ZEHN

Kaum hatte die Malmö im zwanzig Faden tiefen Wasser der Bucht von Garacad den Anker geworfen, als drei Aluminiumboote vom Dorf auf sie zukamen.

Dschimali und seine sieben Piraten brannten darauf, wieder an Land zu kommen. Sie waren zwanzig Tage auf See gewesen, die meiste Zeit eingepfercht in der Enge des taiwanesischen Trawlers. Ihr Vorrat an frischen Lebensmitteln war längst aufgebraucht, und sie hatten zwei Wochen lang von europäischem und philippinischem Essen gelebt, das sie nicht mochten. Sie sehnten sich nach ihrem heimischen Ziegenfleischeintopf und dem Gefühl von Sand unter den Füßen.

Die dunklen Köpfe in den vom eine Meile weit entfernten Strand herankommenden Booten gehörten der Ablösungsmannschaft, die das vor Anker liegende Schiff bewachen würde, so lange es nötig war.

Einer von denen, die da auf die Malmö zukamen, war kein zerlumpter Stammesangehöriger. Im Heck des dritten Bootes saß ein sauber gekleideter Somali in einem gut geschnittenen, hellbraunen Safarianzug und hielt einen Attachékoffer auf den Knien. Das war Mr. Abdi, al-Afrits auserwählter Unterhändler.

»Jetzt geht’s los«, sagte Kapitän Eklund auf Englisch, der Sprache, in der sich die Schweden, die Ukrainer, der Pole und die Filipinos an Bord verständigten. »Wir müssen Geduld haben. Überlasst das Reden mir.«

»Nicht sprechen!«, fauchte Dschimali. Ihm gefiel es nicht, wenn seine Gefangenen redeten, nicht einmal, wenn sie Englisch sprachen, denn er verstand es nicht besonders gut.

Ein Fallreep wurde über die Reling herabgelassen, und die überwiegend halbwüchsigen Bewacher der Ablösung kamen an Bord. Sie schienen die Sprossen kaum zu berühren. Mr. Abdi, der nicht gern auch nur eine Meile weit draußen auf dem Meer war, ließ sich Zeit und klammerte sich beim Klettern fest an die Taue. Sein Attachékoffer wurde ihm heraufgereicht, als er auf dem Deck stand.

Kapitän Eklund wusste nicht, wer er war, aber an der Kleidung und an den Manieren erkannte er, dass er es zumindest mit einem gebildeten Mann zu tun hatte. Er trat vor.

»Ich bin Kapitän Eklund, Kommandant der Malmö«, sagte er, und Mr. Abdi streckte die Hand aus.

»Ich bin Ali Abdi, Verhandlungsbeauftragter der somalischen Seite.« Er sprach ein fließendes, leicht amerikanisch gefärbtes Englisch. »Sie waren noch nie … wie soll ich es sagen … Gast des somalischen Volkes?«

»Nein«, antwortete der Kapitän, »und ich wäre es auch jetzt lieber nicht.«

»Natürlich nicht. Höchst beunruhigend aus Ihrer Sicht. Aber man hat Sie informiert, oder? Es gibt gewisse Formalitäten, die erledigt werden müssen, bevor sinnvolle Verhandlungen beginnen können. Je eher wir uns einig sind, desto schneller können Sie sich wieder auf den Weg machen.«

Kapitän Eklund wusste, dass sein Arbeitgeber in weiter Ferne mit Versicherern und Anwälten in Klausur sitzen würde und dass auch sie einen Unterhändler benennen würden. Hoffentlich waren sie beide geschickt und erfahren, damit es rasch zur Lösegeldzahlung und Freilassung käme. Doch er kannte die Spielregeln nicht. Schnelligkeit lag jetzt ausschließlich im Interesse der Europäer.

Abdi forderte als Erstes, auf die Brücke gebracht zu werden, um über das Satellitentelefon des Schiffs Kontakt mit der Leitzentrale in Stockholm und dann mit dem Verhandlungsbüro aufzunehmen, das sich vermutlich in London befinden würde, wo Lloyds beheimatet waren. Dort würde das Epizentrum der gesamten Verhandlung liegen. Aus der Höhe der Brücke ließ er den Blick über das Deck wandern.

»Es wäre vielleicht ratsam«, sagte er leise, »Sonnensegel über die Lücken zwischen der Decksladung zu spannen. Dann kann Ihre Crew die Seeluft genießen, ohne von der Sonne gebraten zu werden.«

Stig Eklund hatte vom Stockholm-Syndrom gehört: Zwischen Geiselnehmern und Gefangenen entstand eine Freundschaft auf der Grundlage großer Nähe zueinander. Er hatte nicht vor, seinen inneren Hass auf die Leute aufzugeben, die sein Schiff in ihre Gewalt gebracht hatten. Andererseits war der gut gekleidete, gebildete und wortgewandte Somali in Gestalt dieses Ali Abdi zumindest jemand, mit dem er auf zivilisierter Grundlage kommunizieren könnte.

»Danke«, sagte er. Sein Erster und Zweiter Offizier standen neben ihm. Sie hatten alles verstanden. Er nickte ihnen zu, und sie verließen die Brücke, um die Sonnensegel aufzuspannen.

»Und jetzt, wenn Sie gestatten, muss ich mit Ihren Leuten in Stockholm sprechen«, sagte Abdi.

Innerhalb weniger Sekunden hatten sie Stockholm am Satphone. Abdis Gesicht hellte sich auf, als er erfuhr, dass der Schiffseigner bereits in London bei Chauncey Reynolds war. Mit denen hatte er, wenn auch für andere Clanchefs, schon zweimal über die Freigabe eines Schiffes verhandelt, und jedes Mal waren sie nach nur wenigen Wochen erfolgreich gewesen. Er ließ sich die Nummer geben und bat Kapitän Eklund, die Londoner Anwälte anzurufen. Julian Reynolds meldete sich.

»Ah, Mr. Reynolds, da sprechen wir wieder miteinander. Hier ist Mr. Ali Abdi auf der Brücke der Malmö, und neben mir steht Kapitän Eklund.«

Julian Reynolds in London machte ein erfreutes Gesicht. Er hielt eine Hand über die Sprechmuschel und sagte: »Es ist wieder Abdi.« Alle seufzten erleichtert, auch Gareth Evans. Auf der Londoner Seite kannte jeder den berüchtigten al-Afrit, den grausamen alten Tyrannen, der Garacad beherrschte. Dass der urbane Abdi mit den Verhandlungen beauftragt worden war, brachte einen Funken Licht in den Raum.

»Guten Morgen, Mr. Abdi. Salaam alaikum

»Alaikum as-salaam«, antwortete Abdi durch den Äther. Vermutlich würden die Schweden und die Briten ihm mit Vergnügen den Hals umdrehen, wenn sie die Wahl hätten, aber der muslimische Gruß war doch ein netter Versuch, höflich zu sein. Höflichkeit wusste er zu schätzen.

»Ich gebe Sie jetzt an jemanden weiter, den Sie vermutlich schon kennen.« Reynolds reichte den Hörer an Gareth Evans und aktivierte die Konferenzschaltung. Die Stimme aus Somalia klang glockenklar im Raum. Ebenso klar hörte man sie in Fort Meade und in Cheltenham, wo alles mitgeschnitten wurde.

»Hallo, Mr. Abdi. Hier ist Mr. Gareth. So treffen wir uns wieder, wenn auch nur über den Äther. Man hat mich gebeten, die Angelegenheit auf der Londoner Seite zu regeln.«

In London hörten fünf Männer – der Schiffseigner, zwei Anwälte, ein Versicherungsmitarbeiter und Gareth Evans –, wie Abdi im Lautsprecher leise lachte.

»Mr. Gareth, mein Freund. Ich bin sehr froh, dass Sie es sind. Ich bin sicher, wir können diese Angelegenheit zu einem guten Ende bringen.«

Abdis Gewohnheit, dem Vornamen ein »Mister« voranzusetzen, war seine Methode, um zwischen frostiger Förmlichkeit und allzu großer Vertraulichkeit zu balancieren. Er nannte Gareth Evans immer nur »Mr. Gareth«.

»Ich habe hier in der Londoner Kanzlei einen Raum für mich allein«, sagte Evans. »Soll ich dorthin gehen, damit wir anfangen können?«

Das ging Abdi zu schnell. Die Formalitäten mussten eingehalten werden. Eine davon bestand darin, den Europäern klarzumachen, dass die Eile allein auf ihrer Seite war. Er wusste, dass Stockholm bereits kalkuliert haben würde, was die Malmö sie jetzt tagtäglich kostete. Auch die Versicherer, die zu dritt sein dürften, würden ihre Berechnungen angestellt haben.

Die eine Versicherung deckte Rumpf und Maschine, eine andere die Ladung, und die dritte sicherte die Besatzung gegen Kriegsrisiken ab. Jede kalkulierte ihre laufenden oder bevorstehenden Verluste anders. Sollen sie doch noch eine Weile in ihren Zahlen schmoren, dachte er. Laut sagte er: »Ah, Mr. Gareth, mein Freund, Sie sind mir voraus. Ich brauche ein bisschen Zeit, um mir die Malmö und ihre Fracht anzusehen, bevor ich Ihnen eine vernünftige Zahl nennen kann, die Sie Ihren Auftraggebern guten Gewissens zur Einigung vorlegen können.«

In der sandumwehten Festung in den Bergen hinter Garacad, wo al-Afrit sein Hauptquartier hatte, war Abdi in seinem privaten Büro bereits online gewesen. Er wusste, dass Faktoren wie Alter und Zustand des Frachters, Verderblichkeit der Ladung sowie voraussichtlich entgangene zukünftige Erträge zu berücksichtigen waren.

Doch all das hatte er schon berücksichtigt und sich entschieden, für den Anfang die Summe von fünfundzwanzig Millionen Dollar zu nennen. Wahrscheinlich würden sie sich schließlich auf vier Millionen einigen – vielleicht auf fünf, wenn der Schwede es eilig hatte.

»Mr. Gareth, darf ich vorschlagen, dass wir morgen früh anfangen? Sagen wir, um neun, Londoner Zeit? Dann wäre es hier Mittag. Bis dahin kann ich in meinem Büro an Land sein.«

»Also gut, mein Freund. Ich werde Ihren Anruf erwarten.«

Das würde ein Satellitentelefonat per Computer sein. Skype kam nicht infrage. Gesichter verrieten zu viel.

»Noch ein Letztes, bevor wir für heute Schluss machen. Habe ich Ihre Zusicherung, dass die Besatzung einschließlich der Filipinos sicher an Bord festgehalten und in keiner Weise behelligt wird?«

Kein anderer Somali hörte diese Frage. Die an Bord der Malmö bekamen nicht mit, was auf der Brücke gesprochen wurde, und sie verstanden ohnedies kein Englisch. Abdi verstand jedoch, was gemeint war.

Im Großen und Ganzen behandelten die somalischen Warlords und Clanchefs ihre Gefangenen menschlich, aber es gab eine oder zwei bemerkenswerte Ausnahmen, und al-Afrit war eine davon. Er war der Schlimmste, eine berüchtigte, bösartige alte Bestie.

Auf der persönlichen Ebene arbeitete Abdi für al-Afrit, und sein Honorar betrug zwanzig Prozent. Seine Tätigkeit als Unterhändler für die geiselnehmenden Piraten machte ihn schon zu einem reichen Mann, der jünger war als die meisten. Doch er brauchte seinen Auftraggeber nicht zu mögen, und er tat es auch nicht. Er verabscheute ihn. Aber er hatte keine Leibwächtertruppe um sich herum.

»Ich bin davon überzeugt, dass die Besatzung an Bord bleiben und gut behandelt werden wird«, gab er zurück und beendete dann das Gespräch. Hoffentlich hatte er recht.

Die bernsteinfarbenen Augen schauten den jungen Gefangenen ein paar Sekunden lang an. Im Zimmer war es still. Opal spürte den gebildeten Somali, der ihn hereingeführt hatte, und zwei pakistanische Bodyguards hinter sich. Als der Mann sprach, tat er es mit einer überraschend sanften Stimme auf Arabisch.

»Wie heißt du?«

Opal sagte es ihm.

»Ist das ein somalischer Name?«

Der Somali hinter ihm schüttelte den Kopf. Die Pakistani verstanden die Frage nicht.

»Nein, Scheich. Ich bin aus Äthiopien.«

»Das ist zum großen Teil kuffar-Land. Bist du Christ?«

»Dank sei Allah, dem Barmherzigen, dem Mitfühlenden, nein, nein, Scheich, ich bin kein Christ. Ich bin aus Ogaden, gleich hinter der Grenze. Wir sind alle Muslime und werden deshalb wütend verfolgt.«

Der Mann mit den bernsteinfarbenen Augen nickte beifällig.

»Und warum bist du nach Somalia gekommen?«

»In meinem Dorf gab es Gerüchte, Rekrutierer der äthiopischen Armee würden kommen und unsere Leute zum Militärdienst für die Invasion gegen Somalia pressen. Ich bin geflohen und hierhergekommen, um mich meinen Brüdern in Allah anzuschließen.«

»Du bist letzte Nacht von Kismaju nach Marka gekommen?«

»Ja.«

»Warum?«

»Ich suche Arbeit, Scheich. Ich habe eine Stelle als Kontrolleur am Fischereidock, aber ich hatte gehofft, in Marka etwas Besseres zu finden.«

»Und wie bist du an diese Papiere gekommen?«

Opal erzählte seine vorbereitete Geschichte. Er sei in der Nacht gefahren, um der drückenden Hitze und den Sandstürmen des Tages zu entgehen. Als das Benzin im Tank knapp wurde, habe er angehalten, um aus dem Reservekanister nachzufüllen. Das sei zufällig auf einer Betonbrücke über einem ausgetrockneten Wadi gewesen. Dann habe er ein leises Rufen gehört. Erst habe er gedacht, es sei der Wind, aber dann habe er es noch einmal gehört, anscheinend unter der Brücke. Er sei die Böschung in das Wadi hinuntergeklettert und habe dort unten einen stark beschädigten Pick-up gefunden. Offenbar sei er von der Brücke abgekommen und gegen die Böschung geprallt. Am Steuer habe ein schwer verletzter Mann gesessen.

»Ich habe versucht, ihm zu helfen, Scheich, doch ich konnte nichts tun. Auf meinem Motorrad war kein Platz für zwei, und ich hätte ihn auch niemals die Böschung hinauftragen können. Ich habe ihn aus dem Wagen gezogen, für den Fall, dass der in Brand geraten sollte. Aber er lag im Sterben, inschallah

Der Sterbende habe ihn als Bruder angefleht, seine Tasche mitzunehmen und sie nach Marka zu bringen. Er habe die Adresse beschrieben: in der Nähe des Straßenmarktes, unterhalb des italienischen Kreisverkehrs, ein Doppeltor aus Holz mit einer Luke zum Hinausschauen.

»Ich habe ihn in den Armen gehalten, als er starb, Scheich, aber ich konnte ihn nicht retten.«

Der Mann im langen Gewand dachte eine Zeit lang nach, und dann wandte er sich wieder den Papieren zu.

»Hast du die Tasche geöffnet?«

»Nein, Scheich. Die Sachen gingen mich nichts an.«

Die bernsteinfarbenen Augen blickten nachdenklich.

»In der Tasche war Geld. Vielleicht haben wir es mit einem ehrlichen Mann zu tun, was meinst du, Dschamma?«

Der Somali lächelte. Der Prediger ließ einen Wortschwall in Urdu auf die Pakistani los, und die beiden traten vor und packten Opal.

»Meine Leute werden zu der Stelle zurückkehren. Sie werden das Wrack untersuchen, das ja noch da sein muss, und die Leiche meines Dieners. Wenn du gelogen hast, wirst du dir wünschen, du wärst niemals hergekommen. Einstweilen bleibst du hier und wartest auf ihre Rückkehr.«

Opal wurde wieder eingesperrt, doch nicht in dem verfallenen Schuppen im Hof, aus dem ein behänder Mann in der Nacht leicht hätte entkommen können, sondern in einem Keller mit Sandboden, wo man ihn einschloss. Dort blieb er zwei Tage und eine Nacht. Es war stockfinster. Er bekam eine Plastikflasche mit Wasser, von dem er im Dunkeln sparsam trank. Als man ihn herausließ und nach oben führte, kniff er die Augen zusammen und blinzelte heftig im Sonnenlicht, das durch die Fensterläden hereinfiel. Man brachte ihn wieder zum Prediger.

Die Gestalt im langen Gewand hielt etwas in der rechten Hand und drehte es langsam zwischen den Fingern hin und her. Die bernsteinfarbenen Augen richteten sich auf den verängstigten Gefangenen.

»Wie es aussieht, hattest du recht, mein junger Freund«, sagte er auf Arabisch. »Mein Diener ist tatsächlich mit seinem Truck gegen die Böschung des Wadi geprallt und dort gestorben. Die Ursache …« Er hielt den Gegenstand hoch. »Dieser Nagel. Meine Leute haben ihn im Reifen gefunden. Du hast die Wahrheit gesagt.«

Er stand auf und kam durch das Zimmer heran. Vor dem jungen Äthiopier blieb er stehen und schaute nachdenklich auf ihn herab.

»Woher kannst du Arabisch?«

»Ich habe es in meiner Freizeit gelernt, Herr. Ich wollte unseren heiligen Koran besser lesen und verstehen können.«

»Kannst du noch andere Sprachen?«

»Ein bisschen Englisch, Herr.«

»Und woher?«

»In der Nähe meines Dorfes war eine Schule, die von einem Missionar aus England geführt wurde.«

Der Prediger schwieg bedrohlich.

»Von einem Ungläubigen. Einem kafir. Hast du von ihm auch gelernt, den Westen zu lieben?«

»Nein, Herr. Im Gegenteil. Ich habe bei ihm gelernt, sie für das jahrhundertelange Elend zu hassen, das sie unserem Volk zugefügt haben, und nur die Worte und das Leben unseres Propheten Mohammed zu studieren, möge er ruhen in Frieden.«

Der Prediger dachte nach und lächelte schließlich.

»Hier haben wir also einen jungen Mann« – er sprach offensichtlich mit seinem somalischen Sekretär –, »der ehrlich genug ist, das Geld nicht zu nehmen, mitfühlend genug, einem Sterbenden seinen letzten Wunsch zu erfüllen, und der nur dem Propheten dienen möchte. Und der Somali, Arabisch und ein wenig Englisch spricht. Was meinst du dazu, Dschamma?«

Der Sekretär ging in die Falle. Beflissen stimmte er zu: Jawohl, das sei eine sehr glückliche Entdeckung. Aber der Prediger hatte ein Problem. Er hatte seinen Computerfachmann verloren, den Mann, der ihm die heruntergeladenen Nachrichten aus London brachte, ohne je ersichtlich werden zu lassen, dass der Prediger selbst in Marka und nicht in Kismaju war. Nur Dschamma konnte diesen Mann in Kismaju ersetzen. Alle andern verstanden nichts von Computern.

Damit verlor er einen Sekretär, aber vor ihm stand ein junger Mann, der lesen und schreiben konnte, neben dem Dialekt seiner Heimat Ogaden noch drei Sprachen sprach und Arbeit suchte.

Der Prediger hatte zehn Jahre überlebt, weil seine Vorsicht an Paranoia grenzte. Er hatte gesehen, wie die meisten seiner Zeitgenossen von Laschkar-e-Taiba, die Brigade 313, die Henker von Chorasan, der Hakkani-Clan, al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel und die Jemen-Gruppe – wie sie alle gesucht, aufgespürt, anvisiert und eliminiert worden waren. Mehr als die Hälfte war verraten worden.

Er hatte Kameras gemieden wie die Pest, hatte immer wieder seinen Wohnsitz gewechselt, seinen Namen geändert, sein Gesicht vermummt, seine Augen verdeckt. Und war am Leben geblieben.

In seiner persönlichen Umgebung akzeptierte er nur Leute, von deren Vertrauenswürdigkeit er überzeugt war. Seine vier pakistanischen Leibwächter würden für ihn sterben, doch sie hatten kein Hirn. Dschamma war clever, aber jetzt brauchte er ihn für die beiden Computer in Kismaju.

Der Neuankömmling gefiel ihm. Er hatte seine Ehrlichkeit bewiesen und gezeigt, dass er die Wahrheit sagte. Wenn er ihn einstellte, würde man ihn Tag und Nacht im Auge behalten können. Er würde mit niemandem kommunizieren. Der Prediger brauchte einen Privatsekretär. Der Gedanke, dass der junge Mann vor ihm ein Jude und ein Spion sein könnte, kam ihm nicht in den Sinn. Er beschloss, das Risiko einzugehen.

»Möchtest du mein Sekretär werden?«, fragte er freundlich. Dschamma schnappte entsetzt nach Luft.

»Das wäre ein unbeschreibliches Privileg, Herr. Ich würde Ihnen treu dienen, inschallah

Die entsprechenden Anweisungen wurden erteilt. Dschamma sollte einen der Pick-ups nehmen und nach Kismaju fahren, um die Aufsicht über den Masala-Lagerschuppen und den Internetcomputer des Predigers zu übernehmen.

Opal würde Dschammas Zimmer bekommen und lernen, was seine Aufgaben waren. Eine Stunde später setzte er die knallrote Baseballkappe mit dem New-York-Logo auf, die er bei dem verunglückten Truck bekommen hatte. Sie hatte dem israelischen Skipper des Fischkutters gehört, der sie hatte abgeben müssen, als die neuen Befehle aus Tel Aviv gekommen waren.

Draußen im Hof schob Opal sein Geländemotorrad zu dem verfallenen Schuppen an der Mauer, um es vor der Sonne zu schützen. Auf halbem Weg blieb er stehen und schaute in den Himmel. Er nickte langsam und ging weiter.

In einem Kontrollraum tief im Keller am Rand von Tampa sah und registrierte man die Gestalt unter der kreisenden Global Hawk. Eine Alarmmeldung wurde ausgesandt, und das Bild wurde in einen Raum in der amerikanischen Botschaft in London übermittelt.

Der Spürhund sah die schlanke Gestalt in Dischdasch und roter Baseballkappe, die da im fernen Marka in den Himmel schaute.

»Gut gemacht, mein Junge«, sagte er leise. Agent Opal war im Innern der Festung und hatte soeben alles bestätigt, was der Spürhund wissen musste.

Der letzte Attentäter war kein Regalbestücker und arbeitete auch nicht in einer Autowerkstatt. Er war gebürtiger Syrer mit guter Ausbildung sowie einem Diplom in Zahnmedizin und arbeitete als Techniker bei einem erfolgreichen Kieferorthopäden am Rande von Fairfax, Virginia. Sein Name war Tarik Hussein.

Er war weder Flüchtling noch Student gewesen, als er zehn Jahre zuvor aus Aleppo gekommen war, sondern ein legaler Immigrant, der sämtliche Einwanderungsprüfungen bestanden hatte. Man fand nie heraus, ob er schon damals den rasenden Hass auf Amerika im Besonderen und den Westen im Allgemeinen in sich getragen hatte, der in seinen Schriften offenbar wurde, als die Virginia State Police und das FBI seinen adretten Vorortbungalow durchsuchte, oder ob er ihn erst während seines Aufenthalts hier entwickelt hatte.

Aus seinem Pass ging hervor, dass er im Lauf dieses Jahrzehnts drei Reisen zurück in den Nahen Osten unternommen hatte, und man vermutete, er sei bei diesen Besuchen von Hass und Abscheu infiziert worden. Sein Tagebuch und sein Laptop enthielten ein paar Antworten, aber nicht alle.

Arbeitgeber, Nachbarn und sein gesellschaftlicher Umgang wurden eingehend befragt, doch anscheinend hatte er allen etwas vorgemacht. Hinter der höflich lächelnden Fassade war er ein engagierter Salafist und Anhänger der niederträchtigsten und härtesten Variante des Dschihadismus. Aus jeder Zeile seiner Schriften strahlten Hass und Abscheu gegen die amerikanische Gesellschaft hervor.

Wie andere Salafisten hielt er es nicht für nötig, traditionelle muslimische Gewänder zu tragen, sich einen Bart wachsen zu lassen oder fünfmal täglich eine Gebetspause einzulegen. Er rasierte sich täglich und trug das Haar sauber und kurz geschnitten. Er lebte allein in einem Bungalow im Vorort, aber er hatte gesellschaftlichen Umgang mit Arbeitskollegen und anderen. Mit der amerikanischen Vorliebe für die freundlich klingende Verkleinerungsform des Vornamens nannte er sich Terry Hussein.

Seinen Freunden in der Bar erklärte er seinen Verzicht auf Alkohol mit dem Wunsch, »in Form« zu bleiben, und das akzeptierten sie. Dass er kein Schweinefleisch aß und nicht mit am Tisch sitzen wollte, wenn es verzehrt wurde, fiel niemandem auf.

Weil er ledig war, machten einige Frauen ihm schöne Augen, doch er wies sie stets höflich und freundlich ab. In der Bar in seiner Nachbarschaft verkehrte der eine oder andere schwule Mann, und er wurde mehr als einmal gefragt, ob er auch dazugehöre. Er verneinte höflich und erklärte, er warte nur auf die richtige Frau.

Aus seinem Tagebuch ging hervor, dass er überzeugt war, schwule Männer gehörten so langsam wie möglich zu Tode gesteinigt, und dass die Vorstellung, neben einer fetten weißen, Schweinefleisch fressenden, ungläubigen Kuh im Bett zu liegen, ihn mit Ekel erfüllte.

Die Lehren des Predigers riefen seine Wut und seinen Hass nicht hervor, sondern kanalisierten sie. Sein Laptop zeigte, dass er dem Prediger zwei Jahre lang begeistert gefolgt war, ohne sich jemals zu erkennen zu geben und dem Fanklub beizutreten, auch wenn er gern einen Beitrag dazu geleistet hätte. Schließlich beschloss er, dem Drängen des Predigers zu folgen, die Anbetung Allahs und seines Propheten durch den Akt des höchsten Opfers zu vervollkommnen und zu ihnen ins ewige Paradies einzugehen.

Aber er wollte so viele Amerikaner mitnehmen, wie er konnte, und von der Hand ihrer ungläubigen Polizei als schahid sterben. Dazu brauchte er eine Waffe.

Er besaß einen Führerschein vom Staat Virginia, wie er als Fotoausweis gebräuchlich war, doch der war auf den Namen Hussein ausgestellt. Angesichts der medialen Aufmerksamkeit, die mehrere Mordanschläge in diesem Frühjahr und Sommer schon hervorgerufen hatten, befürchtete er, dies könne ein Problem sein.

Beim Blick in den Spiegel stellte er fest, dass sein schwarzes Haar, die dunklen Augen und die braune Haut den Eindruck erweckten, er komme aus dem Nahen Osten. Der Nachname würde es bestätigen.

Einer seiner Kollegen im Zahnlabor war von ähnlicher Erscheinung, und er war von hispanischer Herkunft. Tarik Hussein beschloss, sich einen Führerschein mit einem spanisch klingenden Namen zu beschaffen, und fing an, im Internet zu suchen.

Wie einfach es ging, überraschte ihn. Er brauchte sich nicht einmal persönlich vorzustellen oder auch nur einen Brief zu schreiben, sondern stellte einfach online einen Antrag auf den Namen Miguel »Mickey« Hernandez, zugezogen aus New Mexico. Natürlich war eine Gebühr fällig: neunundsiebzig Dollar an »Global Intelligence ID Card Solutions« plus fünfundfünfzig Dollar für die Expresszustellung. Der Führerschein des Staates Virginia, der als Ersatz für den »verlorenen« dienen sollte, kam mit der Post.

Bei seinen Onlinerecherchen war es ihm vor allem um die richtige Waffe gegangen. Stundenlang brütete er über Tausenden von Websites zum Thema Waffen. Was er wollte und was er davon erwartete, wusste er mehr oder weniger schon. Er brauchte nur Beratung, welche Waffe er kaufen sollte.

Zunächst spielte er mit dem Gedanken an die Bushmaster, die in Sandy Hook verwendet worden war, verwarf sie aber dann wegen der leichten 5.6-Millimeter-Geschosse. Er brauchte etwas Schwereres mit mehr Durchschlagskraft. Am Ende entschied er sich für das G3 von Heckler und Koch, eine Variante des militärischen A4-Sturmgewehrs mit der 7.62-Millimeter-Standardmunition der NATO, die, wie man ihm versicherte, jedes Blech durchschlug, ohne es zu zerreißen.

Bei der Onlinesuche erfuhr er, dass es ihm aufgrund der amerikanischen Waffengesetze kaum gelingen würde, die vollautomatische Version zu beschaffen, doch die halbautomatische genügte für seine Zwecke. Sie gab bei jeder Betätigung des Abzugs einen Schuss ab, und das war schnell genug für das, was er vorhatte.

Wenn es ihn schon überraschte, wie leicht es gewesen war, einen Führerschein zu erhalten, so war er völlig verblüfft darüber, wie mühelos man ein Gewehr kaufen konnte. Er fuhr zu einer Waffenmesse auf den Prince William County Fairgrounds in Manassas, kaum eine Stunde weit entfernt und immer noch in Virginia.

Einigermaßen perplex wanderte er durch die Ausstellungshallen, in denen ein tödliches Waffensortiment ausgestellt war, das genügte, um mehrere Kriege vom Zaun zu brechen. Schließlich fand er das HK G3. Er legte seinen Führerschein vor, und der fleischige Verkäufer händigte ihm das »Jagdgewehr« mit Vergnügen gegen Barzahlung aus. Tarik Hussein spazierte einfach mit dem Gewehr hinaus und legte es in seinen Kofferraum. Niemand zuckte auch nur mit der Wimper.

Die Munition für das Zwanzig-Schuss-Magazin war genauso leicht zu bekommen, diesmal in einer Waffenhandlung in Church Falls. Er kaufte hundert Patronen, ein zweites Magazin und eine Magazinklammer, mit der er die beiden Magazine verbinden und damit vierzig Schuss abgeben konnte, ohne nachzuladen. Als er alles beisammenhatte, fuhr er ruhig nach Hause und bereitet sich darauf vor zu sterben.

Am dritten Nachmittag kam Al-Afrit zu Besuch, um seine neue Prise zu besichtigen. Von der Brücke der Malmö aus sah Kapitän Eklund die größere Fischer-Dhau erst, als sie schon auf halbem Weg zwischen Ufer und Schiff war. Im Fernglas sah er Mr. Abdis Anzug neben einer Gestalt in weißen Gewändern mittschiffs unter einem Sonnensegel.

Dschimali und seine Piratentruppe waren von einem Dutzend Jugendlicher abgelöst worden, die einer somalischen Praxis nachgingen, wie der schwedische Seemann sie noch nie gesehen hatte. Als die neuen Bewacher an Bord gekommen waren, hatten sie dicke Bündel grüner Blätter mitgebracht, nicht nur Zweige, sondern ganze Büschel. Das war Khat, und sie kauten es ständig. Bei Sonnenuntergang waren sie high, und dann waren sie abwechselnd schlaftrunken und jähzornig.

Als der Somali, der neben Stig Eklund stand, seinem Blick folgte und die Dhau sah, war er sofort nüchtern. Er rannte den Niedergang hinunter zum Deck und rief seine Kumpane, die es sich unter dem Sonnensegel bequem gemacht hatten.

Der alte Clanchef kam über eine Aluminiumleiter an Deck, richtete sich auf und sah sich um. Kapitän Eklund hatte seine Mütze auf dem Kopf und salutierte. Vorsicht war besser als Nachsicht, dachte er. Mr. Abdi, der als Dolmetscher mitgekommen war, übernahm das Vorstellen.

Al-Afrit hatte ein faltiges, beinahe kohlschwarzes Gesicht unter seinem Kopftuch, aber seine legendäre Grausamkeit zeigte sich in den Zügen um seinen Mund. Gareth Evans in London hatte sich versucht gefühlt, Kapitän Eklund zu warnen, doch er hatte nicht wissen können, wer da gerade neben ihm stand. Auch Mr. Abdi hatte nichts weiter gesagt. Deshalb wusste der Kapitän nicht genau, wer es war, der ihn hier gefangen genommen hatte.

Von Abdi als Dolmetscher begleitet, besichtigten sie die Brücke und die Offiziersmesse. Dann befahl Al-Afrit, alle Ausländer sollten an Deck antreten. Langsam ging er an der Reihe entlang, ignorierte die zehn Filipinos und starrte die fünf Europäer an.

Sein Blick blieb eine ganze Weile an dem neunzehnjährigen Kadetten Ove Carlsson in seinem adretten Tropenanzug hängen. Durch Abdi befahl er dem Jungen, seine Mütze abzunehmen. Er starrte in die hellblauen Augen, hob dann die Hand und strich über das maisgelbe Haar. Carlsson wurde blass und wich zurück. Der Somali machte ein wütendes Gesicht, nahm die Hand aber weg.

Als die Besucher zum Fallreep gingen, um das Deck zu verlassen, sagte al-Afrit etwas auf Somali. Vier Mann seiner Leibwache sprangen vor, packten den Kadetten und warfen ihn auf das Deck.

Kapitän Eklund trat aus dem Glied, um zu protestieren. Abdi hielt ihn am Arm fest.

»Tun Sie nichts«, zischte er. »Es ist alles gut, ich bin sicher, alles ist gut. Machen Sie ihn nicht wütend.«

Der Kadett wurde gezwungen, die Leiter zu der Dhau hinunterzusteigen, wo sich ihm Hände entgegenstreckten.

»Käpt’n, helfen Sie mir!«, rief er.

Kapitän Eklund fuhr herum und starrte Abdi an, der das Schiff als Letzter verließ.

»Ich mache Sie für die Sicherheit dieses Jungen verantwortlich«, fauchte er ihn an. »Das ist unzivilisiert.«

Abdi stand schon auf der Leiter. Er war fahl vor Bestürzung. »Ich werde beim Scheich intervenieren«, versprach er.

»Und ich werde London informieren«, antwortete der Kapitän.

»Das kann ich nicht zulassen, Kapitän Eklund. Hier geht es um unsere Verhandlungen, und die sind sehr heikel. Lassen Sie mich das erledigen.«

Dann war er weg. Auf der Rückfahrt durch die Dünung zum Strand saß er schweigend im Boot und verfluchte den alten Teufel an seiner Seite. Falls er dachte, die Entführung des Kadetten könne London unter Druck setzen, das Lösegeld zu erhöhen, würde er alles ruinieren. Abdi war der Unterhändler, und er wusste, was er tat. Davon abgesehen hatte er Angst um den Jungen. Al-Afrit war berüchtigt für seinen Umgang mit Gefangenen.

An diesem Abend rief der Spürhund bei Ariel auf dessen Dachboden in Centreville an.

»Du hast den kurzen Film von mir bekommen?«

»Ja, Colonel Jackson.«

»Ich möchte, dass du ihn auf den dschihadistischen Internetkanal stellst, den der Prediger benutzt.«

Eine Stunde später war der Film weltweit zu sehen. Der Prediger saß auf seinem gewohnten Stuhl und sprach direkt in den Camcorder und damit zur muslimischen Welt. Eine Stunde nach der Vorankündigung würde der gesamte Fanklub zuhören, und außerdem Millionen, die nicht zum Extremismus konvertiert waren, sich jedoch dafür interessierten, sowie jede Anti-Terror-Behörde der Welt.

Alle waren überrascht und dann fassungslos. Sie erblickten einen hart aussehenden Mann von Anfang bis Mitte dreißig, aber diesmal hatte er das Kopftuch nicht vor sein Gesicht gezogen. Er hatte einen schwarzen Vollbart, und seine Augen waren eigenartig bernsteingelb.

Nur einer, der ihn sah, wusste, dass es Kontaktlinsen waren und dass der Sprecher, Tony Suarez, in einer Bruchbude in Malibu wohnte und kein Wort von den Koraninschriften verstand, die auf dem Laken im Hintergrund standen.

Der Akzent der Stimme klang perfekt. Der britische Comedian hatte sich nur zwei Stunden lang ältere Predigten anhören müssen, um die Stimme einwandfrei zu imitieren. Der Film war in Farbe, nicht schwarz-weiß. Doch für die Gläubigen handelte es sich ohne Zweifel um den Prediger.

»Meine Freunde, Brüder und Schwestern in Allah. Ich war für eine Weile aus eurem Leben verschwunden. Aber ich habe diese Zeit nicht verschwendet. Ich habe gelesen, ich habe unseren wundervollen Glauben, den Islam, studiert und über vieles nachgedacht. Und ich habe mich geändert, inschallah.

Ich frage mich, wie viele von euch von den al-Muradscha’at gehört haben, den Revisionen der salafistisch-dschihadistischen Sache. Sie habe ich studiert.

Viele Male habe ich euch in der Vergangenheit gedrängt, euch nicht einfach nur der Anbetung Allahs zu weihen, sein Name sei gepriesen, sondern auch dem Hass auf andere. Die Revisionen lehren uns jedoch, dass dies falsch ist. Unser schöner Islam ist in Wahrheit kein Glaube der Bitterkeit und des Hasses auf solche, die anders denken als wir.

Die berühmtesten unter den Revisionen sind die aus der Serie der Korrekturen der Begriffe. So wie diejenigen, die uns den Hass lehrten, aus Ägypten kamen, so kamen von dort auch die Gamaa Islamija, die die Korrekturen schrieben, und jetzt verstehe ich, dass sie recht hatten, nicht diejenigen, die Bigotterie und Hass lehrten.«

Das Telefon des Spürhunds in seinem Zimmer in der Botschaft klingelte. Es war Gray Fox aus Virginia.

»Höre ich richtig, oder ist da etwas Unheimliches passiert?«

»Hören Sie noch ein bisschen zu«, sagte der Spürhund.

Auf dem Bildschirm redete Tony Suarez weiter, ohne zu wissen, was er sagte.

»Ich habe die Revisionen ein Dutzend Mal in der englischen Übersetzung gelesen, wie ich es auch allen rate, die ihr kein Arabisch sprechen oder lesen könnt. Euch, die ihr es könnt, empfehle ich, sie in der Originalsprache zu lesen.

Denn mir ist jetzt klar, dass das, was unsere Brüder von al-Gamaa sagen, die Wahrheit ist. Die als Demokratie bekannte Regierungsform ist absolut vereinbar mit dem wahren Islam, aber Hass und Blutgier sind fremd allen Worten des Propheten Mohammed, möge er ruhen in Frieden.

Diejenigen, die jetzt behaupten, sie seien die wahren Gläubigen, und die zu Massenmord, Grausamkeit, Folter und dem Tod von Tausenden aufrufen, gleichen in Wahrheit den charidschitischen Rebellen, die gegen die Gefährten des Propheten kämpften.

Wir müssen alle Dschihadisten und Salafisten betrachten wie diese Charidschiten, und wir, die wir nur den wahren Allah und seinen gesegneten Propheten Mohammed verehren, müssen die Ketzer vernichten, die sein Volk all die Jahre hindurch in die Irre geführt haben.

Wir wahren Gläubigen müssen die Advokaten des Hasses und der Gewalt vernichten, wie die Gefährten vor langer Zeit die Charidschiten vernichtet haben.

Doch nun wird es Zeit, dass ich erkläre, wer ich wirklich bin. Geboren wurde ich als Zulfikar Ali Schah in Islamabad und wuchs als guter Muslim auf. Aber ich bin gefallen und zu Abu Azzam geworden, einem Mörder an Männern, Frauen und Kindern.«

Wieder klingelte das Telefon.

»Wer, zum Teufel, ist das?«, schrie Gray Fox.

»Hören Sie ihm bis zum Ende zu«, sagte der Spürhund. »Es ist gleich aus.«

»Daher verkünde ich vor der Welt und besonders vor euch, meinen Brüdern und Schwestern in Allah, meine tauba, meine wahre Reue für alles, was ich für eine falsche Sache gesagt und getan habe. Und ich verkünde meine vollständige baraa’a: Ich schwöre allem ab, was ich gegen die wahren Lehren Allahs, des Barmherzigen und Mitfühlenden, gesagt und gepredigt habe.

Denn ich habe keine Barmherzigkeit und kein Mitgefühl gezeigt, und jetzt muss ich euch bitten, mir diese Barmherzigkeit zu zeigen, das Mitgefühl, das nach den Lehren des heiligen Koran dem Sünder gewährt werden soll, der seine sündhaften Wege wahrhaft bereut. Möge Allah euch alle segnen und begleiten.«

Der Bildschirm wurde dunkel. Das Telefon klingelte noch einmal. Tatsächlich klingelten Telefone überall in der umma, der Weltgemeinschaft des Islam, und aus vielen Hörern gellte Wutgeschrei.

»Spürhund, was, zum Teufel, haben Sie da gemacht?«, fragte Gray Fox.

»Ich hoffe, ich habe ihn soeben vernichtet«, sagte der Spürhund.

Er erinnerte sich an etwas, das der kluge alte Gelehrte von der al-Azhar-Universität in Kairo ihm vor Jahren gesagt hatte.

»Die Hetzprediger kennen vier Ebenen des Hasses. Vielleicht glauben Sie, ihr Christen stündet an oberster Stelle. Falsch – denn ihr glaubt an den einen und wahren Gott und seid daher genau wie die Juden ein Volk des Buches.

Über euch stehen Atheisten und Götzenverehrer, die keinen Gott, sondern nur ein geschnitztes Bild haben. Darum haben die Mudschaheddin in Afghanistan die Kommunisten mehr gehasst als euch. Sie sind Atheisten.

Über denen stehen in den Augen der Fanatiker die gemäßigten Muslime, die ihnen nicht folgen. Deshalb bemühen sie sich, jede prowestliche muslimische Regierung zu stürzen, lassen Bomben auf ihren Marktplätzen explodieren und töten muslimische Glaubensbrüder, die ihnen nichts getan haben.

Aber am höchsten steht der Hund unter allen, denen man nicht verzeiht, nämlich der Abtrünnige, der den Dschihadismus aufgibt oder ihm abschwört und zum Glauben seiner Väter zurückkehrt. Für ihn kommt Vergebung nicht infrage. Ihn erwartet nur der Tod.«

Dann hatte er Tee eingeschenkt und gebetet.

Mr. Abdi saß in seiner Suite aus Schlaf- und Arbeitszimmer in der Festung hinter Garacad. Seine Hände lagen auf dem Tisch, und die Knöchel waren weiß vor Anspannung. Die halbmeterdicken Wände waren schalldicht, aber die Tür war es nicht, und er hörte das Geräusch von Peitschenhieben auf dem Korridor. Welcher bedauernswerte Dienstbote mochte das Missfallen seines Gastgebers erregt haben?

Mit einem unverwechselbaren Klatschen traf das Folterinstrument, wahrscheinlich eine halbstarre Kamelgerte, auf das Opfer, und die roh behauene Holztür konnte die schrillen Schreie nach jedem Schlag kaum dämpfen.

Ali Abdi war kein brutaler Mensch. Die Not der Seeleute, die auf ihren vor Anker liegenden Schiffen draußen unter der Sonne festgehalten wurden, war ihm bekannt, nur war das für ihn kein Grund zur Eile, wenn durch Verzögerungen ein höheres Lösegeld herauszuschlagen war. Für Misshandlungen jedoch hatte er nichts übrig – nicht einmal bei somalischen Dienstboten. Allmählich bereute er, dass er sich je bereit erklärt hatte, für diesen Piraten zu verhandeln. Der Mann war eine Bestie.

Er wurde aschfahl, als er hörte, wie das Opfer zwischen zwei Schlägen um Gnade bettelte. Es sprach Schwedisch.

Die Reaktion des Predigers auf die weltweite Ausstrahlung der von Tony Suarez vorgetragenen vernichtenden Worte war beinahe hysterisch.

Da er seit drei Wochen keine Predigt mehr online gestellt hatte, sah er seine dschihadistische Website nicht, als der Auftritt veröffentlicht wurde. Einer seiner pakistanischen Leibwächter, der ein paar Worte Englisch sprach, machte ihn darauf aufmerksam. In fassungsloser Ungläubigkeit hörte er das Ende, und dann ließ er die Rede noch einmal laufen.

Er saß vor seinem Desktop-Computer und schaute entsetzt zu. Das war gefälscht, natürlich war es gefälscht, aber es sah überzeugend aus. Die Ähnlichkeit war gespenstisch – Bart, Gesicht, Kleidung, Hintergrund, selbst die Augen: Er sah seinen Doppelgänger. Und es war seine Stimme.

Das alles war jedoch nichts gegen das, was er sagte. Dieser formelle Widerruf war ein Todesurteil. Es würde Wochen dauern, die Gläubigen davon zu überzeugen, dass sie durch einen raffinierten Betrug getäuscht worden waren. Die Hausangestellten draußen hörten, wie er die Gestalt auf dem Bildschirm anschrie: Diese tauba sei eine Lüge, der Widerruf eine üble Unwahrheit.

Als das Gesicht des fernen amerikanischen Schauspielers vom Monitor verschwunden war, saß der Prediger fast eine Stunde lang wie ausgehöhlt da. Und dann beging er seinen Fehler. In dem verzweifelten Wunsch nach jemandem, der ihm glaubte, nahm er Kontakt zu seinem einen wahren Freund auf, seinem Verbündeten in London. Per E-Mail.

Cheltenham las mit, Fort Meade ebenfalls. Ein schweigender Colonel der Marines in einem Büro in der Londoner US-Botschaft. Gray Fox in Virginia, auf dessen Tisch die Anfrage des Spürhunds lag. Der Prediger mochte zwar vernichtet sein, hatte der Spürhund ihm mitgeteilt, aber das sei nicht genug. Er habe zu viel Blut an den Händen. Jetzt müsse er getötet werden – und dazu beschrieb er mehrere Optionen. Gray Fox würde damit zum J-SOC-Kommandanten persönlich gehen, zu Admiral McRaven, und er war sicher, die Vorschläge würden ins Oval Office wandern, wo sie diskutiert und beschlossen würden.

Wenige Minuten nachdem die E-Mail in Marka abgeschickt worden war, hatte man die Echtheit des Textes nachgewiesen und den genauen Standort der beiden Computer und ihrer Eigentümer ermittelt. Der Prediger war zweifelsfrei lokalisiert, die Komplizenschaft Mustafa Dardaris auf allen Ebenen erwiesen.

Noch innerhalb von vierundzwanzig Stunden nahm Gray Fox über die abhörsichere Leitung von TOSA zur Botschaft wieder Kontakt mit dem Spürhund auf.

»Ich habe es versucht, Spürhund, aber die Antwort ist Nein. Der Präsident hat den Raketenbeschuss des Anwesens untersagt. Teils wegen der dichten Zivilbevölkerung ringsherum und teils wegen der Anwesenheit Opals auf dem Gelände.«

»Und der zweite Vorschlag?«

»Auch hier ein Nein. Eine Landung am Strand wird es nicht geben. Nachdem die Schabaab Marka wieder eingenommen haben, wissen wir noch nicht, wie stark und wie gut bewaffnet sie dort sind. Die Militärführung befürchtet, wenn der Prediger erst in dem Labyrinth der Gassen verschwunden ist, haben wir ihn für immer verloren. Das Gleiche gilt für eine Hubschrauberlandung auf dem Dach wie bei bin Laden. Keine Ranger, keine SEALs, nicht mal die Night Stalkers. Es liegt zu weit entfernt von Dschibuti und Kenia, und von Mogadischu aus wäre es zu öffentlich. Außerdem besteht die Gefahr eines Abschusses. Die Worte ›Blackhawk Down‹ rufen immer noch Albträume hervor. Tut mir leid, Spürhund. Ausgezeichnete Arbeit. Sie haben ihn identifiziert, aufgespürt und diskreditiert. Aber ich schätze, das war’s. Der Scheißkerl sitzt in Marka und wird kaum herauskommen, es sei denn, Sie hätten einen verdammt guten Köder. Dazu kommt das Problem mit Opal. Ich glaube, Sie sollten packen und nach Hause kommen.«

»Er ist noch nicht tot, Gray Fox. Er hat ein Meer von Blut zu verantworten. Mag sein, dass jetzt Schluss mit den Predigten ist, doch er ist immer noch ein gefährlicher Scheißkerl. Er könnte sich nach Westen absetzen, nach Mali. Lassen Sie mich den Job zu Ende bringen.«

In der Leitung war es still. Dann sprach Gray Fox wieder.

»Okay, Spürhund. Noch eine Woche. Dann packen Sie Ihren Kram zusammen.«

Als er auflegte, begriff der Spürhund, dass er sich verrechnet hatte. Durch die Zerstörung der Glaubwürdigkeit des Predigers in der Welt des islamistischen Fundamentalismus hatte er seine Zielperson aus ihrem Schlupfloch ins Freie treiben wollen. Der Mann sollte auf der Flucht vor seinen eigenen Leuten sein, ohne jede Deckung, ein Gejagter. Von seinem eigenen Vorgesetzten zurückgepfiffen zu werden, damit hatte der Spürhund nicht gerechnet.

Unversehens stand er vor einer Gewissenskrise. Ungeachtet seiner Meinung als Bürger, als Offizier und als U. S. Marine besaß sein Oberkommandierender seine absolute Loyalität. Aber hier konnte er nicht gehorchen.

Er hatte einen Auftrag bekommen, und der war noch nicht beendet. Man hatte ihm eine Mission gegeben, und er hatte sie nicht erfüllt. Außerdem hatte sich etwas geändert. Jetzt ging es auch um eine persönliche Vendetta. Er stand in der Schuld eines geliebten alten Mannes auf einer Intensivstation in Virginia Beach, und er gedachte sie zu bezahlen.

Zum ersten Mal seit der Kadettenschule dachte er daran, den Dienst beim Marine Corps zu quittieren. Ein Zahntechniker, von dem er noch nie gehört hatte, rettete ein paar Tage später seine Karriere.

Al-Afrit hielt sein Horrorbild noch zwei Tage zurück, aber als es in der Einsatzzentrale bei Chauncey Reynolds plötzlich auf dem Monitor erschien, waren alle starr vor Schreck. Gareth Evans hatte mit Mr. Abdi gesprochen, und natürlich ging es dabei um Lösegeld und Zeitpläne.

Abdi war von fünfundzwanzig auf zwanzig Millionen heruntergegangen, aber die Zeit wurde lang, zumindest für die Europäer. Die Verhandlungen dauerten jetzt eine Woche – für die Somalis ein chronologischer Fliegenschiss. Al-Afrit verlangte das ganze Geld, und er wollte es sofort. Abdi hatte ihm erklärt, der schwedische Schiffseigner ziehe zwanzig Millionen nicht in Betracht. Evans war im Stillen immer noch überzeugt, sie würden sich bei ungefähr fünf Millionen einigen.

Dann übernahm al-Afrit die Verhandlung und schickte sein Bild. Zufällig waren auch Reynolds und Harry Andersson, dem man angeraten hatte, nach Stockholm zurückzufliegen und dort abzuwarten, im Raum anwesend. Beim Anblick des Bildes wurde den drei Männern übel, und sie verstummten.

Der Kadett lag bäuchlings auf einem groben Holztisch und wurde von einem großen Somali an den Handgelenken festgehalten. Die Beine waren gespreizt, und jeder Knöchel war an ein Tischbein gefesselt. Hose und Unterhose fehlten.

Sein Gesäß war zu einem blutigen Brei zerschlagen. Sein Kopf lag mit der Seite auf dem Holz, und man sah an seinem Gesicht, dass er schrie.

Evans und Reynolds begriffen, dass sie es mit einem sadistischen Wahnsinnigen zu tun hatten. So etwas hatten sie noch nie erlebt. Harry Anderssons Reaktion war extremer. Er stieß einen Schrei aus, ein Kreischen fast, und stürzte ins benachbarte Badezimmer. Die anderen hörten sein Würgen, als er den Kopf über die Kloschüssel beugte. Als er zurückkam, war er aschgrau im Gesicht. Nur auf seinen Wangen waren rote Flecken.

»Der Junge ist mein Sohn«, schrie er. »Mein Sohn, unter dem Mädchennamen seiner Mutter!« Er packte Gareth Evans bei den Jackettaufschlägen und riss ihn vom Stuhl hoch, bis ihre Gesichter nur eine Handbreit voneinander entfernt waren.

»Holen Sie mir meinen Sohn zurück, Gareth Evans. Holen Sie ihn zurück. Bezahlen Sie diesen Schweinen, was sie wollen. Alles, haben Sie gehört? Sagen Sie denen, ich zahle fünfzig Millionen Dollar für meinen Jungen. Sagen Sie denen das.«

Er stürmte hinaus und ließ die beiden Briten bleich und erschüttert zurück. Auf dem Bildschirm leuchtete immer noch das grässliche Bild.