Einfrieren, einfrieren, einfrieren!
»Habe ich geschnarcht?« Verwirrt tauche ich aus dem Tiefschlaf auf. Ich habe mit dem Kopf auf dem Lehrerpult gelegen. Einige Schüler starren mich an. Ich kenne sie nicht. »Wir haben jetzt eigentlich Physik bei Ihnen«, sagt einer. Anscheinend habe ich die Stunde komplett verpennt. »Habe ich geschnarcht?«, frage ich noch mal. Eine Schülerin schüttelt den Kopf.
»Auweia, wie spät ist es?«
»Halb zehn.«
Scheiße, Scheiße, Scheiße, ich sollte doch um 9 Uhr die Erstklässler abholen. »Ey, Leute, sorry, ich muss los. Bitte, bleibt hier, bis es klingelt. Ich muss echt los. Tschüs.«
Die Erstklässler, die Erstklässler … wo sind die? Mist, Mist, Mist. Und wo bin ich hier eigentlich? Was ist das für eine komische Schule? Die kenne ich gar nicht. Wo sind die Erstklässler?
Plötzlich bin ich wach. Ich liege in meinem Bett. Schweißgebadet. Es ist 5 Uhr. Nur ein Traum. Physikunterricht, Erstklässler … was für ein Quatsch!
Drei Stunden später kommt sie wirklich: meine neue Klasse. Achtundzwanzig neue Schüler. 7. Klasse. Mädchen und Jungen. Große und kleine. Dicke und dünne. Ich habe Namensschilder gemacht. Für die Mädchen in pink und für die Jungen in grün. Jeder nimmt sich sein Schild und setzt sich. Es ist total still. Niemand spricht. Drei Schilder bleiben übrig.
»Wir warten mal noch bis 9 Uhr.« Einige nicken schüchtern.
Plötzlich steht Fatma in der Tür. Fatma aus meiner alten Klasse. Wie eine Mutter schiebt sie ihren kleinen Bruder in den Raum. »Hallo, Frau Freitag. Das ist Yussuf«, sagt sie leise und umarmt mich. Wie groß sie aussieht und wie erwachsen. Sie will irgendwo ihren Erweiterten Hauptschulabschluss nachmachen. Wir quatschen ein wenig, dann bitte ich sie, mich mal kurz in der Klasse zu vertreten, weil ich nach den fehlenden Schülern suchen will. Im Treppenhaus denke ich plötzlich: Oh Mist, wenn sie denen jetzt lauter Quatsch erzählt? Dass man bei Frau Freitag alles machen kann oder so was. Ich finde keinen meiner vermissten Schüler. Als ich zurück in den Raum komme, steht Fatma immer noch schüchtern an der Tür. Ich entlasse sie in ihr eigenes Leben und wende mich meiner neuen Klasse zu.
Erwartungsvoll gucken die mich an. Hören mir aufmerksam zu. Ich bin völlig baff. Könnte ich sie doch nur einfrieren. So wie heute sollen sie immer sein. Sie melden sich, wenn sie etwas fragen wollen. Sie hören einander zu. Sie hören mir zu.
Ich nutze die Gunst der Stunde und knalle ihnen alles Mögliche um die Ohren: Stundenplan, Räume, AGs, Hartz-4-Bescheide, Passfotos, Materiallisten, Buchlisten und so weiter.
Es läuft echt super. Wenn die doch nur immer so wären … Aber ich mache mir nichts vor – schon morgen werden sie nicht mehr so ruhig sein. Und spätestens am Freitag, wenn sie sich an der neuen Schule ein wenig eingelebt haben, werden sie zeigen, was sie draufhaben. Aber heute kann ich wirklich sagen: Das ist eine sehr nette neue Klasse, die ich da bekommen habe.
Wer ist hier der Boss?
»Frau Freitag, kann ich schreiben, also hier bei ›Was ist dein Lieblingsspruch‹ – kann ich da schreiben: ›Deine Mutter ist so dick, dass sie beim Sex …‹«
»Nein, Anil, so was nicht.«
»Oder: ›Deine Mutter kackt, wenn sie …‹«
»Aaaniiil, so was nicht. Und diese ›Deine Mutter‹-Sprüche will ich hier überhaupt nicht hören.«
»Aber ich finde die so lustig.«
»Ich aber nicht.«
Leicht schmollend zieht Anil ab. Die Schüler sollen sich gegenseitig interviewen. Anil will immer die lustigsten Antworten geben. Er will unbedingt der Klassenclown sein. Gestern Abend habe ich mit seinem Betreuer telefoniert. Als Klassenlehrerin muss man ständig solche Gespräche führen. Anil lebt im betreuten Wohnen. Seine Mutter ist noch sehr jung und kann sich nicht genug um ihn kümmern, deshalb ist er fünf Tage in der Woche in dieser Einrichtung.
»Ja, es gefällt dem Anil sehr gut in der Schule. Er sagt, er sei der Lustigste der Klasse und er habe schon sehr viele Freunde.«
Anil ist sehr dünn und ständig in Bewegung. Eine Tasse schwarzer Kaffee. Personifiziertes Koffein. Sein Finger ist immer in der Luft. Er fragt und fragt und fragt. Allerdings passen die Fragen nie zum Thema. Anil kommt gerne in die Schule.
»Ich war schon um 7 Uhr da.«
»Aber Anil, wir fangen doch erst um 9 Uhr an.«
»Na, besser zu früh als zu spät.«
Die Jungs müssen aufs Klo. Das Klo ist während der Unterrichtszeit abgeschlossen.
»Okay, kommt, ich gehe mit euch runter und schließe euch auf.« Wie ruhig die sich hier im Treppenhaus verhalten. Aber plötzlich legt Hamid seine Hände um Anils Hals. »Hey!«, schreie ich sofort. »Hör auf damit!« Hamid weicht zurück. Ich schicke die anderen Jungs vor und nehme Anil und Hamid zur Seite. »Was war eben los?« Hamid ist ziemlich groß für seine zwölf Jahre und sehr dick. Seine Ohren stehen ab, und er hat auch schon den einen oder anderen Pickel.
»Ich lauf so, und plötzlich schubst er mich und sagt: ›Verpiss dich.‹«
»Anil? Was sagst du dazu?«
Anil stottert rum, er ist immer noch sichtlich geschockt, dass Hamid nicht gleich in die Opferrolle geschlüpft ist. »Ich bin fast gefallen, und dann wollte ich mich nur abstützen …« Offensichtlich hat Anil sich einfach mit dem Falschen angelegt. »Okay, entschuldige dich jetzt bei Hamid.«
Sie geben sich die Hand. Der Konflikt ist so schnell geklärt, wie er entstanden ist. Wir gehen weiter zum Klo.
»Kommen Sie mit rein?«, fragt Erhan besorgt.
»Ja, ich gucke, ob ihr wirklich aufs Klo müsst.«
Ich warte vor der Tür.
Drinnen höre ich Anil: »Hamid, du bist wahrscheinlich der Stärkste in der Klasse.«
Gruppendynamik – spannender als jeder Krimi.
Chill mal dein Leben!
Sie marschieren ein. Betont gelangweilt. Soll cool wirken. Sie sind jetzt nicht mehr in der Siebten, sie sind jetzt Achte! Die Mädchen setzen sich in die letzte Reihe. Es sind nur sechs, und sie passen alle an die drei Tische vor der Wand.
Dann kommen die sechs Jungen – harmlos sehen die aus. Sie setzen sich alle in die erste Reihe. Auch für sie reichen drei Tische. Zwischen den Jungen und den Mädchen liegen jetzt vier Tischreihen. Ein komischer Anblick. So eine extreme Geschlechtertrennung habe ich noch nie erlebt. Na ja, heute lasse ich sie mal so sitzen, und in der nächsten Stunde hole ich sie mir näher ran.
Ich will mich kurz vorstellen, ihnen die Bücher austeilen und anfangen, da geht die Tür auf und zwei Typen schubsen sich gegenseitig in den Raum. Groß, laut, kichernd. Unsere Blicke treffen sich kurz. Klarer Fall: Die wollen es wissen. Die wollen wissen, wie weit sie bei mir gehen können. Ich bin bereit. Bereit, ihnen zu zeigen: nicht besonders weit.
»Nehmt bitte eure Federtaschen raus, Papier, euren Englischhefter und macht euch ein Namensschild.« Während sie kramen, lese ich die Namen vor, um ihre Anwesenheit festzuhalten. Vor allem will ich schnell wissen, wie meine beiden Herausforderer heißen: Hamsa und Emre. Sie haben sich in die zweite Reihe gesetzt. Alle Schüler schreiben ihre Namen auf Zettel. Hamsa und Emre kichern. Die beiden haben noch nicht mal einen Stift in der Hand. Auf ihren Tischen liegt: nichts.
»Ihr sollt auch ein Namensschild machen. Und ihr sollt eure Arbeitsmaterialien rausholen«, sage ich.
Sie gucken mich an und bewegen sich nicht. Grinsen.
Als ich sie nicht weiter beachte, beugen sie sich nach unten und holen in Zeitlupe, aber unter lautem Gekicher ihre Blöcke aus den Taschen.
Plötzlich schreit ein Mädchen aus der linken Ecke: »Iiih, die haben auf den Boden gespuckt!«
Hamsa und Emre gucken etwas überrascht. Sofort bin ich bei ihnen und suche nach dem nassen Indiz. Es dauert ein paar Sekunden, bis ich die Spucke sehe. Ich gehe ans Waschbecken, nehme zwei Papierhandtücher und halte sie Hamsa und Emre unter die Nase. »Aufwischen!«
»War ich nicht«, sagt Hamsa entrüstet. »Ich auch nicht!«, reiht sich Emre ein. Die Spucke ist direkt hinter ihrem Tisch. Aus der ersten Reihe wäre so eine Spuckleistung olympiareif und aus der letzten Reihe eigentlich unmöglich.
»Wir waren das nicht!«
Denken die, ich bin
bescheuert? Ich stehe wortlos da und halte ihnen die
Papierhandtücher hin. Nach endlosen Sekunden nimmt sich Hamsa eins
und wischt damit auf dem Boden rum. Emre steht vor mir. Zu dicht.
Er bewegt sich nicht. »Du nimmst deine Sachen und setzt dich da
rüber!«, sage
ich.
»Nein. Mach ich nicht.«
Here we go. Der Machtkampf ist kurz vorm Höhepunkt, und ich weiß, dass ich ihn gewinnen werde. »Du setzt dich jetzt da rüber!«, sage ich noch einmal.
»Chill mal dein Leben«, zischt Emre, und die Klasse hält die Luft an.
»CHILL MAL DEIN LEBEN? CHILL MAL DEIN LEBEN, sagst du zu mir?« Kurze Pause zur Betonung.
»Raus! Nimm deine Sachen und verlasse den Raum. Ich werde heute Nachmittag deine Eltern anrufen.«
Emre nimmt seine Tasche und verzieht sich in den Flur.
Chill mal dein Leben … tzzz, wenn schon, dann doch bitte Chillen SIE mal IHR Leben.
Ich schließe die Tür und fange freundlich mit dem Unterricht an. Ab und zu gehe ich zu Hamsa und helfe ihm bei den schriftlichen Aufgaben. Die Stunde läuft wie geschmiert. Ich bin sehr zufrieden.
Nach dem Klingeln kommt Emre zu mir und entschuldigt sich. Ich sage ihm, dass ich ihn in der nächsten Stunde genau beobachten werde und dass das seine letzte Chance sei, einem Elterngespräch zu entgehen. Darauf geben wir uns die Hand. Leider hält die Waffenruhe nicht besonders lange. Den Rest des Jahres habe ich noch viel Spaß mit ihm.
Heiraten Sie doch mit ihn
»Frau Freitag, gut, dass ich dich sehe. Dich hatte ich noch nicht, oder?« Frau Schwalle setzt sich im Lehrerzimmer zu mir. Sie legt eine Kollegiumsliste auf den Tisch und daneben eine leere Niveadose. »Du, die Frau Kriechbaum heiratet. Du hast noch nichts gegeben, stimmt’s?«
Sie sucht nach meinem Namen. Ich lasse sie suchen, obwohl ich weiß, dass ich bisher nichts gespendet habe. Ich mag Frau Kriechbaum nicht, und ich mag auch nicht dauernd Geld für irgendetwas geben. Ich glaube, dass einige Kollegen öfter als einmal im Jahr Geburtstag haben. Jetzt fangen die jüngeren Kollegen auch noch an zu heiraten, und bald heißt es dann: »Frau Kriechbaum ist gerade Mutter geworden, wir sammeln für einen Kinderwagen.«
Ich starre auf Frau Schwalles Liste, die sie aus durchschaubaren Gründen vor mir auf den Tisch legt. Peer Pressure – funktioniert auch im Lehrerzimmer.
»Was ist nun?«, fragt sie ungeduldig. Ich nehme mein Portemonnaie raus und wühle im Kleingeldfach. Scheine habe ich nicht, und das wäre mir die Heirat von Frau Kriechbaum auch nicht wert – bin ja nicht mal eingeladen. Ich schiebe Frau Schwalle zwei Euro über den Tisch.
Nach der Schule will ich mir beim Kiosk an der U-Bahn Zigaretten kaufen. Ich habe aber nur noch drei Euro. Die fehlenden zwei Euro hat jetzt Frau Schwalle für Frau Kriechbaum. Toll.
Genervt steige ich in die U-Bahn. Ich denke über Frau Kriechbaum und Frau Schwalle nach. Plötzlich sehe ich Zainab. Zainab war vor Jahren bei uns auf der Schule. Sie trägt ein schwarzes Kopftuch mit einer silbernen Borte. Sie ist schlank und sehr modisch gekleidet. In der Hand hält sie eine prall gefüllte H&M-Tüte.
»Frau Freitag! Schön Sie zu sehen! Wie geht es Ihnen?« Ich freue mich auch, Zainab zu treffen. Ich mochte ihre aufgeweckte und lebendige Art immer sehr gerne. »Zainab, hallo, ja, mir geht es gut. Aber erzähl mal von dir! Was machst du so? Wolltest du nicht an die Uni?«
»Ja, ich studiere Psychologie und Pädagogik. Macht Spaß.«
»Zainab, dann werd doch Lehrerin! Du wärst bestimmt eine super Lehrerin.«
Sie grinst. »Meinen Sie?«
Dann sehe ich wieder ihr Kopftuch: »Ach, das geht ja nicht, so mit Kopftuch, das müsstest du dann abnehmen.«
»Stimmt, geht ja nicht«, sagt sie lächelnd.
»Und Frau Freitag, wie geht es Ihnen so privat? Sind Sie noch mit Ihrem Freund zusammen?« Ich nicke. »Sind Sie immer noch nicht verheiratet?«
Ich denke: Super, jetzt geht das wieder los. Seit zehn Jahren ist der sehnlichste Wunsch aller meiner Schülerinnen, dass ich heirate. »Warum heiraten Sie nicht mit Ihren Freund?« – »Ah, Sie fahren in den Ferien nach Italien, da können Sie doch mit ihn heiraten.« Es hat mich schon unglaublich viele Worte gekostet, ihnen zu erklären, dass ich einfach nicht heiraten möchte, weil mir das nicht wichtig ist, und dass es keineswegs daran liegt, dass ich nicht weiß, WO ich meinen Freund heiraten möchte. Und nun fängt Zainab auch noch damit an. Zainab, diese aufgeklärte, moderne junge Frau, die sogar studiert. Für meine Schülerinnen scheint die Heirat das einzige oder zumindest das größte Ziel im Leben zu sein. Nicht zu heiraten können sie sich überhaupt nicht vorstellen.
Zainab guckt mich mit großen Augen an. »Jetzt wirklich, Frau Freitag, warum heiraten Sie nicht?«
»Zainab, warum soll ich denn heiraten? Ich bin auch so glücklich.«
Sie grinst: »Also ich wäre schon längst verheiratet. Frau Freitag, dann gehen die Steuern runter!«
Wo sie recht hat, hat sie recht. Und vielleicht würde dann Frau Schwalle auch mal für mich im Lehrerzimmer sammeln.
Noch so ’n Spruch – Kieferbruch
»Na, Anita, wie läuft’s so an, das neue Schuljahr?« Anita hat genau wie ich letztes Jahr ihre 10. Klasse entlassen. Allerdings wurde sie mit Präsentkorb, Shampoo, Hautcreme und so weiter verabschiedet – und nicht wie ich mit einem großen NICHTS. Anita war außerdem schlau und ist schon ganz früh im letzten Schuljahr zum Schulleiter gegangen und hat ihm gesagt, dass sie keine neue Klasse haben möchte. Als ich damit ankam, war schon alles zu spät.
»Anita, du hast es gut, keine eigene Klasse. Ich habe ja nur Unterricht in den Siebten und zur Entspannung noch in einer Achten. Schön, nicht?«
»Ach, lass mal, ich hatte doch letztes Jahr so viel in Zehn und dafür jetzt alles in Sieben. Heute habe ich schon den Ersten zum Heulen gebracht.«
»Echt? Was war denn?«
»Eigentlich nichts. Ich hab ihn nur gefragt, ob er in der U-Bahn geboren ist.«
»Ja und?«
»Na ja, dann haben alle angefangen zu lachen, und er hat geheult.«
»Herrlich, wenn jetzt auch die Lehrer anfangen zu mobben.«
Anita ist nicht auf den Mund gefallen. Sie ist nicht mehr die Jüngste und durch die Arbeit an unserer Schule verbal ziemlich verroht. Sie sagte mal, dass sie wahrscheinlich nie mehr an einer anderen Schule unterrichten könnte, weil sich dort sofort die Eltern über ihre Sprüche aufregen würden.
»Tja. Da hat der eben geheult. Aber ich habe den dann ja auch getröstet. Ihn in den Arm genommen und so. Und den anderen musste ich erst mal erklären, was das heißen soll – ›in der U-Bahn geboren sein‹. Kapiert haben die das nämlich nicht. Und neulich frag ich einen aus der 7c, ob er dicke Eier hätte … und …«
»WAAAS – das hast du in der Siebten gesagt? DICKE EIER?«
»Na, wenn der so breitbeinig sitzt. Könnte doch sein, dass er da irgendwas hat, was nicht in Ordnung ist.«
»Oh Mann, Anita, die Siebten sind so mini, das sind doch noch richtige Kinder. Da kannst du doch nicht von dicken Eiern reden.«
»Ja, hab ich dann auch gemerkt.«
»Aber eigentlich ist das schon ein cooler Spruch. Erinnerst du dich an Frau Schwindkowsky, die vor fünf Jahren in Pension gegangen ist? Die hat bis zum Schluss solche Sprüche gemacht. Herrlich, zu den breitbeinig-gegen-die-Wand-kippelnden Typen in der Zehnten meinte sie: ›Wenn die Herren mit der Hodenentzündung jetzt bitte auch mitmachen würden …‹«
Okidoki?!
Ja, an unserer Schule bekommt man sprachlich so einiges geboten. Die meisten Kollegen lamentieren dauernd darüber, wie schlecht sich ihre Schüler ausdrücken. Fräulein Krise meint, das hinge mit den steigenden Temperaturen draußen zusammen. Aber schlimmer ist doch der Sprachverfall der Erwachsenen. Jedes »Chill mal dein Leben« ist mir lieber als ein engagierter Zuhörer, der mir seine Aufmerksamkeit ständig mit einem »Okay?!« bestätigt.
»Frau Schwalle, du glaubst gar nicht, was mir eben in der Achten passiert ist. Also, ich gehe rein und da kommt Emre.«
»Okay?!«
Was soll dieses Okay? Immer mit so einem leichten Fragezeichen. Und das macht nicht nur Frau Schwalle, das höre ich ständig. Wer hat damit angefangen? Wo kommt das her? Und vor allem: Was will man damit ausdrücken? Okay?!
Soll das suggerieren, dass man so total zuhört, dass man voll dabei ist – also ganz Ohr ist. Ich bin voll genervt davon. Erst jahrelang dieses ständige »nicht wirklich« oder »zum Bleistift«, und jetzt wird man in seinen Erzählungen durch ein bescheuertes »Okay?!« unterbrochen.
Der Deutschlehrer – sprachlich immer hochmodern und extrem auf dem Laufenden – okayt schon seit fast einem halben Jahr. Der hat sich außerdem – wahrscheinlich durch die Arbeit mit unwissenden Grundschulkindern – angewöhnt, immer so Verständnisgeräusche in seine Mitteilungen zu streuen. Er sagt was und guckt dann nach jedem halben Satz, ob ich das auch verstanden habe.
»Ich war neulich noch in diesem seeehr guten Restaurant. Hinten an der Baustelle – ne?«
Was soll ich nun damit anfangen. Soll ich jetzt mit einem Okay?! bestätigen, dass ich das gehört habe?
Schön auch die Leute, die immer ein »Verstehst du, was ich meine?« an jeden Satz hängen. Das geht so in die Richtung Schülersprache – die fangen ja fast jeden Satz mit »Ganz ehrlich?!« an. Was soll das eigentlich heißen?
»Frau Freitag, ganz ehrlich, ich habe gestern … blablabla.« Ganz ehrlich? Lügen sie sonst nur? Müssen sie extra betonen, dass sie jetzt mal nicht lügen? Oder wollen sie sagen, dass sie diesmal ehrlicher als ehrlich – nämlich ganz ehrlich sind?
Liebe Erwachsene, liebe Schüler, achtet bitte auf eure Sprache. Nehmt doch nicht jeden Scheiß an. Dieses »Okay?!« geht gaaar nicht! Falls ihr euch das auch angewöhnt habt, dann denkt doch jetzt bitte jedes Mal dabei an mich. Ganz ehrlich? Gewöhnt euch das doch bitte, bitte wieder ab und streut lieber ab und zu ein gepflegtes »Chill mal dein Leben« ein!
Alles nur geträumt?
»Und, Herr Brühl, wie war meine Klasse in Physik?«
Herr Brühl ist schon ewig an unserer Schule. Warum, weiß ich auch nicht. Warum er überhaupt Lehrer geworden ist, erschließt sich niemandem. Eigentlich mag er keine Kinder. Und schon gar keine Jugendlichen. Irgendwie hat er den falschen Beruf gewählt. Da er aber schon über sechzig ist, wird er daran wohl nichts mehr ändern. Jetzt muss er eben damit leben – und die Schüler auch. Bei ihm gibt es keine Grautöne. Ein Schüler ist nie faul oder schwach, sondern blöd und dumm. Er hat nicht gerade das beste Bild von der heutigen Generation.
Und er unterrichtet meine Klasse in Physik. Meine schnuckelige kleine liebe neue Klasse. Meine Klasse, von der ich nur Gutes höre. Da hat der Herr Brühl aber Glück gehabt, denke ich, als Herr Brühl wie immer schlecht gelaunt durchs Lehrerzimmer rennt. Da will ich ihn mal mit der netten Erinnerung an die erste Physikstunde in meiner lieben Klasse ein wenig milde stimmen.
»Und, Herr Brühl, wie war meine Klasse gestern?«
»Graueeenhaft! Verquatscht bis zum Gehtnichtmehr, und von Benehmen haben die ja wohl noch nie was gehört.«
Hä, ist der Brühl jetzt schon so tatterig, dass er die Klassen, in denen er unterrichtet, verwechselt? Meine Klasse benimmt sich doch nicht schlecht. Ich habe doch die liebe Klasse.
Herr Brühl nimmt einen Stapel Zettel aus seinem Fach und geht im Stechschritt zum Ausgang. »Wirklich unmöööglich, die Klasse.«
Verwirrt stehe ich vor dem Vertretungsplan und denke nach. Kein Benehmen? Verquatscht? Die haben doch vor seiner Stunde bei mir noch total ruhig und konzentriert gearbeitet. Das muss geklärt werden.
»So, Leute, ich habe eben mit Herrn Brühl gesprochen, und der war von euch so ganz und gar nicht begeistert. Kann mir jemand was zum Physikunterricht sagen?«
Suszan meldet sich: »Er hat uns alle umgesetzt. Dabei saßen wir schon Mädchen neben Junge und dann mussten immer noch Tische dazwischen sein.«
»Na ja, das ist ja nun noch nicht so besonders schlimm. Warum sagt Herr Brühl, dass ihr euch nicht benehmen könnt? Ja, Maurice.«
»Ich glaube, er mag mich nicht. Ich habe mich immer gemeldet, und er hat mich nicht drangenommen.«
»Okay, ich werde ihm sagen, dass er dich mehr drannehmen soll. Aber was war denn noch los in der Stunde?«
Jetzt meldet sich niemand mehr. Einige Schüler gucken betreten zu Boden.
»Rosa, was war los?«
»Na ja, immer wenn er sich zur Tafel gedreht hat, hat Anil Faxen gemacht, und dann mussten wir lachen.«
Anil guckt zur Tür. Denkt, dass ich ihn nicht sehe, wenn er sich wegdreht.
»Anil.«
Keine Reaktion.
»Aaaaniiil, sag mal was dazu.«
»Na ja, äh, ja, äh …«
Wir sprechen darüber, wie man sich im Unterricht zu benehmen hat. In den ersten Tagen hatten wir Klassenregeln erarbeitet. »Keine Lehrer ärgern« war eine Regel, die von den Schülern selbst kam und ihnen sehr wichtig war. Anil starrt auf den Tisch. Sie versprechen, sich in der nächsten Physikstunde gut zu benehmen.
Das wäre doch gelacht. Dem Brühl werde ich es noch zeigen … kein Benehmen, pah, der wird sich noch wundern.
Kinderfacebook
Nachdem ich zum ersten Mal etwas Negatives über meine neue Klasse gehört habe, muss ich gleich den ganzen Nachmittag an meine alte Klasse denken. Die hatten wirklich kein Benehmen. Obwohl, am Ende eigentlich schon. Was die jetzt wohl machen? Ab zu Kinderfacebook, da habe ich, neben meinem Privat-Account, auch ein Frau-Freitag-Profil. Und da sind sie wieder: meine ehemaligen Schüler.
Asmaa schreibt:
okee iich geeh dann mall mich Abschminckeeenn und dann neu schminckeen und dann guck iich maa was ich heutee anzieheeen soll!!
Tja, so kann man seine Zeit auch rumbringen. Abdul diskutiert mit einem anderen ehemaligen Schüler darüber, wie man sich beim Jobcenter verhalten soll:
»Wie heißt dein Bearbeiter – Frau Hastemal?«
»Nein, Herr Niemal.«
»Welcher Stock?«
»Drei.«
»Ich zwei.«
»Ich muss morgen hin.«
»Musst du auf behindert machen. Dann gehst du psychater und dann hast du erst mal vier monate ruhe.«
Von Esra:
Ein Mädchen wollte das ihr Freund ihr einen Ring schenkt, er schenkte ihr aber einen Teddybär. Vor Wut schmiss sie den Teddybär auf die Straße, grad wo der Junge dem Teddy von der Straße holen wollte überfuhr ihn ein Auto und er starb. Das Mädchen nahm den Teddy und drückte ihn gegen sich vorauf der Teddy sprach: Willst du mich heiraten, der Ring ist in meiner Tasche.
Von Bilal:
Fri(END) Boyfri(END) Girlfri(END) Bestfri(END) … Alles hat ein Ende (END) … Fam(ILY) … Nur die Familie endet mit »I LOVE YOU«
Von Emre:
omg ich glaub meine verdammten weißheits zähne kommen raus ich fühl den hurensohn schon –.–
Von Abdul:
ich verlose mein iPad2 …. Kratze hier: ____________ mit einer Münze und finde heraus, ob Du der Gewinner bist!
Von Bilal:
Mann: Heirate mich!
Frau: Hast du ein Haus?
Mann: Nein
Frau: Hast du einen BMW?
Mann: Nein.
Frau: Wie hoch ist dein Aushilfe Verdienst?
Mann: Hab ich keinen.
Frau: Du hast nichts und dann fragst du mich ob ich dich heiraten will? Verschwinde!
Mann zu sich selbst: Ich habe eine Villa, ich habe 3 Ferrari und 2 Porsche, wieso brauche ich einen BMW? Und ich habe auch keinen Aushilfe-Verdienst wenn ich der Boss bin?
Ich sehe, dass Fatma online ist. Fatma wollte ihren Erweiterten Hauptschulabschluss an irgendeiner Einrichtung nachmachen. Das Letzte, was ich von ihr gehört habe ist, dass sie da nicht mehr hingeht. Ich schreibe ihr eine kurze Nachricht
»Fatma, was machst du so? Erzähl doch mal. Bist du jetzt an einem OSZ?«
Dann gehe ich in die Küche und mache mir einen Kaffee. Wenig später erhalte ich Fatmas Antwort:
»hallöschen ich meinte ihnen doch schon das ich da nicht mehr hingehe da die nicht mehr die massnahme machen deswegen gehe ich zur dieses osz Kennedyplatz da ich muss noch mein leihbogen oder wie das heist dort abgeben aber ich habs verbummlet : ich würde sie drum bitten frau freitag ob sie mir das mal kopieren können und Yussuf mit geben können und wens geht miriams auch wen das möglich wäre wäre ich ihnen sehr dankbar jaaa Yussuf ich werde mich drum kümmer das er nicht mehr zuspät kommt ich hab es meinen eltern erzählt das sie mir das gesagt haben die meinten es wäre gut wen sie mir immer bescheid geben wie sich Yussuf führt ihn der schule so bleiben wir immer am laufenden halt marcella elif asmaa sind auch bei dem osz aber schon angenommen ayla macht gerade ihre ausbildung als zahnartzt helfern jahhh von den weis ich es jetze da leuft alles schon gut bei denne und ich hoffe ihnen geht es gut nadan schreiben sie zurück«
Was für ein langer Satz – da wäre Thomas Mann bestimmt neidisch geworden. Satzzeichen sind sowieso überbewertet.
Leitbogen heißt das Dings übrigens, und damit bin ich den Schülern das ganze letzte Schuljahr hinterhergerannt. Ständig lag ich ihnen damit in den Ohren, dass sie einen ausgefüllten Leitbogen für die Anmeldung beim OSZ benötigen.
Jetzt brauchen Fatma und Miriam den und haben keinen. Und ich soll jetzt beiden Damen einen Leitbogen besorgen und Yussuf (Fatmas kleiner Bruder, der in meiner neuen 7. Klasse sitzt) mitgeben.
Ich habe Fatma geantwortet, dass ich das nur mache, wenn sie dafür sorgt, dass Yussuf sich ein Workbook bestellt. Der guckt mich seit Wochen an, als würde ich nach etwas sehr Unanständigem fragen, wenn ich wissen will, ob er sich das verdammte Workbook gekauft hat.
Überhaupt ist Yussuf nicht gerade das ausgeschlafenste Geschöpf unter der Sonne. Er stört nicht weiter. Er ist wie ein Gegenstand, einfach nur da – oder eben auch nicht, wenn er mal wieder nicht aus dem Bett gekommen ist. Soll ich jetzt also Fatma als Erziehungsberechtigte anerkennen? Ich weiß ja nicht. Die endlosen Treffen mit Fatmas Vater haben allerdings auch zu keiner Verhaltensänderung bei ihr geführt, ich könnte also mal versuchen, ob die Schwester nicht mehr Einfluss besitzt. Zumindest kennt sie sich mit schulischem Scheitern aus und weiß, wie es bei uns an der Schule läuft. Wie sagt mein Schulleiter immer: »Alles, was hilft.«
Realitätsabgleich
»Wofür brauchen wir das?«
»Ja, ganz ehrlich, Frau Freitag, so was braucht doch kein Mensch!«
Kunstunterricht – immer wieder schön. Irgendwie kann ich den tieferen Sinn meiner Kunstaufgaben nicht richtig vermitteln. Die Linie als form- und bewegungsgebendes Bildelement, Vorder- und Hintergrund, Farben im Verhältnis zueinander: Jedes Mal die gleichen Fragen. Wollen die Schüler auch in anderen Fächern wissen, wozu sie irgendetwas brauchen? Habe ich jemals Termenberechnungen in mein Leben eingebaut? Geräteturnen? Was nützt mir mein Wissen über das Mittelalter?
Aber heute kriege ich sie! Heute lernen sie die Einfluchtpunktperspektive. Die braucht man auf jeden Fall, um etwas perspektivisch richtig zeichnen zu können. Die Einfluchtpunkt-, auch bekannt als Zentralperspektive, eröffnet dem Schüler, sobald er sie beherrscht, die Möglichkeit, geometrische Figuren (eigentlich alles, was Ecken und Kanten hat) realistisch darzustellen. In »3-D«, wie die Schüler immer sagen.
Meine Klasse soll eine einfache Häuserschlucht zeichnen. Dazu habe ich ein Arbeitsblatt vorbereitet, auf dem ein Hochhaus und die Andeutung einer Straße zu sehen sind. Damit die Schüler sich vorstellen können, wie das fertige Bild später aussehen kann, hänge ich ein paar sehr gelungene Schülerarbeiten aus den vergangenen Jahren an die Tafel. Im Kunstunterricht habe ich immer mal wieder herausragende Talente unter den Schülern, deren kleine Meisterwerke ich jahrelang aufhebe.
»Guckt mal, so kann das später aussehen«, sage ich und befestige Meleks Bild mit Magneten an der Tafel. Die Schüler betrachten ehrfurchtsvoll Meleks apokalyptisch anmutende Zukunftsvision einer total zugebauten Megastadt.
»Oha«, ruft Taifun, »bin ich Mozart, oder was?«
Mozart? Was hat der jetzt mit dem Bild zu tun? Konnte Mozart nicht nur gut komponieren, sondern auch perspektivisch zeichnen?
»Was Mozart?«, fragt sich jetzt auch Hamid. »Du meinst van Gogh oder Picasso!« Und da sind sie wieder. Van Gogh und Picasso – die einzigen Künstler, die unsere Schüler heute noch kennen. »Ich bin doch nicht Picasso!« ist in den Augen der Schüler ein Synonym für Überforderung und heißt so viel wie: Kann ich nicht, will ich nicht, und wahrscheinlich werde ich mich nicht mal bemühen.
»Das ist für mich keine Kunst!«, teilt jetzt Rosa mit und startet damit eine neue Welle der Entrüstung im Raum.
»Jaaa, wofür brauche ich das?«, fragt nun Volkan. »Ich will Architekt werden.«
Bingo!
»Äh, gerade als Architekt braucht man so was!«, sagt Hamid.
»Wieso, lass mal lieber nackte Frauen zeichnen«, schlägt Volkan vor.
»Was haben jetzt nackte Frauen mit Architektur zu tun?«, frage ich und gucke unauffällig zu Volkan, der skeptisch an die Tafel starrt. Scheinbar löst sich sein Traumberuf gerade in kleine zerplatzende Seifenblasen auf.
Die Schüler sind schon drollig, wie sie so gar keine Ahnung haben, was man in den von ihnen angestrebten Berufen machen muss. Ich habe schon viele Mädchenträume zerstört, indem ich ihnen versichert habe, dass man als Innenarchitektin sehr wohl mit einem Lineal umgehen muss, dass man als Arzthelferin vielleicht auch mal Blut abzunehmen hat und dass es möglich ist, als Koch auch mit Schweinefleisch in Berührung zu kommen.
Miriam kam letztes Jahr völlig entsetzt von der Berufsberatung: »Frau Freitag, wussten Sie, dass man als Kosmetikerin auch Pickel ausquetschen muss? Und die Füße von die Leute, die Hornhaut wegmachen?«
»Ja, wusste ich. Was dachtest du denn, was man als Kosmetikerin macht?«
»Na, schminken.«
Um den Leitbogen betrogen
»Does anybody know the difference between British English and American English?«
»Na, die Engländer sprechen so leichter. Amerikaner versteht man gar nicht.«
»Okay, but what about the words? Do you know any words, die die gleiche Bedeutung haben, die aber in Amerika und in England was anderes heißen?«
Wir quälen uns durch trousers and pants, flat and apartment, bathroom and toilet.
Mich interessiert das alles nicht, weil ich es schon weiß, und die Schüler interessiert es nicht, weil sie es nicht wissen möchten. Aber in der 8. Klasse beschäftigt man sich im Englischunterricht nun mal mit den USA, und daran kommt diese Achte auch nicht vorbei.
Leyla meldet sich: »Frau Freitag, warum ist Englisch Weltsprache und nicht Arabisch?«
Dunkel erinnere ich mich an irgendwas mit Kriegsende. Und stand Deutsch nicht auch mal zur Debatte?
»Wie viele Leute leben denn in Deutschland?«, frage ich.
»Zwei«, sagt Erol.
»Zwei?«
»Äh, zwei Millionen.«
»Achtzig Millionen«, verbessert Tarek.
»Stimmt. Und wie viele Leute leben in den USA, Tarek?«
»Eine Milliarde?«
»Eine MILLIARDE? Scheint mir ein bisschen viel. Es sind so circa 200 Millionen.«
»Aber dann müsste doch Chinesisch die Weltsprache sein«, stellt Erol fest. Ich beauftrage die Klasse, sich beim Geschichtslehrer zu erkundigen. Beim Rauchen frage ich die Kollegen – allerdings lässt sich ihr Halbwissen mit meinem Halbwissen leider auch nicht zu einem Ganzwissen zusammensetzen.
Im Lehrerzimmer fällt mir Fatma und ihr Leitbogen ein.
»Du, Anita, ich sag mal LEITBOGEN, erinnerst du dich?«
Sie rollt die Augen.
»Pass auf, Fatma fragt mich, ob ich ihr einen Leitbogen besorgen könne und Miriam auch. Die wollen nicht mal zur Schule kommen, um die abzuholen. Ich soll die ihrem kleinen Bruder mitgeben.«
»WIIIE BITTEEE? Na, die spinnen doch wohl. Du bist doch gar nicht mehr für die zuständig. Außerdem sollten sie den Ende MAI abgeben. Sag denen mal schön, dass die in die Schule kommen müssen, falls sie den wollen.«
»Stimmt, hast du eigentlich recht. Und vor allem hat mich Miriam noch nicht mal selbst gefragt.«
Wahrscheinlich sitzen die beiden zu Hause und warten, und dann ist Frau Freitag schuld, dass sie sich nicht am OSZ anmelden können, weil sie ja keinen Leitbogen von mir bekommen. Eigentlich eine Frechheit, dass die sich überhaupt trauen, mich danach zu fragen! Wo ich denen doch ständig damit hinterhergerannt bin. Und wie Miriam immer »Sie stressen!« zu mir gesagt hat, wenn ich sie auf die OSZ-Anmeldung angesprochen habe. Jetzt ist es fast September!
Und das alles nach diesem unsäglichen letzten Schultag, als meine Klasse zur Verabschiedung geschlossen zu spät kam. Wenn sie mir damals wenigstens Blumen geschenkt hätten, könnten wir ja drüber reden, aber so …
Genezareth bei Gelsenkirchen
»Frau Freitag, gucken Sie, der Mann! Er klaut!« Rosa zuppelt ungeduldig an meinem Mantelärmel. Ich sehe nichts. »Wo denn? Was denn?« Volkan dreht mich vorsichtig in die richtige Richtung. »Da, der Mann, er klaut, sehen Sie?« Und jetzt sehe ich ihn. Ein junger Typ steht vor einem 99-Cent-Laden und steckt sich irgendwas in die Tasche.
»Was klaut er denn?«, frage ich die Schüler.
»Essen«, antwortet Volkan. Und plötzlich rennt der Dieb auf uns zu. Was soll ich jetzt tun? Mich ihm in den Weg stellen? Schließlich hat er ein Verbrechen begangen. Er hat etwas gestohlen. Ich muss irgendwas machen. Aber was ist, wenn der ein Messer hat?
»Was war das denn für Essen?«, frage ich.
»So Vogelfutter«, sagt Rosa.
Ich entscheide blitzschnell, dass geklautes Vogelfutter im Wert von sechs oder sieben Euro kein Messer im Bauch rechtfertigt. Ich kann aber auch nicht nichts machen, ich bin doch Lehrerin. »Sie haben geklaut! Das dürfen Sie nicht. Dafür kommen Sie in die Hölle«, rufe ich ihm hinterher. Aber das tangiert den Dieb nicht, er dreht sich nicht mal um, sondern rennt die Treppe zur U-Bahn runter.
»Hihihi, Sie kommen in die Hölle, haben Sie gesagt.« Rosa kichert und auch Volkan grinst.
»Ja, ist doch wahr. Klauen darf man nicht, das haben wir doch eben gelernt. Das steht doch in den 10 Geboten und im Gesetz auch.«
Wir kommen gerade aus einer Kirche, in der uns ein netter Pfarrer allerlei Wissenswertes über das Christentum erklärt hat.
Die Kirche hatte eine schlechte Akustik und war etwas kalt. Hamid gähnte und Taifun konnte nicht mehr gerade sitzen und lehnte sich deshalb an Orkan, der dabei das Gleichgewicht verlor. Leichte Unruhe entstand. Ich guckte ernst zu den Jungs, sie setzten sich wieder aufrecht hin. Ich war auch müde. Ich hatte Hunger, Durst, mir war kalt und ich wollte gerne gehen, aber es gab ja noch so viele unbeantwortete Fragen: Warum heißt Jesus Jesus? Hatte Jesus Geschwister? Dürfen Christen Alkohol trinken? Warum gibt es das Alte und das Neue Testament? Wer oder was ist der Heilige Geist? Was bedeutet Dreifaltigkeit?
Der nette Pfarrer versuchte alle Fragen genauestens zu beantworten, aber ich sah förmlich, wie die Aufmerksamkeit aus jedem meiner Schüler entwich. Sie konnten nicht mehr. Nicht mehr zuhören, nichts mehr aufnehmen und nicht mal mehr ruhig sitzen. Wenn der Pfarrer sie etwas fragte, hauten sie ihre Antworten ohne jegliche Denkleistung raus.
»Weiß jemand wo Genezareth ist?«
Volkan meldete sich: »Bei Gelsenkirchen?« Das wäre mir neu. Wie kam Volkan nur darauf? Klar, beides fängt mit »Ge« an.
»Wenn Jesus der Sohn Gottes ist, dann müsste seine Schwester doch auch die Tochter Gottes sein«, vermutete Orkan. Hatte Jesus eine Schwester? Die Antwort bekam ich leider nicht mit, denn ich musste Hamid daran hindern, Volkan zu treten.
Zum Schluss zeigte uns der Pfarrer den Altar. Der ist aus verschiedenen Steinplatten gebaut. »Diese Steinplatten sind etwas ganz Besonderes. Kann sich jemand vorstellen, wo die herkommen?«
Und als Taifun schrie »Von Jesus!«, reichte es mir. »Taifun, von Jesus? Was ist das für eine depperte Vermutung? Wie sollen die denn von Jesus kommen? Der Pfarrer hat doch eben gesagt, dass die Kirche vor acht Jahren gebaut wurde.«
»Wieso? Kann doch sein«, sagte Taifun beleidigt.
»Nein! Kann nicht sein! Wie soll Jesus das denn gemacht haben? Aus dem Grab rausgeflogen und dann ein paar Steinplatten hier herstellen.« Taifun schmollte. Der Pfarrer grinste. Aber eigentlich hatte Taifun ja recht. Wenn Jesus übers Wasser gelaufen ist und Wasser zu Wein verwandelt hat, dann könnte er auch vor acht Jahren einen Altar gebaut haben.
Fachsprache, hurra
»Klingelingeling, klingelingeling, klingelingeling.«
Äh? Das Telefon! Es ist 7.30 Uhr! Vielleicht ist die Schule explodiert oder implodiert, und sie wollen mir sagen, dass ich nicht kommen muss.
»Ja, hallo?«
»Tachchen, Müller, Hausverwaltung, Sie hatten gestern angerufen, weil Sie einen Schaden in Ihrer Wohnung haben.«
»Ah, ja, ja, das stimmt. Hier läuft Wasser im Badezimmer. Also aus so einem Dings an der Wand.« Ich hab ja auch noch ein Leben außerhalb der Schule und eine Wohnung. Mit Badezimmer.
»Aus der Wand?«
»Nein, da ist so ein silbernes Teil, also zwei sind das. Und aus dem einen läuft Wasser. Das läuft in so ein Auffangdings rein, aber ich habe Angst, dass es irgendwann in die unteren Wohnungen läuft. Außerdem wird die Wohnung schon ganz feucht, und dann schimmelt’s. Na, Sie wissen schon.«
»Ist dieses Dings unter der Decke?«
»Ja, genau. Ziemlich weit oben.«
»Und welche Seite ist es? Also, ist das Wasser warm oder kalt?«
»Heißes Wasser.«
»Dann gehe ich recht in der Annahme, dass es sich um die linke Seite handelt?«
»Ganz genau.« Der Typ kennt sich aus, ich bin begeistert.
»Dann sage ich Ihnen jetzt mal, was das ist. Ihr Warmwasserstrangentlüftungsventil ist undicht. Da sind so kleine Kügelchen drin, und wenn das Ventil verstopft ist, dann kommt da Wasser raus.«
»Aha. Ist das schlimm?«
»Ja, das muss gemacht werden, denn irgendwann, wenn es ganz verstopft ist, kommt da sehr viel Wasser. Das läuft dann die Wand runter, und dann haben Sie den Salat.«
»Okay, verstehe. Was machen wir denn nun?« Wir – mitgefangen, mitgehangen –, die Verstopfung ist jetzt auch sein Problem.
»Na, Frau Freitag, Sie haben doch da so eine Nummer, vom Reparaturservice der Hausverwaltung.«
»Hä?«
»Die kam Anfang des Jahres. Müssten Sie haben.«
»Hab ich nicht. Haben Sie die Nummer?«
»Hab ich.«
»Könnten Sie mir die geben?«
»Kann ich!«
»Na, dann hole ich mal einen Stift.« Man sollte meinen, dass bei einem Büromaterialfetischisten wie mir überall funktionierende Stifte rumfliegen – weit gefehlt. Irgendwann finde ich einen Folienschreiber, non-permanent.
»Also, aufgepasst: kostet nur sechs Cent aus dem Festnetz. Rufen Sie nicht vom Handy aus an, das könn’ Sie vergessen, Festnetz sechs Cent, egal, wie lange der Anruf dauert.«
»Festnetz, wird gemacht!«
Er diktiert mir die Nummer, dann schlägt er vor, selbst anzurufen, da er ja genau beschreiben könne, was kaputt sei, und mehr Autorität bei der Reparaturserviceeinheit habe als ich poplige Mieterin. Allerdings müsse ich ja einen Termin vereinbaren, darum solle ich dann doch lieber selber anrufen.
»Ja, hallo, Freitag mein Name, ich habe da ein Problem. Ich habe ein undichtes Warmwasserstrangentlüftungsventil. Seit Tagen läuft da heißes Wasser raus.«
»Wie jetzt?« Die Frau hat keine Ahnung, wahrscheinlich ein Callcenter.
»Das Warmwasserstrangentlüftungsventil ist kaputt und muss ausgetauscht werden. Links.« Deutlicher kann man mein Problem eigentlich gar nicht in Worte fassen.
»Sie meinen, der Hahn tropft? Oder meinen Sie den Überlauf?«
»Na, ich meine die Warmwasserstrangentlüftung. Dieses Dings unter der Decke.«
»Ah, ich glaube, ich weiß, was Sie meinen. Haben Sie schon mit dem Hauswart gesprochen?«
»Ja, eben, der meinte, ich soll Sie anrufen.«
»Ja, also, ich müsste erst mal wissen, ob der das repariert, bevor ich eine Firma beauftrage.«
Wir einigen uns, dass sie sich erkundigt, und ich warte. Falls jemand in die Wohnung muss. (Der Hauswart: »Na, da muss ganz sicher jemand in Ihr Badezimmer. Die Stränge reinigen.«) Dann müsste ich ja mit denen einen Termin vereinbaren. Ich warte. Um kurz vor acht klingelt das Telefon wieder. Mein Freund geht ran.
Nach zehn Minuten kommt er in die Küche: »Oh Mann. Ich konnte dem gar nicht richtig erklären, was kaputt ist.«
»Na, das Warmwasserstrangentlüftungsventil. Hatte ich doch aufgeschrieben.«
»Hab ich nicht gesehen. Der Typ meinte dann, ob das so ’ne Chrom-Schniepel sind, die da oben aus der Wand kommen.«
Schniepel! Was ist das für eine komische Reparaturfirma, die nicht mal die Fachbegriffe ihrer eigenen Branche kennt?
Den Termin gab es dann auch erst eine Woche später. Aber dann kam der Reparaturmensch, fummelte kurz an der Warmwasserstrangentlüftungsanlage herum und reparierte alles. Seitdem denke ich selten an den Warmwasserstrang, aber jedes Mal, wenn mein Blick darauffällt, bin ich froh, zu wissen, wie er heißt.
Wie viele Montage kommen noch?
Ich kann nicht mehr laufen, nicht mehr sitzen, nicht mehr sprechen – nur noch liegen und mich bemitleiden lassen. Fast die Hälfte meiner Unterrichtsverpflichtungen erledige ich montags und bin dann von der ersten Stunde bis um halb fünf (!) in der Schule.
Und so sieht der Verfall an einem typischen Montag aus:
1. Stunde: gut gelaunt, geduldig und gnädig unterrichte ich herrlichen Englischstoff in meiner eigenen Klasse. Die Schüler sind zuckersüß, leise, fleißig und nett. Wir klären noch ein paar Klassensachen, ich bewege mich im siebten Lehrerhimmel. Soundtrack der Stunde: Ich bin ja wohl so was von toll! Wie ich das hier alles wuppe – grandios! Ich liebe meinen Job!
2. Stunde: eine andere Siebte – Kunst. Eine Referendarin kommt mit. Ziel der Stunde: Na, der werd ich jetzt mal zeigen, wo das Klavier steht. Ich unterrichte kleinstschrittig, mit allem Gedöns. Bin zugewandt und halte trotzdem die Zügel non stop in der Hand. Niemand zweifelt daran, wer hier das Sagen hat. Jeder kleinste Versuch von Aufgemüpfe wird im Keim erstickt. Soundtrack: I’m the boss and don’t you ever forget that!
3. Stunde: Ich erwarte die Achte für eine heitere Englischgrammatikstunde. Sie kommen aber nicht. Wahrscheinlich sind sie bei der Zahnprophyilaxe, die in diesen Tagen in der Schule durchgeführt wird. Kleine Erleichterung, dass ich die Achten nicht unterrichten muss und mir die schon vorbereitete Stunde im Laufe der Woche einiges an Arbeit spart. Ich räume mein Lehrerpult auf und putze die Tische in meinem Raum.
4. Stunde: Freistunde: eigentlich meine einzige am Montag. Heute sollen irgendwelche Zehntklässler kommen – Vertretung. Ich sitze da und warte. Niemand kommt. Ich verbringe die Hälfte der Stunde auf der Suche nach der Klasse. Erfolglos gehe ich mit ein paar neuen Kollegen rauchen. Ein leichtes schlechtes Gewissen mischt sich bei, weil ich vielleicht nicht gründlich genug nach den Schülern gesucht habe.
Ein neuer Kollege strauchelt schon, wie Anita es nennt. Ich spreche mit ihm. Er kommt nicht klar, will sich dem »pädagogischen Abenteuer« aber wohl auch nicht stellen. Soundtrack: Ich bin am Anfang auch gestrauchelt (sehr sogar), aber nie NIE, NIE, NIE hätte ich aufgegeben. Nach der Zigarette gehe ich wieder in meinen Raum. Plötzlich kommen die Achten. »Äh, was wollt ihr denn hier?«
»Na, wir haben jetzt bei Sie!«
Stellt sich raus, dass ich meinen Stundenplan noch gar nicht richtig kenne und die dritte mit der vierten Stunde verwechselt habe. Wieder geht die Tür auf, und die Zehner stehen da. Ich bin nun auch nicht Superwoman und schicke sie ins Sekretariat. Diese Englischstunde gehört nicht in meine »Best of«-Sammlung. Die Schüler gehen genauso ahnungslos aus dem Unterricht raus, wie sie reingekommen sind. Nur meine Nerven wurden sehr strapaziert. Soundtrack: Oh, no! Schnell vergessen. Aus gesundheitlichen Gründen sollte diese Stunde bis auf weiteres verdrängt werden.
Mittagspausenaufsicht natürlich am Verkehrsknotenpunkt: großer Hof. Im Regen!
5. Stunde: erneut meine Klasse. Der Raum ist heiß und leergeatmet. Die Stunde läuft gut. Ich habe alles unter Kontrolle, nur leider langsam keinen Bock mehr. Soundtrack: Hier könnte der Schultag eigentlich beendet werden.
6. Stunde: 7. Klasse Englisch. Chaos pur. Niemand hat sich mehr im Griff, weder die Schüler noch ich. Ich bin zickig, kurz angebunden, tendenziell ungerecht – pädagogisch nicht mehr zurechnungsfähig. Es würde mich nicht wundern, wenn die Schüler in dieser Stunde eher einiges verlernt hätten. Eine absolute Negativstunde. Trotzdem unterrichte ich bis zum Klingeln. Wir sind alle froh, als es vorbei ist. Wie eine Operation ohne Narkose. Ein böser Traum. Soundtrack: Get me out of here! Somebody wake me up, please! Ich will keine Lehrerin sein!
Zu Hause auf der Couch und etwas erholter, sieht alles gar nicht mehr so schlimm aus. Aber meinen Montagsstundenplan wünsche ich niemandem.
Was schwul geguckt?
»Na, dann zeichne doch eine Rose, das passt doch ganz gut«, sage ich und bin schon leicht genervt von der Ideenlosigkeit dieser 7. Klasse.
»Aber ich weiß gar nicht, wie man das macht«, jammert Sandy-Schajen.
Erkan dreht sich zu mir: »Aber Sie müssten das doch können. Sie SIND doch eine Rose.«
Will noch jemand daran zweifeln, dass Lehrerin der schönste Beruf der Welt ist? (Außer montags natürlich.)
Fräulein Krise ruft mich nachmittags an und beklagt sich über ihre 10. Klasse: »Keiner hat Interesse an einer Berufsausbildung.«
»Ja, kenn ich. Und pass auf, das wird noch schlimmer, wenn die ganzen Typis vom Arbeitsamt und so in die Schule kommen und mit denen ihre Zukunft planen wollen. Das wird schon daran scheitern, dass sie es nicht schaffen werden, ihr Zeugnis mitzubringen.«
In mir steigen Erinnerungen an das letzte Schuljahr auf. Oh Mann, wie wenig die sich gekümmert haben. Selbst zu den Terminen, die in der Unterrichtszeit lagen, sind sie nicht gegangen. Und immer: »Der Mann stresst voll.« Dabei wollte der Mann lediglich bei der Ausbildungsplatzsuche behilflich sein. Sofort sehe ich wieder Fatma und Miriam hinten am Fenster sitzen. Fatma in ihren dünnen schwarzen Mantel gehüllt. Eine zweite Haut, die sie seit der 8. Klasse nicht mehr ausgezogen hat und die schon nach verwesendem Tier roch. Und Miriam, mit Handtasche auf dem Tisch und genervtem Gesichtsausdruck. Keinerlei Interesse an der eigenen Zukunft die beiden. Inshallah, wird schon irgendwie. Ich werde jetzt noch sauer, wenn ich daran denke, wie die jegliche Chance auf ein selbstbestimmtes Leben verschmäht haben. Ohne Leitbogen werden die wohl nie den Erweiterten Hauptschulabschluss nachmachen können. »Vielleicht nächstes Jahr.«
Ich habe Marcella neulich auf Facebook gefragt, ob sie wüsste, was mit Fatma und Miriam ist:
»Ich glaube, die sitzen zu Hause und machen gar nichts.«
»Echt, oh Mann, wie blöde kann man denn sein?«
»Tja …«
»Das muss doch total langweilig sein. Oder sollen die jetzt heiraten? Die Miriam, die will doch keiner, mit ihrer schlechten Laune immer.«
Ich weigere mich, weiterhin pädagogisch zu sein. Irgendwann können die Schüler (jetzt sogar Exschüler) auch mal mitkriegen, wie ich ihr Verhalten finde.
Kaum zwei Tage später reden wir schon wieder über die unmotivierten Schüler, bei mir zu Hause. »Keiner wird einen Ausbildungsplatz bekommen. K E I N E R!«, sagt Fräulein Krise verbittert und nimmt sich noch eine Zigarette. »Fräulein Krise, mach dir mal keinen Kopf. Aus meiner letzten Klasse hat doch auch nur einer einen Ausbildungsplatz bekommen.«
Ich liege auf der Couch, und Fräulein Krise hat sich in der für sie typischen Art zu meiner Linken drapiert. Sie liegt immer mit angezogenen Beinen auf der Ottomane – wie Cäsar. Ich möchte sie mit Weintrauben füttern, leider gibt es nur Nüsse, Kaffee und Zigaretten. Seltsamerweise trägt sie eine Sonnenbrille, dabei scheint in meinem Zimmer weder die Sonne, noch laufen hier irgendwelche Paparazzi rum.
Den ganzen Vormittag hat Fräulein Krise versucht, mit ihren Schülern Lebensläufe und Bewerbungen zu schreiben. Hat nicht geklappt. Warum auch? Klappt bei mir doch auch nie. Ich finde, man sollte Bewerbungsvideos einschicken können.
Lan, meine Haare – sehen king aus, oder? Fick dich, Alda, nimmst du schon auf?
Ach so. Ja, also: Hi ich heiße Fuat. Ich will Mechatroniker machen. Ich kann schon Auto fahren, und ich kann Autos reparieren. Meine Hobbys sind Fußball spielen und mit Freunden abhängen und chillen und Shisha rauchen. Und Computer. Internet. Ich kenne mich gut aus mit Programmen – so Face und so. Kino.to und dies, das. Nehmen Sie mich. Wäre todes-mies, wenn die Ausbildung immer erst um 10 Uhr angefangen könnte.
Haste Alta? War doch king. Was schwul geguckt? Fick dich …
Ja, ich denke, dass unsere Schüler es mit Bewerbungsvideos weit bringen würden.
Anil, Hamid und die Erdkrümmung
Anil stresst. Anil stört den Unterricht. Anil provoziert Vincent. Vincent versucht, ihm aus dem Weg zu gehen. Das klappt nicht immer. Nach dem Geschichtsunterricht kommt es auf dem Hof zum Showdown. Anil schubst Vincent. »Ich schwöre, ich werde ihn schlagen, meine Mutter soll tot umfallen, wenn ich es nicht mache«, sagt Anil. Die erste Baustelle.
Anil muss einen Vertrag unterschreiben, dass er sich von Vincent fernhält. Also fängt er an, Maurice zu ärgern.
»Er sagt ihm immer Ausdrücke, Frau Freitag«, erzählen mir die Mädchen ganz entsetzt. »Echt? Was denn so?« – »Na, so alles Mögliche und dann beleidigt er die Familie von Maurice.«
Wenn ich die Kollegen nach dem Verhalten meiner süßen Klasse frage, dann stöhnen sie alle immer nur über Anil. Auch seine Mitschüler beschweren sich schon täglich bei mir.
»Frau Freitag, Anil hat Volkan mit dem Füller in den Arm gepikt.« – »Frau Freitag, Anil quatscht in Geschichte immer so viel, dass ich gar nicht verstehen kann, was der Lehrer sagt.« – »Anil macht immer Faxen, wenn der Lehrer sich umdreht.«
Eigentlich höre ich jeden Tag irgendwelche Schoten über Anil. Ich spreche ständig mit den Erziehern seiner Wohngruppe, und gestern habe ich sogar mit seiner Mutter telefoniert. Am Wochenende ist Anil bei seiner Mutter. Obwohl sie Schwierigkeiten hat, Anil zu erziehen, freuen sich beide immer sehr auf die gemeinsame Zeit.
»Was erzählt der Anil denn so aus der Schule?«
»Ach, nicht viel. Er sagt, es ist alles in Ordnung.«
Alles in Ordnung, ha! Nichts ist in Ordnung! Ich kläre die Mutter auf. »Mama Anil, wir müssen uns schnellstens hier in der Schule treffen und besprechen, was wir machen können. Anils Verhalten muss sich ändern, sonst wird das hier nichts. Können Sie nächsten Montag in die Schule kommen? So um 12.00 Uhr?« Sie kann.
»Hören Sie, ich werde dem Anil noch eine schriftliche Einladung mitgeben, dann können wir mal sehen, ob er sie abgibt. Ich werde ihm sagen, dass er die unbedingt am Freitag unterschrieben dabeihaben muss. Wir werden jetzt gemeinsam eine lückenlose Überwachung ansetzen.«
Also gebe ich Anil die Einladung mit. Offen, damit er sie auch lesen kann und weiß, was los ist. Ich bin sehr gespannt, ob er am nächsten Tag die Unterschrift dabeihat.
Dann unterrichtete ich noch ein wenig Englisch und werde plötzlich mit einer interessanten Frage konfrontiert. Wir wiederholen gerade das present progressive. »Look at me! What am I doing?« Ich latsche durch den Raum.
Schüler: »Go!«
Ich: »Yes. Or walk.«
Schüler: »You walk.«
Ich: »Yes, fast richtig. Mit -ing.«
Megaguteschülerin: »Mrs Freitag is walking.«
Ich: »Yeah! Super!«
Hamid meldet sich. »Frau Freitag, wenn Sie laufen, warum fallen Sie nicht runter, die Erde ist doch rund.«
Meine Klasse starrt mich an, als erwarteten sie, dass ich jeden Moment taumeln und fallen würde.
»Ja, aber die Erde ist doch so riesig, dass sie hier nicht gekrümmt ist. Guck mal, hier ist doch alles gerade.« Ich zeige auf den Fußboden.
»Aber die Erde ist doch rund. Da müssen Sie doch runterfallen.«
»Na, falle ich denn? Fällst du, wenn du läufst?«
Aylin meldet sich: »Erdanziehungskraft. Wir werden alle von Erdanziehungskraft gehalten, stimmt’s, Frau Freitag?«
Es klingelt. Ich rufe Hamid hinterher, er soll seinen Erdkundelehrer nach der Planetenkrümmung fragen.
Runterfallen …herrlich, wo runter … von der Erde? Muss ich ja richtig aufpassen, dass ich nicht in den Weltraum kippe.
Anil auf dem heißen Stuhl
»Wo sind die anderen? Hat es nicht schon geklingelt?« Ich warte auf Anil, Hamid und Orkan. Die Mädchen haben Sport, und ich habe meine wöchentliche Nur-ich-und-die-Jungs-Stunde. Eigentlich sehr nett. Die Hälfte der Klasse ist klasse.
Hamid und Orkan kommen rein: »Anil hatte einen Kampf mit ein Junge aus der Neunten.« – »Ja, Mann, Frau Freitag, er ist voll frech. Auf dem Hof sagt er zu jeden Ausdrücke, und dann sagt er immer ›willst du kämpfen‹?« Und jetzt wollte wohl mal einer kämpfen. »Er war richtig frech und dann hat der Junge ihn geschlagen und dann hat Anil geheult.«
Es klingelt.
»Fangt schon mal an zu arbeiten, ich gehe nach Anil gucken.« Im Treppenhaus kommt er mir entgegen. Seine Backe ist ganz rot und seine Augen sind leicht wässrig.
»Was war denn los? Hattest du Stress?«
»Ich weiß auch nicht. Dieser Junge, er hat mich einfach gehauen«, sagt Anil.
»Wie, einfach so? Und du hast nichts gemacht?«
»Nein. Nichts. Ich hab nichts gemacht.«
»Na, komm erst mal rein in den Raum und setz dich hin. Nimm ein Blatt raus, und dann schreib auf, was passiert ist.«
Anil nimmt ein Blatt aus seinem Rucksack.
»So, erst die Überschrift: ›Vorfall am 16. 9. um 12.00 Uhr‹«, diktiere ich. Er schreibt: »Forfall am 16. 9 umd 12.00 Uhr«, darunter den Namen des Jungen und die Klasse. Dann hört er auf. Anil vermeidet es nach Möglichkeit, sich schriftlich mitzuteilen.
»Anil, hast du die Einladung für deine Mutter mitgebracht?« Er hat sie mit und legt sie mir vor. Dazu sein Hausaufgabenheft, in das jeder Lehrer das Verhalten des Schülers eintragen soll.
»Warum schreiben Sie denn eigentlich immer nur, was ich gemacht habe, in das Heft?«, fragt er.
»Na, weil das für DEINE Mutter ist. Ich kann ja deiner Mutter schlecht schreiben, dass sich Hamid im Deutschunterricht nicht gut benommen hat. An seine Mutter würde ich das ja auch schreiben, aber nicht an deine.«
»Aber ich störe doch nicht alleine. Die anderen …« Anil fühlt sich ungerecht behandelt, und die Schlinge um seinen Hals, die sich von Tag zu Tag enger zuzieht, fängt an, ihn zu nerven.
»Vincent, komm mal kurz her.« Ich möchte klären, ob sich Anils Verhalten ihm gegenüber verbessert hat, schließlich hat er dazu einen Vertrag unterschrieben.
»Vincent, ärgert dich Anil immer noch?«
»Ja, er sagt immer noch Ausdrücke.«
»Gar nicht«, widerspricht ihm Anil.
»Doch, als du dich beim Sport vorgedrängelt hast, da habe ich dich angemeckert, und da hast du gleich wieder Ausdrücke gesagt.«
Jetzt kommt auch Maurice. »Und er beleidigt immer meine Familie und die Toten.«
»Mach ich gar nicht«, sagt Anil.
»Doch, das machst du. Warum lügst du jetzt?«, fragt ihn Volkan. Mittlerweile stehen sieben Jungs um uns herum. Anil sitzt auf der Anklagebank.
Ich sage: »Erhan, moderiere du das mal. Nimm aber nur die dran, die sich melden, und wenn Anil etwas sagen möchte, dann darf er das natürlich auch.«
Orkan meldet sich. Erhan hält ihm seine Faust unter die Nase während er spricht. Es dauert etwas, bis ich verstehe, dass er ihm ein imaginäres Mikrofon anbietet. »Erhan, wir brauchen kein Mikro, wir sitzen ja alle ziemlich eng hier und können uns ganz gut verstehen.«
Und dann geht es los. Jeder packt aus. Anils sämtliche Verfehlungen werden besprochen.
»Warum sagst du immer zu Maria, ob es schön war, Vincent einen zu blasen?«
»Warum erzählst du rum, dass Maria im Tischtennisraum gestrippt hat?«
»Du sagst immer ›du kannst was erleben nach der Stunde‹, und du bedrohst immer die anderen.«
»Warum beleidigst du meine Familie?«
»Immer willst du kämpfen, und jetzt hattest du deinen ersten Kampf, und dann hast du gleich geheult.«
Anil hört sich alles an, streitet die Hälfte ab, gibt einige Sachen zu und sitzt, als alle gegangen sind, noch alleine an seinem Platz. Dann geht er. Er sieht traurig aus. Traurig und nachdenklich. Ich hoffe sehr, dass er jetzt endlich mal anfängt, über sein Verhalten nachzudenken.
Erste Erfolge
»Könntet ihr mir mal kurz helfen?«, frage ich Katarina, Suszan und Elena, die sich in der großen Pause auf dem Gang vor meinem Raum rumdrücken.
»Ja, gerne, Frau Freitag. Können wir unsere Sachen auch schon in den Raum bringen?«
»Klar, wartet mal, ich schließe schnell auf. Und ich brauche ein paar Tische aus dem Nachbarraum, ich will nämlich gleich einen Test schreiben lassen, in der anderen Klasse, und da soll jeder einen eigenen Platz haben.«
»Damit die nicht abschreiben können, oder?«, fragt Suszan und grinst.
Ganz genau. Wir schleppen gemeinsam Tische und bauen eine mega frontale Sitzordnung.
Es sind noch zehn Minuten bis zum Unterricht. Eigentlich sollten alle Schüler auf dem Hof sein.
»Können wir drinnen bleiben?«, fragt Elena. »Meinetwegen«, antworte ich geistesabwesend, während ich die Englischarbeiten für die 8. Klasse sortiere.
»Können wir an die Tafel schreiben?«, fragt Katarina.
»Hm, könnt ihr.«
»Yippih, Frau Freitag, ich liebe Sie«, schreit Elena und nimmt sich die Kreide. »Ich liebe Sie.« Meine Strategie in dieser Klasse zahlt sich schon aus. Ich hatte mir ja diesmal vorgenommen, mich nicht so emotional auf sie zu stürzen, wie ich es in der letzten Klasse getan habe. Da war ich ständig an denen dran, habe immerzu mit denen geredet, mir alles erzählen lassen. Am Ende war da zu wenig Distanz und dadurch wahrscheinlich nicht mehr genügend Respekt. Jetzt mache ich bei jeder Begegnung klar: Ich bin der Chef. Ich bin die Lehrerin, ihr macht, was ICH sage. Ihr unterbrecht mich nicht, wenn ich spreche. Und ihr redet nicht mit mir, wie ihr mit euren Freunden redet. Es klappt ganz gut. Mein Wort ist Gesetz.
Ich sortiere Blätter, und die drei Mädchen schreiben irgendwas an die Tafel und wischen es wieder weg. Es ist richtig gemütlich. Sie reden über ihre Geburtstage. Elena wird nächsten Freitag dreizehn.
»Frau Freitag, wann haben Sie Geburtstag?« Ich sage es ihnen.
»Oh, da müssen wir dann nächstes Jahr Geschenke kaufen«, sagt Katarina, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, seiner Lehrerin etwas zum Geburtstag zu schenken.
»In Russland schenken die Schüler ihren Lehrern immer voll viel«, erklärt sie. Ich drehe mich zu ihnen. »Ja? Was kriegen denn die Lehrer da so von den Schülern?«
»Also, ich weiß nicht so genau, ich bin ja hier zur Schule gegangen, aber Elena muss das wissen, die ist ja erst zwei Jahre in Deutschland.«
Ich gucke Elena erwartungsvoll an. Sie ist sehr schüchtern und spricht noch nicht viel, weil sie ihr Deutsch so schlecht findet. »Also, sie schenken Blumen und so Kisten mit, äh, mit Schokolade. Und so Kartchen.«
»Blumen, oh, sehr schön und Schokolade … ich liiiebe Schokolade«, sage ich und hoffe fest, dass sie sich das bis zu meinem Geburtstag merken. Ich muss diese Klasse besser trainieren. Jedes Jahr ein paar Geschenkchen zum Geburtstag und zu den Zeugnissen und dann die Hammerpräsente am letzten Schultag, wenn sie die Schule verlassen. Nie wieder möchte ich mit NICHTS ins Lehrerzimmer kommen.Wenn ich weiterhin so distanziert und sachlich bleibe mit meinen Fuzzies, könnte das sogar klappen.
Blitze und Bomben
Ich brauche ein 12-Schritt-Programm! Ich bin süchtig. Abhängig. Kaum zu glauben, wonach. Ja, ja, die Zigaretten, nein, kein Alkohol, nein, nicht die Arbeit oder der Fernseher … ich bin süchtig nach BLOCK’D!
Block’d ist ein Spiel
auf meinem Handy. Früher habe ich auf der Fahrt zur Arbeit und auf
dem Nachhauseweg in meinen Kalender geguckt. Ausgerechnet, wie
lange es noch dauert, bis die nächsten Ferien kommen,
Mitarbeitsnoten eingetragen, endlose To-do-Listen gemacht oder
einfach nur so Tage gezählt. Dann habe ich angefangen, morgens und
nachmit-tags SMS zu verschicken. Danach habe ich weiter in
mei-
nem Handy rumgeschmökert und unter Extras
die Spiele entdeckt.
Mehrere Wochen habe ich das Schnellbauspiel bei City Bloxx gespielt. Da baut man ein riesiges Haus, indem man einzelne Elemente aufeinandertürmt. Wenn die Teile nicht wieder runterfliegen, ziehen da auch gleich Leute ein, die mit Regenschirmen angeflogen kommen. Hat man besonders gut gebaut, kommen zwei Leute. Wenn alles etwas windschief ist, traut sich nur ein Regenschirmmännchen rein. Komischerweise lässt die Statik bei diesem Spiel einiges zu. Wenn man lang genug spielt, regnet oder schneit es in dem Spiel. Fällt der Turm um, vibriert das ganze Handy wie bei dem Erhalt einer SMS. Leider wird das Spiel ziemlich schnell langweilig, denn so viel passiert da auch nicht.
Deshalb habe ich zu Brain Champ gewechselt. Dort sollst du dein Hirn trainieren. Ein netter alter Chinese spricht dich immer mit Namen an und sagt dir, wie gut du gearbeitet hast. Tagelang habe ich mit diesem Spiel meine Konzentration und meine Logik trainiert. Kann man machen – muss man aber nicht. Irgendwann nerven die Aufgaben. Wenn man mal nicht so toll gerechnet hat, erscheint da so ein leeres Gehirn und darüber steht unglücklich. Unverschämt.
Jedenfalls habe ich jetzt das perfekte Spiel gefunden: BLOCK’D. Da gibt es rote, gelbe und grüne Steine, die man vernichten muss. Wenn man gut ist, bekommt man in der nächsten Runde Blitze und Bomben, und die hauen dann ganze Blöcke von Steinen weg. Da knallt und wackelt das ganze Handy. Mittlerweile kann ich aus dem Bus aussteigen, nach Hause laufen und die Treppe hoch, ohne das Spiel zu unterbrechen. Ich schaffe schon über 200 000 Punkte. Mir ist nur noch nicht ganz klar, wie man neue Leben bekommt.
Leider tut mein Handgelenk ständig weh, und ich befürchte, dass ich mir eine Sehnenscheidenentzündung erspielt habe. Dieses blöde Suchtverhalten. BLOCK’D – tzzzzzz. Warum kann ich nicht von etwas produktiveren Dingen abhängig sein? Süchtig nach Unterrichtsvorbereitung, süchtig nach Wohnungsputz oder süchtig danach, immer angemessen und nett auf alles zu reagieren.
Die Tüte reißt
und
Bushido hilft auch nicht
»Volkan, bist du sicher, dass das jetzt ganz wichtig ist? Das geht alles von eurer Zeit ab.«
»Ja, ist wichtig.«
»Na, was denn?«
»Wie viele Seiten hat die Arbeit?«
Wie ich das hasse! Diese ewigen Fragen, bevor ich die Arbeit verteilen kann. Immer wollen die Schüler wissen, wie viele Seiten es sind, dabei sagt doch die Anzahl der Seiten überhaupt nichts aus.
Heute hat meine Klasse die erste Englischarbeit bei mir geschrieben. Herrliche konzentrierte Ruhe. Während der Stunde gab’s keine bekloppten Fragen und keine Dramen wie letztes Jahr. Alle haben sich bemüht, und keiner hat aus lauter Frust angefangen zu stören. Meine Klasse ist echt toll.
Selbst den ersten Wandertag haben wir bravourös über die Bühne gebracht. Ohne irgendwelche Zwischenfälle. Zurzeit läuft echt alles ganz easy und entspannt.
Es läuft so entspannt, dass ich mir meinen Stress nach der Schule selbst schaffen muss. Das funktioniert so: Ich gehe auf dem Nachhauseweg an einem türkischen Gemüsestand vorbei. Dort gibt es Maiskolben, fünf Stück für nur einen Euro, und Blumenkohl für 50 Cent. Muss ich also sofort kaufen. Die Tüte ist schwer und sehr dünn. Schon auf dem Weg zum Bus reißt sie – erst der Henkel, dann bohren sich die Maiskolben durch. Ich muss also alles auf den Armen balancieren. Kurz danach fällt mir ein, dass ich noch in die Kinderbibliothek wollte, weil ich Bücher für den Kunstunterricht brauche. Mit der schweren Schultasche (zwanzig Englischarbeiten à acht Seiten) und der durchlöcherten Gemüsetüte schleppe ich mich zur Bücherei. Nachdem ich eine Stunde jedes Regal inspiziert habe, gehe ich mit zwei Büchern zur Ausleihe. Da fällt mein Blick auf das Bushido-Buch. Seine Biographie. Die wollte ich schon immer mal lesen, aber auf keinen Fall kaufen. Ausleihen ist da genau das Richtige. Wenn ich auf dem Weg zur Arbeit wieder lese, komme ich vielleicht auch vom Handyspielen weg. Langsam sehe ich nämlich überhaupt keinen Nutzen mehr in BLOCK’D, außer, die Zeit zu vertreiben. Und mein Daumengelenk schmerzt jetzt zusehends. Aber vielleicht kommt meine Klasse ja doch noch irgendwann in die Pubertät, dann könnte ich auf dem Nachhauseweg im Bus schon anfangen, lange Elternbriefe zu schreiben.
Aua
»Raus! Sabrina, verlass den Raum und warte vor der Tür!«
»Kann ich meine Tasche mitnehmen?«
»Nein!!!«
»Jaja, klaun Sie schön meine Tasche …«
»DEINE BILLIGE TASCHE WERDE ICH BESTIMMT KLAUEN!«
Ich bin im Epizentrum meines, meines … ach, keine Ahnung. Alles zerbricht und zerfällt. Ich verwalte nicht mal mehr das Chaos – ich bin das Chaos. Im Raum sind es 40 Grad. Ich bin seit 7.30 Uhr in der Schule. Jetzt ist es 16.10 Uhr. Ich wusste, dass es hart wird. Deshalb habe ich in der Videothek bei mir an der Ecke einen Film ausgeliehen: Wallace und Gromit. Englisch, aber leicht.
»Wir machen jetzt die Hälfte der Stunde die Berichtigung der Arbeit, und dann gucken wir – sind ja bald Ferien – einen Film. Aber nur, wenn ihr jetzt alle leise seid und gut mitmacht.« Leise? Ha! Niemand ist leise. Eine Schülerin muss ich vorne vor der Klasse schreiben lassen, Sabrina stand draußen – mit Tasche – und ist dann abgehauen, einen anderen schicke ich ins Schulbüro und den Rest versuche ich mit Anmeckern in Schach zu halten. Grauenhaft.
Nach der Hälfte der Stunde will ich den Film starten. Den Beamer hatte ich schon in der Stunde davor aufgebaut. Ich lege die DVD ein und … nichts passiert. Ich drücke verschiedene Knöpfe, nichts. Hinter mir geht der Punk ab. Ich kann nicht mehr. Ich habe keine Kraft mehr. Ich könnte heulen. Das ist doch keine Arbeit, was ich hier mache, das ist die reinste Zumutung. Für mich und für die Schüler.
Wenn es nicht bald klingelt, wende ich noch Gewalt an. Ich will nach Hause. Ich stelle mich an die Tür und beobachte das grauenhafte Treiben. Kurz kann ich mich damit trösten, dass die 7b nicht meine Klasse ist, sondern die von Verena. Ich unterrichte die nur in Englisch. Eine Schülerin schmeißt ihre Federtasche auf den Jungen, der ihr gegenübersitzt. Eine andere haut ein Haarband auf den Tisch. Immer und immer wieder. Einer wiegt mit dem Oberkörper hin und her: Hospitalismus – durch meinen schlechten Unterricht. Einer hat einen viel kleineren Schüler im Schwitzkasten. Und der Rest schreit rum. Im besten Fall labern sie nur vor sich hin.
Ich will das nicht mehr. Diese späte Stunde ist die reinste Hölle. Meine Stimmbänder schmerzen. Irgendwann klingelt es, und wir verlassen alle mit letzter Kraft den Raum. Der nächste Montag kommt ja erst in drei Wochen. Thank god! Und danke dem Erfinder der Herbstferien.
So riecht der Libanon
Einem grauenhaften Tag folgt eine desaströse Nacht. Um halb neun (!) schlafe ich wimmernd vor dem Fernseher ein. Vorher habe ich in Gedanken mein Leben und meine Berufswahl verflucht. Alles scheiße, scheiße, scheiße. Macht gar keinen Spaß. Ich will nicht mehr. Dann ein schwerer ungemütlicher Schwitzerschlaf, und um 1.30 Uhr bin ich hellwach. Aus dem Bett – in das ich irgendwie gebracht wurde – zurück auf die Couch: Fernseher an, dösen, wieder einschlafen, wieder aufwachen und schließlich um 4 Uhr eine Zigarette rauchen. Geht es noch grauenhafter? Ich kann mich gleich bei Familien im Brennpunkt anmelden.
Und dann treffe ich auch noch punktgenau in der Schule ein. Punktgenau heißt mit dem Klingeln, also zu spät. Meine Klasse hängt schon im Treppenhaus über dem Geländer: »Sie sind zu spät, Frau Freitag!«
»Ich weiß.«
»Sie müssen am Freitag nachsitzen, Frau Freitag!«
»Ja, muss ich ja sowieso immer, wenn ihr nachsitzt. Ich werde mich gleich eintragen.«
Und dann verbringe ich doch tatsächlich ein paar schöne produktive Stunden mit MEINER Klasse. Die sind echt immer noch süß und bauen mich auf ihre fuzzige Art wieder auf. Nach vier Stunden denke ich bereits: »Na, guck mal einer an, wie ich das draufhab. Ich bin wohl doch die geborene Lehrerin.«
Mittags in der Mensa sitze ich mit mehreren Kollegen vor Kartoffelpüree und irgend so einem undefinierbaren Fleischklops. Wir reden über die Schüler. Am Tisch sitzt Manfred – schon jahrelang an unserer Schule – leicht desillusioniert, aber immer sehr freundlich zu den Schülern. Dann sind da noch eine hochmotivierte neue Kollegin, die alles super findet, und zwei Typen von so einem Projekt, »Schulfremde«, die sich mal wieder mit unseren Schülern schmücken wollen. Mal kurz vorbeikommen, ein Kamerateam dabeihaben, alles für ein, zwei Tage auf den Kopf stellen und dann wieder gehen. Ach, ich vergaß: zwischendurch natürlich unheimlich schlau daherquatschen.
»Also, wir machen gerade in Erdkunde ein Projekt über den Libanon und die Türkei«, erzählt die neue Kollegin. Die Schulfremden sind sofort ganz Ohr. »So riecht der Libanon und so riecht die Türkei, heißt es.«
»So riecht der Libanon? Komm doch einfach mal in meinem Raum vorbei«, nuschele ich, den Mund voll mit Kartoffelpüree.
»Hohoho«, kommt es von dem einen Schulfremden. Das soll Entrüstung ausdrücken, die ich erst mal gar nicht verstehe.
Ich stopfe mir noch mehr von dem Kartoffelpüree rein, bevor ich antworte: »Wieso? Was ist daran jetzt schlimm? Wahlweise riecht es da auch wie die Türkei. Wie soll es denn da riechen?«
»Na, wahrscheinlich geht es da eher um die Gewürze, so Karamon und so«, erklärt der andere Schulfremde.
»Ach so. Hm, Gewürze.«
»Aber vielleicht riechen ja Leute aus dem Nahen Osten anders als die aus Europa«, gibt der Hohoho-Typ zu bedenken.
»Na, das klingt jetzt aber sehr nach Rassenlehre«, kontere ich. Touché. Stille. Jetzt meldet sich der andere Schulfremde wieder zu Wort. »Sind denn die Schüler hier wirklich so schlimm?«
»Wer hat denn gesagt, dass die schlimm seien?«, frage ich. Immer diese Vorurteile. Immer fragen alle, ob die schlimm sind. Die sind ganz normal. Schlimm sind Montage. Schlimm ist Unterricht nach 16.00 Uhr. Schlimm ist, wenn man nicht schlafen kann. Oder wenn man Krebs hat oder einen Tsunami vor deinem Haus oder Cellulite am Bauch oder noch schlimmer Cellulite am Hals oder wenn man seinen Hausschlüssel verliert. Aber unsere Schüler … die sind halt Schüler.
Aber ich kann das auch nicht immer jedem erklären. Deshalb esse ich schweigend meinen Teller auf und gehe dann zufrieden nach Hause. Dienstage sind auf jeden Fall überhaupt nicht so schlimm wie Montage.
Ibo vs. Frau Freitag
»Wir haben einen neuen Schüler in der Klasse«, schreit mir Yunus aus der 7b von Verena entgegen, als er in den Raum kommt.
»Frau Freitag, wir haben neuen Schüler«, brüllt Maria, die kurz hinter Yunus kommt. »Wo ist der denn, der Neue?«, frage ich. Die Schüler, die vor mir sitzen, kenne ich alle. Neue Schüler mitten im Schuljahr nerven. Die haben noch keine Bücher, geschweige denn Workbooks, und natürlich haben die auch keinen Plan, was wir bisher gemacht haben. Ich bin ein großer Befürworter des »Jeder bleibt mindestens bis zum Halbjahresende dort, wo er ist«.
Bisher ist der ominöse neue Schüler nicht aufgetaucht. Mika meldet sich: »Frau Freitag, der findet den Raum nicht. Soll ich ihn holen?«
»Nein, lass mal, der trudelt schon irgendwann ein. Ich will jetzt auch anfangen. Wie heißt er denn?«
»Ibo!«, schreit Yunus und alle kichern. »Wir haben jetzt zwei Ibos.« Der erste Ibo sitzt direkt vor meiner Nase. »Na, Ibo, wie ist er denn so, dein Namensvetter? Ist der auch so nett wie du?« Ibo ist ein Goldstück. Total klein und supersüß. Man will ihn sofort mit nach Hause nehmen. Wenn er was weiß, meldet er sich mit einem ausgestreckten Arm, den er mit der anderen Hand festhält, als würde der Meldearm durch die Decke flitzen, wenn er ihn nicht richtig festhielte. Und dabei schreit er: »Ich, ich, ich!« Voll Grundschule – todessüß!
»Der neue Schüler ist
gar nicht nett«, sagt Ibo mit sehr ernstem Gesicht. Er schüttelt
dabei den Kopf und wiederholt noch mal mit Nachdruck: »Das ist gar
kein netter Schüler!« Oh, oh … denke ich noch, als die Tür aufgeht
und Ibo Nr. 2 eintritt. Dick, kurze gegelte Haare, Augenringe, als
hätte er seit sechs Monaten nicht mehr geschlafen, Alpha-Jacke,
East-
pak-Rucksack. Mit dem Gesichtsausdruck eines
Auftragskillers latscht er an mir vorbei, ohne mich auch nur eines
Blickes zu würdigen, und will sich in eine der letzten Reihen
verziehen.
»Hallo? Moment mal. Komm mal bitte hierher zu mir!«, befehle ich ziemlich unmissverständlich. Die Klasse schweigt.
Schweigend steht er vor mir und guckt mich ausdruckslos an.
»So, du bist also der neue Schüler. Wie heißt du denn?«
Er nennt mir seinen Namen, ich notiere ihn und bestimme, wo er sitzen soll. Dann beginne ich mit dem Unterricht.
»Please take out your Workbooks!«
Ich gehe zu dem neuen Ibo.
»Hast du ein Workbook?«
Er guckt mich verächtlich an und macht dieses muslimische Schnalzgeräusch. Ja, ist muslimisch, weil das die muslimischen Jungs immer machen. Man nimmt die Zunge an die obere Zahnreihe, zieht sie dann mit einem Schnalzen schnell zurück. Ich reagiere äußerst allergisch – geradezu algerisch – auf dieses Geräusch.
»Was soll das?«, frage ich streng und mache das Geräusch nach. »Ich bin kein Tier und auch keiner deiner Freunde auf der Straße, mit denen du so kommunizieren kannst. Ich habe dich gefragt, ob du ein Workbook hast.«
Die Klasse ist mittlerweile in eine Zuschauerstarre verfallen. Gebannt wollen sie sehen, wer den ersten Schlagabtausch gewinnt. Frau Freitag vs. Ibo, the new kid in class.
»Was ist, hast du ein Workbook?«
»Tzzzzz.«
Ich glaube es nicht, er macht noch mal dieses Schnalzgeräusch. Eine Unverschämtheit! Ich weiß zwar, dass das Schnalzen »nein« heißt, aber so geht es ja wohl nicht. Ich stehe vor Ibo und warte, bis er leise »nein« sagt.
»So, dann nimm mal das Textbook hier, Seite 12. Und jetzt schreib den Text ab. Wie auch die anderen, die kein Workbook mithaben.« Ich höre aus verschiedenen Ecken ein leises Murren. Mittlerweile habe ich in dieser Klasse allerdings implementiert, dass geschrieben wird, sobald man sein Arbeitsmaterial vergessen hat. Dann sind die wenigstens ruhig, und ich kann mit den anderen Schülern weiterarbeiten.
»Abo, ich schreib nicht!«, mault Ibo plötzlich los, als er den Text im Buch sieht, der sich über eine Doppelseite erstreckt. Die anderen Schüler haben sich bereits in ihr Schicksal gefügt.
»Doch du schreibst.«
»Nein, mach ich nicht. Wieso sollte ich?«
»Weil du kein Workbook mithast.«
»Aber, aber …«
»Hast du ein Workbook?«
»Nein.«
»Also schreibst du.«
Widerwillig nimmt er seinen Block raus. Eins zu null für Frau Freitag, aber wir sind erst in Runde 1.
Die fiese Mistpocke
»Please read exercise No.4, Benni!« Ein paar Tage später erarbeiten wir eine langweilige Aufgabe im Workbook. Die Vergesslichen schreiben einen Text aus dem Textbook ab. Ibo, der Neue, sitzt vor Mustafa und soll auch schreiben. Ich gucke zu ihm rüber, und was macht er? ER KIPPELT! Ibo sieht, dass ich ihn beobachte.
»Nicht kippeln!«, sage ich streng. Er zögert eine Sekunde, guckt sich in der Klasse um.
»He, Ibo! Ich sagte, dass du aufhören sollst zu kippeln!«
In Zeitlupe kippt er seinen Stuhl in die Waagerechte. Ibo ist schon so dick, dass ich Angst habe, der Stuhl bricht auseinander, wenn er den nicht vorschriftsmäßig benutzt.
Warum sind diese Jungs heute eigentlich so dermaßen dick? Keine dreizehn Jahre alt und schon einen Bauch wie ein 60-Jähriger. Merken die Mütter nicht, dass die sich falsch ernähren? Wenn die so dicke Beine haben, können die auch kaum laufen. Die watscheln dann. Gibt es bei Ibo zu Hause nur 1,5-Liter-Flaschen River Cola? Ich wende mich wieder dem Workbook zu. Gucke noch mal zu Ibo, ob er auch schreibt. Da kippelt er schon wieder. Diesmal guckt er mich dazu auch noch ganz frech an.
»Sag mal, hörst du schwer?«, frage ich genervt. »Ich habe dir nun schon zweimal gesagt, dass du nicht kippeln sollst.«
Er, immer noch kippelnd: »Wieso?«
»Was wieso?«
»Wieso darf ich nicht kippeln?«
»WIESO? Weil ich es sage!«
Er hört – wieder leicht verzögert – auf zu kippeln. Oh Mann, das kann ja heiter werden mit dem Typ. Nach fünf Minuten sehe ich, wie Ibo nach hinten greift und Mustafa zu schlagen versucht. Ich gehe zu seinem Tisch, nehme seinen Block und das Buch, sage kurz: »Komm mit!«, und verfrachte ihn an den Tisch neben der Tafel.
Sofort will er sich beschweren: »Aber er hat …«
Ich unterbreche ihn mit einem »Wir klären das später. Jetzt schreib erst mal.«
»Nein, ich schreibe nicht«, sagt er und verschränkt die Arme vor seinem riesigen Bauch.
»Schreib!«
Ich bleibe so lange neben ihm stehen, bis er den Stift wieder in die Hand nimmt.
»Du bleibst nach der Stunde noch hier«, sage ich und setze mich an mein Pult. Ibo protestiert, aber das überhöre ich und unterrichte weiter.
Als es klingelt, packt Ibo sofort seine Sachen ein und will mit den anderen Schülern auf den Hof.
»Ibrahim, du bleibst noch hier!«
»Wieso?«
»Weil ich mit dir sprechen will!«
Widerwillig steht er neben mir. Ich sitze an meinem Schreibtisch.
»Setz dich mal hin.«
»Nein, ich stehe lieber.«
»Setz dich dort hin!« Das ist ja echt zum Verrücktwerden mit diesem Typi.
»Wieso?«
»WEIL ICH DIR SAGE, DASS DU DICH DA HINSETZEN SOLLST, UND ICH DIE LEHRERIN BIN!« Bei dem muss ich ja echt beim Urschleim anfangen. Als er endlich vor mir sitzt, werde ich wieder etwas milder.
»Sag mal, von welcher Schule kommst du eigentlich?«
»Gymnasium.«
»Und warum bist du jetzt hier?«
»War zu schwer.«
»Und meinst du, du kannst dich hier so aufführen, wie du willst? Du bist hier das zweite Mal in meinem Unterricht und machst gleich so einen Stress? Das geht ja nun gar nicht.« Ich labere und labere. Er hört mir notgedrungen zu. Am Ende gebe ich ihm die ISBN-Nummer des Workbooks und er mir das Versprechen auf einen Neuanfang in der nächsten Stunde.
Ich gucke ihm nach, wie er aus meinem Raum watschelt. Das wird nichts mit dem, da bin ich mir sicher. Der ist trouble.
Ich gehe ins Schulbüro und frage laut: »Ibrahim El-Farid! Wer hat dem erlaubt, hier an die Schule zu kommen? Der Typ geht ja wohl so was von gaaar nicht!«
Die Sekretärin grinst. »Das dachte ich mir schon, als der gestern mit seinem Vater hier war.«
»Haben wir den auf Probe? Der muss postwendend wieder zurück!«
»Der kommt vom Gymnasium. Die haben uns angefleht, ihn zu nehmen, er sei dort sooo überfordert.«
»Überfordert, dass ich nicht lache. Die wollten den loswerden. Das ist eine ganz fiese Mistpocke. Der muss weg! Der macht die ganze Klasse kaputt.«
Im Lehrerzimmer läuft mir Ibos neue Klassenlehrerin über den Weg. »Verena, dein neuer Schüler!« Sie grinst und wartet. »Der geht gaaar nicht! Wie der sich aufgeführt hat, in der 7. Klasse … als Neuer … Das gibt nur Probleme mit dem!«
»Und hässlich ist er«, sagt Verena.
»Na, das wäre mir jetzt egal, aber sein Verhalten: UNMÖGLICH!«
Verena grinst noch immer und erzählt mir, dass er sich auch bei ihr nicht gut aufgeführt hat. »Der muss weg!«, versuche ich sie aufzustacheln. »Da müssen wir was tun! Der ruiniert deine nette Klasse.« In dem Moment kommt Anita an uns vorbei. Sie unterrichtet in Verenas Klasse Geschichte: »Dein neuer Schüler? Na das ist ja einer … Ich wollte nach dem Unterricht mit dem sprechen, da trinkt der, während ich rede.«
Super, diese Schlacht ist noch nicht verloren. Jetzt genügend Allianzen schmieden, und dann geht es diesem Ibo an den Kragen. Von dem lasse ich mir nicht meine Nerven ruinieren!
Fe-rien ne va
plus,
Mademoiselle Krisé
Verena kommt freudestrahlend im Lehrerzimmer auf mich zu gerannt. Ich stehe am Vertretungsplan und starre vor mich hin – so sieht meine Pausenbeschäftigung aus. »Frau Freitag, Frau Freitag, la-la-la-la, rate mal, hihihi.«
»Verena, was ist mit dir?«
Sie kommt mir verschwörerisch nahe und flüstert mir ins Ohr: »Der Neue …«
»Ibo?« Mein Herz beginnt zu rasen. Wut steigt in mir hoch. Wut und Panik, denn ich habe Verenas Klasse später noch in Englisch. Das hatte ich sehr erfolgreich verdrängt.
Verena grinst immer noch breit. »Um den musst du dir keine Gedanken mehr machen. Da kannst du dich bei Kollegin Schwarz bedanken, die hat den für heute lahmgelegt.«
»Wie jetzt, wie lahmgelegt?«
»Na, der ist eben abgeholt worden. Er ist im Schulgarten mit einer Schubkarre kollidiert, und jetzt fehlt ihm ein Zahn.«
»Ein Zahn. Echt? Milchzahn oder richtiger Zahn?«
»Keine Ahnung. Jedenfalls ist er heute nicht mehr da.«
»Yes! Gib mir fünf!« Erleichtert begebe ich mich in meinen Unterricht. Im Büro sehe ich Frau Schwarz, die eine Unfallanzeige ausfüllt.
»Frau Schwarz, schönen Dank auch. Dir und der Schubkarre«, rufe ich ihr im Vorbeigehen zu. Aber schon an der nächsten Ecke denke ich, dass er ja jetzt nicht für immer weg ist. Ihm fehlt ja nur ein Stück Zahn. Damit kann man ja leider nicht seine Schulzeit in der Siebten beenden. Irgendwann wird er also wiederkommen, spätestens nach den Ferien. Und wir können ihm ja jetzt nicht jeden Tag was brechen, damit er abgeholt wird.
Die stinkende Lehrerin
Mein Leben ist perfekt, denke ich eben noch und öffne den Briefkasten. Ein verwirrender Zettel liegt da. Ohne Umschlag ohne Vorwarnung: »An die Mieter des Hauses …« Blablabla … Wegen irgendwas erneuern wir die Heizblablas, und deshalb kann es zu Einschränkungen im Warmwasserbereich kommen. Kann – muss aber nicht. Häh? Was denn nun? Von Dienstag bis Freitag besteht also die Möglichkeit, kein warmes Wasser zu haben. Jeden Tag? Der Zettel antwortet nicht. Was soll ich nun mit dieser Information anfangen? Ich kann doch nicht auf Vorrat duschen? Muss ich damit rechnen, dass ich mir das Wasser morgens auf dem Herd warm machen muss? Werde ich jetzt wie im Mittelalter leben? Bald sind die Herbstferien vorbei, und ich muss wieder zur Schule. Stinkend vor einer Horde Schülern stehen? »Mama, die Lehrerin ist ganz nett, aber sie riecht komisch. Es wird jeden Tag schlimmer.«
Wenn ich mir meine Haare nicht täglich wasche, setzt sofort eine ganz schlimme Verfettung ein. Schon nach einem ungeduschten Tag verwahrlose ich.
Au Backe, das kann ja was werden. Aber noch habe ich ja ein paar Tage Zeit. Werde mal täglich heiß baden. Und vielleicht kann ich mir ja ein paar Liter warmes Wasser bunkern.