt sie.
«Erst!», sage ich.
Sie beschreibt mir, wo das Café ist, in dem wir uns treffen. Ein Café? Ich hoffe, wir können wenigstens an einem Tisch sitzen. Wir können uns auch auf einer Parkbank treffen und die Ratten füttern, geht klar. Das Café heißt «Duo». Da kann ja nichts schief gehen, nur der letzte Gast, der kann um drei Uhr nachts dann schief gehen, da werden Heike und ich schon woanders sein.
«Bis dann!», sagt sie.
«Bis gleich!», sage ich und fahre weiter, damit bald gleich ist. Ich freue mich ja nur, damit ich danach was zu heulen habe. Ich kann mir jetzt schon Schimpfwörter ausdenken. Blödmann! Nuss! Dieses Wochenende kann doch nur bestätigen, dass die letzte Abfahrt Stuttgart auch kein Ausweg ist. Keiner will mich retten. Ich wäre so gerne ein emanzipierter Mann. Kurz vor Stuttgart, als gerade Paul McCartney im Radio läuft, bilde ich mir ein, dass vor mir der Opa fährt, der meine Stoßstange verbeult hat. Der Wagen ist nicht mal aus Berlin und die Stoßstange ist auch nicht verbeult. Ich sehe Gespensterfahrer. Ich werde anscheinend müde. Ich kurbel deshalb das Fenster runter, davon wird mir kalt. Ich kurbel das Fenster wieder hoch und bin genauso müde wie vorher. Ich kann jetzt keine Müdigkeit gebrauchen. Ich bin sowieso so schlecht im Zuhören und Antworten, blödes Spiel, da verliere ich immer. Und die andere Möglichkeit diese Frau für mich zu gewinnen, ist ficken, da bin ich nicht schlecht, aber wenn ich müde bin doch. Man hat doch nie alles so wie mans will. Ich zum Beispiel wollte die Wende nicht. Jetzt wohne ich im Osten, den es angeblich nicht mehr gibt, so wie Männer und Frauen angeblich nur soziologische Masken sind mit biologischer Mumu und Tröte. Und dann gibt es noch Ostfrauen und Westmänner und andersrum. Hör mir auf! Fang gar nicht erst an!
In Stuttgart muss ich den Faltplan befragen, schöne Slapstick-Einlage, raschel, raschel. Ich kenne mich hier nur ein bisschen aus. Heike und ich waren oft essen, aber nur in der Umgebung ihrer Wohnung. Einmal waren wir im Kino. Einmal waren wir bei einer Freundin von ihr, wo ich «ein Kollege» war. Einmal waren wir einkaufen. Einmal waren wir glücklich.
Viel weiß ich deshalb nicht über Stuttgart. Ich weiß nicht, wo die hässlichste Treppe, Brücke, Straße ist. In Berlin weiß ich das: Warschauer Straße, Warschauer Straße, Warschauer Straße. Ich finde das Café «Duo» trotzdem, mit Hilfe meiner Orientierungsgabe, ich – Mann. Da – Café. Dann mal los. Die Hose ist eh voll. Dafür ist der Kopf leer. Ich würde gerne rauchen, aber ich muss ja auch mit Tanja aufhören, an die ich freilich, freilich nicht denken will. Scheiß Angewohnheiten!
Aussteigen? Aussteigen!
Reingehen? Reingehen!
Heike ist noch nicht da oder sie ist inzwischen ein Mann, dick und arbeitet als Kellner, der die Stühle hochstellt. «Zu!», sagt der Kellner zu mir. Auf den Punkt gebracht, keine Entschuldigung, nur den Dämlack wegschicken. Der Dämlack geht raus und da steh ich nun. Was könnte ich denken, um nicht aufgeregt zu sein? Wird schon? Sei doch einfach nicht aufgeregt. Dir kann nichts passieren, du hast sie überwunden, sie ist verheiratet, da ist sie. Zack, geht der Vorhang hoch, nach einer scheiß Generalprobe ist jetzt Vorstellung, Lampenfieber, kein ausverkauftes Haus, altes Haus, nur eine Zuschauerin.
«Hallo!»
«Gut siehst du aus», sagt sie einfach so. Sie sieht selber gut aus.
«Das Café ist zu», teile ich ihr mit, während wir uns kurz drücken und auf die Wange küssen, weshalb ich den Satz erst in ihr linkes und dann in ihr rechtes Ohr brülle.
«Oh!», sagt sie.
In meinem Kopf klingt der Satz nach. Das Café ist zu. Es klingt für mich, wie der eine Satz aus Dirty Dancing, wo das Mädchen gefragt wird, warum sie in dem Club ist und sie sagt: Ich habe eine Wassermelone getragen. Ich habe den Film mit einer Frau gesehen, deren Namen ich schon nicht mehr weiß. Es ist nichts draus geworden.
«Und nu?», frage ich. «Gehen wir in ein anderes Café, eins, das nicht zuhat?» Mann, so viele Wassermelonen kann man gar nicht tragen.
«Wir können auch …» Heike stellt sich auf die Fußaußenseiten.
«Du siehst auch gut aus.» Ich will in kein anderes Café, das heißt dann «Mono» und ich hab den Salat mit Dressing und kann die Schüssel alleine auslöffeln.
«Wir fahren zu mir. Das ist einfacher», sagt Heike. Ihre Haare sind länger als früher. Sie kann sie hinters Ohr klemmen, muss sie aber nicht. Sie kann tun und lassen, was sie will. Wenn sie eine Glatze hätte, würde ich ihr einen schönen Hut kaufen. Zu ihr fahren, warum bin ich da nicht drauf gekommen? Weils dreist gewesen wäre.
«Ja», finde ich auch, kurzer Satz, keine Wassermelonen. Dann stehen wir uns gegenüber. Sie ist recht klein, wenn sie auf den Fußaußenseiten steht. Ich weiß nicht, wo sie wohnt, weil sie umgezogen ist.
«Wo ist dein Auto?», fragt sie.
«Ach so, da!» Ich zeige hinter mich. Dann drehe ich mich um und laufe los. Sie läuft hinter mir her. Ich bleibe stehen. Wir stehen neben einem roten Audi. Sie denkt, das ist mein Auto.
«Noch ein Stück», sage ich und gehe weiter. Sie wieder hinter mir. Ich krieg ’nen Klaps. So geht das nicht, wie wir gehen, und so läuft das nicht, wie wir laufen. Ich beeile mich zum Auto, damit es schnell vorbei ist, wie Heike hinter mir hertappt und ich schon den Schlüssel in der Hand habe.
«Lauf doch nicht so schnell», höre ich Heike sagen, spannenlanger Hansel.
Ich könnte mich hinwerfen und schreien, überhaupt ein Wunder, dass ich das nicht ständig will. Hinwerfen und schreien, eine echte Alternative zu stillhalten und nicken. «Komm doch mal her!» Ich bleibe wieder stehen und drehe mich zu ihr um. Als Heike vor mir steht, hängt deutlich ein «Was jetzt?» in der Luft – also küsse ich sie. Sie küsst Antwort und ich frage weiter. Sie beantwortet alles. Ich lege meine Hände an ihr Gesicht, in der einen Hand den Autoschlüssel, und sie erschrickt, weil der Schlüssel kalt ist. Wir stehen wie vorher. Ich drehe mich wieder um und gehe zum Auto. Soll sie hinterherlaufen, als hätte ich zuckerfreien Zucker am Arsch, da stehn alle Weiber drauf, gleich sind wir am Auto, im Auto, in ihrer Wohnung, Scheidung, Hochzeit, Scheidung, hey-ho.
Der Weg zu ihr ist nicht weit. Ich bin auf einmal gut gelaunt, könnte Schlenker fahren und ihr aufs Knie fassen. Ich will gar nicht mit ihr schlafen. Gut oder schlecht? Gut oder schlecht? Prima oder Stulle?
«Links!», sagt sie.
«Wie es der Dame beliebt.» Und da, sie lächelt, ganz Palästina ist frei und der Beutelwolf ist nicht ausgestorben, weil sie lächelt. Heike lacht nie laut, sie redet nicht laut und sie stöhnt nicht laut und ich habe tatsächlich gar keine Lust mit ihr zu schlafen. Gut oder schlecht?
«Hier!» Heike zeigt in eine kleine Straße, in der nur Häuser vom selben Typ stehen: Nazibauten, schöner als sozialdemokratische Nachkriegshäuser.
«Welche Hausnummer?», frage ich.
«Das Eckhaus.»
Das Eckhaus hat kleine Balkone und schnieke Treppenaufgänge. Woran könnte ich ganz schnell merken, ob ich mit Heike schlafen will? Ich schau sie an.
«Ich weiß», sagt sie. Da bin ich von der Dampfwalze überfahren. Sie weiß es? Dann spreche sie schnell, bevor wir zu ihr hochgehen, in das feine Eckhaus und was Dummes tun, anstatt was Kluges zu tun. Wir könnten ein Buch lesen.
«Ich weiß, ist eine furchtbare Gegend für Autofahrer. Hier sind nie Parkplätze. Du musst hinten am Friedhof parken. Edgar parkt auch immer da.»
«Is nicht schlimm!», sage ich, nö, nö. Edgar fährt zu ihr, findet keinen Parkplatz, parkt dann beim Friedhof, läuft zu dem Eckhaus, der Edgar, Mausebäckchen und dann klappert er mit dem Schlüssel, der Edgar. Natürlich hat er einen Schlüssel zu ihrem Haus, dann schließt er unten wieder zu, das ist ein ordentliches Nazihaus, schließt oben auf, sagt «Hallo Nazi, äh Schatzi!», küsst Schatzi und das wars mit Körperlichkeiten. Is nicht schlimm, aber schön auch nicht.
Ich parke also am Friedhof. Gut oder schlecht? Ich parke ein. Ich schnalle mich ab und werde im Schwung – hopp, hopp, lass es uns hinter uns bringen – aufgehalten, weil Heike ihre Hand auf mein Bein legt und anhebt: «Peta.»
Das bin ich, das ist mein Bein, jawoll.
«Wenn du nicht willst, dann verstehe ich das.»
Jetzt ist die Devise: Flink denken! Ihre Hand ist warm, gut, und ein Ehering ist dran, schlecht, ein Ring, uns alle zu knechten. Es soll also sein, wie immer. Heike nimmt ihre Hand wieder zurück, und kramt Zigaretten aus ihrer Jackentasche, dann das Feuerzeug, dann klappt sie den Ascher in der Armatur raus. Ich habe sieben Minuten Zeit zu bedenken und dann zu formulieren, ob ich will oder nicht, jetzt wo klar ist, wie der falsche Hase läuft: Rein, raus, weg läuft er. Sieben Minuten Zeit zu überlegen, ob ich sieben Minuten Sex will und zu überlegen, was ich dazu denke und ob ich ihr sage, was ich denke. Du mieses … du mieses Mieses, du böses Böses, du verficktes Verficktes, und ich will nicht mal. Heike raucht und lässt die rechte Hand immer gleich in Mundhöhe. Sie entspannt sich zwischendurch nicht. Weil ich meine Zigaretten nicht mithabe, nehme ich eine von ihr. Wir lächeln, weil wir das schon mal geklärt haben. Das war leicht, da kann ich «Danke!» sagen. Wer nach dem Ficken «Danke!» sagt, das ist schwerer.
«Wir können auch …» Sie zieht an der Zigarette. «Wir müssen nicht.» Sie atmet den Rauch aus. Sie zieht eine Augenbraue hoch. Das soll eine Frage sein. Das soll eine Frage sein?
Konsequent, da das eine halbe Angelegenheit ist, kann sie auch nur halbe Sätze sagen und nur eine Augenbraue hochziehen.
Ich rauche mich klar. «So wie ich das sehe», hebe ich an, guter Einstieg, dafür, dass ich gar nichts sehe. Ich sehe, ich sehe … schwarz.
«Ich bin ja nun da», das bin ich. Korrekt.
Wir aschen gleichzeitig in den Klappascher. Ich will heute zumindest nicht zurückfahren.
«Da können wir auch hochgehen. Oder wir gehen doch in ein Café, aber jetzt sind wir ja hier.» Das sind Argumente.
«Peta, es geht nicht ums Hochgehen.» Sie flüstert das.
«Ich weiß», flüster ich übertrieben zurück. Das ist mir schon klar. Mir war nur der Rest nicht klar, dass es das sein soll, was es mal war und dann nicht mehr und jetzt doch wieder. Darüber haben wir am Telefon nicht geredet. Wir haben über meine Kinderlein geredet, das Töchtilein, das Söhnchen, was wären sie stolz auf mich.
Heike drückt ihre Zigarette vor deren Ende aus. Sie kann wohl Sachen nicht zu Ende bringen? Liebes Tagebuch, es tut mir Leid, wenn du denkst, ich hätte dich vernachlässigt, weil ich dich lange nicht mehr angesprochen habe und weil ich dich ja sowieso nicht führe, liebes Tagebuch, guter Freund, da habe ich meine Zigarette auch ausgedrückt und gesagt: «Willst du denn, dass ich mit hochkomme?»
«Es geht nicht ums mit Hochkommen.»
«Willst du denn worum es geht? Du hättest es mir ja sonst nicht angeboten.» Ich habe meine Frage selbst beantwortet und sage deshalb: «Na dann!»
Ich klappe den Klappascher rein. Ich könnte die ganze Zeit solche Dinge tun. Ich zieh den Zündschlüssel aus dem Schloss. Ich gehe jetzt hoch, einmal ist keinmal ist ein letztes Mal. Oder kann ich so gut ficken, dass nach dem Glück alles anders aussieht? Ich will gar nicht. Gut oder schlecht? Vielleicht ist es richtig schlecht, wenn ich gar nicht will. Dann habe ich eine schöne schlechte Erinnerung. Ich werde im Ehebett ficken müssen und wenn ich unter das Kopfkissen greife, weil ich es ihr unter den Arsch schieben will, werde ich in Edgars voll gerotzte Taschentücher greifen und dann ekel ich mir einen fiese Krankheit und sterbe – so soll es sein.
«Wirklich?», fragt Heike nochmal. Nein, aber ist ja egal, egal wie 88, was bei Nazis verschlüsselt Heil Hitler heißt. Also, egal wie Heil Hitler, passt ja auch zu ihrem Haus, in das wir jetzt gehen werden. Heike küsst mich, bevor wir aussteigen. Sie küsst mich unters Ohr, dort wo mein Hemd aufhört. Wenn das Programm bei ihr angelaufen ist, dann richtig, dann husch husch, dann ohne Moral und Gewissen, bevor der Mann wieder da ist, wo auch immer der gerade ist. Vielleicht hat er eine Geliebte. Warum in dem Wort Libido vom Klang her das Wort Liebe drinsteckt, habe ich nie begriffen. Ich knall die Autotür zu. Sie kann das natürlich wieder leiser. Wenigstens laufen wir diesmal nebeneinander. Sie nimmt meine Hand. Wir laufen auch die Treppen nebeneinander hoch. Oben knipst sie das Licht erst gar nicht an. Sie lässt alles fallen und nimmt mir alles weg. So schnell kann ich nicht Sexido sagen, da bin ich nackt und mein Glied wird begehrt. Ich lass mich befummeln. Ich lass mich. Ich lass sie. Ich krieg erst einen Steifen, als ich an Tanja denke. Ist das alles doof, doofer, am doofsten. Ich betrüge Tanja, die ich nicht betrügen kann, weil ich das darf. Ich betrüge sie trotzdem irgendwie und denke an sie und betrüge Heike, die ich nicht betrügen kann, die aber ihren Mann betrügt. Ich betrüge mich, so schauts.
Heike will nicht reden. Nix da, schnell. Ich hoffe immer noch, dass ich nicht kann. Nix da, steht. Und dann weiß sie nicht weiter. Ich muss das Steuer in die Hand nehmen, sie holt mir ein Kondom, damit ich das über mein Steuer ziehe und dann mit dem Ding auf dem Ding und ihr auf dem Ding in die dunkle Wohnung vorstoße, während sie wie im Auto vorhin sagt: «Links!» Vielleicht sitz ich noch im Auto, vielleicht bin ich noch nicht hier, vielleicht wurde ich nie geboren. Links, rechts, da, einparken – hab ich schon. Wir kommen zum Liegen und sie will unten sein, aber trotzdem das Tempo angeben. Ich halte also meinen Körper hin und sie bewegt sich und dann kommt sie sehr schnell, leise, aber deutlich. Sie quietscht, Tür auf, Tür zu. Weil sie mir mal gesagt hat, sie wäre mit ihrem Mann nicht zufrieden sexuell, habe ich mir eingebildet, ich wäre gut, aber jetzt denke ich, ihr Mann hat nicht so gut stillgehalten. Ich bin noch nicht so weit. Ich will nicht mehr an Tanja denken. Heike ist es wurscht, dass ich nicht fertig bin, mir auch, Knacker, Salami, Blutwurst.
«Peta!», sagt Heike. Ich bin anwesend, aber abwesend. Ich sitze im Auto. «Das war schön!» Hört sich an, als wars das und das wars. Wir liegen da und sie fängt an zu plappern. Gut, dass sie nicht arbeitslos ist, sonst hätte sie nichts zu erzählen.
Dann gehen wir etwas essen. Ich suche in ihrem Gesicht rum und stocher im Essen. Da muss doch was sein. Der Kellner räumt die Teller ab, als ich auf Klo bin und darum werde ich nicht mal gefragt, ob es mir geschmeckt hat. Es hat mir nicht geschmeckt.
Im Auto fängt Heike wieder an rumzudrucksen, ob ich mit hochkommen will, aber ums Hochkommen würde es nicht gehen. Ich wäre so gern behindert und würde mir die Faust endlos an die Schläfe schlagen. Ich weiß inzwischen, dass es nicht ums Hochkommen geht, zumindest nicht, ob ich hochkomme. Wir rauchen und dann fahre ich tatsächlich nach Hause, so spät in der Nacht. Wir verabschieden uns lustlos. Mit etwas Glück weiß ich bald ihren Namen nicht mehr, die da. Wie ihre neue Wohnung aussieht, weiß ich ja auch nicht, alles im Dunkeln. Sie wird aus meinem Kopf ausziehen müssen, die Schrankwand mitnehmen, das Sorgerecht für den Teppich bekommen, und mit ganz viel Glück verunglücke ich auf der Heimfahrt. Wenn nicht diese Frau, dann keine, und selbst die will ich nicht mehr, gar nix, jarnüscht. Ich bin nie aus dem Auto ausgestiegen.
Katrin ist mein Spiegelbild, den Eindruck macht sie gerne, obwohl wir uns nicht ähneln. Sie hat ein viel runderes Gesicht, das Gesicht von Mama, rund. Und sie hat die Nase von Papa, schmal. Und sie hat hellere Haare, weil sie ihre nicht färbt. Katrin sieht spezieller aus, mit dem Gesicht ist es schwerer zu fliehen, weg. Sie ist auch innen wer anders. Aber wenn sie da ist, und das ist sie jetzt, ist sie auf mich bezogen und spiegelt mich. Wir treffen uns an der Warschauer Brücke, und sie beugt sich zu meiner Größe und meinem Alter herab. Sie sagt: «Du hast die Haare wieder richtig lang, krass.» Ich sage nie krass. Ihr scheint egal zu sein, dass ich zu ihr aufsehen will.
Ich sage: «Ich habe sie wachsen lassen.»
Wir umarmen uns und küssen uns dabei auf die Wange. Früher haben wir uns auf den Mund geküsst.
«Also wohin? Du kennst dich aus …»
Sie beobachtet, wie ich hin und her schaue, ich schaue in den Osten und in den Westen, nach Friedrichshain und nach Kreuzberg. Sie schaut auch hin und her. Ich gehe etwas zurück und sie folgt mir, überallhin, bis hierher.
«Na sag!» Immer soll ich ihr schneller reagieren. Sie greift mit ihren Blicken in mein Gesicht ein, dabei habe ich die Haare wachsen lassen, damit das nicht geht, darum. Ich lasse immer die Haare offen, wächst Haar drüber, Gras.
«Also?»
«Da lang!» Ich zeige nach Friedrichshain.
«Da lang?» Sie zeigt nach Friedrichshain.
Wir gehen los. Sie nimmt ihre Hände aus der Jackentasche, als ich meine herunter hängen lasse. Meine Arme bewegen sich an meinem Oberkörper, weil ich ihn bewege. Ihre Arme bewegen sich, weil sich meine bewegen. Ich übersehe den Punker mit dem Hund im Arm. Katrin schaut zu Boden und denkt, dass die Schwester von dem Punker sich um ihn kümmern sollte, sollte sie nicht.
Ich bleibe stehen. Sie bleibt auch stehen.
«Was ist?»
«Nichts!» Ich drehe mich nach der Straßenbahn um, sie auch.
«Ist das unsere?»
«Nein, wir können laufen.» Und wir laufen. Ich verliere beim Laufen ununterbrochen den Boden unter den Füßen, ein Fuß, der andere.
«Wie wars in Prag?», fragt Katrin.
«Schön.»
«Schön?»
«Ja!»
Ich schließe meine Jacke, es ist zu kühl die Jacke offen zu lassen, und der Wind legt mein Herz frei. Katrin hat gleich gewusst, dass es kühl ist. Ihre Jacke ist schon geschlossen und darum hat sie jetzt nichts zu schließen.
«Warst du allein in Prag?»
«Nein.»
«Nein.» Sie wiederholt das leise, für sich, für mich jedenfalls nicht.
Wir laufen an meinem Klingelschild vorbei. Katrin weiß nicht, dass das mein Klingelschild ist, aber sie weiß, dass es viele T. Jannsens in der Stadt gibt. Sie hat viele davon angerufen. Das ist mein Haus, darin meine Wohnung, darin meine Leitern, inzwischen drei. Oben ist auch mein Bett, da liegt Frank drin, weil er heute frei hat. Ich betrachte meine Schwester von der Seite. Sie ist älter geworden. Das bedeutet, dass ich auch älter geworden bin, und auch, dass ich älter geworden bin, als sie dachte. Ich schaue sie an, sie schaut zurück und lächelt. Zuversichtlich, weil ich gut aussehe. Ich kann sie auch spiegeln, besser. Ich lächel zurück, selber.
«Sondern?»
«Was?»
«Mit wem warst du in Prag?»
«Mit meinem Freund.» Ich habe Fotos von Milan. Er lächelt auf den meisten breit, lächerlich.
«Mit Holger?»
«Mit Peter», sage ich, bevor sie noch nach Frank fragt.
«Ach du hast einen neuen Freund?» Sie streicht ihr Haar zurück, obwohl sie einen Zopf hat, aber ich habe keinen Zopf und habe meine Haare hinters Ohr geklemmt, weil der Wind mit ihnen macht, was er will.
«Nein, es ist ein alter Freund.»
Wir lachen wegen alt und alt, nicht neu oder nicht jung. Wir lachen, haha, ganz leicht.
«Wie alt ist er denn?»
«So wie du», sage ich.
«Das ist doch nicht alt.» Sie klatscht mir mit dem Handrücken sanft gegen den Unterarm, wie eine Schwester. Brüder boxen, nicht auf den Unterarm, sondern auf den Oberarm, feste.
«Nein», sage ich, sie ist nicht alt und Peter ist auch nicht alt, er pubertiert. Ich will Katrin nicht sagen, wie groß der Altersunterschied ist, viel größer als zwischen mir und Patrick, und das war Katrin damals genug Unbehagen im Auge. Ich war ja auch sehr jung. Katrin sagte oft perverses Schwein, dabei wusste sie gar nichts über Patrick, nur sein Alter. Was heißt das schon? Wie alt bin ich?
«Seid ihr mit dem Auto gefahren?»
«Ja.»
«Ja», wiederholt Katrin.
Wir sind endlich vor dem Café, in das ich wollte. In dem Café sind viele Spiegel und als ich vorher überlegt habe, wohin ich mit Katrin gehen könnte, ist mir dieses Café eingefallen, und ich habe gelacht, wegen der Spiegel. Das Café gibt es noch nicht lange. Auf jedem Tisch stehen echte Blumen, immer frisch. Sie werden irgendwann aufhören echte Blumen auf die Tische zu stellen, wie in einer Beziehung, wenn es keine Eröffnungsangebote mehr gibt, traurig.
«Mit dem Auto», wiederholt Katrin und geht hinter mir in das Café.
Der Mann mit der Windjacke, der mich aus Prag mitgenommen hat, hieß tatsächlich Peter. Er war über 40, aber nicht anziehend. Vor allem stand ihm seine Frau nicht, die war zu alt, gleich alt. Frauen verfallen. Katrin hat auch Ansätze dazu. Sie hat eine Handtasche.
Im Café sind viele Tische frei, und ich gehe zu einem Tisch in der Ecke, in die mich Katrin treibt. Ich will in der Ecke sitzen. Ich mag starke Zeichen setzen. Wenn jemand verletzt ist, kann er sich auch selber verletzen, ja. Die vielen Narben auf dem Unterarm, Bäume und Fahrräder, Teppichmesser und Rasierklingen, nein.
Wir setzen uns, als wären wir über viele Dünen gewandert. Wir lächeln uns an, kurze helle Huschen übers Gesicht, die dann verschwinden, weil es sich bedeckt. Es zieht sich zu.
«Und ist dein Freund lieb?»
Sie traut mir nichts zu, nicht mal, dass ich einfach lüge. Als ob ich mich schlagen lasse, als ob ich nicht weiß, was gut für mich ist, das zum Beispiel alles nicht. Und ich könnte trotzdem einfach «Ja!» sagen.
«Ja», sage ich. Milan ist lieb und Peter habe ich lieb. Ich habe Katrin auch lieb. Sie war eine liebe Schwester. Sie hat mir alles ausgeliehen und ich habe ihr alles ausgeliehen und sie hat mir alles zurückgegeben, ich ihr nicht. Sie war lieb und jetzt sagt sie: «Tanja, du weißt, dass wir über vieles reden sollten. Ich freu mich dich zu sehen. Es ist so lange her.»
Die Kellnerin kommt zu uns. Sie bewegt sich, als wäre Kellnern ein Sport. Sie startet, sie schlägt am Tisch an. Ihr Gesicht ist ein: «Na?» Sie würde gerne erraten, was wir bestellen wollen und auch gleich vorher fragen, ob es uns geschmeckt hat.
«Kommt sofort!», sagt sie, als wir zweimal heiße Schokolade bestellen. Erst habe ich bestellt und dann hat Katrin gesagt: «Für mich bitte auch.» Kommt sofort, dabei haben wir nicht gedrängelt, für mich bitte auch, Hochwürden, Knicks. Erwachsene sind blöd.
Katrin und ich haben als Kinder oft heiße Schokolade getrunken, die hieß damals aber Kakao oder Trinkfix. Eine leere Trinkfixpackung war der Sarg von unserem Meerschweinchen Fritzi.
Katrin behauptet: «Ich finde, dass es richtig war, wie Mama und Papa gehandelt haben, in jeder Situation, zu jeder Zeit. Ich denke, dass du weißt, dass es keinen Ausweg gab. Das Heim …»
Katrin und ich haben damals sehr gelacht bei der Vorstellung, dass in Millionen von Jahren Außerirdische auf die Erde kommen, und die Erde ist ein «schwebendes Grab im All, auf dem keine Blume wächst», wie die Puhdys es gesungen haben. «Vielleicht», heißt es in dem Lied, «wenn auf der Welt der Hass und die Gier so groß werden, dass nichts, aber auch nichts mehr sie retten kann …» Über das Lied haben wir nicht gelacht, da haben wir uns gefürchtet, weil wir sterben werden, weil das «Feuer so groß war, dass keine Tränen es löschen konnten». Aber als uns einfiel, dass diese Außerirdischen kommen, und dann finden sie am Ufer der Saale die Trinkfixpackung, mit der toten Fritzi drin, da haben wir gelacht, und wie! Wir haben nur gelacht. «Stell dir vor», haben wir gesagt, so wie das Lied von den Puhdys anfängt und wir haben die tiefe Stimme nachgemacht, «stell dir vor, irgendwo gibt es einen Planeten, auf dem intelligente Wesen leben. Sie sehen vielleicht genauso aus wie wir … und stell dir vor, die Kontinente geschmolzen, die Meere verbrannt, alle Meerschweinchen sind tot.» Wir haben uns gekringelt. «Und aus zehn Milliarden Augen ein Tränenmeer, das überlief und den letzten Damm der Hoffnung zerbrach … und die intelligenten Wesen finden an der Saale eine Trinkfixpackung …» Wir haben uns die dummen Gesichter der Außerirdischen vorgestellt, wenn sie denken, dass die Meerschweinchen die Menschen waren und alle Brücken gebaut haben und alle Bücher geschrieben haben. «Kuck mal!», haben wir gesagt und uns dumme Gesichter gezeigt. «Sie sehen vielleicht genauso aus wie du!» und wir sind geplatzt vor Lachen.
Unser Kakao kommt, mit Keks, mit Sahne, mit Zuckertütchen, falls er nicht süß genug ist.
«Ihre heiße Schokolade!», sagt die Kellnerin. Sie schiebt alles auf dem Tisch hin und her, viel zu lange, sagt: «So!» und sprintet zurück zum Tresen.
Katrin behauptet: «Wir haben nur versucht, dich zu retten. Wer weiß, wo du heute wärst, ob du noch wärst, wenn Papa und Mama nicht …»
Katrin lässt den Satz hinten offen, da fällt der Sinn raus, und mir fällt es schwer zuzuhören. Meere können gar nicht verbrennen und wenn die Kontinente geschmolzen sind, ist auch die Trinkfixpackung mit Fritzi geschmolzen. Ich rühre die Sahne in den Kakao, ganz langsam. Wer nicht mit Essen spielt, verschenkt sehr viel Spaß im Leben. Katrin rührt auch die Sahne unter, aber ohne hinzusehen, wie die weiße Sahne langsam braun wird. Katrin beugt sich weit nach vorne, um mir ins Blickfeld zu gelangen. Sie kommt mir so weit es geht entgegen, sehr weit, bis hierher.
Katrin behauptet: «Du musst doch einsehen, dass die Maßnahmen, die wir ergriffen haben …»
Einmal haben wir Fritzi eine Leine angelegt, weil wir eigentlich einen Hund haben wollten, egal wie klein, einen Dackel oder einen Pinscher, etwas was seinen Namen weiß. Ich zum Beispiel heiße Tanja. Fritzi wusste ihren Namen nicht. Fritzi quiekte und wollte hartes Brot und nicht Gassi gehen, gar nicht. Wir haben es trotzdem gemacht. Katrin, die hätte sagen müssen, dass das nichts für ein Meerschweinchen ist, hat selber eine Leine gesucht. Es war eine Wäscheleine, eine hellblaue, obwohl Fritzi ein Mädchen war, aber eine rosa Wäscheleine haben wir nicht gefunden, also hellblau. Wir haben Fritzi die Leine um den Hals geknotet und sind in den Hof gegangen.
Katrin behauptet: «Du musst das endlich verzeihen. Das ist das worum ich dich bitte, obwohl ich nicht finde, dass wir etwas falsch gemacht haben, weil du …»
Wir haben Fritzi gequält, haben sie hinter uns her gezogen, weil sie nicht bei Fuß laufen wollte. Sie wollte quieken. Die Kinder im Hof, die aus den anderen Häusern, ließen ihre Meerschweinchen frei laufen, auf einem eingezäunten Rasenstück. Sie haben uns beschimpft. Dabei ist es doch egal, wie die Freiheit eines Tieres eingeschränkt wird. Ich war von den Kindern im Hof immer die Kleinste. Ich war immer die Kleinste, nur Fritzi war kleiner.
Katrin behauptet: «Ich muss mich nicht entschuldigen, weil es sich ja als richtig erwiesen hat. Du bist gesund und …»
Schon wieder beendet sie den Satz nicht. Da kann ich nicht zuhören. Ich esse meinen Keks und Katrin hält mir ihren hin, weil ich ihr verzeihen soll. Ich esse ihren Keks, aber verzeihe ihr trotzdem nicht, niemals.
Katrin behauptet: «Es sah zu der Zeit aus, als ob es böse enden würde mit dir, wenn …»
Wir sind dann mit Fritzi in den Keller gegangen und haben dort weiter Hund gespielt.
Katrin behauptet: «Das hatte mit frühreif nichts mehr zu tun. Du warst zu jung, um …»
Katrin behauptet: «Gesoffen, Sex gehabt, geprügelt …»
Katrin behauptet: «Das weißt du doch noch.»
Fritzi saß auf dem nackten Kellerboden, neben dem Rattengift, und wir haben sie weggezogen. «Komm!», haben wir gesagt. Rattengift oder strangulieren. Sie ist bald darauf gestorben und andere auch, Mama, Papa, alle Lehrer. Ich hatte eine schöne Kindheit. Katrin war toll. Sie hat viel mit mir gespielt. Wir hatten einen runden Teppich im Kinderzimmer und haben dort Ringkämpfe drauf gemacht. Katrin war älter, aber ich war wendiger.
Katrin behauptete: «Das Heim hat dir doch tatsächlich erst mal gut getan, die Kontrolle …»
Ich weiß gar nicht, ob Katrin nicht zu Ende spricht, oder ob ich nicht zu Ende zuhöre. Ich habe Katrin lieb. Wir haben Radieschen geklaut im Schulgarten. Wir sind Fahrrad gefahren und hatten Puppen, die waren gleich alt, deshalb gingen sie in dieselbe Klasse, in der Puppenschule. Wir haben uns gegenseitig abgekitzelt und dazu gefesselt, wieder mit der hellblauen Wäscheleine. Jeder durfte mal, immer abwechselnd. Das tat weh, aber wir haben gelacht.
Katrin behauptet: «Also, bis darauf, dass du diesen Patrick kennen gelernt hast … das perverse Schwein! Und ab da hast du uns ignoriert. Bei jedem Besuchstermin …»
Ich habe ihn sehr geliebt, das perverse Schwein. Und dann war er tot. Katrin habe ich auch geliebt und sie lebt noch. Warum eigentlich? Mein Kakao ist alle. Weil sie mir immer geholfen hat. Sie hat mit mir zusammen den Wohnungsschlüssel gesucht, als ich den mal verloren hatte. Und weil wir lange gesucht haben, sind wir zu spät gekommen, beide. Und dann haben wir Stubenarrest bekommen, beide und haben mit Kastanien gespielt, Oktober.
Katrin behauptet: «Dass wir darauf reagiert haben, war logisch. Es gibt ja auch Gesetze. Wir wollten doch nur …» Ich winke die Kellnerin heran, die sprintet los. «Ja, worum geht’s?»
«Um mein Leben!», sage ich und grinse.
Dann bestelle ich Kakao und Katrin auch, für mich bitte auch, Hochwürden, Knicks. Ich grinse immer noch.
«Geht’s dir gut?», fragt Katrin.
«Ja, sehr!», sage ich und nicke mit dem Kopf. Ich nicke mit dem Herzen und mit dem Kopf.
Katrin behauptete, ich wäre doch nicht fähig gewesen, das Kind zu erziehen. Sie will mir Fotos zeigen, wie ich zu der Zeit aussah.
Ich höre auf zu nicken. Katrin holt ein Fotobuch aus ihrer Handtasche, keine einzelnen Fotos, richtig ein Buch. Das Lied von den Puhdys heißt «Das Buch». Katrin schiebt mir das Buch rüber. Ich warte auf die Kellnerin. Die kommt, sagt wieder: «Ihre heiße Schokolade!» und räumt danach den Tisch auf, nimmt den ganzen Müll, die leeren Zuckertütchen, die leeren Kekstütchen, aber nicht die Fotos.
Ich sehe mir die Fotos an, während ich die Sahne unterrühre, weshalb ich auch oft zu der Sahne sehe, wie sie schmilzt und dabei ein paar Fotos überblätter. Die Sahne löst sich in Wärme auf, ich – immer dünner, ich – immer kurzhaariger, ich – in Patricks Klamotten, Schorf. Ich lecke den Löffel ab, Kakao. Wir haben immer schon gerne Kakao getrunken, weil es das Gute von Milch und Schokolade vereint. Ich hebe die Schale mit beiden Händen und trinke mit geschlossenen Augen. Als ich die Augen wieder öffne, hat Katrin die Fotos weggesteckt und konnte mich deshalb nicht spiegeln. Ich will nicht, dass sie mich nachmacht. Ich habe sie nachgemacht. Ich habe alles gemacht wie sie. Sie ist nur fünf Jahre älter.
Katrin behauptet: «Wir haben es gut gemeint. Wir haben gedacht, das bringt dich zur Vernunft, wenn wir Maria zu uns nehmen. Und es hat gewirkt. Wir haben richtig gehandelt.»
Wir sind Katrin und meine Eltern. Ich bin ich.
Katrin behauptet: «Maria geht es gut. Sie wechselt jetzt die Schule.»
Katrin heult fast. Das macht sie mir aber nicht nach. Ich heule nicht. Ich mach das nicht mehr. Der Entzug war für alles.
Katrin behauptet: «Ich habe neue Fotos von Maria dabei.»
Was Katrin alles in ihrer Handtasche hat, sogar ein Taschentuch, mit dem sie ein Tränenmeer wegwischen kann, das so groß ist, dass der letzte Damm der Hoffnung zerbrach. Als Kind habe ich auch nicht geweint, weil alles schön war. Ich habe einmal im Skiurlaub geweint.
Katrin behauptet was von Mario und was von Patrick und was von Vaterschaft.
Wir waren alle im Skiurlaub und ich war die Kleinste, weil wir Fritzi nicht mitgenommen haben. Wir haben keinen Abfahrtski gemacht, sondern Langlaufski. Durch Puderzuckerwälder, ich zwischen Mama und Katrin, wir alle in der Spur, die Papa in den frischen Schnee zog, quer über Felder.
Katrin behauptet: «Ich soll dich von Mario grüßen. Er hat mir einen Brief mitgegeben.»
Katrin redet immer in den Abständen, dass ich nicht nachdenken kann. Ich bin wie ein Computerbildschirm, und immer wenn ich mich runter gefahren habe und der Bildschirmschoner läuft, bewegt Katrin die Maus. Der Bildschirmschoner ist eine verschneite Schonung.
Katrin behauptet: «Weihnachten war Mario bei uns.»
Ich konzentriere mich. Schnee. Schnee überall. Stiller Wald, gestrickte Mütze und die Skibindung geht immer wieder auf. Wir hatten nur Leihski, blau und kaputt. Im Harz.
Katrin behauptet: «Papa bittet dich …»
Schnee. Stiller Wald, hoher Berg. Papa suchte anstrengende Routen heraus, und ich war die Schwächste. Keiner zog mich und keiner schob mich. Ich musste mich selbst ziehen und schieben. Auf dem Berg machten wir Pause, Rast hieß das, Trinkfix und Rast. Wir lehnten die Skier an die Gaststätte und nach wenigen Minuten in der Gaststätte explodierten die Wangen, Tee.
Katrin behauptet: «Papa vermisst dich am meisten. Mama sagt, dass sie dich versteht und dass du Zeit brauchst. Keiner ist böse. Maria kennt dich ja gar nicht. Wir erzählen viel von dir.»
Schnee. Stiller Wald, Dämmerung, Glitzern und zurück zur Unterkunft. Papa wollte abkürzen und wir mussten über einen Bach. Mama und Papa waren schon drüben, Katrin hinter mir und ich hing über dem Bach fest.
Katrin behauptet: «Ich habe Papa deine Telefonnummer gegeben, obwohl du das nicht …»
Schnee. Stiller Wald, kein Vogel, ein Hase. Ich hänge fest. Genau über dem vereisten Bach. Dort wo Mama mit dem einen Ski in den Bach gerutscht war, ist ein Loch im Eis, da ist Wasser und ein Blatt und ein Stock. Papa hat Mama geholfen, sie an der Hand gepackt. Er hatte extra die Lederhandschuhe ausgezogen, um besser zufassen zu können. Ich hänge fest. Die anderen haben längere Skier, die konnten einen großen Schritt machen. Für einen großen Schritt bin ich zu klein, wie Fritzi. Ich friere, es wird dunkler. Die anderen frieren auch und es wird dunkler. Die Eltern sagen: «Komm!» und halten mir vier Hände entgegen. Schnee. Und Katrin lebt noch, weil sie ihre Skier abgemacht hat und sie hat nicht gedrängelt und sie hat sich zwischen die Bachböschungen gestellt, breitbeinig. Ich habe sie umarmt und geheult. Und Katrin hat mich heulen lassen, obwohl alle gefroren haben und dann hat sie gesagt: «So jetzt!» Ich bin nicht reingefallen.
Katrin behauptet: «Papa hat nächste Woche Geburtstag und Maria ja den Tag darauf.»Katrin behauptet, dass ich eingeladen sei.
Jetzt sehen wir gleich aus, wir heulen. «Aus zehn Milliarden Augen ein Tränenmeer, das überlief.» Sie wegen was und ich wegen was, aber wegen was anderem, weil mir das mit dem Bach eingefallen ist, Wasser, getautes Eis.
«Weißt du noch im Skiurlaub auf dem Bach?», frage ich und schnaube in die Serviette. Heulen fühlt sich an wie brechen, das macht nichts besser, nur nass, Eis, gefrorenes Wasser.
«Ja, das weiß ich noch», behauptet Katrin, dabei habe ich es mir ausgedacht. Sie lacht froh und umarmt mich, weil ich ihre Kekse gegessen habe.
«Bring doch deinen Peter mit», sagt sie.