Ibo
So, geschafft. Wieder drinne. Nach jeden Ferien denke ich: Wie ging dieses Unterrichten eigentlich noch mal? Und schlecht gelaunt bin ich immer vor dem ersten Schultag, oh Mann. Weil ich in den Ferien absolut gar nichts für die Schule gemacht habe, musste ich am Sonntag vor Schulbeginn sechs Stunden am Schreibtisch sitzen. Nicht schön! Und als ich dann am nächsten Morgen aufgewacht bin, war es noch dunkel! Scheißherbst. Wie soll ich das denn noch 24 Jahre aushalten? 24 Jahre, das ist ja ein ganzes Leben …
Aber dann in der Schule – mein Raum sonnendurchflutet und ich auch. Die Kollegen sind alle erholt und nett. Meine Klasse, auf angenehmste Weise sediert, bearbeitet die Aufgaben, die ich ihr gestellt habe. So macht das Unterrichten Spaß. Auch die anderen eintausend 7. Klassen, die ich bis zur Mittagspause bespaßen muss, sind easy. Aber dann fällt mir schlagartig ein, dass ich ja kurz vor 16.00 Uhr noch die Siebte von Verena habe. Die mit meinem speziellen Freund: Ibo!
Meine gute Laune senkt sich zum Nullpunkt, obwohl auf dem Hof immer noch die Sonne scheint und mich fast jeder Schüler freundlich nach meinen Ferienerlebnissen fragt. Ibo, I. B. O., ach nö, nicht den auch noch nachher. Im Lehrerzimmer frage ich seine Klassenlehrerin, ob es was Neues gibt zu Ibo.
»Was meinst du denn?«
»Na, ist der denn wieder da?«
»Klar, da war doch nur ein Stück Zahn ab.«
»Und der ist noch ganz normal in deiner Klasse?«
»Ja, da müssen wir jetzt den üblichen Weg gehen: Aktennotizen, Sitzung, Tadel, Klassenkonferenz, dann Umsetzung in eine andere Klasse und dann fliegt er vielleicht irgendwann von der Schule«, sagt Verena.
Umsetzung in eine andere Klasse? Bloß nicht, dann kommt der am Ende noch zu mir. Also ich werde keine Tadel schreiben. Da habe ich ihn lieber zweimal in der Woche – aber in meine Klasse darf der nicht kommen!
Und dann die Ibo-Stunde: Die Schüler sind reingekommen. Ich hatte eine neue Sitzordnung erstellt. Ibo sitzt am Fenster. Alleine. Und hat er gestört? Überhaupt nicht! Er hat super mitgearbeitet und sogar ein paar ganz schlaue Sachen gesagt. Ich setze mich zu ihm und lobe ihn. Er lächelt. Ich auch. Und dann macht er sogar noch einen Witz, der ziemlich lustig ist. Irgendwas mit Hämorrhoiden. Der ist ziemlich smart und eigentlich irgendwie auch ganz süß. Aber ich hatte auch nie gesagt, dass ich ihn hässlich finde. Ich glaube, Ibo geht okay.
Ein nachhaltiges Urlaubssouvenir
»Dilay, na, wie war’s in der Türkei?«, frage ich während meiner ersten Hofaufsicht nach den Herbstferien. Da, wo ich Aufsicht machen soll, passiert eigentlich nie irgendetwas, und zwanzig Minuten Aufsicht können schon recht lang werden. Deshalb halte ich immer Ausschau nach Schülern und Schülerinnen, mit denen ich quatschen kann. Dilay sitzt mit Rosa und Elena auf einer Bank.
»War schön«, sagt sie und grinst.
»Hattet ihr noch gutes Wetter?«, frage ich. »War schön« reicht mir nicht.
»Ja, war warm.«
»War wie Sommer?«, fragt Rosa. Dilay nickt. Rosa seufzt. »Sommer, hm!« Ich gucke in den Himmel, der mit schwarzen Wolken bedeckt ist. Der Boden ist nass und die Stimmung auf dem Hof eher ungemütlich.
»Frau Freitag?« Dilay guckt sofort wieder auf den Boden.
»Ja? Was denn?«, frage ich. Sie will mir irgendwas sagen. Etwas beichten. Ihr Blick wirkt schuldbewusst. Sie wird doch nicht anfangen zu schwänzen? Dilay ist eine meiner besten Schülerinnen. Eine Leistungsträgerin. Sie ist immer pünktlich und zuverlässig. Vielleicht will sie auf eine andere Schule und traut sich nicht, mir das zu sagen?
»Hier!« Dilay zieht den Ärmel ihrer Jacke hoch und hält mir ihren Unterarm entgegen: »Gucken Sie mal!«
Und ich kann nicht glauben, was ich da sehe!
»Was ist DAS denn?!«, frage ich entsetzt. Auf Dilays kleinem Unterarm steht deutlich ihr Name.
»Das war so Hennatattoo am Strand«, erklärt sie und grinst. »Aber dann hat es sich entzündet.« Und entzündet ist noch untertrieben. Ihr Name besteht nur aus Entzündung. Als hätte man ihr den Schriftzug mit verschmutzter Nadel und ohne jegliche Farbe in den Arm geritzt. Auf der Entzündung sind am A und am Y schon heftig eiternde Stellen. Ich kann meinen Blick gar nicht abwenden. So etwas habe ich noch nie gesehen. Ich bin vor allem davon fasziniert, dass der Schriftzug so gut zu lesen ist. Vielleicht ein neuer Trend an türkischen Urlaubsstränden: Entzündungstattoos.
»Au Backe, Dilay, vielleicht bleibt da ja eine Narbe, dann hast du dein Leben lang deinen Namen auf dem Unterarm – als Narbe!« Ziemlich unpädagogisch, was ich da sage, denke ich sofort.
»Ich geh heute zum Arzt«, teilt Dilay schnell mit. »Ich glaube nicht, dass da eine Narbe bleibt.«
»Ich will auch so was!«, ruft Rosa. Etwas verwirrt frage ich: »Wie, du willst auch ›Dilay‹ als Entzündung auf dem Arm stehen haben?«
»Nein, aber so Hennatattoo.«
Wir reden über Tätowierungen, giftige Hennafarbimitate und eitrige Entzündungen im weiteren Sinne. Elena übernimmt den aufklärerischen Part und erzählt von einem Fernsehbericht über die Gefahren von Urlaubstätowierungen. Gut, dann muss ich das nicht machen.
Mit aufgerissenen Augen berichtet Elena, was sie im Fernsehen gelernt hat: »Man kann davon sogar Krebs kriegen! Sie hatten so gezeigt, wie der eine Mann so ein Hennatattoo bekommen hat und dann hat sich das sooo doll entzündet. Und sie haben gesagt, dass in der Farbe so Krebsstoffe drinne sind!«
Dilay zieht ihren Ärmel wieder runter und guckt auf den Boden. Sie tut mir leid.
»Hey Dilay«, sage ich leise und streichle ihr dabei über den Kopf. »Wird schon kein Krebs sein, bleibt wahrscheinlich wirklich nur eine Narbe.« Dann klingelt es zum Unterricht und die Mädchen zischen ab in Richtung Sporthalle.
Ich gehe ins Lehrerzimmer. So bringt sich eben jeder etwas anderes aus dem Urlaub mit – Dilay eine fette Entzündung auf dem Unterarm und ich einen schönen Magen-Darm-Virus. Aber der hinterlässt wenigstens keine Narben, und gekostet hat der auch nichts.
Monsieur Leroc est aux lit
»Frau Freitag, warum müssen wir eigentlich Bio lernen? Pflanzen! Warum müssen wir das lernen? Wer will denn später einen Beruf mit Pflanzen haben?«
»Na, aber …«
»Ich muss doch nicht wissen, wie die Pflanzen von innen aussehen. Es reicht doch, wenn ich weiß, dass sie da sind und dass sie schön sind«, sagt Erhan.
»Tja, also ich weiß auch nicht, aber ich finde, ihr solltet schon wissen, wie Pflanzen funktionieren. Vielleicht braucht ihr das später doch mal«, sage ich, denke aber: Das vergessen die doch eh alles wieder. Was weiß ich denn über Pflanzen? Was weiß ich überhaupt noch aus meiner Schulzeit?
Also, ich kann noch erklären:
Warum Seen umkippen.
Wie man Dreisatz rechnet.
Dann weiß ich noch:
Irgendwelche französischen Endungen: -s,-s, nichts, -ons, -ez, -ent.
Dass Ratten bei Dichtestress homosexuell werden und ihre Jungen fressen.
Monsieur Leroc est aux lit, ilähmalade, Madam Leroc arrive, elle apporte une lettre et deux journaux, le docteur arrive, vite, le cigar sous le lit, ouvre la fenêtre.
Dass die Schwimmblase in einem Fisch aussieht wie ein Kaugummi.
Andreas Gryphius – Alles ist eitel – habe ich sehr schön interpretiert.
Dihybrider Erbgang.
Masseberechnung im freien Fall.
Marokkokrise.
Rommel.
Brecht.
Römische Bäder hatten Fußbodenheizung.
Sechs-Tage-Krieg.
Nord-Irland-Konflikt …
Ein ziemliches Sammelsurium an Fakten. Völlig nutzloses Halbwissen. Im besten Fall habe ich davon schon mal was gehört.
Was ich aus meiner Schulzeit aber noch genau weiß, sind solche Sachen:
Dass ich unbedingt die Tennis-Special-Turnschuhe haben musste, bevor Petra die hatte, damit sie nicht »nachgekauft« sagen konnte.
Dass es mir heute leidtut, dass ich einen Klumpen Ton durch den Kunstraum geschmissen habe, weil meine Lehrerin ihn abgekriegt hat.
Dass ich in der Grundschule einen Kopfstand auf einem Stuhl gemacht habe, als wir gerade mit Wasserfarben malten, ich umgefallen bin und dabei das dreckige Tuschwasser in die Schultasche von Marion Fichtelholz gelaufen ist. Die hat dann total geheult, ich musste mit ihr die Schulbücher tauschen und hatte deshalb das ganze Jahr diese dreckig gewellten Bücher.
Auch weiß ich noch, wie wichtig es war, nie krank zu sein und immer in die Schule zu kommen, weil man sonst ganz wesentliche Dinge in den Pausen nicht mitbekommen und die sich daraus ergebenden Insiderjokes dann nicht verstanden hätte. Eine Erkältung konnte dich direkt zum Außenseiter in deiner Clique machen.
Jeden Mittag zum Supermarkt: Chips und eine Dose Cola.
Der Mathelehrer hatte Mundgeruch.
Physik war sehr langweilig.
In Französisch hing grundsätzlich eine Seite aus einem Pornoheft an der Tafel. Jede Stunde der gleiche Joke: Der Lehrer klappt die Tafel auf und muss erst die nackte Frau abmachen. Ich war’s nicht, aber ich fand es lustig.
Wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke, kann ich mich an vieles erinnern, aber an den Unterricht … irgendwie nicht. Wie habe ich nur das Abitur geschafft?
Ich habe langweilig
Diese funktionierende Klasse geht mir auf die Ketten. Es passiert gar nichts. Vor vier Jahren hatte ich um diese Zeit schon die ersten Tinnitusattacken und sooo viel zu tun. In meiner neuen Klasse rennt keiner durch den Raum, die schlägern sich nicht, die schwänzen nicht und sie haben sogar ihre Sachen dabei. Irgendwie langweilen die mich. Ich brauche Action.
Wie schön war das doch früher. Ich kam nach Hause, mir brummte der Schädel und ich wusste gar nicht, was ich zuerst erzählen sollte. Eine Geschichte war krasser als die andere. Und jetzt? Alles läuft in gesitteten Bahnen. Es kam nicht ein Mal die Polizei, es gab noch keine Klassenkonferenz, ich habe noch nicht mal mit irgendwelchen Eltern telefoniert. Am Ende lernen die Schüler sogar noch was. Wo kommen wir denn da hin? Worüber soll ich mich denn dann aufregen?
Ich habe langweilig!
Wann kommt meine Klasse endlich in die Pubertät? Meine alte Klasse ist schon pubertär und geschminkt auf die Welt gekommen. Aber ich habe noch Hoffnung. Neulich fragte ich Volkan, ob er eigentlich gerne zur Schule komme. Er grinste: »Ja, wegen Mädchens.«
Und dann hat er gesagt, und dann hab ich gesagt …
»Cybermobbing«, sagt der Freund und reicht dem Deutschlehrer die Butter. »Hast du gesehen, den Film? War im Ersten.«
Der Deutschlehrer schüttelt den Kopf und beißt in seinen Bagel. »War das da, wo der Vater gleich am Anfang geheult hat?«
Der Freund nickt.
»Nee, das sah ja schlimm aus, das habe ich mir erst gar nicht angesehen.«
»Ich MUSSTE das ja gucken«, sagt der Freund und sieht vorwurfsvoll zu mir.
»Ey komm, der Film war gar nicht so schlecht. Der war ziemlich realistisch gemacht. Bestimmt kommt da bald Unterrichtsmaterial zu raus. In einer 9. oder 10. Klasse könnte man den durchaus gucken. Meine sind da leider noch zu jung zu.«
Ich lese auch ein Buch über Mobbing. Je mehr ich über die Strukturen erfahre, umso geschockter bin ich. Aber nicht wegen der armen Mobbing-Opfer, sondern weil mir klar wird, dass ich früher auch ein Mobber war. Immer wenn die Autoren die Täter beschreiben, denke ich: Das bin doch ich. So war ich als Schülerin. Genauso habe ich in der Grundschule und später in der Oberschule gemobbt. Und wenn ich darüber nachdenke, dann mobbe ich jetzt bestimmt immer noch. Oh Gott, ich bin ein fieser Mobbing-Täter.
In dem Buch steht, verteilt über mehrere Kapitel, dass jeder Opfer werden kann und nicht unbedingt irgendwas Seltsames an sich haben muss. Aus meiner Schulzeit kann ich das so aber nicht bestätigen. Sabine Trullerhausen, die wir immer geärgert haben, die war einfach nicht wie wir. Die hat gestunken und war eklig. Wir fanden, die ist selbst schuld daran, dass wir sie nicht mögen. Heute denke ich: Voll gemein waren wir. Vielleicht hat sie gar nicht gestunken. Vielleicht war sie gar nicht so blöd, wie wir dachten. Warum haben die Lehrer nichts gemacht? Wir haben sogar regelmäßig Klassenkloppe organisiert. Alle haben sich dann auf dem Hof in einer Ecke zusammengerottet, und dann ist die ganze Klasse auf einen Einzelnen losgegangen. Wo war da eigentlich die Pausenaufsicht? Hat mir ein Lehrer oder eine Lehrerin mal gesagt, dass ich Sabine nicht ärgern soll? Nö. Wie hätte ich das denn dann wissen sollen, dass man das nicht macht, wenn mir das keiner sagt?
Meine Schüler kennen sich eher mit Cybermobbing aus. Sie sind auch schon alle bei Facebook. Finde ich etwas zu früh. Ich werde mich auch nicht mit ihnen befreunden, bevor sie in der Neunten oder Zehnten sind.
Maria aus meiner Klasse steckt zurzeit in einer Cyberaffäre fest. Sie hat in der letzten Woche immer wieder einzelne Unterrichtsstunden gefehlt. Deshalb habe ich mich heute nach dem Unterricht mit ihr zusammengesetzt und sie ein wenig interviewt.
»Mit wem musstest du denn nun was klären und konntest deshalb nicht zu Deutsch gehen, Maria? Ich versteh das immer noch nicht.«
»Aaalso, Mustafa und Ozan hatten gesagt, dass ich Scheiße über sie laber. Aber das stimmt gar nicht, und da wollte ich das mit denen klären.«
»Mustafa? Ozan? Sind die auf unserer Schule?«
»Ja, in der Achten.«
»In welcher Klasse?«
»Weiß ich nicht.«
»Wie sehen die denn aus?«
»Weiß ich nicht. Ich habe die ja noch nie gesehen.«
»Äh, aber wieso … Ach, kennst du die von Facebook?«
»Ja, und da hat dieser Ozan mich angechattet und meinte, ich soll nicht so Scheiße über ihn labern, sonst passiert was. Und dann habe ich mich mit dem verabredet, auf dem Hof, weil ich das klären wollte.«
»Wie? Das verstehe ich nicht. Du kennst den gar nicht und willst mit dem irgendwas ›klären‹?«
»Ja, ich wollte das klären. Also mit dem reden, damit der aufhört, über mich zu reden. Hat er aber nicht, und jetzt redet die ganze Schule über mich. Dass ich eine Bitch bin. Dann kamen zwei Mädchen aus der Neunten, und die haben mich voll angemacht, ich soll Ozan in Ruhe lassen. Und die eine meinte, Ozans Freundin ist voll sauer auf mich. Wenn die mich erwischen würde, dann könnte ich mein Testament machen. Dabei kenne ich diesen Ozan doch gar nicht. Und dann kam ein Mädchen und meinte, ich bin eine Schlampe, weil ich ihr Mustafa ausgespannt hätte. Ich soll nur abwarten, ich kann noch was erleben. Aber Mustafa kenne ich doch auch nicht.«
»Aber auf Facebook bist du mit diesem Mustafa und diesem Ozan befreundet, oder?«
»Ja. Alle sind mit allen befreundet. Die ganze Schule ist doch da.«
»Also, Maria, ich glaube, du gehst jetzt erst mal nach Hause und räumst deinen Facebook-Account auf. So richtige Freunde scheinen die beiden nicht zu sein. Weißt du, ich bin ja auch bei Facebook, aber ich bin nur mit Leuten befreundet, die ich persönlich kenne und auch in der richtigen Welt nett finde. Bei Mustafa und Ozan weißt du ja schon mal nicht, wer die sind. Kennst du denn sonst alle Leute, mit denen du bei Facebook befreundet bist?«
»Ja, eigentlich schon. Also das sind alles Freunde, oder Freunde von Freunden, die ich aber auch kenne.«
»Wie viele Freunde hast du denn bei Facebook?«
»Nicht so viele, ungefähr 500.«
Aus dir wird nichts
»Ihr sollt jetzt noch den Vokabeltest schreiben, dann diesen Hörtext im Buch bearbeiten – also nur zuhören und mitlesen –, dazu ein paar kleine Fragen beantworten, dann gebe ich euch die Arbeit zurück und schon ist Schluss.« Diese Stundenplanung hauche ich mit letzter Kraft dem Widerwillen von zwanzig durchgeknallten Siebtklässlern entgegen.
»Guckt mal, ihr seid heute nur so wenig Schüler, ihr seid fertig vom Tag, wir hatten alle schon so viel Unterricht heute, ich habe Kopfschmerzen … Lasst uns mal versuchen, eine ruhige letzte Stunde zu haben.«
Beim Anblick der Schüler weiß ich sofort: Daraus wird nichts. Ich habe mein Pulver schon längst in anderen Klassen verschossen. In der anstrengenden Achten zum Beispiel, die ich auf eine Klassenarbeit vorbereiten wollte – wogegen die sich aber äußerst erfolgreich gewehrt haben.
Am Ende der Stunde und meiner Kräfte habe ich sogar noch einen Schüler vor die Tür gestellt und ihn draußen mit finsterster Miene angezischt: »Aus dir wird nichts werden!« Dreimal habe ich das wiederholt: »Nichts wird aus dir werden – GAR NICHTS!« Der hat mich nur ungläubig angeglotzt, und ich bin wütend zurück in die Klasse gegangen.
In der Pause tat mir das schon wieder leid. So etwas Gemeines und Vernichtendes habe ich noch nie zu einem Schüler gesagt. Aber der hat so dermaßen gestresst, dass ich einfach nicht mehr konnte. Ich werde mich irgendwann bei ihm entschuldigen. Aber er muss mir auch ein wenig entgegenkommen. Nicht mitarbeiten und meinen Unterricht non stop stören, fetzt ja auch nicht.
»Also, ihr Lieben, dann bleibt mal so schön ruhig. Wie gesagt, mein Kopf tut weh, und die Stunde wird schon schnell vorbeigehen.« Ruhig bleiben sie ÜBERHAUPT nicht. Immer wieder muss ich rummeckern, den Unterricht unterbrechen und auf der Metaebene diskutieren: »So geht das hier nicht! So kann ich euch nicht unterrichten!«
Die neuste Masche des neuen Ibo: Immer, wenn ich mich an die Tafel drehe, flüstert er: »Mama.« Jedes Mal, wenn ich sein »Mama« höre, bin ich so heilfroh, nicht seine Mama zu sein, dass ich mich über diese Unterrichtsstörung gar nicht aufregen kann. Sie macht mich eher zufrieden. »Mama.« Hihi, zum Glück bin ich das nicht!
Gegen Ende der Stunde brechen jegliche Dämme. Jetzt schnattern sie alle durcheinander. Unterricht ist nicht mehr erkennbar. Jetzt geht es nur noch ums nackte Überleben bis zum Klingeln. Mit letzter Kraft flüstere ich: »Seid doch noch die letzten fünf Minuten leise. Ich habe Kopfschmerzen.«
»Da hilft Aspirin«, schreit mir Firat freudig entgegen. »Das isst meine Mutter auch immer, wenn sie Kopfschmerzen hat.« Firat sitzt direkt vor meiner Nase.
»Es würde schon helfen, wenn du nicht so schreien würdest.«
»Oder Sie nehmen diese Punkte, die man im Wasser tut«, schlägt er mir jetzt noch begeisterter vor. Woher hat er nur diese Energie?
Irgendwann das erlösende Klingeln. Stühle hoch, tschüs, und ab nach Hause auf die Couch. Und nachdem ich diese Punkte ins Wasser getan und diese Aspirinbrause zu mir genommen habe, geht es mir langsam wieder etwas besser. Ich wollte ja Action, aber so viel dann auch wieder nicht.
Fass mein Piiiep an!
Es weht ein leichter Hauch von Pubertät durch meine Klasse. Die Mädchen sind noch immun, aber bei den Jungen taucht erstes sexuelles Interesse auf. Endlich!
»Frau Freitag, wissen Sie, was die Jungs immer zu uns sagen?«, fragt Rosa auf dem Hof.
»Nein, was denn?«
Jetzt kichert sie und guckt auf ihre Schuhe.
»Die sind sooo eklig!«, mischt sich Dilay ein.
»Na, was sagen sie denn jetzt?« Langsam interessiert mich das auch. Aber es scheint sooo eklig zu sein, dass man es nicht mal wiedergeben kann.
Irgendwann traut sich Dilay: »Die sagen immer so Sachen wie: Fass mein Piiiep an.« Nach dieser Mitteilung guckt sie peinlich berührt in die andere Richtung. Jetzt steht auch Selina neben uns und berichtet entrüstet: »Ja, und sie sagen immer: Willst du mir einen blasen?«
Dilay und Rosa schütteln sich vor Empörung. Nun reden sie alle durcheinander: »Jaaa, das ist sooo eklig.«
»Immer sagen sie das. In Deutsch und in Erdkunde. Am schlimmsten ist Anil, aber Volkan macht auch immer mit, und dann kichern sie immer voll lange darüber.«
»Frau Freitag, das ist schrecklich. Die sollen damit aufhören.«
Das pubertäre Verhalten der Jungs scheint ihnen wirklich gegen den Strich zu gehen. Ich kann mir gut vorstellen, wie die Empörung der Mädchen die Jungs zu immer ekligeren Fragen anstachelt. Ihre explizite Sprache erzielt ja auch die erwünschte Wirkung: Die Mädchen schocken, damit sie die Jungs beachten.
»Wisst ihr, Mädels, die sind wie kleine Kinder, die sich darüber freuen, wenn sie Popo und Kacke sagen können.« »Kacke« wollen meine Schülerinnen aber auch nicht hören. Wahrscheinlich schon gar nicht von ihrer Klassenlehrerin. Das sind richtige kleine Damen. Ich kann mir noch nicht mal vorstellen, dass es stinkt, wenn die aufs Klo gehen.
»Also, meine Lieben, das geht natürlich nicht, dass sich die Jungs so vor euch benehmen. Ich überleg mir was. Versprochen.« Zufrieden hüpfen sie in Richtung Freizeitbereich.
Später folgt die große Ansage: »Jetzt mal was für die Jungen! Es gibt hier in der Klasse Beschwerden über eure Ausdrucksweise. Die Mädchen möchten nicht, dass ihr so dreckig mit ihnen redet. Das muss aufhören. Und zwar sofort. Wir machen das ab jetzt folgendermaßen: Ihr Mädchen schreibt sofort auf, wenn jemand etwas Unangemessenes zu euch sagt. Genauer Wortlaut, wo und wann das gesagt wurde. Am besten auch, wer das noch gehört hat. Dann gebt ihr mir das. Ich werde dafür sorgen, dass der Junge, von dem das kommt, einen Brief an seine Eltern schreibt, worin steht, was er gesagt hat. Diesen Brief schicken wir dann nach Hause, und er muss von euren Eltern unterschrieben werden.«
Ich sehe, wie die Jungen sich diese Situation vorstellen. Keiner sagt etwas. Ich bin sicher, diese Maßnahme wird die Ausdrucksweise meiner Schüler gehörig verbessern. Ich gucke in die Runde. Die Mädchen grinsen mich dankbar und zufrieden an. Mal sehen, wie lange der Frieden hält.
Verzichte auf provozierende Latzhosen
Bei der Konferenz ist es passiert. Ich habe es richtig gemerkt: Krankheit kriecht in mir hoch. Kalte Knie und Hals. Mist. Schnell nach Hause und in die Badewanne. Draußen: Regen. Schirm vergessen, na, toll. Und im Bus: Niesattacken. Zu Hause am Schreibtisch: wieder kalte Knie. Ich fühle mich schon richtig krank. Zu krank für die Wirbelsäulengymnastik in meinem Fitnessstudio. Toll, also krank und Rückenschmerzen. Der Freund ist in der Küche und kocht Suppe. Vielleicht hilft das noch.
Scheiß Herbst. Wie hatte ich mich darauf gefreut. Keine Sonnenbrandgefahr mehr und endlich wieder zu Hause bleiben dürfen. In der Wohnung, Licht an und voll gemütlich. Aber wenn ich mich so umgucke, ist das weit entfernt von gemütlich – überall Staub und Dreck. Wahrscheinlich habe ich einfach eine Staub- und Dreckallergie und muss deshalb so viel niesen. Und überall in meinem Zimmer steht Zeugs rum. Ich habe ungefähr tausend Billy-Regale, trotzdem stehen sieben Leitz-Ordner neben und sechs weitere unter meinem Schreibtisch. Und auf dem Tisch schon wieder lauter Haufen. Haufen und Dreck. Und diese Regale … Was da für ein unnützer Scheiß drin ist. Eine Million Didaktikbücher, in die ich NIE reingucke. Jedes einzelne habe ich in der Überzeugung gekauft, dass ich nur dann eine richtig gute Lehrerin sein kann, wenn ich genau dieses Buch lese. Und was ist? Ich bin schlecht wie eh und je. Wie viel Geld ich schon in Buchhandlungen der Schulbuchverlage gelassen habe … Irgendwann haben mich die Verkäuferinnen mit Vornamen begrüßt und mir Kaffee hingestellt.
Da steht auch der fette Ordner von diesem Jugendförderprogramm des Lions Club: Lions-Quest – »Erwachsen werden«. Klar habe ich das Seminar bei denen gemacht. Mit Inbrunst habe ich dort teilgenommen. Und nun? Nun steht der Ordner rum und sammelt den Staub für meine Allergie. Kann ich ihn nicht einfach meinen Schülern geben: »Hier, erwachsen werden! Lesen und machen!«
Klippert! Klippert in all seinen Auswüchsen. Methodentraining! Buäh, der olle Klippert hat sich ’ne goldene Nase damit verdient und muss nicht mehr in die Manege. Ist der überhaupt mal Lehrer gewesen? Auf jeden Fall liebt Heinz Klippert, dieser selbsternannte Schulreformer und Methodenfetischist, die Gruppenarbeit.
Ich bin ja auch ein Kind der Gruppenarbeit. Damals, an der neu erblühten Gesamtschule, wo die Lehrer Ohrringe, Latzhosen und wallende Tücher trugen, da standen alle total auf Gruppenarbeit. Gruppenarbeit von früh bis spät. Eigentlich gab es gar nichts anderes. Unsere Schule wurde sogar extra für die Bedürfnisse der Gruppenarbeit gebaut. Hinter jedem Klassenraum gab es noch mehrere kleine Räume: für Gruppenarbeit! Yeah!
Das lief immer gleich ab: »Herr Meyer, wir gehen für die Gruppenarbeit nach hinten in den anderen Raum, okay?«
Herr Meyer, ein etwas unsicherer Junglehrer mit Idealen und Latzhose: »Okay.«
Wir dann im anderen Raum
(unbeaufsichtigt, weil da-
mals den Schülern noch vertraut wurde):
»Lass erst mal was essen.«
Ich erinnere mich an Tausende von Stunden im Gruppenarbeitsraum: gegen die Wand kippelnd, essend und quatschend. Am Ende der Stunde: »Oh Scheiße, wir sollten doch irgendwas machen.« Dann haben wir schnell irgendeinen Müll zusammengekliert und sind beim Klingeln zu Herrn Meyer. »Herr Meyer, wir sind noch nicht ganz fertig. Wir brauchen noch mal ein oder zwei Stunden.«
Keiner kann mir erzählen, dass sich die Kinder heute so doll geändert hätten in Bezug auf Gruppenarbeit. Herr Klippert sollte die Sache vielleicht noch mal überdenken …
Aber ich habe ja nicht nur Klipperts Bücher im Regal, sondern auch: Survival in der Schule – Tricks für Lehrer und was Schüler daraus lernen können. Was ist das denn? Und wo kommt das her? Ist von 1988. Riecht auch wie 1988. Mal sehen, was da so drinsteht. Ah, die Kapitel fangen alle mit der, die, das an. Sympathisch – überfordert mich nicht gleich.
Der Unterrichtsbeginn
Die Konferenz
Die Tafel
Der Hausmeister
Das Tagebuch
Die Kleidung
Der Abschied
Die Pausenaufsicht
Die Hohlstunde
Die Hohlstunde – hahaha, ich muss an meine Zahnlücke denken. Da soll ein Implantat rein, aber dafür bräuchte ich noch das Kapitel: »Die Zahnarztterminmachung«.
Also ich würde das »Die Freistunde« nennen.
Ist ein witziges kleines Buch. Hier Trick Nr. 6:
»Sei in deiner Kleidung bescheiden, wenigstens am Anfang deiner Laufbahn. Verzichte auf provozierende Latzhosen, Ohrringe und wallenden Tücher. Such etwas Preiswertes, Mausgraues im Sommerschlussverkauf, so dass du aussiehst wie der nette Mann von nebenan. So wirst du es dir mit niemandem verderben.«
Schön. Herr Meyer hat sich damals nicht daran gehalten, aber meine Kollegen scheinen das Buch zu kennen, denn Latzhosen sehe ich eher selten. Und in meinem Kleiderschrank sind auch keine mehr.
Löcher
»Jetzt haben sich die Mädchen schon wieder über eure Ausdrucksweise beschwert«, teile ich den Jungen meiner Klasse mit.
Die Mädchen durften schon nach Hause. Die versammelte Männlichkeit versucht mich möglichst unschuldig anzugucken. »Das kann doch nicht wahr sein, dass ihr sooo eklige Sachen sagt!«
»Was denn, wir haben doch gar nicht …«, versucht sich Volkan rauszuwinden.
»Ihr habt nicht? Volkan, du hast nicht gesagt: Dein Loch ist so groß, da passt ein ganzer Kopf durch?«
»WAAAS?« Volkan guckt total entsetzt »Das habe ich nicht gesagt! Niemaaals!«
Taifun weiß es allerdings besser: »Doch, hast du gesagt!«
»Nein, ehrlich, habe ich nicht gesagt. Ich schwöre! Hamid hat …«
»Was hab ich? Nichts hab ich!« Hamid guckt Volkan giftig an. Bis eben hat ihn die ganze Konversation nur mäßig interessiert. Volkan wittert seine Chance. Er schiebt Hamid vor und sich aus der Schusslinie: »Hamid hat gesagt, dein Loch ist so groß, da passt ein ganzer Mensch durch.«
Hamid schweigt, also gehe ich davon aus, dass das stimmt.
»Und du, Volkan, du hast nichts gesagt?«
»Nein, ich hab nicht gesagt, da passt ein Kopf durch. Echt nicht.« Nach kurzer Pause: »Ich habe gesagt, eine Hand passt da durch.«
»Ach, und das ist besser, oder was?«
Volkan ist mittlerweile sehr leise geworden. »Aber ich habe nicht Kopf gesagt, ich habe Hand gesagt, und ich meinte auch nicht DAS Loch.«
»Welches Loch meintest du denn?«
Gespannt gucken wir alle zu Volkan. Der überlegt, welches Loch er denn nun gemeint haben könnte.
»Na, na, also nicht das Loch … also eben ein anderes.«
»Okay, Volkan, lass mal. Ihr sollt überhaupt nicht so reden. Kopf, Hand oder ein ganzer Mensch … das ist jetzt auch egal. Das muss aufhören, sonst kommt wirklich mal deine Mutter her, und wir diskutieren das hier aus. Ich könnte mir vorstellen, dass sie es äußerst interessant findet, was du zu dem Thema zu sagen hast.«
Volkan betrachtet die Tischplatte. Die anderen sind auch recht kleinlaut geworden. Für mich ist die Sache damit beendet, es gibt vorerst also keine Briefe. Den Rest der Stunde lasse ich die Jungs mit LÜK-Kästen spielen – schön lernen, überprüfen, kontrollieren. Friedlich gehen sie nach dem Klingeln ins Wochenende. Dieses Thema wird uns aber noch länger erhalten bleiben, zumal Anil gefehlt hat. Der kann bestimmt auch noch viel dazu beitragen.
Ibo rollt
»BOOOUUUMMM!«
Als ich das Schulgelände verlasse, explodiert ein Böller. Übelst laut. Die sich aus der Schule in die Freiheit ergießende Schülermasse schreit auf und rennt an mir vorbei. Hassan aus der Siebten, die ich in der zweiten Stunde hatte, grinst mich im Vorbeirennen an: »Frau Freitag, Gaddafi lebt!«
In der vorletzten Stunde hatte ich mit meiner Klasse die obligatorische Schulbibliotheksführung. Mein Briefing war eindeutig: »Alle 7. Klassen machen so eine Führung. Ich möchte, dass der Bibliotheksmensch nachher sagt, dass ihr die netteste und die ruhigste Klasse wart! Verstanden?« Sie nicken, und wir wandern gesittet durchs Schulgebäude. Meine Klasse rennt nicht. Meine Schüler prügeln sich in meiner Gegenwart nicht über die Gänge. Leise und entspannt betreten wir die Bücherei. Alle setzen sich und hören der Einweisung zu. »Das darf man nicht und das nicht und das natürlich auch nicht und dies schon mal so dermaßen gar nicht und denkt bloß nicht, dass ihr das dürft …« Es gibt in der Bibliothek auch fünf Arbeitsplätze mit Computer für die Schüler. Zehn Minuten lang wird erzählt, was passiert, wenn jemand versucht, in die Systemsteuerung, also das Innenleben der Rechner, zu gelangen. Angeblich gibt es eine Direktübertragung zum Systemadministrator der Schule, der genau sehen kann, wer welchen Computer manipuliert. Ich muss grinsen, denn wir haben nur so einen Typen, der die Computer repariert. Aber die Schüler fressen es.
Meine Klasse lässt alles über sich ergehen. Sie sind absolut leise. Es ist bereits 15 Uhr und sie hatten durchgehend Unterricht. Ich auch. Ich bin müde. Sie auch. Die Armen, es passiert immer das Gleiche, wenn eine Schülergruppe ruhig ist. Der Erwachsene, der auf die Kinder einredet, denkt: »Na, Mensch, die hören aber gut zu, die scheinen ja richtig interessiert daran zu sein, was ich zu sagen habe.« Trugschluss! Sie sind lediglich leise. Das hat nichts mit dem Vortrag zu tun.
»Also, da hinten seht ihr verschiedene Romane, die nach Themen geordnet sind.« Die Schüler drehen sich zu den Büchern. Jeder fängt an, die Schilder an den Regalen halblaut vorzulesen: »Tiere, Abenteuer, Humor, Liebe, Drogen …heheheh – Drogen.«
Anil meldet sich: »Gibt es auch Erotik?«
Der Büchereiwart grinst. Ich auch. Die Jungs kichern. Selina flüstert: »Was ist Erotik?« Volkan flüstert zurück: »Nackte Leute.«
Dann füllen sie ihre Büchereikarten aus. Natürlich werden sie sich niemals Bücher ausleihen.
In der letzten Stunde des Tages ist es schon fast dunkel draußen. Grauenhaft diese düstere Zeit. Dazu Englisch in der Siebten. Ibo!
Seit ein paar Stunden mache ich mit dieser Klasse so eine Art Wochenplan. Bei dieser Methode aus der Grundschule bekommen die Schüler Blätter mit 1000 Aufgaben von mir, die sie über mehrere Stunden selbständig bearbeiten müssen, während ich gemütlich an meinem Lehrerpult chillen kann. Wochenplanarbeit mache ich nicht oft, aber entgegen meiner Erwartung läuft es hier echt super. Ich stehe nicht mehr nur vorne und bin die Einzige, die sich anstrengt, sondern ich laufe rum und helfe oder sitze an meinem Pult und korrigiere die fertigen Aufgaben der Schüler. Fast alle arbeiten sehr viel mehr als sonst. Ich lobe sie häufig, und sie freuen sich sehr darüber.
Letzte Woche hat Ibo gefehlt. Heute ist er wieder da. Er beginnt eine Aufgabe zu bearbeiten. Eigentlich ist der ja doch recht normal, denke ich. Gerade, als ich das denke, steht er plötzlich auf und geht nach hinten. Wie ein Tiger im Käfig läuft er hin und her. Ich beobachte ihn. Der soll bloß nicht wagen, in die Nähe der Pinguine aus Pappmaché zu kommen, die im Regal stehen. Sie stammen aus einem Kunstprojekt meiner alten Klasse, und irgendwie hänge ich an den Dingern.
»Ibooo, Pfoten weg von den Figuren!« Er dreht sich um und geht Richtung Fenster. Plötzlich wirft er sich auf den Boden. Dort kugelt er sich von einer Seite auf die andere, als hätte er einen Bauchdurchschuss. Ich beobachte ihn. Die anderen Schüler sehen ihn nicht und arbeiten konzentriert weiter. Ibo rollt. Hin und her, hin und her. Ich gucke zur Uhr – noch zehn Minuten. Lohnt sich nicht, den jetzt noch zu beachten. Ist ja lustig, dass es ihm gar nichts ausmacht, auf dem dreckigen Boden zu liegen. Meines Wissens wird der nie gewischt, sondern nur gefegt. Und das auch nur einmal in der Woche. Dank Ibo ist er hinten wenigstens schon sauber.
Draußen ist man immer
kränker
als drinnen
»Guten Morgen, ich bin krank. Ich kann heute nicht kommen und morgen auch nicht.«
Aus meinen kalten Knien neulich ist keine Krankheit geworden, zumindest nicht sofort. Jetzt aber hat es mich erwischt. Nach dem Telefonat falle ich zurück auf die Couch. Frühstücksfernsehen läuft, draußen geht die Sonne auf. Nie liege ich um diese Uhrzeit. Normalerweise sitze ich auf der Couch, esse meinen Toast mit Butter und Salz, trinke Kaffee, rauche und ziehe mich dann an. Um diese Uhrzeit in der Horizontalen? Verkehrte Welt. Ich habe Hals- und Gelenkschmerzen und ein schlechtes Gewissen. Krank. Wieso bin ich krank? Schon seit einem Monat trage ich Wintermantel, Mütze und Schal. Trotzdem krank. Krank sein nervt voll. Mein Freund steht irgendwann auf und bringt mir Tee. Endlich kann ich wimmern und jammern: »Aua, mein Hals. Mir tut alles weh.«
Ich schalte mich von einem Regionalsender zum nächsten. Als ich beim Homeshopping stoppe, meckert mich der Freund auch noch an: »Nee, also nicht so was jetzt.« Ich fange sofort wieder an zu jammern. Er entschuldigt sich. Ich höre kurz mit meinem Wehklagen auf. Draußen scheint die Sonne. Dann ruft die Erzieherin meiner Klasse an. Wir hatten Eltern eingeladen – es soll eine große Anhörung geben, wegen Marias Cyberaffäre. Ich hab mich schon seit einer Woche darauf gefreut. Mist! Ich gebe Instruktionen. Die Erzieherin sagt: »Geh mal raus, draußen ist’s schön. Nur rumliegen ist nicht gut.« Nach dem Gespräch falle ich erschöpft zurück in die Kissen. Ich wälze mich von links nach rechts, weil ich nicht weiß, was ich sonst machen soll. Ich weiß einfach nicht, wie Krank sein geht.
»Du bist wie ein Pups, der im Zimmer hängt«, sagt der Freund. Als Freiberufler ist er ja meistens zu Hause.
Gegen Mittag gehen wir raus. Ich muss dem Finanzamt einen Zettel bringen. Das Finanzamt meckert. Seit ich nicht mehr zu Hause wohne, haben Ämter das elterliche Meckern übernommen. Früher hieß es: »Bring den Müll runter, räum dein Zimmer auf! Heute meckert die Rentenbehörde: »Wir haben Ihnen schon im Mai geschrieben, dass Sie Ihre Beschäftigungszeiten von 1990 – 1994 nachweisen sollen.« Das Finanzamt, die Krankenkasse, die Bank, die Personalstelle und so weiter. Alles ein Ersatz für meine mich anmeckernden Eltern.
Der Weg zum Finanzamt ist sehr viel weiter als sonst. Wir schleichen. Es ist kälter, als es aussieht. In meinem Kopf ist Druck und ich kann nicht richtig hören. Draußen ist man immer viel kränker als drinnen.
Irgendwann will ich nur noch zurück auf die Couch. »Du isst jetzt deine Suppe und dann schläfst du!«, befiehlt der Freund. Ich gehorche. Ich schlafe nachmittags! Als ich aufwache, ist es dunkel. Der Tag hat ohne mich stattgefunden. Langweilig. In meiner Vorstellung fetzt das voll, zu Hause zu bleiben, aber in real life ist es überhaupt nicht toll. Vor allem, weil man ja gar nichts gebacken kriegt, obwohl man so viel Zeit hat.
Der Nächste bitte
»Was ist mit Englisch?«
»Na, wie war Berat denn in der Grundschule in Englisch?«
»Nicht gut, nicht gut«, Mama Berat schüttelt den Kopf und guckt zu ihrem Sohn. Der wird ganz rot. Eingequetscht zwischen Mama und Papa und gegenüber die Lehrerin. In der Berat-Familie sind sie groß, massig. Alle. Berat ist in der Siebten – er könnte jetzt schon Sumoringer sein. Seine Ohren stehen ab, und er hat ein knuffig-pausiges Gesicht.
»Ich gucke mal, was Berat in der Arbeit geschrieben hat«, sage ich und blättere in meinem Notenheft. Ich weiß es nicht mehr. Berat schon, denn er starrt jetzt auf den Boden.
»Oh, das waren nur null Punkte.«
Wir schweigen alle.
»Na, Berat, nächste Arbeit wird aber besser. Schlechter geht ja nicht mehr«, sage ich, um alle ein wenig aufzuheitern.
»Berat, sagen wir eine Vier nächstes Mal? Die Fünf überspringen wir einfach, ja?«
Berat grinst übers ganze
Gesicht, erleichtert, dass wir die Fünf überspringen. Jetzt freut
sich Mama Berat auch. Papa Berat, der, glaube ich, kein Wort
verstanden hat, grinst
auch.
»Na schön …«, sage ich und signalisiere durch Aufstehen, dass das Gespräch beendet ist. Wir schütteln uns alle die Hände. Dann hole ich die nächsten Eltern mit ihren Sprösslingen rein.
Elternsprechtag – wie ich das liebe. Schlau daherquatschen, unheimlich pädagogisch tun, auf alles eine Antwort haben, und wenn man gar nicht weiterweiß, einfach das Thema wechseln. Niemand verlässt unzufrieden meinen Raum.
Diesmal kann ich auch gar nicht viel Schlechtes über die Kinder sagen. Aus meiner Klasse sind fast alle Eltern da. Die vier, die nicht kommen konnten, haben sich vorher abgemeldet.
Ausnahmsweise befinde ich oft: »Alles super. Ich kann nichts Negatives über Ihr Kind sagen. Sie können sehr stolz sein.« Das ist nicht mal gelogen oder auch nur übertrieben. Selbst mit den Müttern, deren Söhne die Lochgrößendiskussion gestartet hatten, verstehe ich mich super.
»Sie haben ja Post von mir bekommen.«
»Ja, wir haben auch darüber geredet. So geht das natürlich nicht.«
»Machst du das jetzt noch?«, frage ich Volkan.
Verschämtes Kopfschütteln.
Dann noch eine Moraldusche von mir: »Guck mal, deine Mutter ist eine Dame und ich auch. Und die Mädchen in der Klasse sind auch Damen – kleine Damen. Wir wollen so etwas nicht hören.« Ich grinse, die Mutter grinst, der Sohn windet sich innerlich. »So bekommst du auch keine Freundin. Du musst charmant und nett sein!«
Es läuft wirklich super, ich bin hochzufrieden. Mit mir, meinen Schülerinnen und Schülern und mit deren Eltern.
Mein Lieblingskollege, der Franzose, hat es heute auf den Punkt gebracht: »Elternsprechtag? Was soll ich denn den Eltern erzählen? Ich habe mit allen schon tausendmal telefoniert, und ich sage immer das Gleiche: Weniger Schminke – mehr Bücher!«
Der Haikun
Herbst
gelb grün
blau und nicht kalt
ich liebe Herbst, auch wenn du nichts erbst
Haiku, Feng Shui, Yoga, Mahjong, Karate, Ikea, Origami, Fukushima, Sushi, Sumo, Kimono, Kino, Gino, Bingo, Twingo, Lingo, Limo, Prime Time, Hard Times, Times New Roman, Roman schreiben, Schreibblockade, Blockadenstürmer, Stürmerfaul, Faulheitsanfall, anfallende Umsatzsteuer, Steuererklärung, Erklärungsnot, Notstandsgesetz, Gesetzesänderung, Änderungsantrag, Antragsstelle, Stellenwirtschaft, Wirtschaftswunder, Wunderbar, Barbekanntschaft, Bekanntschaftsblues, Bluesband, Bandmitglied, Mitgliederversammlung, Versammlungsraum, Raumbemessung, Bemessungsgrenze, Grenzverletzung, Verletzungstrauma, Traumaklinik, Klinikchef, Chefarzt, Arztjacke, Jackenkauf, Kauflust, Lustverlust, Verlustanzeige, Anzeigepflicht, Pflichterfüllung, Erfüllungsgehilfe, Hilfsangebot, Angebot und Nachfrage, Nachfrageamt, Amtsdame, Damenwahl, Wahlaufstand, Aufstandsverfahren, Verfahrensdilemma, Dilemmata, Tagwerk, Werksbetreuung, Betreuungsnachweis, Nachweisausweis, Ausweisamt, Amtslicht, Lichtschranke, Schrankenpommes, Pommesbude, Budenzauber, zauberhaft, Haftanstalt, Anstaltsblues, Bluesgeschmuse, Museumswärter, Wärterattacke
Ich finde, in mir schlummert lyrisches Talent. Ich benutze es nie. Vielleicht hätte ich Haiku-Schreiberin werden sollen statt Lehrerin. Morgens, wenn dem Haikun die Sonne schön und rot ins Zimmer scheint, erhebt er sich von seinem Futon und macht sich grünen Tee. Kaffee kennt er nicht. Dann begrüßen er und Yoga den Tag. Danach setzt er sich an seinen Schreibtisch: »So, dann wollen wir mal ein paar Haikus schreiben.« Gesagt – getan, ein Haiku, noch einer und noch einer. Alle sind gut. Alle sind brillant. Abends isst er ein paar Sushis und legt sich wieder auf seinen Futon. Zufriedener als er kann man nicht einschlafen. Next day, wieder das Gleiche. Immer das Gleiche. Jeden Tag Haikus, Sushi, Yoga, grüner Tee und Futon.
Der Haikun ist so zufrieden, der braucht nicht mal Freunde. Er hat auch kein Telefon und keine Adresse. Fernsehen – davon hat er mal gehört. Nie würde er auf die Idee kommen, vor der Schule (also, falls er Lehrerin wäre) noch eine Folge Dexter zu gucken, immer mit dem Stress im Nacken, dass er in jedem Fall zu spät kommt, wenn er die Folge bis zum Ende sieht. Der Haikun würde sich auch nicht fragen, ob er durch das viele Blut und die amputierten Gliedmaßen bei Dexter abstumpft und dann aus Versehen auch mal jemanden umbringt und zerstückelt. Nie würde er zu dem Mann in der Kantine sagen: »Ich nehme beides: Ketchup und Mayo.« Denn er würde niemals auch nur auf die Idee kommen, Pommes zu bestellen; er lehnt es ab, Pommes frites überhaupt zu kennen. Er lehnt auch Kugelschreiber ab. Seine Haikus kalligraphiert er in herrlichster Manier mit schwarzer Tusche.
Würde der Haikun denken: Griechenland hat bestimmt selbst auch ein wenig Schuld an seinem Unglück? Niemaaals. Deshalb müsste er auch nicht mit seinen Haikun-Kollegen darüber diskutieren, ob er eine Bild-gesteuerte Meinung hat. Bild – das kann er nur wörtlich nehmen. Seine Haikus sind Bilder. Er bildet. Er produziert nur Schönes. Für ihn gibt es sowieso NUR Schönheit, Anmut und Frieden.
Der Haikun wird steinalt, und selbst im Tod lächelt er noch. Er hatte in seinem Leben nicht einen schlechten Gedanken. Der Haikun ist so ganz anders als ich.
Wenn mir nach Haikuning ist, dann müssen die raus. Aber ab jetzt wieder: Und dann hat er gesagt und dann hab ich gesagt und er dann so Hurensohn und ich gibt’s doch gar nicht, darfst du nicht sagen und er wohl darf ich dis sagen und ich nein und er doch und ich raus und er nein und ich doch und er dann doch raus und ich dann später Gespräch und blablabla und er so na gut, ’tschuldigung und dann alles wieder gut.
Mein neuer Freund
Fräulein Krise hat ihren Lieblingsschüler Cihan, mit dem sie sich täglich beschäftigen kann, und ich habe Dexter. Ich bin jetzt bei der letzten Staffel. Dexter stellt Sinnfragen. An Gott glauben oder lieber nicht? Sein Sohn soll in die Kita. Er mag den Freund seiner Schwester nicht. Er hat Stress auf Arbeit. Normaler Alltag, aber Dexter muss ja nebenbei immer noch killen, er ist ja nicht nur Blutspurenanalyst, sondern heimlich auch Serienmörder. Am Wochenende habe ich so viel Dexter geguckt und dabei Strümpfe gestrickt, dass mir jetzt meine Schulter wehtut und ich schon zweimal von Dexter geträumt habe. Von Sonnabend auf Sonntag sprach er plötzlich aus dem Off mitten in meinen Traum rein. In seiner monoton-gefühlsfreien Dexter-Art. Und dann von Sonntag auf Montag kommt er mit seinen Leichensäcken in meinem Traum vorbei. Leicht verstört wache ich auf.
Stumpfe ich von all den Morden und den Zerstückelungen am Ende wirklich ab? Manchmal stehe ich vor einer Klasse und denke: Der muss weg, der ist böse. Ab in den Sack.
Aber ich habe ja kein Boot wie Dexter, und man sieht bei ihm auch nie, wie er nach dem Mord alles sauber macht. Ab und zu präpariert er seinen Mordraum – ich hätte ja nicht mal einen. Und dann nimmt er immer diese Malerfolie und ganz viel Frischhaltefolie. Wenn er dann zusticht, denkt man im ersten Moment, ah, saubere Sache. Weil die Folie ja erst mal kein Blut durchlässt. Aber dann kommt das Blut doch. Bevor man das Ausmaß der ganzen Schweinerei mitkriegt, beginnt schon die nächste Szene. Ich stelle mir das Putzen sehr aufwendig vor. Dieses ganze Blut. Wie wischt man das denn auf? Und selbst wenn er die Plastikplanen mit dem Blut in die schwarzen Säcke stopft – was ist, wenn so ein Sack mal ein Loch hat? Dann tropft doch das ganze Blut überall hin.
Bei Dexter sieht alles immer so einfach aus. Opfer finden, Spritze, auf den Tisch, Folie rum, ein bisschen rumquatschen, dann zack Messer in den Bauch. Eine Stunde später bringt er schon seinen Sohn ins Bett. Ich glaube, das haut in Wirklichkeit zeitlich gar nicht hin.
Und dann hinterlässt er auch nie irgendwelche Spuren. Wie sollte ich das denn hinbekommen? Wo ich gehe und stehe, hinterlasse ich Spuren meiner selbst: Meine Klamotten verteile ich auf kleine Häufchen in allen Zimmern, um mich herum sind immer volle Aschenbecher und sehr viel Diesunddas. All so was stünde mir als Serienkiller sehr im Weg.
Wahrscheinlich bleibt mir nur der steinige Weg der Pädagogik bei meinen Auseinandersetzungen mit problematischen Schülern. Ich frage mich nur, was Dexter mir dann in meinem Traum sagen wollte und vor allem: Wer war in den schwarzen Säcken, die er dabeihatte?
Britain ist keine Stadt
Vorschriftsmäßig wälze ich mich heute Nacht von 3.18 Uhr bis 6.30 Uhr im Bett herum. Es ist Vollmond, da ist die sensible Frau ungewollt nachtaktiv.
Doch ohne genügend Ausgleichsschlaf läuft die Schule nicht so glatt. Dann kommen fremde Schüler in meine grauenhafte 8. Klasse. Buäh, jetzt soll ich die auch noch unterrichten. Wir arbeiten seit zwei Stunden an einem läppischen Arbeitsblatt. Die Schüler sollen Sachen hören und Lückentexte ausfüllen. Die Antworten sind in dem verborgen, was die Leute auf der CD sagen. Nicht im Blatt des Nachbarn, nicht im Handy und nicht im Mitschüler, der hinter einem sitzt. Niemand guckt auf das Arbeitsblatt. Nur ich. Niemand hört den peoples auf der CD zu: »Die reden ja Englisch!«
Das Arbeitsblatt ist mit einem Stern markiert. Es entstammt dem Buch Höraufgaben für den Englischunterricht – für Anfänger. Es gibt Aufgaben mit einem, mit zwei und mit drei Sternen. Die mit einem sind die leichtesten. Es geht um das Schulsystem in England. Ich frage, was Britain wohl heißt. »Ist eine Stadt.« – »Ist in Amerika.« Ich frage zum tausendsten Mal, was detention ist. »Detonation?« – »Oder so wie Vulkanausbruch?«
Ich bin kurz vor der Eruption. Wie kann man denn einen Vulkan erwarten, wenn es um das englische Schulwesen geht? Ich frage, was strict heißt: »Was könnte das heißen? John said that his school is very strict. They have a lot of rules …« – »Heißt das stricken?«
Kurz bevor ich auseinanderbreche, lässt jemand einen so mörderischen Furz los, dass die Stunde wegen akuter Erstickungsgefahr beendet werden muss.
Frag deine Mutter!
»Frau Freitag?«
»Ja, Anil?«
»Deutschland hat doch Schulden, oder?«
»Ja.«
»Und da gib’s doch diese eine Uhr und da kommen doch jede Sekunde 5 000 Euro Schulden dazu.«
»Ja, die Schuldenuhr. Ich weiß nicht, wie viel da dazukommt, aber ziemlich viel. Wieso?«
»Wie will Deutschland die denn jemals zurückzahlen?«
»Tja, das weiß ich auch nicht. Ist aber ’ne interessante Frage.«
Anil lächelt zufrieden und widmet sich wieder der nicht ganz so interessanten Kunstaufgabe, die ich meiner Klasse vor mehreren Wochen gestellt habe.
Leider stellen nicht alle Schüler so interessante Fragen wie Anil. Die meisten Fragen an diesem Tag bestätigten mich nur wieder darin, dass ich mit meiner täglichen Arbeit wenig zum Abbau von Deutschlands Schulden beitragen werde.
»Frau Freitag, was sind feuchte Träume?«, fragt Firat kurz vor vier.
»Firat, frag deine Mutter!«
»Youssef sagt immer, dass ich feuchte Träume habe. Aber was heißt das?«
»Frag doch Youssef.«
Da fällt meinem Freund Ibo noch eine ganz dringende Frage ein: »Frau Freitag, was ist ein Analstopfen?« Ibo steht direkt vor mir und grinst mich dreckig an. »Was ist das, ein Analstopfen?«
Ich beuge mich zu ihm runter – er ist ziemlich klein und eher bilateral, er dehnt sich zu den Seiten hin aus. Leise flüstere ich ihm zu: »Ibo, wir können gerne deinen Vater einladen. Dann kannst du den das fragen.«
Die Generation von morgen. Die Steuerzahler von übermorgen. Was die Schüler ansonsten so von mir wissen wollen:
»Können wir heute nicht einfach mal nichts machen?«
»Warum meckern Sie immer mich an? Die anderen reden doch auch.«
»Wie alt sind Sie?«
»Warum kann ich die Jacke nicht anlassen? Mir ist kalt.«
»Wann klingelt’s?«
»Warum haben Sie das nicht kopiert? Dauert doch viel zu lange abschreiben.«
»Seit wann darf man keine Chips essen in Unterricht?«
»Wie Test?«
»Warum geben Sie mir mein Handy nicht wieder?«
Bei uns darf man ja, wie an wahrscheinlich jeder Schule, kein Handy benutzen. Natürlich haben trotzdem alle eins dabei, und zwar Smartphones. Nur ich hab keins. Wenn wir die Schüler damit erwischen, müssen wir sie einkassieren. Heute habe ich gleich drei ergattert.
Erstes Handy:
»Ich wollte nur mein Handy anrufen, weil ich es nicht finde. Das Handy ist von Dilara. Meine Eltern können das nicht abholen kommen, die sind nicht da. Sie sind voll gemein. Übertreiben Sie nicht … bitte.«
(Handy im Büro abgegeben!)
Zweites Handy:
»Kann ich es bitte wiederhaben? Ich wollte nur gucken, wie spät es ist, ich kann die Uhr nicht erkennen.«
(Handy nach der Stunde zurückgegeben.)
Drittes Handy:
Während der Hofaufsicht: »Ich habe mit meiner Mutter telefoniert. War voll wichtig.«
Ich stecke das Handy ein. Dort klingelt es. Ich gucke auf das Display: »Aha, und deine Mutter heißt Volkan, ja?«
Theatralischer Auftritt der jungen Dame: »Suuuper, jetzt wo ich gerade ins Heim komme, nehmen SIE mir auch noch das Handy ab. Toll!«
Ich: ???
(Handy im Büro abgegeben.)
In meiner Klasse erzähle ich von den einkassierten Handys. Und dann: »Maria, das ist doch wohl kein Handy da in deiner Hand, oder? Ich habe heute schon drei Handys abgenommen. Soll das das vierte sein?«
Anil: »Aber Sie haben doch eben gesagt, dass Sie nur zwei abgegeben haben, was denn nun? Zwei oder drei? Entscheiden Sie sich mal.«
»Ich habe drei Handys abgenommen und zwei davon im Büro abgegeben.«
Anil, smarter Junge, aus dem wird noch was.
Aber mir ist kalt
In der garstigen 8. Klasse, die ich seit Schuljahresbeginn in Englisch unterrichten muss, zerstören seit Wochen drei Leute systematisch den Unterricht. Der Rest der Klasse ist eigentlich recht harmlos. Langsam denke ich, dass die Garstigkeit dieser Gruppe alleine von den drei Quertreibern ausgeht. Die betreten doch schon den Raum mit der Absicht, alles kaputtzumachen. Aber das hat jetzt ein Ende. Von diesen kleinen Ratten lasse ich mir nicht den ganzen Unterricht zerstören. Ab heute schlage ich zurück!
Die drei Deppen (Hamsa, Emre und Kufa) kommen rein. Mit Emre »Chill mal dein Leben« habe ich ja schon seit August Schwierigkeiten – wie auch alle anderen Kollegen. Deshalb hatte er auch neulich eine Klassenkonferenz und hält seitdem eigentlich die Füße still. Aber dafür proben die beiden anderen den Aufstand.
Am Vortag: »So, guten Morgen. Emre, Hamsa, Kufa, zieht mal eure Jacken aus und nehmt eure Bücher und die Workbooks raus. Ich werde jetzt erst mal kontrollieren, wer sein Arbeitsmaterial dabeihat. Fatma, okay, Halid, okay, Sandy, okay, Kufa – kein Buch, ach so, okay, also doch ein Buch, Emre, okay, Hamsa, wo ist dein Buch, aha, und jetzt soll bitte Kufa noch mal sein Buch hochhalten und Emre auch. Aha, ein Buch und das gehört euch dreien, ja? Okay, Kufa und Hamsa also ohne Buch. Hamsa, zieh jetzt bitte deine Jacke aus. Ich habe das gerade schon gesagt.«
»Aber mir ist kalt.«
In meinem Raum sind es bestimmt 30 Grad. Alle Heizungen laufen volle Pulle. Außerdem haben bereits drei andere Klassen ihre Körperwärme dagelassen.
»Hier ist es nicht kalt. Zieh die Jacke aus!«
»Aber ich habe nur eine Weste drunter. Mir ist kalt.«
Jetzt mischt sich Emre ein: »Er muss die Jacke nicht ausziehen.«
»Ach, muss er nicht, ja?«
»Nee, muss er nicht.«
»Emre, das geht dich gar nichts an. Hamsa, zieh jetzt die Jacke aus.«
Hamsa bewegt sich nicht. Er bleibt in seiner Jacke hocken und grinst siegessicher. Das sieht Kufa, den ich mit Müh und Not dazu bringen konnte, sich nicht neben Hamsa zu setzen. Kufa hatte seine Jacke bereits ausgezogen und über seinen Stuhl gehängt. Jetzt nimmt er sie, grinst Hamsa zu und zieht sie wieder an. Das ist ja wohl die Höhe! Na wartet, ihr Bürschchen. Nicht mit mir! Ihr wollt Krieg? Könnt ihr haben. In meiner Pause setze ich mich an den Computer:
Schnell kopiert, in die Schülerakten geheftet und die Originale weggeschickt. In der Mittagspause sehe ich Hamsa und Kufa auf dem Hof. Im Vorbeigehen sage ich, dass ich ihre Eltern informieren werde.
»Oh nein, bitte, letzte Chance, bitte.« Kufa windet sich. »Bitte, wenn ich in der nächsten Stunde, ich versprechen Ihnen …«
Pah! Ich gehe einfach weiter. Wollen doch mal sehen, wer am Ende die Jacke anbehält.
Die Kacke mit der Jacke
In meinem Unterricht gibt es eine Kleiderordnung. Wird es draußen kalt, trägt der gemeine Schüler Jacke. Die Bandbreite ist groß: Polyestermäntelchen, Jeansjacken, Lederjacken und auch total dicke Daunenjacken. Im Winter wird die Jacke für so manchen Schüler zum Haus. Wie eine Schnecke verkriecht er sich darin. Der normale Mensch zieht seine Jacke aus, wenn er sich in geschlossenen Räumen aufhält – nicht so besagter Schüler. Die Gründe, warum Schüler ihre Jacken im Unterricht anbehalten wollen, sind unterschiedlich. Hier die acht häufigsten:
- Es ist in dem Raum kalt und der Schüler friert.
- Ein Schüler – eine Schülerin – schämt sich seiner Körpermaße und möchte sich möglichst flächendeckend verhüllen, da er sich nicht unsichtbar machen kann.
- Der Schüler ist so stolz auf die Jacke, dass er möchte, dass man sie die ganze Stunde lang sieht.
- Das Jackeausziehen ist dem Schüler zu anstrengend.
- Der Schüler denkt, dass der Unterricht schneller vergeht, wenn er die Jacke anbehält.
- Die Jacke ist so warm, dass der Schüler darunter nur ein T-Shirt trägt und ohne Jacke frieren würde.
- Der Schüler wird von seinen Mitschülern geärgert und empfindet die Jacke als Schutzpanzer. So ein Schüler hat auch gerne seine Sweatshirt-Kapuze auf.
- Der Schüler weiß, dass der Lehrer möchte, dass jeder ohne Jacke im Raum sitzt, und lässt deshalb die Jacke an. Er verstößt bewusst gegen die Regel »Jacken aus im Unterrichtsraum«, weil er den Lehrer austesten will. Passiert nichts, kann er in der nächsten Stunde eine weitere Regel aushöhlen, etwa im Unterricht essen und trinken, Musik hören oder mit dem Handy spielen.
Eine Lehrer-Provokation mit dem »Jacke anbehalten« zu beginnen ist keine dumme Idee, denn so kann man sich erst mal mit einem kleinen »Mir ist aber kalt«-Geplänkel warmlaufen. Holt man gleich das Handy raus, verstößt man zu offensichtlich gegen die Regeln, dann ist der Spaß zu schnell vorbei.
Der erfahrene Lehrer kann schnell erkennen, zu welchem Jackeanbehalte-Typ ein Schüler gehört. Die dünnen Stoffmäntelchen der dickeren Mädchen übersehe ich schon mal, denn da ist klar, dass die das Hüftgold verstecken sollen.
Mein Freund Hamsa aus der Achten – welcher Jacken-Typ ist der denn wohl? Dick ist er nicht, geärgert wird er nicht, kalt kann ihm in dem überheizten Raum auch nicht sein. Richtig: Er will lediglich provozieren, und das nicht zum ersten Mal. Der möchte sich mit mir messen, und das kann er haben.
Ein Tipp für die Junglehrer: Man bringt euch immer bei, dass die Schüler sich an die Regeln halten, wenn man sie gemeinsam erarbeitet. Im Grund stimmt das schon, ich habe mit meinen Klassen auch immer ganz herrliche Klassenregeln erstellt. Es gibt aber Regeln, die man nicht mit Schülern entwickelt. Und dazu gehört: Jacke aus im Unterricht. Manche Dinge sind einfach nicht verhandelbar. Wir einigen uns ja auch nicht gemeinsam darauf, dass »wir niemanden aus der Klasse erstechen«.
Vier Minuten
Vier Minuten! Nur vier Minuten hat es gedauert von der Ansage, dass wir jetzt vom Eis müssen, bis ich mit meinem Perso abmarschbereit inmitten meiner Klasse stehe. Und in diesen vier Minuten sind sie nicht nur alle sofort und ohne zu murren von der Bahn gekommen, nein, sie haben auch ohne große Umwege und Verzögerungen ihre Schlittschuhe ausgezogen und zur Abgabe gebracht. Respekt, liebe Klasse!
Vor drei Jahren bin ich fast eine halbe Stunde hinter meinen Schülern hergefahren: »Marcella, wir müssen gehen, kommt jetzt mal runter!«
»Nur noch ein Runde!«, und weg waren sie. Schrecklich. Nichts hatte ich im Griff. Und jetzt: vier Minuten! Ich bin immer noch tief durchdrungen von pädagogischem Stolz. Als hätten sie das Abitur bestanden.
Mit meiner neuen Klasse läuft es echt gut. Auch außerhalb der Schule. Nicht einmal habe ich mich für die geschämt. Für meine alte Klasse habe ich mich sogar geschämt, wenn sie gar nicht da waren.
Und meine neue Klasse? Alle kommen pünktlich und haben ihr Geld dabei. Wir gehen gesittet durch die Absperrung am Eingang. Ohne Schubsen und Drängeln. Es sind ungefähr tausend andere Klassen auf der Eisbahn. Jede Schule der Stadt hat heute Wandertag. Das kann natürlich nicht sein, aber so kommt es mir vor. Wir warten geschlagene 45 Minuten in einer Schlange, um die Schlittschuhe zu bekommen, und nichts passiert. Ich unterhalte mich mit Taifun und Volkan. Keiner stresst, niemand heult und alle sind herrlichst gechillt. Das sieht auch der Mann an dem Fenster, an dem man eigentlich nur die nicht passenden Schlittschuhe umtauschen soll. Er guckt mich an und fragt: »Haben Sie Ihre Klasse im Griff?« Ich schaue meine Schüler an, dann den Mann und nicke: »Denke schon.« – »Na, dann kommen Sie mal her.«
Gegen jede Schlittschuhbahnausführungsvorschrift gibt er uns am Umtauschfenster die Schlittschuhe raus. Das erspart uns bestimmt 30 Minuten Wartezeit.
Dann helfe ich einigen Schülern in die Schlittschuhe. So muss das im Kindergarten sein. Vor zappelnden dünnen Beinchen hocken und Schnürsenkel zubinden. Volkan lernt, dass man mit halbzugebundenen Schuhen nicht so gut laufen kann – obwohl es cooler aussieht.
Irgendwann kommt sogar noch die Sonne raus. Keine besonderen Vorkommnisse. Das Leben kann so einfach sein.
Wie hässlich!
»Wie hässlich!«, zischt Belinda beleidigt vor sich hin. Ich habe ihr einen Brief weggenommen, den sie heimlich während der mündlichen Phase meines schlechten Unterrichts geschrieben hat. Eigentlich ist in dieser grauenhaften 8. Klasse immer mündliche Phase – jedenfalls für die Schüler.
Ich bin stinksauer, weil Belinda sich einfach an MEINEN Notizzetteln, die auf meinem Schreibtisch stehen, bedient hat. Jetzt ist es ihr enorm peinlich, dass sich ihre Liebesverwirrungen in meiner Hosentasche befinden. Eigentlich ist Belinda immer darauf bedacht, gut mitzuarbeiten, oder jedenfalls den Anschein zu vermitteln. Sie fragt ständig, ob sie gut mitgemacht habe. Heute nicht. Heute schmollt sie und zischt: »Wie hässlich.« Sie meint mich, aber sie ist zum Glück schlau genug, um nicht »ist die hässlich« zu sagen. So muss ich nicht reagieren und sie bekommt keinen Ärger.
Seitdem Kufa und Hamsa ihre Briefe bekommen haben, ziehen sie von selbst ihre Jacken aus und haben auch immer ihr Arbeitsmaterial dabei. An der Mitarbeit und dem Nicht-Stören müssen wir aber noch arbeiten. Insgesamt ist es in der Klasse etwas ruhiger geworden, Spaß macht es uns allen trotzdem nicht. Durch meine nervende Colonel- (sprich: Körnel-)Art verderbe ich es mir auch noch mit den ruhigen, lieben Schülern. Ich muss aufpassen, dass das nicht einreißt. Wenn ich die ganze Klasse gegen mich habe, wird das nichts mehr.
In der Mittagspause
versuche ich, mich vom Unterricht zu erholen. Fällt mir
schwer, denn ich habe Hofaufsicht. Aber die Sonne scheint, es ist
friedlich, und da kommt zum Glück auch Anita, der ich mein Leid
klagen kann. Sie hatte die blöde 8. Klasse auch mal in Deutsch
und war heilfroh, sie dieses Jahr abgeben zu können. Aber sie
kann sich an die Schüler noch gut erinnern, und ich klage ihr jeden
Montag mein
Leid.
»Oha, heute war schlimm. Nicht nur, dass die so lahm sind, ich frage die, wie das große Land über den USA heißt, und da sagt Miriam: Los Angeles. Wo soll ich denn da anfangen? Ich frage nach dem größten See in den USA. Die sitzen vor einer Landkarte, und da zeigt Belinda auf den Mississippi. Oh Mann, ich habe gerade meinen Tiefpunkt. Mist! Und ich muss noch bis halb fünf weitermachen.«
Ich jammere und jammere. Von weitem sehe ich Dschinges mit einem Freund auf uns zukommen. Dschinges hatte ich zwei Jahre nacheinander in Kunst in der 7. Klasse, er war oft nervig mit seinem ADHS, aber auch ganz schön süß. Schlau ist er außerdem. Er grinst. Ich grinse zurück. Wenigstens grinst mich noch irgendein Schüler an. Diese Achten sind kurz davor, mich zu lynchen.
»Frau Freitag!«, schreit mir Dschinges schon von weitem entgegen.
»Dschinges!«, antworte ich genauso laut.
Jetzt stellt er sich vor Anita und mich: »Frau Freitag, ich find’s sooo schade, dass ich nicht mehr bei Ihnen Kunst habe. Wirklich!«
»Dschinges, ich find’s auch schade.«
»Frau Freitag, ganz ehrlich, Sie sind die beste Lehrerin, die’s gibt.«
»Danke, Dschinges.« Ich denke an die grauenhafte Stunde, die ich gerade hinter mir habe.
Dschinges geht weiter. Irgendwann dreht er sich noch mal um und schreit: »Frau Freitag, ein Kuss auf Ihr Herz.«
Hände hoch!
Müde, kalt, faul. Ich rufe Fräulein Krise an. Sie muss erst mal was essen, sie ist »grad erst reingekommen«. Fräulein Krise hat so bestimmte Sätze, die sie immer wieder sagt. Ihr Top-Satz: »Hör mal!« Den schaltet sie vor alles, was sie einem erzählen will. Wenn sie nichts mehr erzählen oder hören will, sagt sie: »Du, ich muss dich mal aus der Leitung schmeißen.« Gerne fragt das Fräulein auch: »Bist du jeck?« Keine Ahnung, was das heißt – muss irgendwas Finnisches sein. Und dann natürlich: »Gib mal eine!«.
Ich sage auch immer die gleichen Sätze. Wenn man nur zehn Sätze haben dürfte, dann wären meine wahrscheinlich diese hier:
»Gib mal!«
»Wo sind meine Zigaretten?«
»Was gibt’s zu essen?«
»Haben wir noch Wasser?«
»Schalt mal um, ist langweilig.«
»Sag, ich bin nicht da oder ich schlafe schon.«
»Schmeckt super, danke!«
»Räumst du das noch weg?«
»Ich komme so gegen fünf.«
»Gute Nacht.«
Und für die Schule:
»Nein.«
»Ja.«
»Sch!«
»Quiet, please.«
»Noch 5/6/7 Wochen.«
»Muss ja, muss ja.«
»So.«
»Kommst du mit rauchen?«
»Ihr geht mir auf die Ketten.«
»Schönes Wochenende/schöne Ferien.«
Ich möchte neue Sätze. Wie wäre es mit diesen hier:
»Der Nächste bitte.«
»Hände hoch!«
»Machen Sie sich schon mal frei.«
»Ich habe mit Sunny gesprochen, da ist leider nichts zu machen.«
»Franky, we got to talk.«
»Nehm ich!«
»Frau Meier bitte an Kasse 7.«
»Möchten Sie eine Tüte?«
»Haben Sie noch etwas zu Ihrer Verteidigung zu sagen?«
»Zuuurückbleiben!«
Schön wäre ein Berufsalltag mit diesen täglichen Sätzen:
»Ach nein, das wäre doch nicht nötig gewesen.«
»Sind Sie sicher, dass Sie das übernehmen möchten?«
»Key West, herrlich, das passt mir gut.«
»Schon die 48. Auflage, ist ja toll!«
»Ich danke der Produktionsfirma, meiner Familie …«
»Die Erde sieht von hier oben sehr klein und friedlich aus.«
»Yes, we can!«
»Frau Freitag, bitte in mein Büro.«
»Fahren Sie bitte rechts ran, und legen Sie die Hände aufs Lenkrad.«
»Das Traumhaus gewinnt das Los mit der Endnummer 1843470347947.«
Für heute bleiben mir noch zehn Wörter: kalt, Kopf, müde, dunkel, Dexter, Yoga, Strumpf, Aschenbecher, gute Nacht.
Ibo hat immer Hunger
Ibo sitzt am Tisch vor dem Lehrerzimmer. In sich zusammengesunken sitzt er da. Ihm gegenüber seine Klassenlehrerin, die wild auf ihn einredet. An der schmalen Tischkante ein älterer Mann mit schütterem Haar. Ich sehe ihn nur von hinten, aber die Szene erschließt sich mir sofort: Ibo bekommt einen Einlauf, in Anwesenheit seines Erziehungsberechtigten. Genussvoll nähere ich mich dem Trio. Ibo sieht mich und bekommt einen Schreck. Kurz bevor ich ins Lehrerzimmer abbiege, beuge ich mich noch zu Ibos Vater runter: »Ah, Sie sind Ibos Vater?« Er grinst mich flüchtig an, nimmt meine ausgestreckte Hand und erhebt sich kurz.
»Ich bin Frau Freitag, ich bin die Englischlehrerin von Ibo. Läuft nicht gut.« Ich schaue schnell zu Ibo. Message verstanden? Guckstu Ibo, ich habe mich deinem Vater schon vorgestellt. Die Hemmschwelle, ihn deinetwegen noch mal hierher zu bestellen, ist gerade erheblich gesunken. Dann begebe ich mich gut gelaunt zu meinen Lehrerkollegen: »Guten Morgen, allerseits.«
Ibos Verhalten hat sich nicht merklich verbessert. Eine Woche zuvor hatte er deshalb schon eine Klassenkonferenz. Verena arbeitet wahrscheinlich schon an seinem Rauswurf. Der darf auf gar keinen Fall in meine Klasse kommen. Das halte ich nicht aus.
In der vorletzten Englischstunde kam er zehn Minuten zu spät. Seine Mitschüler arbeiteten bereits, da kommt er rein und steht da, mit den Händen hinterm Rücken. Ich gucke hinter ihn, und da hat er zwei (!) fette Brötchen in den Händen. Ibo kommt grundsätzlich zu spät in meinen Englischunterricht und immer mit Essbarem in der Hand. Also schiebe ich ihn zur Tür und flüstere: »Du kommst hier pünktlich und ohne Essen. Und heute kommst du nicht mehr rein. Setz dich draußen hin.«
Ein paar Minuten später gehe ich raus und gebe ihm die Arbeitsblätter, die die Schüler in dieser Stunde bearbeiten sollen.
30 Minuten später, nachdem er wahrscheinlich seine beiden Brötchen vertilgt hat, macht Ibo die Tür auf: »Kann ich wieder rein?«
Ich gucke mich in der Klasse um. Alle Schüler arbeiten ruhig und konzentriert.
»Nein, heute arbeitest du draußen.«
Am Ende der Stunde lobe ich die Klasse: »Heute habt ihr echt gut mitgemacht.«
»Ibo war ja auch nicht da«, sagt Vanessa.
In der letzten Englischstunde kommt Ibo dann pünktlich und ohne Essen. Allerdings macht er die Hälfte der Stunde nur Mist und kann sich erst in den letzten zehn Minuten dazu durchringen zu arbeiten.
Verena kommt ins Lehrerzimmer.
»War das vorhin Ibos Vater?«
»Ja.«
»Was sagt der denn zu Ibos unmöglichem Verhalten?«
»Der fragt: Was ist denn so schlimm daran, wenn der Junge mit Essen in den Unterricht kommt?«
»Tja, was ist daran so schlimm? Wahrscheinlich hatte er Hunger. Und warum darf er eigentlich nicht seine Jacke anlassen, wenn ihm doch kalt ist?«
Mittelalter – ein
Zustand
am Ende der Woche
»Frau Freitag, was wollen Sie später mal werden?«, fragt Erhan und guckt mich dabei äußerst interessiert über seine schmutzige Brille hinweg an. Er trägt sie immer auf dem unteren Ende der Nase, wodurch er aussieht wie ein Professor.
»Aber Erhan, guck mal, ich bin schon Lehrerin.«
Erhan denkt kurz nach, dann fällt es ihm auch auf.
»Wie heißen Sie mit Vornamen?«, ruft jetzt Taifun von hinten. Wir befinden uns in der Hausaufgabenstunde. Jeder primelt vor sich hin und tut so, als mache er seine Hausaufgaben. Die Mädchen sind bei der Erzieherin und backen Waffeln. Ich habe freitags immer nur die Jungs. Das liegt am getrennten Sportunterricht.
»Frau. Frau ist mein Vorname. Frau Freitag. Frau ist der Vorname, Freitag der Nachname.«
Taifun grinst: »Dann haben alle meine Lehrerinnen den gleichen Vornamen.«
»Hm, haben sie. So, kommt Jungs, jetzt macht mal diese Geschichtsaufgabe zu Ende. Hier, ausschneiden, sortieren und dann aufkleben. Volkan, brauchst du Hilfe?«
Volkan nickt.
»Also, wer steht denn ganz oben?«
»König.«
»Genau. Dann schieb den schon mal da oben hin. Wer kommt dann?«
»Kaufleute?«
»Nee.«
»Ah, Adel.«
»Genau. So, dann guck mal, wer ganz unten ist.«
»Zigeuner.«
»Zigeuner? Hä?«
»Na, hier, Bettler.«
»Ja, Bettler. Aber wieso Zigeuner?«
»Na, sag ich doch, Zigeuner. Bettler.«
Ich erkläre: Sinti, Roma, blablabla, Zigeuner no, no, no. Diskriminierung, Bettler, blablabla. Irgendwann hat er es kapiert.
»So, jetzt die Sprechblasen. Wer sagt was? Lies mal vor.«
»Wir kümmern uns um das Seelenheil der Menschen.«
»Ah, Kirche«
»Aber Kirche gibt es ja hier gar nicht. Hier gibt es nur Menschen.«
»Ah, Geistliche.«
»Richtig. Also schieb mal die Sprechblase dorthin. Was steht denn in den anderen Sprechblasen? Lies mal vor!«
»Wir sind oft Opfer von Ungerechtigkeiten und wir tätigen Geldgeschäfte.« Volkan guckt sich seine Mittelalter-Leute an und schreit dann: »Ich weiß, Kaufleute.«
»Nein, das ist nicht Kaufleute«, mischt sich jetzt Professor Erhan ein. »Das ist Juden.«
»Juden?«, denke ich. Und tatsächlich gibt es neben den leibeigenen Bauern, dem Bettler, dem Adel und den Kaufleuten auch die Juden. Und die zeichnet also aus, dass sie Geldgeschäfte tätigen. Alle, immer und ausschließlich, logo. Was ist das denn für eine Kopiervorlage? Wo kommt die her? Blood and Honor Schulbuch GmbH, oder was?
»Hm, ich glaube, da hat Erhan recht. Leg die Sprechblase mal neben Juden. Den Rest kannst du ja alleine machen.«
»Yussuf, soll ich dir helfen? Zeig mal her.«
»Ich weiß nicht, wo das hier hinkommt.«
»Was steht denn da?«
»Wenn wir noch nicht zum Adel gehören, dann werden wir irgendwann dazu erhoben. Ist das Adel?«
»Nee, kann ja nicht. Ist doch unlogisch, warte mal.«
»Ritter!«, schreit Erhan hinter ihm. Yussuf freut sich über den unerwarteten Geistesblitz von hinten und klebt sofort die Sprechblase auf.
»So, Yussuf, und das hier? – ›Wir leben am Rand der Gesellschaft‹ zu wem gehört das?«
»Kaufleute?«
»Nein, wäre ja lustig, aber nein, die würden so was nicht sagen.«
»Adel?«
»Stimmt zwar irgendwie, aber hier ist der untere Rand gemeint, nicht der obere.«
Vincent meldet sich.
»Vincent?«
»Na hier, das sind die hier: Bettler. Also Zigeuner.«
»Hm, genau.« Freitag 14 Uhr. Die Woche war lang. »Ja, Zigeuner. Kleb das mal hin, Yussuf. Aber mach bitte den Tisch nicht dreckig.«
Au Kacke, die Backe
Au Backe, ich werde operiert, ich bekomme ein Implantat. Morgens gehe ich noch in die Schule.
»Warum fehlen Sie heute, wenn Sie doch da sind?«, will Anil wissen. Ich zeige ihm meine Zahnlücke und stammele mit Finger im Mund »Ischwerdheuteobberriiiert«. Erst macht sich Mitleid in den Kindergesichtern breit, dann aber maßlose Freude darüber, dass deshalb die Kunststunde ausfällt. Die Schüler gehen nach Hause und ich zum Zahnarzt. Was mich da erwartet – keine Ahnung. Knochenaufbau. Wie der das machen will, ist mir absolut schleierhaft. Ich weigere mich seit Wochen, diese Faltblätter zu lesen, die mir der Herr Doktor gegeben hat. Der Kommentar meiner Schwester, als ich erzählte, dass ich mir ein Implantat machen lasse: »Ich dachte, der Trend geht zur Zahnlücke.«
Erst fallen einem die Zähne aus und dann … was soll dann noch kommen? Tod und vorher keine Rente kriegen. Angst vor den Schmerzen habe ich nicht und der Zahnarzt oder besser – der Oralchirurg – sieht aus wie Herr Müller-Meyer-Wohlfahrt in jung. Nett ist er, ganz entspannt, einfühlend, easy und sehr gepflegt. Ein Mann, in den sich Frauen im besten Alter verlieben könnten. Ich werde das nicht tun. Ich könnte mich nicht in einen Typen verlieben, der sein Geld damit verdient, mir Löcher in den Kiefer zu bohren. Dexter! Dexter ist nicht so attraktiv. Aber der macht seine Sache auch gut. Der ist ja neben seiner Tätigkeit als Killer auch noch Blutspezialist. Das kann der echt gut, Blutspritzer analysieren.
Der Deutschlehrer sagte neulich: »Im Mittelalter wäre ich mit meinem Gebiss jetzt schon tot.« Und recht hat er. Da können wir aber sehr dankbar sein, dass wir heute so eine gute zahnmedizinische Versorgung in Deutschland haben, dass wir nicht mehr an Wurzelentzündungen sterben müssen.
»Und hier, warten Sie, ich schreibe Ihnen noch meine Privatnummer auf. Da können Sie mich JEDERZEIT anrufen«, sagt Dr. Müller-Meyer-Wohlfahrt und schiebt mir den Zettel mit den Wie-man-sich-nach-einem-Implantat-verhält-Regeln rüber. Ich schiele kurz drauf, um ihn nicht angucken zu müssen. Mein Mund ist von der Betäubung noch völlig schief. Im Flur hängt ein Spiegel. Hab voll den Schock gekriegt, als ich mich gesehen hab. Ich sehe aus wie nach einem Schlaganfall.
Während ich noch lese: »Fünf Tage nach der OP keinen Alkohol trinken und nicht rauchen«, gucke ich kurz zu Dr. Müller-Meyer-Wohlfahrt. Er steht immer noch neben mir und faselt irgendwas über Antibiotika. Ich will mich bei ihm bedanken, halte ihm meine Hand hin und sage: »Das haben Sie sehr schön gemacht.« Sagt man das zu seinem Zahnarzt? »Sie haben auch sehr schön mitgemacht«, sagt er und schüttelt meine Hand.
Mitgemacht ist gut. Mehr als durch die Nase atmen und eine Stunde lang den Mund offen halten habe ich ja nicht gemacht. Die Hauptarbeit lag eher bei ihm.
»Und dann mach bitte einer noch mal Musik an«, säuselte er gleich, nachdem er mir die Spritze in den Kiefer gerammt hatte. Aber sein entspanntes Mitsummen hat mich tatsächlich beruhigt. Easy listening and heavy breathing. Gar nicht so leicht zu atmen, wenn man mit dem Kopf nach unten liegt und einem literweise Blut in den Rachen läuft. Bei Dexter wurde gerade eine Frau, die so ein Serienkiller gefangen hielt, tagelang mit Blut gefüttert. So schmeckt das also. Diese Geräusche, als der Doc mir das Zahnfleisch aufschneidet und dann nach oben schiebt, um Platz für seinen Knochenaufbau zu schaffen – alles voll Dexter. Nur die Arzthelferin hat irgendwie gestört. Die hat sich immer zu doll auf mich draufgelehnt, und wenn sie mich angesprochen hat, dann immer sehr laut, als wäre ich eine Omi im Altersheim und schon leicht debil. Dr. Müller-Meyer-Wohlfahrt und ich hätten das auch ohne sie hingekriegt, da bin ich mir ganz sicher.
Stolz, dass wir das alle so gut gemeistert haben, begebe ich mich nach Hause. Mein Freund lacht sich schlapp über meinen schiefen Mund. Sagt dann aber: »Ich würde dich auch lieben, wenn du der Elefantenmensch wärst.«
Am nächsten Morgen wache ich auf und sehe noch genauso scheiße aus wie am Vortag. Einseitige Elefantiasis, als hätte ich das gesamte Abendessen von zwei Tagen in meiner Backe gebunkert. Also gehe ich nicht zur Arbeit. Dafür aber zur Bank. Mal kurz raus, draußen ist Winter. Da wird die Backe ja von selbst gekühlt.
»Hallo, ich bin Lehrerin. Ich bräuchte so ein kostenloses Konto, wo ich Geld hin überweisen und es dann abheben kann. Früher hießen die Klassenfahrtskonten. Haben Sie so was?«
Der Bankangestellte lehnt sich zurück. Er trägt einen Anzug – nicht ungewöhnlich für einen, der in einer Bank arbeitet. Ich trage eine Mütze, die ich auch nicht absetzen will, weil ich mir die Haare nicht gewaschen habe. Ich habe auch noch das T-Shirt an, in dem ich geschlafen hab – eigentlich bin ich ja krank und liege den ganzen Tag auf der Couch. Ich wollte halt nur mal kurz raus.
»Also, so ein Konto … auf das Geld überwiesen werden soll? Aber nicht Ihr Geld?«
»Nein, also, das Geld kommt von der Schule.«
»Von der Schule?«
»Ja, also, vielleicht haben Sie davon gehört, es gibt doch jetzt so ein Bildungs- und Teilhabepaket – da bekommen Kinder von Hartz-IV-Empfängern die Ausflüge und Klassenfahrten bezahlt. Da wird dann das Geld vom Jobcenter zur Schule überwiesen, auf das Konto der Lehrer, und ich hebe es ab und gebe es den Kindern zurück. Ich will dafür aber nicht mein Girokonto nehmen.«
»Haben Sie das denn schon mit dem Finanzamt besprochen?«
»Finanzamt? Wieso Finanzamt?«
»Na, da fallen doch Zinsen an. Die Bank muss das ans Finanzamt melden. Und Sie müssen dann erklären, wo Sie das Geld herhaben.«
»Wieso Zinsen? Das Geld, das da draufkommt, hebe ich doch sofort wieder ab.«
»Ja, aber es fallen trotzdem Zinsen an. Vielleicht nur 10 Cent. Aber immerhin. Das müssen wir dem Finanzamt melden.«
Hä? Was erzählt der denn da. Der hat vielleicht auch falsche Vorstellungen davon, wie viel Geld bei so einem Wandertag zusammenkommt. Oder er hat nur keinen Bock, mir ein Konto einzurichten. Er lehnt sich in seinem Drehstuhl nach hinten. So ein Stuhl, bei dem die Lehne flexibel ist. Er hat einen silbernen Kugelschreiber in der Hand und spielt mit dem rum. Ich denke nach. Er starrt mich an.
Plötzlich beugt er sich vor: »Hatten Sie einen Zahneingriff?«
Ich fass sofort an meine geschwollene Backe. Die ist total heiß. »Äh ja, ein Implantat. Vorgestern.«
»Oh ja, das kann schlimm sein. Das dauert. Meine Schwägerin hat Wochen damit zugebracht.«
»Wochen? »
»Ja, aber da war auch alles vereitert.«
Vereitert. Ich will nur noch raus. Der Kiefer puckert.
Er erhebt sich und kommt auf mich zu: »Fragen Sie erst mal bei Ihrem Finanzamt nach. Dann machen wir so ein Konto. Aber Sie sollten sich wirklich vorher erkundigen.«
»Hm, mach ich. Danke.«
Ich gebe ihm die Hand und gehe.
Später denke ich: Eigentlich unverschämt, was der da gesagt hat. Was wäre denn gewesen, wenn ich immer so schräg aussehen würde? »Nein, keine OP. Ich habe so ein einseitig aufgedunsenes Gesicht. Haben Sie was dagegen?«
Vielleicht schwillt meine Wange auch nie wieder ab. Ich will eigentlich am nächsten Tag wieder zur Schule gehen. Als mich eine Freundin kurz besucht, meint sie, dass meinen Schülern wahrscheinlich die geistige Reife fehle, um angemessen mit meinem Anblick umzugehen. Vielleicht hat sie recht – wenn schon der Banker nicht an sich halten kann, wie sollen das dann Ibo, Kufa und Anil schaffen?
Da müsst ihr schon früher aufstehen!
»So, jetzt holt mal ein leeres Blatt raus und schreibt euren Namen und das Datum drauf«, sage ich an einem Freitag zu der doofen Achten.
»Wie?«
»Na, wir schreiben jetzt den Vokabeltest. Hatte ich doch letzte Stunde angekündigt.« Oh, Mann, die gehen mir auf den Geist.
»Wie, Vokabeltest? Wir dachten, Sie wären heute nicht da.«
»Wieso dachtet ihr das? Ich bin doch hier.«
»Aber Sie standen gestern auf dem Vertretungsplan. Da stand, dass Sie heute nicht da sind.«
Wir befinden uns in der ersten Stunde des Tages. Alle Schüler des Kurses sind anwesend.
»So, so, ich stand also auf dem Vertretungsplan. Und weshalb seid ihr dann jetzt hier und nicht zu Hause geblieben?«
»Na, da stand, dass wir in den Freizeitbereich gehen sollen.«
Jetzt wird es interessant. Weshalb sollte auf dem Vertretungsplan am Donnerstag stehen, dass die erste Stunde am Freitag ausfällt, die Schüler aber trotzdem um 8 Uhr in die Schule kommen sollen, um dann mit ihrer Anwesenheit den Freizeitbereich zu verstopfen?
»Da stand doch, wie ihr sagt, dass Englisch heute ausfällt. Warum seid ihr dann heute alle hier?«
»Na, da stand zwar Ausfall, aber da stand ja auch, dass wir in den Freizeit …«
»Okay, Schluss, ich kontrolliere jetzt erst mal die Anwesenheit und euer Material. Ali, zeig mal dein Buch und dein Workbook, okay, Gamze, okay …«
Alle haben ihre Englischsachen mit. Wer bringt denn bitte Englischsachen mit, wenn er weiß, dass die Stunde ausfällt? Diese Unlogik können sie mir nicht erklären. Die Schüler sind zu leisem Murren übergegangen.
»Okay, ich mache euch einen Vorschlag. Wir schreiben jetzt den Test, und ich überprüfe den Vertretungsplan. Wenn ich da fälschlicherweise doch draufstand, schreiben wir den Test am Dienstag noch mal.«
Damit sind alle einverstanden. Ich teste und stelle bei der Korrektur fest, dass mal wieder nur ein Schüler gelernt hat. Er bekommt seine obligatorische Eins. Alle anderen eine Fünf oder eine Sechs.
Nach der Stunde gehe ich sofort ins Büro und lasse mir den Vertretungsplan vom Vortag ausdrucken.
»Kann das sein, dass ich da gestern draufstand?«, frage ich die Sekretärin. »Nein, das hier ist genau der Plan, der draußen hing. Wie du siehst, stehst du nicht drauf.«
Diese kleinen Schlawiner, die können was erleben. Denken die, ich wäre so leicht zu verarschen?
Am nächsten Dienstag habe ich wieder Englisch in der besagten Achten. Ich gehe den Gang entlang.
»Schreiben wir jetzt den Vokabeltest nach?«
»Wie?«
»Na, Sie haben doch gesagt, dass wir den Test noch mal schreiben.«
»Ja, stimmt, ich sagte, wenn ich wirklich auf dem Vertretungsplan stand, dann wiederholen wir den Test.«
»Na, sag ich doch, also schreiben wir den jetzt.«
In der Klasse lege ich meine Sachen aufs Pult und hole den Vertretungsplan aus meinem Hefter.
»So, wenn ihr mir hier drauf meinen Namen zeigen könnt, dann schreiben wir den Test noch mal.«
Können sie nicht. Als ich mit dem Unterricht anfangen will, fangen sie wieder an zu plärren: »Aber Sie standen drauf! Wirklich!«
»Nein, hier guckt! Ich stehe da nicht drauf.«
»Doch, das war bei Facebook.«
»Facebook?«
»Ali hat das fotografiert und auf Facebook gestellt.«
Ali holt sein Handy raus, hält es mir entgegen und schreit: »Ja, das stimmt. Hier, soll ich Ihnen zeigen?«
»Ja, zeig mir das.«
Ali sucht minutenlang in seinem Handy und findet: nichts.
Ich fange mit dem Unterricht an und denke: Ha! Eins zu null für mich.
Der Julklapp nervt schon wieder
Endjahresmüdigkeit. Langsam fängt die Schule an zu nerven. Hätte ich was zu sagen, wäre morgen der erste Weihnachtsferientag.
Mein Hals kratzt. Krank werden würde ja so was von nicht fetzen. Meine Klasse besteht derzeit nur noch aus sechzehn Schülern. Alle anderen sind krank. Groß in Mode ist bei denen momentan, sich während des Unterrichtstages nach Hause schicken zu lassen. Sie müssen sich dann zwar abholen lassen, aber das scheint weder Eltern noch Kinder zu stören. Wie soll das Ende der Woche mit dem Julklapp werden, wenn die Hälfte der Klasse fehlt? Zum Glück haben die Schüler nur Zahlen und keine Namen gezogen. Sie wissen lediglich, ob sie ein Mädchen oder einen Jungen beschenken müssen. Ich habe Bella gezogen. Beim Ziehen habe ich genau hingeguckt, dass ich einen Zettel mit roter Nummer erwische. Einen Jungen zu beschenken – das fehlt noch … Was weiß ich denn, was die sich wünschen.
Da ich als Einzige den Überblick habe, wer am Ende wen beschenkt, lastet auf mir mal wieder die Hauptverantwortung. Ich darf am Freitag nicht krank sein. Aber ein Geschenk habe ich noch nicht. Meine Erzieherin Heike hat mich gezogen, aber das ahnt sie nicht.
»Du, Heike, weißt du schon, was du für Julklapp kaufst?«
»Wie? Ich hab doch schon alles zusammen.«
»Echt? Was denn?«, frage ich ganz scheinheilig.
»Also, so Aufkleber fürs Handy, ein Armband aus so bunten Glasperlen, Filzstifte und ganz flauschige Handschuhe in pink.«
»Hm, klingt ja super«, sage ich. Wohl etwas zu nachdenklich, denn jetzt guckt sie mich skeptisch an.
»Ich hab doch nicht dich gezogen, oder?«
»Doch.«
»Na, Filzstifte … die kannst du doch gebrauchen. Und die Handschuhe sind echt schön. Zeig mal deine Hände. Süüüß, voll klein, die passen dir bestimmt.«
»Na, ich dachte, dass du vielleicht Bella beschenkst, und ich dann nichts hole und eben auch nichts bekomme. Ich brauche nichts – und mir fällt auch nichts für Bella ein.«
»Aber die Handschuhe würden dir bestimmt gefallen.«
»Na gut, ich überleg es mir noch mal.«
Was wohl die anderen kaufen? Die Mädchen haben zum größten Teil ihre Geschenke schon zusammen. Und die Jungs?
»Volkan, hast du einen Jungen oder ein Mädchen gezogen?«
»Jungen.«
»Und was schenkst du? Weißt du das schon?«
»Cola.«
Cola? Vielleicht hätte ich doch einen Jungen ziehen sollen. Ein paar Flaschen Limo einkaufen und schön verpacken, das hätte ich auch noch hinbekommen.
Und wieso habe ich eigentlich so großspurig erklärt, dass ich Kekse backen werde? Warum bringe ich nicht einfach eine Packung Gouda mit? Würde vollkommen reichen. Wen will ich denn mit meinen Keksen beeindrucken? Als ich das so tollkühn versprochen habe, war mir irgendwie nicht klar, dass ich es dann auch wirklich machen muss. Und genau zu dem Zeitpunkt, wenn ich anfangen sollte, wahrscheinlich keine Lust dazu habe. Nämlich jetzt.
Die Butter ist noch zu hart, in der Küche kommt es mir irgendwie kalt vor, und mein Hals kratzt noch immer. Ich will lieber auf die Couch und fernsehen. Und ein Julklappgeschenk fehlt mir auch noch. Ich habe sogar meinen Schreibtisch abgesucht, und dabei fiel mir die Federtasche, die ich letztes Jahr verschenken wollte, in die Hände. Jeansstoff mit gelbem Stern. Mir war so, als hätte ich damals auch voll viele Stifte gekauft, die noch irgendwo in meinem Schreibtisch rumliegen müssen. Tun sie aber gar nicht. Und jetzt noch rausgehen, wo ich doch schon in Jogginghose bin – das kommt doch Waterboarding nahe. Okay, okay, zu hart. Aber das wäre wie freiwillig zum Zahnarzt gehen oder eine Mathearbeit schreiben.
Tagsüber bin ich nur noch durch die Schule geschlichen. In der Pause treffe ich auf Herrn Werner. Wir gehen rauchen.
»Du, langsam reicht’s, oder?«, frage ich.
»Langsam? Ich kann schon seit zwei Wochen nicht mehr.«
Anderen Kollegen, die sich in Zeitlupe über die Gänge Richtung Lehrerzimmer schleppen, flüstere ich zu: »Das halten wir jetzt noch durch, oder?« Sie gucken mich an und lächeln gequält. Fräulein Krise chillt zu Hause. Sie hat Knie und Knie heilt nie. Die macht das richtig.
Herr Werner rechnet mir aus, wie kurz die Ferien eigentlich nur sind und dass sie auf gar keinen Fall Erholungswert haben werden. »Meinste echt? Ich brauche aber Erholung.«
Er zieht nur die Schultern hoch: »Tja, …«
Wenigstens habe ich schon die Englischarbeit meiner Klasse korrigiert. Wenn mir jetzt noch jemand die Kekse backen würde … Ich habe den Deutschlehrer angerufen, ob er mitmachen will – Kekse backen und Kekse essen. Wider Erwarten meint er, er komme mal rum. Aber erst in einer halben Stunde. Der denkt wohl, dass die Kekse dann gerade aus dem Ofen kommen. Nix da. Dann warte ich eben noch 30 Minuten.
Scheiß Julklapp, scheiß Kekse, scheiß Kein-Geschenk-Haben, scheiß Schule, scheiß Arbeiten-gehen-Müssen – ich hab keinen Bock mehr!
Mädchen – die besseren Menschen
Am Freitag ist es dann so weit: Julklapp. Nach zwei anstrengenden Stunden mit der doofen Achten und der nervigen Siebten freue ich mich sehr auf die große Pause. Rauchen, ein bisschen mit den Kollegen quatschen, dann ins Lehrerzimmer und noch ein bisschen mit den Nichtraucherkollegen labern, dann zu meinem Fach, dann Vertretungsplan und schwarzes Brett, dann vielleicht noch ein wenig ins Büro und mit der Sekretärin rumerzählen und dann noch mal eine rauchen. So sieht eine normale große Pause für mich aus. Eigentlich habe ich freitags sogar noch eine Freistunde nach der Pause. Die verbringe ich normalerweise bewegungslos auf dem Stuhl am hinteren Tisch im Lehrerzimmer. Gucken, quatschen, nicht bewegen. NORMALERWEISE läuft das alles so. Nicht heute!
Ich will gerade den Raum abschließen und zum Rauchen, da stürzen sich meine Mädchen auf mich: »Oh, Frau Freitag, können wir schon anfangen alles aufzubauen?«
»Aber es ist doch noch Pause.«
»Egal. Bitte!«
Ich schließe wieder auf. Nichts mit Rauchen. In drei Sekunden haben sie die Tische exakt so hingestellt, wie ich mir das vorgestellt habe. Drei Mädchen malen Weihnachtsmänner an die Tafel, andere sägen Tannenzweige klein, der Rest dekoriert den Tisch. Dann werden Gurken, Tomaten und Paprika geschnitten. Ich renne hin und her, hole noch Teller und ein paar Messer aus dem Lehrerzimmer, finde in meinem Schrank noch Becher und Pappteller und sogar Weihnachtsservietten vom letzten Julklapp-Frühstück.
Mit den Mädchen kann man echt alles machen. Die würde ich auch mit nach Hause nehmen und meine Wohnung renovieren lassen. Oder, wie mein Kollege neulich sagte: »Der Hassan ist ein Netter. Den würde ich auf meine Katze aufpassen lassen.« Ja, ich würde alle meine Schülerinnen auf meine Katzen aufpassen lassen, wenn ich welche hätte. Ein Frühstück bereiten die dir echt im Vorbeigehen vor – inklusive Deko und allem.
Die Jungs hingegen – Katastrophe. Der Sportlehrer kommt und bringt mir drei Verletzte: »Vielleicht können die was helfen.« Wie die schon im Weg rumstehen … am liebsten will man sagen: Fasst nichts an, macht keinen Lärm und setzt euch da hinten in die Ecke, bis wir hier fertig sind. Jungs sehen auch nicht, was noch gemacht werden soll. Oder sie sehen es, machen es aber nicht. Ach, wie schön muss eine Mädchenschule sein. Ich würde jeden Tag mit den Schülerinnen den Raum putzen und dekorieren, und mindestens einmal in der Woche gäbe es ein Frühstück. Ach, wie schön wäre die Welt nur mit Frauen. Elif schrieb neulich bei Facebook: »Wenn Frauen die Welt regieren würden, gäbe es keine Kriege. Nur ein paar eifersüchtige Länder, die nicht miteinander reden würden. huuhuuhuu.«
Als wir dann endlich essen, wird es ganz still. Mampf, mampf. Zufrieden stopfen sich meine Schüler mit Nutellabrötchen voll und reden über die giftigsten Schlangen der Welt. Die Kerzen brennen, und der Overhead-Projektor leuchtet die Wand an. Es ist weihnachtlich.
»Aber wenn wir aufgegessen haben, dann machen wir die Geschenke, oder?«
»Ja, klar.«
Wir essen und essen. Gepflegt und gesittet. Nur bei Hamid gibt es um den Teller herum eine kleine Eisteeüberschwemmung.
Anil sitzt auch mit am Tisch, obwohl er sich die ganze Woche geweigert hat, etwas zum Frühstücken mitzubringen. Ich habe einfach schnell bei ihm zu Hause angerufen und der Mutter gesagt, dass sie ihm irgendwas mitgeben soll.
»Anil, du wolltest doch dein eigenes Essen mitbringen, hast du gesagt.« Anil beißt gerade in ein Brötchen. »Ich hab was mit.« Er kramt in seinem Rucksack und zieht drei Paprikaschoten raus. »Super, leg die mal auf den Tisch.« Ich grinse die Erzieherin an: »Siehst du, geht doch. Manchmal reicht ein Anruf.«
Dann wird aufgeräumt, und der Julklapp beginnt. Zum Glück habe ich den Deal mit der Erzieherin gemacht, so dass Bella von ihr beschenkt wird, und ich mich um nichts kümmern musste. Die Geschenke stehen alle auf einem Tisch am Fenster. Die Mädchen haben sich große Mühe gegeben. Jedes Geschenk von ihnen ist aufwendig eingewickelt und liegt in einer schönen bunten Schachtel. Fast alle haben auch noch diese kitschigen Weihnachtstüten gekauft. Jeder hat sich Gedanken gemacht. Die Mädchen verschenken an die Jungen Parfum, Spardosen und Stifte. Die Mädchen bekommen Schmuck, Parfum, und Volkan verschenkt sogar einen Blumenstrauß. Erhan flüstert mir zu: »Das ist doch eigentlich das schönste Geschenk für Mädchen – Blumen –, oder?« Ich nicke und denke: Ach, ich könnte mir was Besseres vorstellen. Aber als ich Maria sehe, die strahlend ihre Nase in die Blüten hält, denke ich: Volkan und Erhan, ihr werdet es bei der Damenwelt noch zu was bringen.
Volkan und Erhan ja, aber Yussuf …
Yussuf ist ein Möbel. Er sitzt einfach nur da. Wenn du nicht ab und zu nach ihm guckst, kann es passieren, dass er im Unterricht bewegungslos auf seinem Stuhl sitzt und die ganze Stunde NICHTS macht, außer atmen. Wenn wir in den Tropen wären – an ihm würde Moos wachsen. Weil er sich nicht mit körperlichen Anstrengungen oder irgendetwas, was in Richtung Arbeit geht, abgibt, ist er auch nicht gerade der Dünnste. Er ist einfach nur da. Er stört nie und streitet sich mit niemandem. Man muss nur aufpassen, dass man ihn nicht irgendwo vergisst. Beim Wandertag im Bus, nach dem Klingeln im Raum. Oft weiß ich nicht, ob Yussuf mitschneidet, was gerade im Unterricht besprochen wird. Kriegt der eigentlich mit, dass wir eine Englischarbeit schreiben? Weiß der, dass wir Julklapp machen und frühstücken?
Entweder wusste er es nicht oder er hat es einfach vergessen, denn morgens hatte er kein Geschenk dabei! Die anderen Jungen haben ihm wahrscheinlich die Hölle heißgemacht, denn sie hatten ja alle ein Geschenk. Da ist er schnell noch mal los in den Supermarkt. Und was hat er gekauft? Für fünf Euro? Für ein Mädchen? FÜNF GRABKERZEN!
Als er die uneingepackten Kerzen wortlos der Erzieherin überreicht, verpasst die ihm so einen Einlauf, dass er auf den Hof flüchtet und das ganze Frühstück über dort bleibt. Tja.