20. Kapitel
Hornblower kam in allerbester Stimmung auf seine Hotspur zurück. Hundertfünfzigtausend Pfund Prisengelder standen ihm in nächster Zukunft in Aussicht, eine Summe, die sogar Mrs. Mason zufriedenstellen mochte. Wenn er nicht allzu lange bei der Vorstellung verweilte, wie sich seine Maria als Gutsherrin ausnehmen würde, dann lag das vor allem an all dem Neuen, das ihm jetzt bevorstand: Anlaufen von Cadiz, diplomatische Fühlungnahme dort und schließlich das große Abenteuer des Überfalls auf die spanische Schatzflotte draußen im Atlantik.
Und wenn ihm das alles noch immer nicht genug Stoff für angenehme Träume bot, brauchte er sich nur sein Gespräch mit Cornwallis ins Gedächtnis zu rufen. Ein Oberbefehlshaber hatte in heimatlichen Gewässern nur sehr beschränkte Vollmacht, Offiziere zu befördern, aber vielleicht wog seine Empfehlung an höherer Stelle um so schwerer... vielleicht.
Als er an Bord kam, begrüßte ihn Bush wie immer mit der Hand am Hut, aber diesmal ohne sein gewohntes Lächeln, seine Miene verriet auf den ersten Blick, daß ihm irgend etwas schwer zu schaffen machte. »Was ist denn los, Mr. Bush?« fragte ihn Hornblower. »Ein Vorfall, der Ihnen bestimmt keine Freude machen wird, Sir.« Waren alle schönen Träume ausgeträumt?
Konnte die Hotspur etwa so leck gesprungen sein, daß sie sich nicht mehr dichten ließ? »Also, was hat es gegeben?«
Hornblower schluckte gerade noch das »verdammt noch mal« hinunter, das er schon auf der Zunge hatte. »Ihr Steward mußte wegen Meuterei eingesperrt werden, Sir. Er hat einen Vorgesetzten geschlagen.«
Hornblower durfte auf diese Nachricht hin weder Staunen noch Bestürzung verraten; seine Miene wirkte wie aus Stein.
»Signal vom Kommodore, Sir!« unterbrach in diesem Augenblick Foreman. »An uns:›Sendet Boot.‹«
»Geben Sie›Verstanden!‹, Mr. Orrock, fahren Sie sofort hinüber!« Moore hatte auf der Indefatigable bereits den Breitwimpel gesetzt, der ihn als Führer eines Schiffsverbandes auswies. Die Fregatten lagen noch immer beigedreht dicht beieinander. Es waren also genug Kapitäne zur Stelle, um ein Kriegsgericht zu bilden, das Doughty noch am gleichen Nachmittag zum Tod durch den Strang verurteilen konnte. »Nun berichten Sie mir einmal, Mr. Bush, was Sie über den Fall wissen.«
Das Steuerbord-Achterdeck wurde sofort geräumt, als Hornblower und Bush es zusammen betraten. Man konnte also hier ebenso ungestört sprechen wie in sonst einem Winkel des kleinen Schiffes. »Nach dem, was mir gemeldet wurde, Sir«, begann Bush, »hat sich folgendes ereignet...«
Proviantübernahme auf See war eine Arbeit für alle Mann; selbst wenn die Vorräte an Bord geschafft waren, blieb noch alles tätig, um sie im Schiff zu verteilen. Doughty, der zum Mitschiffs-Arbeitskommando gehörte, hatte aus irgendeinem Grunde aufbegehrt, als ihm ein Bootsmannsmaat namens Mayne einen Befehl gab. Daraufhin hatte Mayne sofort seinen »Starter« geschwungen, jenen geknoteten Tampen, den die Maate zum Antreiben der Leute zu benutzen pflegten, wenn es ihnen nötig schien - viel zu oft, meinte Hornblower. Daraufhin hatte ihm Doughty einen Hieb versetzt. Zwanzig Zeugen gab es dafür, und wenn die nicht reichten, war da außerdem Mayne selbst mit seiner von den eigenen Zähnen zerschnittenen Lippe, von der das Blut niedertropfte.
»Mayne war wohl immer ein rauher Bursche, Sir«, meinte Bush, »aber das ging denn doch zu weit.«
»Ja«, sagte Hornblower.
Er kannte den vierundzwanzigsten Kriegsartikel auswendig.
Der erste Absatz handelte von Tätlichkeiten gegen Vorgesetzte, der zweite von Widerrede und Ungehorsam. Der erste Absatz endete mit den Worten: »... wird mit dem Tode bestraft.« Es gab keinen mildernden Nachsatz, wie etwa: »... oder in leichteren Fällen entsprechend milder geahndet.« Doughty hatte Blut vergossen, und es gab Zeugen die Fülle, die es gesehen hatten.
Mancher Unteroffizier hätte es selbst unter diesen Umständen vorgezogen, den Fall persönlich zu bereinigen, wozu der schwere Borddienst gerade genug Gelegenheit bot, aber Mayne wäre so etwas nie in den Sinn gekommen. »Wo ist Doughty jetzt?« fragte er. »In Eisen, Sir.« Eine andere Antwort gab es darauf nicht. »Befehl vom Kommodore, Sir!« Orrock kam außer Atem auf die beiden zugestürmt und schwenkte einen versiegelten Brief, den ihm Hornblower aus der Hand nahm.
Doughty konnte warten, ein Befehl duldete keinen Aufschub.
Hornblower dachte zunächst daran, sich in seine Kajüte zurückzuziehen und das Schreiben in Muße zu lesen, aber für einen Kommandanten gab es keine Muße. Als er das Siegel aufbrach, zogen sich Bush und Orrock zurück, um ihm wenigstens jenes Mindestmaß an Fürsichsein zu gewähren, das sich hier an Deck, wo jedes müßige Auge neugierig auf ihm ruhte, überhaupt verwirklichen ließ. Gleich der erste Satz drückte klar aus, was seine Aufgabe war:
Sir, Sie werden ersucht und angewiesen, mit Seiner Majestät Korvette Hotspur ohne Verzug den Hafen von Cadiz anzulaufen...
Der zweite Absatz machte es ihm zur Pflicht, in Cadiz die Befehle auszuführen, die er vom Flottenchef erhalten hatte.
Im dritten und letzten Absatz wurde ihm sowohl nach Länge und Breite wie auch nach Abstand und Peilung von Kap St. Vincent ein Treffpunkt aufgegeben. Dorthin sollte er »mit größter Beschleunigung« versegeln, sobald er seine Aufgaben in Cadiz erfüllt hätte. Ganz unnötigerweise überlas er den einleitenden Absatz des Befehls ein zweites Mal. »Sofort«, hieß es da.
»Mr. Bush, setzen Sie alle Segel, Mr. Prowse, geben Sie mir bitte schnellstens einen Kurs an, der uns gut frei vom Kap Finisterre führt. Mr. Foreman, Signal Hotspur an Indefatigable:›Erbitte Detachierung.‹«
Nur ein einziges Mal konnte er auf dem Achterdeck hin- und hergehen, da kam bereits die Antwort Kommodore an Hotspur:
»Detachiert.«
»Danke, Mr. Foreman. Mr. Bush, bitte abfallen, Kurs Südwest zu Süd.«
»Südwest zu Süd. Aye, aye, Sir.«
Die Hotspur gehorchte dem Ruder und nahm rasch Fahrt auf.
»Kurs Südwest zu Süd, Sir«, meldete Prowse, als er atemlos aus dem Kartenhaus angestürmt kam. »Danke, Mr. Prowse.«
Der Wind war etwas achterlicher als querab, und die Hotspur jagte schäumend dahin, während die Männer schwitzend die Rahen genau in die Stellung trimmten, die vor Bushs kritischen Augen Gnade fand. »Bitte setzen Sie die Royals, Mr. Bush, und lassen Sie auch die Leesegelspieren ausrennen.«
»Aye, aye, Sir.«
Die Hotspur legte sich unter dem Druck des Windes über, nicht weich und ohne Rückgrat, sondern federnd wie eine gute Säbelklinge, die von kräftigen Händen gebogen wird. In Lee lag ein ganzes Geschwader mächtiger Linienschiffe, die Hotspur rauschte in fliegender Fahrt an ihnen vorüber und erwies jedem der Riesen die schuldige Ehrenbezeigung. Hornblower konnte sich vorstellen, wie der blasse Neid alle die Menschen dort packte, wenn sie sahen, wie seine schnelle kleine Korvette dem Abenteuer entgegenstürmte. Dabei hielten sie ihm natürlich nicht zugute, daß er sich volle eineinhalb Jahre zwischen den Felsen und Untiefen der Iroise-Bucht herumgetrieben hatte.»Soll ich die Leesegel setzen, Sir?« fragte Bush. »Ja, tun Sie das bitte, Mr. Bush. Mr. Young, was sagt das Log?«
»Neun Knoten, Sir, vielleicht sogar etwas darüber - neuneinhalb möchte ich sagen.« Neun Knoten, noch ohne Leesegel! Nach den langen Monaten des Eingesperrtseins in engen Revieren war das eine wahre Erlösung, ein befreiendes, lustvolles Wunder.
»Die alte Dame hat das Laufen noch nicht verlernt, Sir«, sagte Bush. Offenbar schlug auch ihm das Herz höher, denn er strahlte über das ganze Gesicht. Dabei ahnte er noch nicht einmal, daß sie hinter acht Millionen Talern her waren und daß - ach so!
Von einer Sekunde zur nächsten war Hornblowers freudiger Überschwang wie weggezaubert.
Er stürzte aus dem Himmel seines Glücks in den Abgrund, wie ein Mann, der von der Großroyalrah herabfällt. Im Drang der Ereignisse war ihm sein Doughty ganz und gar entfallen, das Wort »sofort« in Moores Befehl hatte ihm eine Gnadenfrist verschafft. Da ja so viele Kapitäne greifbar waren und der Flottenchef selbst das Urteil bestätigen konnte, wäre Doughty zur Stunde ganz bestimmt schon verurteilt gewesen, möglicherweise wäre jetzt das Urteil sogar bereits vollstreckt und Doughty ein toter Mann. Spätestens hätte er morgen früh sterben müssen. Die Kommandanten der Kanalflotte kannten mit einem Meuterer kein Erbarmen.
Jetzt mußte er den Fall selbst in die Hand nehmen; Eile war dabei nicht vonnöten, denn von Aufruhr, der sofort im Keim erstickt werden mußte, war ja hier nicht die Rede. Er hatte es also nicht nötig, auf das Recht des Kommandanten zurückzugreifen, das ihm im äußersten Notfall zu Gebote stand, und Doughty in eigener Vollmacht hängen zu lassen. Aber wenn ihm dieses Schlimmste auch erspart blieb, waren die Aussichten immer noch trübe genug, da Doughty weiter in Eisen lag und jedermann an Bord wußte, daß einem aus ihrer Mitte der Strick des Henkers gewiß war. Es lag auf der Hand, daß die Leute dadurch um ihr inneres Gleichgewicht kamen, am meisten litt aber - von Doughty einmal abgesehen - Hornblower selbst unter diesem Zustand. Ihm drehte sich förmlich der Magen herum, wenn er daran dachte, daß es ihm oblag, Doughty hängen zu lassen. Auf einmal erkannte er, wie nahe ihm dieser Mann stand: seine Ergebenheit und sein aufmerksames Wesen zwangen ihm echte Wertschätzung ab. Doughty hatte mit unermüdlichem Eifer eine Geschicklichkeit entwickelt, seinem Kommandanten das Leben angenehm zu machen, die das Durchschnittsniveau ähnlich überragte wie etwa die Fähigkeit mancher besonders geschickter Teerjacken, zwei Enden durch einen kaum sichtbaren Langspleiß zu verbinden.
Hornblower rang in seiner Zerrissenheit verzweifelt um einen Entschluß. Wohl zum tausendstenmal in seinem Leben schalt er des Königs Dienst einen Vampir - wie dieses Tier verführerisch und hassenswert in einem. Noch sah er keinen Ausweg aus dem Zwiespalt, in dem er sich befand. Aber zunächst mußte er sich doch wohl noch genauer über den Fall unterrichten.
»Mr. Bush, würden Sie die Güte haben, Doughty durch den Wachtmeister in meine Kajüte bringen zu lassen?«
»Aye, aye, Sir.«
Kettengeklirr verriet ihm, daß Doughty vor der Tür war; er trug Handschellen an den Gelenken.
»Danke, Wachtmeister, Sie können draußen warten.«
Doughty blickte ihn mit seinen stahlharten blauen Augen unverwandt an.
»Nun, was haben Sie zu sagen?«
»Es tut mir sehr leid, Sir. Bitte verzeihen Sie mir, daß ich Ihnen das angetan habe.«
»Wie kamen Sie nur dazu, sich so gehenzulassen?« Zwischen Mayne und Doughty hatte schon immer ein gespanntes Verhältnis bestanden - das war Hornblower von vornherein klargewesen. Diesmal hatte es Mayne für richtig gehalten, Doughty eine besonders schmutzige Arbeit aufzutragen, während dieser just darauf bedacht war, seine Hände sauberzuhalten, weil er seinem Kommandanten bald darauf das Dinner servieren sollte. Auf Doughtys Einwand hin sah sich Mayne dann sofort veranlaßt, seinen »Starter« zu schwingen.
»Ich - ich konnte mir den Schlag nicht gefallen lassen, Sir.
Vielleicht habe ich mich zu lange unter Gentlemen bewegt, um eine solche Behandlung hinzunehmen.«
Unter Gentlemen konnte ein Schlag nur mit Blut gerächt werden. Die niederen Stände pflegten Hiebe ohne viel Aufhebens hinzunehmen. Hornblower war Kommandant seines Schiffes und als solcher mit nahezu unbegrenzten Vollmachten ausgestattet. Er konnte Mayne befehlen, den Mund zu halten, er durfte Doughtys Handschellen lösen und den Fall für erledigt erklären. Aber war dieser Fall damit auch vergessen? Erweckte er damit bei seinen Leuten nicht den Eindruck, daß man Unteroffiziere ungestraft wieder schlagen durfte? Mußten sie nicht denken, daß ihr Kommandant eine widerwärtige Günstlingswirtschaft trieb?
»Ach, es ist zum...«, brach Hornblower los und knallte die Faust auf den Kartenhaustisch.
»Ich könnte noch einen Ersatzmann ausbilden, Sir, ehe, ehe...« Selbst Doughty brachte das Wort nicht über die Lippen.
»Nein, nein, nein!« Es war ganz und gar ausgeschlossen, daß er Doughty unter den krankhaft neugierigen Blicken all der anderen Leute im Schiri herumlaufen ließ.
»Dann versuchen Sie es doch mit Bayley, dem Deckoffizierssteward, er ist noch der beste von der ganzen nichtsnutzigen Bande.«
»Ja, das will ich tun.«
Daß Doughty in seiner verzweifelten Lage immer noch um ihn besorgt war, machte alles nur noch schlimmer. Aber endlich zeigte sich jetzt doch ein winziges Lichtlein, der Schimmer einer Lösung dieses leidigen Problems, einer Lösung, die ihm nicht ganz so zuwider war wie jene, die das Gesetz vorschrieb. Bis Cadiz waren noch dreihundert Meilen zurückzulegen, aber der Wind war günstig.
»Sie kommen zu gegebener Zeit vor ein Kriegsgericht.
Wachtmeister, führen Sie den Mann wieder ab. Es ist nicht nötig, daß Sie ihn weiter in Eisen halten, ich werde noch befehlen, wie ihm die nötige Bewegung verschafft werden soll.«
»Leben Sie wohl, Sir.«
Es war grauenhaft, mit ansehen zu müssen, wie dieser Mann auch jetzt noch die unerschütterliche Haltung wahrte, die ihm als Steward zur zweiten Natur geworden war, und dabei zu wissen, daß sich hinter dieser Maske eine von Angst und Verzweiflung verzerrte Fratze verbarg. Es ging einfach nicht an, daß man sich dieses Elend ständig vor Augen hielt. Hornblower mußte nach all dem unbedingt wieder an Deck und mit eigenen Augen sehen, wie seine Hotspur unter allen ihren Segeln über die See dahinflog, einem edlen Renner zu vergleichen, der endlos lange im Zaum gehalten war und nun endlich nach Herzenslust ausgreifen durfte. Ganz vergessen konnte er den dunklen Schatten dabei nicht, aber lichter, weniger schwarz erschien er ihm doch, hier unter dem blauen Himmel mit den fliegenden weißen Wolken, beim Anblick der glitzernden Regenbogen, die die Sonne in den aufgewirbelten Gischt der Bugsee zauberte, während sie mit brausender Fahrt die Biskaya durchquerten, einem Abenteuer entgegen, das die Männer gerade deshalb schon im voraus so erregte, weil keiner von ihnen ahnte, worum es dabei eigentlich ging.
Für Hornblower gab es dadurch Ablenkung - sozusagen Ärger als Mittel gegen Ärger -, daß er die ungeschickten Handreichungen Bayleys über sich ergehen lassen mußte, den er aus der Deckoffiziersmesse heraufgeholt hatte. Er hatte die Genugtuung, daß es gelang, vor Kap Ortegal genau wie berechnet Land zu machen. Dann jagten sie die Küste entlang und bekamen dabei eben noch den Hafen Ferrol in Sicht, wo er so endlos lange Monate der Gefangenschaft erduldet hatte.
Vergeblich suchte er nach den Dientes del Diablo, wo sich damals der Weg in die Freiheit für ihn auftat. Weiter ging es um den äußersten Zipfel Europas, und der Wind war wie durch ein Wunder immer noch günstig, als sie von dort, beim Winde jetzt, mit neuem Kurs weiterstampften, um das Kap Roca luvwärts zu passieren.
Eines Nachts schräkte der Wind und wehte ihnen, wenn auch nur leicht, entgegen. Hornblower stürmte wohl ein dutzendmal aus der Koje an Deck und schäumte förmlich vor Ungeduld, als die Hotspur wenden mußte und mit Backbordhalsen recht von der Küste ablief, aber dann folgte gleich ein herrlicher Morgen, der Wind kam zunächst in leisen Puffs aus Südwest und entwickelte sich im weiteren Verlauf zu einer kräftigen Westbrise, die gerade noch die Führung von Leesegeln erlaubte.
So gelangte die Hotspur auf einem langen Streckbug nach Süden und hatte um die Zeit des Mittagsbestecks Kap Roca eben außer Sichtweite in Lee.
Für Hornblower gab es dann noch eine weitere unruhige Nacht, als querab von Kap St. Vincent die letzte wichtige Kursänderung fällig wurde. Danach steuerte die Hotspur mit raumem Wind von Backbord und immer noch unter allem Zeug, das es zu setzen gab, geradewegs auf ihr Ziel Cadiz zu. Als sie auch am Nachmittag noch immer mit einer Fahrt dahinrauschte, die oft sogar volle elf Meilen erreichte, meldete der Ausguck zum erstenmal einen Schatten niederen Landes gut frei an Backbord voraus. Zugleich wurde die Küstenschiffahrt immer lebhafter, alle diese größeren und kleineren Segler setzten hastig ihre portugiesische oder spanische Flagge, sobald sie das britische Kriegsschiff erkannten. Zehn Minuten später ging aus einer neuen Meldung des Ausgucks hervor, daß die Ansteuerung bestens gelungen war, und nach weiteren zehn Minuten entdeckte Hornblower durch seinen Kieker an Steuerbord voraus bereits die strahlend weißen Häuser der Stadt Cadiz.
Hornblower hätte diesen Erfolg ganz gern ein wenig ausgekostet, aber es blieb ihm wie immer keine Zeit, sich darin zu gefallen. Jetzt waren sofort die nötigen Schritte zu tun, um von den spanischen Behörden die Genehmigung zum Einlaufen zu erwirken; nicht minder aufregend war die Aussicht, demnächst mit dem hiesigen Vertreter der britischen Krone in Fühlung zu kommen, und endlich galt es - jetzt oder nie - den Entschluß zu verwirklichen, den er Doughtys wegen gefaßt hatte. Die Sorge um seinen Doughty hatte ihn während der ganzen herrlichen Tage unter Vollzeug nicht losgelassen, er hatte darüber seine Tagträume von Reichtum und Beförderung vergessen, ja, sie hatte ihn sogar davon abgelenkt, sich auf seine Aufgabe in Cadiz gehörig vorzubereiten. Es verhielt sich damit wie mit den dramatischen Nebenhandlungen in den Stücken Shakespeares, die immer wieder von irgendwoher auftauchen und im jeweiligen Augenblick die gleiche Bedeutung gewinnen wie die weitere Entwicklung des dramatischen Hauptproblems.
Hornblower war sich dabei durchaus im klaren, daß für diesen Fall das Wort »jetzt oder nie« besondere Bedeutung hatte. Er mußte sich in dieser Minute entscheiden und ohne Verzug entsprechend handeln, jedes Eher wäre voreilig, jedes Später zu spät gewesen. Im Dienst des Königs hatte er oft genug dem Tod ins Auge gesehen, durfte er nicht sagen, daß ihm dafür nun auch einmal der König ein Leben schuldig war? Eine solche Rechtfertigung seines Tuns wäre mehr als fadenscheinig gewesen, darum gestand er sich am Ende, als die Entscheidung bereits gefallen war, daß es ihm dabei nur um seine eigene innere Ruhe ging. Schließlich schob er seinen Kieker ebenso wildentschlossen zusammen wie damals im Goulet, als er an den Feind heranging. »Mein Steward soll zu mir kommen«, sagte er.
Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, daß der Mann, der diese gleichgültigen Worte sprach, eine schwere Verletzung seiner Kommandantenpflicht im Schilde führte.
Bayley hatte trotz seiner Jahre noch die knochige Gestalt und das ungelenke Gehaben eines halbwüchsigen Jungen. Jetzt stand er, die Hand zum Gruß an der Stirn, vor seinem Kommandanten, in Sicht - und was noch wichtiger war - in Hörweite von mindestens einem Dutzend Männern auf dem Achterdeck.
»Ich erwarte heute Abend den Konsul Seiner Majestät zum Souper«, sagte Hornblower. »Was könnte ich ihm dabei wohl Besonderes bieten?«
»Ah - hm, Sir...«, stammelte Bayley. Eben das und nicht um ein Wort mehr hatte Hornblower von ihm erwartet. »Los, so reden Sie doch endlich«, fuhr er ihn an.
»Ich weiß nicht recht, Sir«, sagte Bayley. Er hatte in den letzten Tagen schon des öfteren unter Hornblowers aufbrausender Art zu leiden gehabt, das erwies sich jetzt als Vorteil.
»Verdammt noch mal, nun lassen Sie sich doch endlich etwas einfallen, Mensch!«
»Wir, wir hätten noch ein paar Scheiben kaltes Rindfleisch, Sir...«
»Kaltes Rindfleisch? Für Seiner Majestät Konsul? Das ist doch Unsinn!«
Hornblower ging tief in Gedanken bis an die Heckreling und wieder zurück.
»Mr. Bush, bitte entlassen Sie Doughty für heute Abend aus dem Arrest. Mit dem Trottel da kann ich nichts anfangen.
Doughty soll sich bei mir in der Kajüte melden, sobald ich Zeit habe.«
»Aye, aye, Sir.«
»Bayley, Sie können verschwinden. Mr. Bush, bitte lassen Sie die Karronade Nr. 1 an Steuerbord klarmachen zum Salut. Ist das nicht der Logger der Guarda Costa, der dort auf uns wartet?« Die Sonne neigte sich schon dem Westen zu und übergoß die weißen Häuser von Cadiz mit romantischem Rosa, als die Hotspur auf den Hafen zulief und von Sanitätsoffizieren, See- und Landoffizieren heimgesucht wurde, die dafür zu sorgen hatten, daß Cadiz von ansteckenden Krankheiten und Verletzungen der Souveränität verschont blieb. Hornblower besann sich auf seine spanischen Kenntnisse, sie waren längst eingerostet, weil er seit dem letzten Krieg kein Wort Spanisch gesprochen hatte. Am schlimmsten war es um seine Aussprache bestellt, da er in jüngster Zeit immer nur französisch gesprochen hatte. Aber trotz dieser Mängel tat sein Gestammel wertvolle Dienste bei der Erledigung aller Formalitäten, während die Hotspur unter Marssegeln langsam der Bucht zuglitt, die er noch so gut in Erinnerung hatte, obwohl schon so manches Jahr seit dem Tage dahingegangen war, da er auf der alten Indefatigable hier einlief. Die Abendbrise trug den Donner der Salutschüsse rund um die Bucht, als die Karronade der Hotspur sprach und Santa Catalina die Antwort gab. Unterdessen führte der spanische Lotse die Hotspur zwischen den »Schweinen« und den »Säuen« hindurch - Hornblower vermutete, daß mit diesen Schweinen auf spanisch Tümmler gemeint waren -, und die Männer standen klar, die Segel zu bergen und den Anker fallen zu lassen. In der Bucht lagen bereits einige andere Kriegsschiffe vor Anker; sie gehörten nicht der spanischen Marine an, deren Masten Hornblower in den inneren Hafenbecken entdeckte.
»Estados Unidos«, sagte der spanische Seeoffizier und wies dabei auf die zunächstliegende Fregatte. Hornblower sah das Sternenbanner an der Gaffel und den Breitwimpel im Großtopp.
»Mr. Bush! Klar zur Ehrenbezeigung, wenn wir passieren.«
»Constitution, Kommodore Preble«, erklärte der spanische Offizier.
Die Amerikaner führten selbst gerade Krieg - in Tripolis, drinnen im Mittelmeer, und dieser Preble - Hornblower wußte nicht, ob er den Namen richtig verstanden hatte - war wohl der letzte einer ganzen Reihe amerikanischer Befehlshaber, die dort ihr Glück versucht hatten. Trommeln schlugen an, Männer paradierten an der Reling, und Hüte wurden feierlich zum Gruß gehoben, als die Hotspur vorüberglitt. »Dort liegt die französische Fregatte Felicite«, erklärte der Spanier weiter und deutete auf das zweite Kriegsschiff. Zweiundzwanzig Pforten in der Bordwand, es war also eine der schweren französischen Fregatten, aber man brauchte ihr offiziell keine Beachtung zu schenken. Gegner, die in einem neutralen Hafen zusammentrafen, nahmen voneinander keine Notiz, sie schnitten einander genau wie zwei Herren, die infolge eines dummen Zufalls in der Zeit zwischen Forderung und Zweikampf irgendwo aufeinanderstießen. Im übrigen war es ein Glück, daß er sich mit dem Franzosen nicht mehr zu befassen brauchte, weil ihm beim Anblick des Amerikaners blitzartig für seinen anderen Plan eine neue Lösung eingefallen war - die Nebenhandlung drängte sich wieder einmal in den Vordergrund. »Sie können hier ankern, Herr Kapitän.«
»Bitte drehen Sie auf, Mr. Bush.«
Die Hotspur ging in den Wind, die Marssegel wurden bemerkenswert schnell festgemacht, und die Ankertrosse rauschte dröhnend durch die Klüse. Gut, daß das Manöver fehlerlos gelang, da es immerhin unter den kritischen Blicken von Seeleuten dreier fremder Marinen durchgeführt werden mußte. Ein einzelner Schuß hallte rund um die Bucht.
»Sonnenuntergang. Mr. Bush, lassen Sie bitte die Flagge niederholen.«
Zuletzt stellten sich die spanischen Offiziere mit den Hüten in der Hand nebeneinander auf und verabschiedeten sich mit formvollendeten Verbeugungen. Auch Hornblower bemühte sich um die beste Form, die ihm zu Gebote stand, ausgesucht höflich zog auch er seinen Hut, sagte den Herren einige Worte des Dankes und geleitete sie zum Fallreep. »Hier kommt bereits Ihr Konsul«, sagte der Seeoffizier, als er eben im Begriff stand, das Seefallreep zu betreten.
In der sinkenden Dämmerung näherte sich von der Stadt her ein Ruderboot. Hornblower beendete die weitschweifige Abschiedszeremonie möglichst schnell, weil er sich noch rasch darauf besinnen mußte, welche Ehrenbezeigung einem Konsul zustand, wenn er nach Sonnenuntergang an Bord eines Kriegsschiffes kam. Der westliche Abendhimmel war blutrot, die Brise flaute ab, nach der köstlichen Frische draußen auf See empfand man die schwüle, schwere Luft in der Bucht geradezu als erstickend. Dabei ging es für Hornblower gerade jetzt um wichtigste Staatsgeheimnisse - und um seinen Doughty. Als er sich die Sorgen des Augenblicks durch den müden Kopf gehen ließ, kam ihm eben dabei ein weiteres Anliegen zum Bewußtsein. Seine Briefe an Maria erlitten jetzt selbstverständlich eine Unterbrechung, es konnte Monate dauern, bis sie wieder von ihm hörte, und dieses lange Schweigen mußte bei ihr die schlimmsten Befürchtungen wecken. Nun aber Schluß mit diesen dummen Gedanken.
Grübeln war sinnlose Zeitverschwendung, für ihn galt es jetzt, ohne Verzug zu handeln.