19
Rory schlug um sich und zog die Krallen durch die Erde, doch Jake drückte ihm erbarmungslos die Luft ab. Er hatte seinen Leoparden akzeptiert, ihm völlige Freiheit gegeben, und stellte fest, dass er selbst dabei genauso präsent war wie immer. Jake war Jake, ob als Leopard oder als Mensch. Das Tier war nicht grausamer als er, nicht weniger herrschsüchtig, aber auch nicht dominanter. Das Äußere spielte keine Rolle, er war immer er selbst, mit all seinen guten und schlechten Eigenschaften, die er unter Kontrolle halten musste.
Jake hielt seinen Gegner fest, bis er erstickt war und der Herzschlag aussetzte. Er wartete ruhig ab, bis das tote Gewicht zu Boden sank, und blieb noch ein wenig länger so stehen, um ganz sicherzugehen, dass er sich nicht getäuscht hatte und dass der Mann, der Emma entführen oder umbringen wollte, wirklich tot war. Dann ließ er los und lief hinüber zu der Leopardin. Sie lag am Boden. Blut rann aus ihren Wunden an Hals, Nacken, den Schultern und Flanken. Joshua hockte neben ihr, wich jedoch, als Jake näher kam.
Ohne Rücksicht darauf, dass der Regen auf seinen nackten Körper traf, nahm Jake wieder Menschengestalt an, hob Emma hoch und trug sie ins Haus. Die Leopardin schaute ihn an und schüttelte kraftlos den Kopf. Jake spürte, wie ihre Muskeln sich verdrehten, während sie sich in seinen Armen verwandelte. Er war verblüfft, dass sie trotz ihrer Verletzungen dazu imstande war. Als ihr Körper gegen diese zusätzliche Kraftanstrengung rebellierte, stöhnte Emma auf und erstickte die Schmerzenslaute an seiner Brust.
»Wo sind die Kinder, Süße?«, drängte Jake sanft.
»Schutzraum«, krächzte Emma, während sie sich zitternd an die wunde Kehle griff.
Etwas entspannter trat Jake in die Eingangshalle. »Was zum Teufel.« Abrupt blieb er stehen, als er sah, dass Drake am Boden lag und Conner nackt neben ihm kniete. »Wie schlimm ist es?«
»Er verliert zu viel Blut. Ich habe per Funk den Helikopter angefordert. Der Pilot meint, er kann fliegen, sobald der Wind ein wenig nachlässt. Wir treffen uns am Landeplatz.«
»Und die Männer?«, erkundigte Jake sich nach den Arbeitern, die nicht zu den Leopardenmenschen gehörten.
Conner zuckte die Achseln. »Die meisten Pferde sind geflüchtet und ein paar schwer verletzt. Einige der Männer suchen nach den Ausreißern, die anderen sind damit beschäftigt, die Schäden zu beheben. Ein Leopard hat sich mit den im Stall eingesperrten Tieren seinen Spaß gemacht.«
»Joshua«, rief Jake. »Hol Kleider für uns alle, auch für Emma. Außerdem Handtücher und heißes Wasser. Wer kann am besten auf Susan und die Kinder aufpassen?«
»Evan.«
»Ruf ihn her. Er soll sich auch um den toten Leoparden kümmern. Wir werden für all das eine Erklärung brauchen. Conner, bleib hier, bis ich Emma verarztet habe. Ich muss wissen, wie schwer ihre Verletzungen sind.«
»Ich hab alles unter Kontrolle«, versicherte Conner.
»Verdammter Bastard«, murmelte Jake, als er sich vorbeugte, um Emma auf die Couch zu legen.
Sie wollte seinen Hals nicht loslassen. »Ich blute doch. Wir werden es ruinieren.«
»Red keinen Unsinn. Wen interessiert diese dämliche Couch? Ich muss dich untersuchen. Halt still, Süße.« Mit sanften Händen betastete Jake die Wunden, die Emmas zarte Haut verunstalteten, entdeckte aber kein arterielles Blut. Die meisten Kratzer gingen tief genug, um zu bluten, würden aber keine bleibenden Narben hinterlassen. Die Bisse an Hals und Kehle machten ihm ein wenig Sorgen, doch Rory hatte darauf geachtet, nichts Lebenswichtiges zu verletzen. Offensichtlich wäre er nicht so weit gegangen, ein Weibchen umzubringen.
Ohne an eventuelle Blutflecken zu denken, warf er Emma eine Decke über und ging neben Conner in die Hocke. »Wie lange ist das Bein schon abgebunden? Nicht, dass er es verliert.«
»Als ob ich es nicht schon längst verloren hätte«, sagte Drake müde und schloss die Augen. »Mein Leopard kann nicht ewig so leben, Jake, und dies ist keine schlechte Art, aus dem Leben zu gehen.«
»Ach, halt die Klappe«, herrschte Jake ihn an. »Ich habe dir versprochen, wir kriegen dieses Bein wieder hin. Wenn du aufwachst, geht es dir bestimmt besser. Der Chirurg, mit dem ich über dein Problem gesprochen habe, steht schon bereit.«
Drake riss die Augen auf. »Mit einem artfremden Arzt darfst du nicht über uns reden.«
»Das weiß ich«, sagte Jake. »Vertrau mir.« Er fasste Conner bei der Schulter. »Kannst du ihn begleiten?«
Conner nickte. »Ja, überlass das ruhig mir, Jake.«
Joshua kehrte eilig zurück, er war immer noch barfuß und nur mit einer Jeans bekleidet. Er warf Jake und Conner ebenfalls eine Jeans zu. »Wir müssen ihn auf eine Bahre legen und ihn zum Landeplatz bringen. Der Pilot meint, wir haben nur ein kleines Zeitfenster. Jetzt oder nie. Evan ist unterwegs. Er sagt, in den Stallungen sieht es ziemlich schlimm aus.« Joshua stellte in der Halle und dem großen Zimmer Laternen auf und zündete zusätzlich noch ein paar Kerzen an. »Irgendjemand hat sich am Generator zu schaffen gemacht. Ich repariere ihn später.«
»Geh und hol die Kinder aus dem Schutzraum. Aber mach vorher etwas Licht. Sie werden Angst haben. Sag Susan, sie soll die beiden zusammen ins Bett stecken und bei ihnen bleiben. Und dass Evan in ein paar Minuten kommt, Mami und Daddy kämen auch bald. Evan kann ihnen das mit Drakes Verletzung erklären, dass es deswegen noch ein bisschen dauert.«
Joshua nickte, rannte die Treppe hoch und ließ sich von seinem Geruchssinn zu Emmas Zimmer leiten. Dort schnappte er sich das erstbeste Kleidungsstück, raffte einige Handtücher zusammen und machte Waschlappen nass, dann rief er Jake zu: »Ich werfe dir Emmas Kleider und die anderen Sachen runter.«
Jake fing erst den Morgenmantel, dann die Tücher und die feuchten Lappen auf. »Wir müssen die Wunden desinfizieren und dir ein Antibiotikum geben, Emma, damit du keine Entzündung bekommst. Kratzer und Bisse von Katzen können zu tödlichen Entzündungen führen.«
Emma nickte. »Mir geht’s gut, Jake, kümmer dich um Drake.«
»Ihm können wir erst helfen, wenn er im Hubschrauber ist. Ich möchte dich sauber machen und anziehen, damit die Kinder nicht noch mehr Angst bekommen, als sie sowieso schon haben.« Am liebsten hätte er jeden Quadratzentimeter ihrer Haut abgesucht, um absolut sicherzugehen, dass Emma keine ernsthaften Verletzungen hatte.
Jake säuberte jeden Kratzer und Biss und goss beißendes Jod über die Wunden, so dass Emma sich aufbäumte und anfing sich zu wehren, dann verband er sie, so gut er konnte, und hüllte sie in den weichen Morgenrock.
»Wir müssen gehen, Jake«, brüllte Joshua. »Die Kinder sind im Bett, sie weinen zwar, aber sie sind in Sicherheit, und Evan ist da. Wir müssen Drake wegbringen, solange die Flaute anhält. Der Pilot sagt, wir sollen uns beeilen.« Joshua kniete sich ebenfalls neben Drake und schob ihm mit Conners Hilfe ein Backboard unter, ehe sie ihn gemeinsam auf eine Trage hoben.
»Bleib bei den Kindern, Jake«, sagte Drake.
»Halt den Mund, verdammt nochmal«, schnauzte Jake aus lauter Wut über den Kloß in seinem Hals. »Ich bringe dich zum Hubschrauberlandeplatz und sorge dafür, dass du am Leben bleibst, ob es dir passt oder nicht.« Wenn es einen Menschen gab, den er als Freund bezeichnet hätte, dann Drake. Und nach allem, was dieser Mann für ihn getan hatte, wollte Jake sich selbst um ihn kümmern.
Er lief voraus und versuchte, nicht auf das Schluchzen der Kinder zu hören, das aus dem oberen Stockwerk drang; es wühlte nicht nur ihn auf, sondern auch seinen Leoparden. Heißer Zorn stieg in ihm auf, während er mit Drake und den anderen durch den Regen zum Hubschrauberlandeplatz hastete.
Unter der Küche, im riesigen, dunklen Weinkeller, bewegte sich etwas und schlich auf die Treppe zu. Nachdem oben Ruhe eingekehrt war und der spezifische Geruch der Leoparden sich verzogen hatte, stieg das Tier lautlos die Stufen empor und legte eine seiner riesigen Pranken auf den Türknauf. Es war Drake von den Ställen gefolgt, um ihn umzubringen, doch dann hatte es die anderen gewittert, wie sie zum Haus gerannt kamen und sich im Lauf verwandelten. Da hatte es gewusst, dass es sich verstecken musste. Es war ganz leicht gewesen, durch die offene Tür zu schlüpfen und sich im Weinkeller zu verbergen.
Der Geruch eines Weibchens war ein so mächtiges Aphrodisiakum, dass der Leopard ein ums andere Mal den Kopf hob, grimassierte und es genüsslich einsog. Das Kinderweinen beunruhigte ihn ein wenig, doch der überwältigende Blutgestank weckte alles Wilde in ihm. Seine Prioritäten waren klar. Das erwachsene Weibchen war die erste Wahl. Das kleine Mädchen rangierte an zweiter Stelle, der Junge an letzter. Seine Pranke bekam Finger, die sich um den Türknauf schlossen. Überaus vorsichtig drehte er ihn, öffnete die Tür einen Spalt weit und schlüpfte hindurch.
Der eine Leibwächter, Evan, war im Haus geblieben, zusammen mit Susan, Emma und den beiden Kindern. Der Leopard tappte durch die dunklen Flure und mied das Dämmerlicht der Laternen. Die Menschen hielten sich oben auf. Die Kleinen weinten, und Emma versuchte, sie zu beruhigen, indem sie mit beiden Kinder im Arm aufund ablief.
»Es dauert nicht mehr lange, Andraya. Daddy ist bald wieder da«, sagte Emma. Dann sprach sie ins Funkgerät. »Sag, dass du gleich zurückkommst, Jake, lass sie deine Stimme hören.«
Jake fuhr sich mit der Hand durch das nasse Haar. Kalte Regentropfen hingen in seinen Wimpern. Der Hubschrauber stand bereits auf dem Landeplatz und lief mit rotierenden Flügeln warm. Justin Right, der Pilot, kam auf sie zugerannt.
»Bitte, Jake. Die Kinder sind ganz durcheinander.«
Sie selbst war auch ziemlich durcheinander. Sie musste einen Weg finden, sich in den Griff zu bekommen und die Kinder zu trösten. Jake schnaubte vor Wut, dass er nicht an zwei Orten gleichzeitig sein konnte. »Draya, sei ein braves Mädchen. Ich bin gleich wieder da.« Er hasste das. Emma brauchte ihn, die Kinder auch, und er schickte Drake mit jemand anderem ins Krankenhaus, obwohl er selbst mitwollte. Liebe war grausam, sie konnte einem Mann das Herz brechen.
»Siehst du, Andraya? Hast du gehört, was Daddy gesagt hat?« Emma hielt beide Kinder, ignorierte dabei den Schmerz, wenn die kleinen Körper an ihren Wunden scheuerten. Die kleinen Hände drückten auf den Verband an ihrem Hals, doch für Emma zählte nichts anderes, als die Kinder zu beruhigen. Selbst Susan heulte. Solange sie mit den Kleinen im Schutzraum gewesen war, hatte sie sich zusammengerissen und versucht gute Laune zu verbreiten, doch seit Joshua sie befreit hatte, war sie genauso weinerlich wie die Kleinen.
Emma küsste beide Kinder abwechselnd. »Na kommt, ich mache euch heiße Schokolade.«
»Der Generator ist noch nicht repariert. Das geht nicht«, warf Evan ein.
Als die Kinder von neuem zu weinen begannen, warf Emma ihm einen bösen Blick zu. »Dann eben kalte Schokolade. Das macht Spaß. Wir setzen uns alle zusammen an den Tisch. Na los, Susan, komm mit.«
Andraya bekam einen Schluckauf und klammerte sich fester an Emmas Hals. »Bleib da.«
»Ich lasse dich nicht allein, Baby«, sagte Emma sanft. »Wir gehen alle zusammen.«
»Wie sieht’s aus, Kyle, möchtest du Schokolade?«, fragte Evan.
Kyle nickte heftig, nahm den Kopf aber nicht von Emmas Schulter. Evan streckte die Hände aus, um ihn auf den Arm zu nehmen, doch keins der Kinder wollte sich von Emma lösen. Sie zuckte die Achseln und trug die Kleinen, eins auf jeder Seite, die Treppe hinunter durch die Halle, wobei sie betete, dass ihr der Morgenrock nicht von den Schultern glitt. Die Stelle, an der noch Drakes Blut klebte, mied sie. Die Laternen gaben nicht allzu viel Licht, so dass den Kindern nichts auffiel, doch Susan hinter ihnen rang hörbar um Luft. Evan legte ihr eine Hand auf die Schulter, was sie so weit beruhigte, dass sie ihm zur Küche folgte.
Emma setzte Kyle in seinem Hochstuhl ab. Die Fenster klirrten, und ein heulender Windstoß veranlasste Andraya, das Gesicht in Emmas Halsbeuge zu vergraben. Kyle schrie auf und warf sich Evan an die Brust, der den Jungen sofort in die Arme schloss.
»Der Wind scheint wieder zuzunehmen«, sagte Emma beunruhigt. »Glaubst du, der Helikopter hat sicher starten können?«
»Ich schau mal nach«, sagte Evan und trat ans Fenster, um nach dem Landeplatz zu sehen. »Ist schon wieder alles dunkel, Emma, Jake wird auf dem Rückweg sein.«
»Gott sei Dank«, flüsterte sie, und zum ersten Mal an diesem Tag entspannte sie sich wirklich. Ihr war nicht bewusst gewesen, wie sehr sie sich auf Jake und seine Hilfe verließ. Er wirkte so stark und unerschütterlich.
Kyle zappelte und machte sich schwer, weil er wieder zu Emma wollte. Evan stellte ihn auf den Boden, damit er zu ihr laufen konnte.
Dann streckte Evan die Hand aus. »Komm, Kyle, gönn Mami mal eine Atempause. Ich setz dich in den Hochstuhl. Emma, du siehst aus, als würdest du gleich zusammenbrechen, und die Wunden an deinem Hals scheinen auch wieder aufgegangen zu sein.«
Emma fasste an ihren Verband, und als sie die Hand wieder zurückzog, waren ihre Finger blutbefleckt.
Susan hielt erschrocken die Luft. »Hier, Emma.« Sie reichte ihr ein kleines Taschentuch.
Emma hatte sich halb zu Susan umgedreht, als sie Evan plötzlich ächzen hörte. Schnell schaute sie sich um und sah, wie sein massiger Körper zusammensackte. Emma rannte zu Kyle, während Evan im Fallen auf eine große, fauchende Raubkatze feuerte, die auf den Jungen zusprang. Emma hätte Kyle fast noch am Schlafanzug zu fassen bekommen, doch der Leopard schnappte ihn im Vorbeilaufen und wäre beinah mit ihm gegen die Tür geprallt, da seine Pranke sich nicht schnell genug verwandelte, um sie öffnen zu können. Evan rollte sich herum und wollte ein zweites Mal feuern, doch Emma schrie: »Nein! Du könntest Kyle treffen.«
Der Leopard stürzte mit ihrem Sohn nach draußen, setzte über die Blumen und die niedrige Gartenmauer und verschwand in der Nacht.
Andraya wurde hysterisch. Susan schrie. Emma packte sie bei den Schultern. »Verriegle das Haus und hilf Evan, so gut du kannst. Sag Jake, was passiert ist. Ich folge den beiden.«
»Das kannst du nicht«, protestierte Susan. »Warte auf Jake. Der wird dich töten.«
Evan wollte Emma am Bein festhalten, als sie an ihm vorbeilief, doch er griff daneben und fluchte laut. Dann versuchte er wieder auf die Beine zu kommen, doch seine Rippen waren gebrochen und das Atmen fiel ihm schwer. Susan hockte sich neben ihn und spähte ängstlich in die Nacht.
»Ich kann sie nicht mehr sehen.«
»Mach dir keine Sorgen. Jake und die anderen werden gleich da sein. Sie müssen den Schuss gehört haben.« Evan konnte nicht gehen, deshalb zog er sich zur Tür, um sie wieder zu schließen.
Wie auf der Flucht vor dem stürmischen Wind, der sie heulend vor sich herjagte, preschten Jake, Conner und Joshua aus der Dunkelheit. Sie waren klatschnass, barfuß und ohne Hemd im Eiltempo zurückgelaufen, doch kaum außer Atem. Wieder schrie Susan ängstlich auf, und als Jake sich mit wutverzerrtem Gesicht vor Evan aufbaute, wich sie erschrocken zurück.
Jake packte Evan beim Hemd, riss ihn fast vom Boden hoch und musterte ihn mit grausamem Blick. »Wo ist sie?« Jake stieß jedes Wort überdeutlich hervor, im Dämmerlicht wirkten seine Zähne schärfer als sonst, die Eckzähne wesentlich länger.
»Sie ist hinter dem Leoparden her.« Evan brachte die Worte nur mühsam heraus. »Er hat Kyle mitgenommen, ich konnte sie nicht aufhalten, Jake.«
Jake fluchte und ließ Evan wieder los. »Schließ die verdammte Tür, Susan.« Dann schloss er Evans Finger um den Griff seiner Pistole. »Beim nächsten Mal tötest du ihn.«
Jake drehte sich um und rannte in die Nacht hinaus, Conner und Joshua hinterher. Sie fanden Emmas Morgenrock gleich hinter den Blumenbeeten und beschleunigten ihre Schritte, zogen die Jeans aus, warfen sie jenseits des Gartens beiseite und verwandelten sich im Lauf.
An einigen Stellen roch es besonders stark nach Blut und dem Körpergeruch des Verfolgten. Sie hatten es also mit Clayton zu tun, dem zweiten Mann, der von Trent und den Feinden angeheuert worden war. Er rannte, so schnell er es mit Kyle im Maul konnte. Das war sicher nicht leicht, denn bestimmt wehrte sich der Junge. Vielleicht hatte er aber auch so viel Angst, dass er wie gelähmt war.
Jake folgte den beiden mit klopfendem Herzen und einem bitteren Geschmack auf der Zunge. Sein Sohn. Kyle. Er hatte den Jungen in seiner Hand gehalten, ihm die Windeln gewechselt, ihn gefüttert und ihm in die Augen gesehen - die den seinen so sehr ähnelten. Er hatte sich eingeredet, dass er nichts und niemanden liebte, dennoch war es diesem Kind gelungen, sich in sein Herz zu stehlen, und nun war es nicht mehr daraus wegzudenken. Dass er das, was er fühlte, nicht offen zugegeben hatte - nicht einmal vor sich selbst - hieß nicht, dass das Gefühl nicht vorhanden war. Er konnte nicht mehr leben ohne seinen Sohn, ohne seinen vertrauensseligen Blick und die Liebe und Freude in seinen Augen, wenn er ihn morgens anstrahlte.
Jake sagte sich, dass die Feinde den Jungen auf der Stelle getötet hätten, wenn das ihre Absicht gewesen wäre. Nein, dies war eine Entführung, um an einen Leoparden heranzukommen oder um Macht über Jake zu gewinnen. Denn die hätten sie. Er würde alles tun, um Kyle zurückzubekommen - einfach alles. Und wenn er sein Leben gegen das des Jungen eintauschen musste, er täte es, ohne mit der Wimper zu zucken.
Jake durfte nicht daran denken, wie ängstlich Kyles kleines Herz wohl pochte, wenn er die scharfen Zähne und den heißen Atem auf seiner Haut spürte. Jake kam die Galle hoch, und er zwang sich, an etwas anderes zu denken, um bei Verstand zu bleiben, solange er der Spur folgte.
Die Richtung, die Clayton eingeschlagen hatte, gab ihm zu denken. Der Kidnapper suchte nicht das offene Gelände, wo er Jakes Land ohne weiteres hätte verlassen können, sondern lief immer tiefer in den Wald hinein. Zweimal entdeckten sie Schleifspuren, parallele Furchen im Matsch, die Kyle mit seinen Fersen gezogen hatte. Da, wo seine Haut aufgeschürft war, glänzten kleine Blutflecke. Ohne einen Blick zu wechseln rannten die Männer weiter.
Als Leoparden waren sie zu außerordentlichem Tempo fähig, denn ihre Muskeln versetzten sie in die Lage so schnell zu laufen, dass sie mit allen vieren für gewaltige Sätze abheben konnten. Doch auf diese Weise verbrannten sie ihre Energie auch schnell. Da Clayton einen Zweijährigen trug und seinen Nackengriff oft anpassen musste, um das Kind nicht zu töten, kam er viel langsamer voran.
Jakes Herz schlug schwer gegen seine Brust, als ihm klarwurde, dass Emma den Kidnapper eher erreichen würde, als er sie einholen konnte. Sie war kleiner und musste ihre Beine öfter bewegen, um die gleiche Strecke zu bewältigen, also auch mehr Energie aufbringen, doch sie hatte keine Last zu tragen und er kannte sie und ihre Natur. Sie war hartnäckig und würde ihrer Leopardin freien Lauf lassen, um ihren Sohn zurückzubekommen.
Wie viel Vorsprung mochten Clayton und Emma haben? Groß konnte er nicht sein. Jake und seine Männer waren sofort zum Haus zurückgelaufen, als sie den Schuss gehört hatten, außerdem hatten sie sich bereits auf dem Rückweg vom Hubschrauberlandeplatz befunden.
Der Wind peitschte durch die Bäume, dass die Stämme sich fast bis zum Boden bogen. Jake vernahm unheilvoll knackende Geräusche von abgeknickten Ästen. Der Sturm tobte jetzt wieder mit voller Kraft, doch das war Jake ganz recht in dieser Stimmung; die seit seiner Kindheit unterdrückte Wut stieg nun in ihm auf wie brodelnde Lava - heiß, unaufhaltsam und tödlich. Ohne zu zögern tauchte er seine dicken Pranken in das bald überflutende Wasser des Flusses, nur der Gedanke an seinen Sohn in diesem kalten Strom ließ ihn zusammenzucken. War Kyles Gesicht unter Wasser geraten? Hatte Clayton überhaupt irgendwie auf ihn geachtet?
Jake zog sich mit den Krallen die Böschung hoch und nahm die Spur am anderen Ufer wieder auf; die beiden Leoparden, die neben ihm liefen, registrierte er kaum. Jetzt verstand er, was Drake ihm ohne Worte zu vermitteln versucht hatte - indem er es ihm vormachte. Ein Mann tat, was er tun musste. Er kümmerte sich um die, die ihm anvertraut waren, schützte seine Familie und seine Freunde und die Gemeinschaft, tat einfach das, was ihm richtig erschien. Der ganze Rest - die Launen und die alltäglichen Fehler - spielte keine Rolle. Nur dies, dieses Verschmelzen beider Hälften, so dass sie zusammen rannten, zusammen dachten, gemeinsam das Leben genossen oder sich seinen Gefahren stellten. Sein Verhalten lag in seiner eigenen Hand.
Sein Leopard war ebenso besorgt um Kyle und Emma wie Jake. Das Tier verausgabte sich, pflügte durch Matsch und Pfützen, bereit, sich in reißende Flüsse und tückische Flussbetten zu stürzen, die jederzeit überflutet werden konnten.
Einmal fand Jake eine Stelle, an der sein Sohn offenbar versucht hatte zu entkommen, als Clayton ihn abgesetzt hatte. Doch er entdeckte kein Blut und keine weiteren Flecken, so als ob der Leopard versucht hätte, sich um den Jungen zu kümmern, ehe er weiterlief. Außerdem entdeckte er Emmas kleinere Fährte in der großen des Männchens. Sie holte rasch auf. Jake beschleunigte sein Tempo und zog die anderen mit.
 
Emma konnte die Tatzen des männlichen Leoparden durch den Schlamm platschen hören, während sie auf eine Lichtung zurannten. Obwohl er wusste, dass sie hinter ihm war, machte er keine Anstalten, sie von seiner Spur abzulenken oder Kyle abzusetzen und sich ihr entgegenzustellen. Das hieß, er hatte ein bestimmtes Ziel, wo es auch sein mochte, und das verschaffte ihm einen Vorteil.
Emma machte sich solche Sorgen um Kyle, dass ihr fast das Herz zersprang. Hin und wieder konnte sie ihn weinen hören, manchmal protestierte er mit lautem Heulen, dann wieder jammerte er nur leise und mitleiderregend. Das Maul der Leopardin war nass von Regen und Tränen, doch sie gab nicht auf, selbst wenn ihre Sicht verschwamm, und verließ sich darauf, dass ihre Tasthaare ihr verrieten, was um sie herum war.
Der Wind blies ihr ins Gesicht und trug ihr den Geruch der Menschen zu, der Feinde, die in ihren teuren Trucks warteten, um ihr den Sohn zu rauben. Cathy und Ryan Bannaconni zusammen mit Trent, diesem Widerling. Wahrscheinlich würden sie sich um ihr Baby noch streiten, falls sie geplant hatten, dass Rory ihnen Andraya brachte, damit jeder ein Kind bekam.
Emma bleckte die Zähne und folgte dem großen Leoparden und Kyle ohne zu zögern ins Freie. Kurz vor der Gruppe bremste die Leopardin ab. Man erwartete sie bereits. Trent zielte mit einem Gewehr auf sie, während Ryan Bannaconni Kyle trotz seiner Gegenwehr triumphierend in die Höhe hielt. Cathy griente, obwohl ihr faszinierter Blick immer wieder zu Clayton zurückkehrte, dessen Leopardenkörper sich für einen Moment auf dem Boden wand, ehe der Mann sich splitterfasernackt erhob - ein Muskelpaket mit großen Genitalien. Unbekümmert um seine Nacktheit inspizierte er den Streifschuss an seiner Schulter.
Als Emma auf die Lichtung stürmte und stehen blieb, musterte Clayton sie hungrig. Emma beachtete ihn gar nicht. Kyle war das Einzige, was sie interessierte. Sie verwandelte sich, nicht so schnell und so gekonnt wie das Männchen, aber sie stellte sich ihnen in ihrer menschlichen Gestalt, nackt, nur ihr langes Haar konnte ihren Körper bedecken.
Cathy stockte der Atem. Ryan stellte Kyle auf dem Boden ab, ließ ihn aber nicht los.
Trent spähte in die Bäume, schüttelte den Kopf, senkte das Gewehr und verzog das Gesicht. »Ich wusste es. Ich wusste, dass ich Recht hatte.« Er sah zu Cathy hinüber. »Du hast behauptet, sie könnte es nicht. Die Gene seien stark, aber sie könnte sich nicht verwandeln. Am Ende hat meine Familie doch einen Gestaltwandler produziert, und noch dazu ein Weibchen. Sie gehört mir.«
»Das sehe ich anders, Trent«, sagte Ryan. »Ich hab das, was sie will.« Damit packte er Kyle so fest, dass der Junge aufschrie.
»Gebt mir das Kind«, forderte Emma ruhig. »Ihr macht ihm Angst.« Sie bedeckte sich absichtlich nicht, sondern richtete sich möglichst hoch und selbstbewusst auf. Jake würde kommen. Diese Gewissheit war ihr Schutzschild. Er würde kommen und Kyle vor diesen schrecklichen Ungeheuern retten, egal, was passierte.
»Komm her, dann lass ich ihn gehen«, erwiderte Ryan, der Kyle an den Haaren gepackt hielt. »Ein ausgewachsenes Weibchen ist wesentlich mehr wert als dieser unterentwickelte Welpe.« Damit riss er Kyle hoch und schüttelte ihn.
Kyle schrie und trat mit den Füßen, seine Augen waren glasig vor Angst.
Cathy lachte. »Der ist nicht so stoisch wie Jake, nicht wahr, Liebling? Wahrscheinlich fehlen ihm die Leopardengene. Jake hat nie einen Ton gesagt, egal, was wir mit ihm angestellt haben.« Cathy legte den Kopf schief und schaute Emma an. »Und wie stoisch bist du, meine Liebe? Wirst du unter der Peitsche oder dem Stock auch flennen wie dieses wertlose Baby oder wirst du so ruhig bleiben wie Jake?«
Emma ließ sich nicht einschüchtern und maß ihr Gegenüber mit tödlichem Blick. Wenn sie in dieser Nacht sterben musste, würde sie Cathy Bannaconni mitnehmen. Sie würde ihren Sohn nicht in den Händen dieser Irren zurücklassen. »Sie sind wahnsinnig. Das wissen Sie ja, oder?«
Cathy hörte nicht auf zu lächeln, doch ihre Augen wurden blank und hart und ein grausames Aufblitzen verriet ihre Absicht, kurz bevor sie Kyle in den Bauch trat. Der Junge brach zusammen und wäre hingefallen, wenn Ryan ihn nicht am Haar festgehalten hätte.
Ein leises, warnendes Knurren kam aus Emmas Kehle. Sie spürte, wie ihre Muskeln arbeiteten und ihre Hände sich krümmten. Ein Juckreiz überlief sie, und sie atmete tief ein und aus, um den Wandel aufzuhalten. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich frage mich, wie Sie schreien werden, wenn ich Ihnen das Herz herausreiße und es Ihnen zeige«, sagte Emma ganz ruhig und leise, doch sie meinte jedes Wort.
Cathy erbleichte und schaute hastig zu Clayton hinüber, als wollte sie sich vergewissern, dass er die kleinere Leopardin aufhalten würde, falls es nötig sein sollte. Sie machte sogar ein paar Schritte auf ihn zu, doch der Mann musterte sie nur angewidert von oben bis unten. Von ihm war offenbar keine Hilfe zu erwarten.
»Sie gehört mir«, sagte Trent. »Ich habe meinem Neffen das Geld gegeben, um ihre Mutter zu holen.«
Emma warf einen Blick auf Clayton; sie hatte seine kaum verhohlene Verachtung für die anderen bemerkt. Diese Leute hatten zwar Leopardenblut, konnten sich aber nicht verwandeln, und obwohl Clayton in ihren Diensten stand, hatte er weder Respekt noch Sympathie für sie. Und da Emma brünstig war, war sein Leopard unwiderstehlich angelockt, ob er wollte oder nicht. Sie schenkte ihm ein kameradschaftliches, beinah kokettes kleines Lächeln, und bewegte sich so katzenhaft geschmeidig, als würde sich ihre Leopardin gleich zeigen. Sie hoffte, in ihm einen Verbündeten zu finden, wenn der Kampf begann. Allein würde sie nicht mit den dreien fertigwerden.
Ohne Claytons Reaktion abzuwarten, wandte Emma sich wieder den Feinden zu. »Wir gehören niemandem, Trent. Nach all den Jahren, die ihr Zeit hattet, unsere Spezies zu studieren, habt ihr nicht besonders viel gelernt. Ihr seid so eingebildet zu glauben, dass das dünne Blut in euren Adern euch zu etwas Besonderem macht. Aber Clayton hat euch erlaubt, seine Dienste zu kaufen. Und Jake hat euch erlaubt, ihn als Kind zu quälen. Er hätte sich jede Nacht in euer Schlafzimmer schleichen können, um euch beide zu töten. Habt ihr jemals darüber nachgedacht? Wahrscheinlich nicht, weil ihr nicht besonders intelligent seid, nicht wahr?
Wir haben ausfahrbare Krallen, Cathy, und sie sind scharf, schärfer als die aller anderen Säugetiere. Habt ihr das gewusst? Sie sind fast wie ausklappbare Stilette. Wir haben fünf an den vorderen und vier an den hinteren Läufen. Genug, um dich in mundgerechte Häppchen zu zerlegen, meinst du nicht? Und dann wären da noch unsere Zähne. Die durchtrennen Muskeln so mühelos wie ein Skalpell. Ich wette, Clayton hat mehr als einmal daran gedacht, dich umzubringen, nur damit du deinen frechen Mund hältst. Auch Jake wird sehr oft darüber nachgedacht haben. Leoparden sind lautlose und listige Jäger, man sieht sie nicht kommen. Wir tun nichts, was wir nicht wollen.«
Die Augen hart und kalt, die spitzen Zähne fest zusammengepresst, machte Cathy einen Schritt auf Emma zu. Ihre Hände verkrümmten sich zu Klauen mit blutroten Nägeln, fast so als ob sie sich verwandeln wollte. »Ach tatsächlich? Dann wolltest du neulich wohl von all den Männern besprungen werden?« Cathy warf den Kopf zurück, ihre elegante Aufmachung hatte dem strömenden Regen nicht standgehalten, jetzt erinnerte sie eher an eine nasse Ratte. »Willst du, dass ich dir mit den Nägeln dein ach so hübsches Gesicht zerkratze?«
Emma schaute auf ihre eigenen Hände hinunter, streckte sie aus und rief den Wandel herbei. Fasziniert sah sie zu, wie dichtes Fell ihre Arme und Hände überzog, die Knöchel sich verformten und lange, scharfe Krallen aus ihren Fingern wuchsen. Dann hob sie die Tatzen und zeigte sie Cathy. »Möchtest du deine jämmerlichen Krallen mit echten messen? Du bist erbärmlich und alles andere als eine Bedrohung für mich.«
Clayton kicherte. Trent lachte. Und sogar Ryan schnaubte höhnisch.
Cathys Gesicht verzerrte sich vor Wut. Mit einem schrillen Schrei riss sie Kyle aus Ryans Händen und schlug dem Kind mehrmals ins Gesicht. Kyle heulte auf, und Ryan fluchte. Da griff Clayton ein, mit unglaublicher Geschwindigkeit machte er gleichzeitig mit Emma einen Satz nach vorn. Er war einen Sekundenbruchteil schneller, verwandelte sich im Flug und schlug Cathy eine seiner Riesenpranken an den Schädel, so dass sie gegen Ryan geschleudert wurde und beide stürzten. Dann verbiss er sich in ihre Kehle und hielt sie gnadenlos fest.
Emma schnappte sich Kyle, während Trent das Gewehr anlegte. Als sie mit Kyle im Arm auf den Wald zurannte, stürzte ein großer Leopard mit glühenden goldenen Augen aus den Bäumen, der mit Höchstgeschwindigkeit direkt auf Trent zuhielt. Zwei weitere große Leoparden flankierten ihn. Trotz des heulenden Windes und des Regens hallte der Gewehrschuss laut durch die Nacht. Emma hörte Clayton aufbrüllen, dann war die Dunkelheit von grässlichem Knurren und Todesschreien erfüllt.
Emma sah sich nicht um. Sie rannte mit Kyle in den Armen zurück zum Haus. Der Junge klammerte sich schluchzend an sie, erschöpft und halb wahnsinnig vor Angst und Schmerz. »Sie kann dir nichts mehr tun. Sie kann dir nichts mehr tun«, wiederholte Emma wieder und wieder, während sie über den unebenen Boden stolperte und versuchte, den Jungen mit ihrem Körper zu schützen. Das Haar klebte ihr an Kopf und Gesicht und bedeckte in tropfnassen Strähnen ihren Rücken.
Der heulende Wind trug ihr die entsetzlichen Kampfgeräusche zu, dazu den Geruch von Blut, rohem Fleisch und nasser Katze - und noch von etwas anderem. Dann hörte sie ein kaum wahrnehmbares Geräusch, das klang, als ob ein Schuh über Baumrinde schabte. Emma hielt ihrem Sohn den Mund zu und blieb stehen.
Sie zischte Kyle zu, er solle ruhig sein, gleichzeitig fiel ihr ein, was Trent getan hatte, als sie auf die Lichtung gestürzt war. Man hatte nicht sie erwartet. Die Feinde hatten gar nicht gewusst, dass sie sich verwandeln konnte. Sie hatten damit gerechnet, dass Jake Kyle folgen würde, und sie hatten nicht danach ausgesehen, als wollten sie vor ihm weglaufen.
Kyle hielt so still, als spürte er die Gefahr und wüsste, wie wichtig es war, keinen Laut von sich zu geben. Er schaute ihr direkt in die Augen, mit einem wissenden Blick, erschrocken, aber auch entschlossen. Emma küsste ihn und drückte ihn fest an sich, während ihr Herz laut zu pochen begann. Clayton hatte Kyle absichtlich zu dieser Lichtung gebracht, um Jake dorthin zu locken. Sie stellte den Jungen auf den Boden und legte einen Finger an die Lippen, damit er nichts sagte. Er war beinahe erstarrt vor Furcht. Emma hockte sich neben ihn.
»Mami muss Daddy helfen, Schätzchen. Du darfst dich nicht rühren. Ich weiß, dass du Angst hast, aber du musst mir versprechen, dass du hierbleibst. Geh nicht weg und keinen Mucks.« Emma drückte den kleinen Jungen in das hohe Gras.
Kyles Augen, die so sehr an Jake erinnerten, sahen mit einem Blick zu ihr auf, der für sein Alter viel zu intelligent zu sein schien. Dann holte er tief Luft und nickte langsam. Innerhalb von Sekunden hatte Emma ihn unter herabgefallenen Ästen und Zweigen versteckt und das Gras um ihn herum wieder aufgerichtet.
Dann folgte sie der fremden Witterung, verwandelte sich im Gehen und lief auf allen vieren weiter, während Fell aus ihrer Haut wuchs und ihr Kiefer sich dehnte, um den wachsenden Zähnen Platz zu machen. Die Prozedur vollzog sich immer schneller und schmerzloser, und allmählich gewöhnte sie sich an die kräftigen Muskeln und den sehnigen Körper, der ihr ein viel leichteres Fortkommen gestattete.
Emma schlug einen Haken, um sich von hinten anzupirschen. Da. In einem Baum hockte ein Mann, der sich gerade über einen dicken Ast schob, um besser zum Schuss zu kommen. Emma konnte sich vorstellen, was für ein Chaos er durch seinen Sucher sah. Vier Leoparden und drei Menschen, die sich einen unerbittlichen Kampf auf Leben und Tod lieferten. Der Mann legte das Gewehr an, das Auge am Sucher und den Finger am Abzug. Mit starrem, fokussiertem Blick schlich Emma sich vorsichtig an und machte den Jäger zum Gejagten.
»Hab ich dich, du elender Hurensohn«, sagte der Mann leise und zufrieden.
Mit einem Satz sprang Emma in den Baum, landete auf seinem Rücken und presste ihn mit ihrem Gewicht gegen den knorrigen Ast. Der Mann stöhnte auf, ließ das Gewehr aber nicht einmal fallen, als Emma den Kopf senkte und ihn in die Schulter biss, erstaunt über die Leichtigkeit, mit der ihre Zähne sich durch die dünne Haut und die Muskeln bohrten und sich eingruben. Blut lief ihr in den Mund, so dass sie entsetzt wieder losließ.
Kaum war sie zurückgewichen, rollte der Mann sich herum, fiel vom Baum herunter und schoss. Emma spürte, dass die Kugel ihr Fell streifte und stürzte sich wieder auf ihn, diesmal sprang sie ihm voll gegen die Brust. Der Mann versuchte das Gewehr anzulegen, und als ihm das nicht gelang, setzte er es als Knüppel ein, um auf ihre Schulter einzudreschen und sie zurückzutreiben. Da zerkratzte ihm die Leopardin den Bauch und packte ihn eher ängstlich als aggressiv bei der Kehle.
Grimmig hielt Emma den Mann fest, obwohl ihr die Tränen herunterliefen. Die Galle kam ihr hoch, und sie hatte das Gefühl sich übergeben zu müssen. Sie war so angewidert, dass sie mit sich selbst kämpfen musste, um nicht wieder Menschengestalt anzunehmen. Der Mann wehrte sich, schlug mit dem Gewehr auf die Leopardin ein und versuchte, es umzudrehen, um zum Schuss zu kommen. Gerade als Emma mit Sicherheit glaubte, ihn keinen Augenblick länger halten zu können, tauchte Jake auf.
Sofort warf er sich auf Emmas Gegner, und sie ließ erschöpft los, sie fühlte sich elend, angeekelt und entsetzt, alles auf einmal. Sie stolperte, stürzte und begann zu kriechen, zog den Körper der Leopardin durch den Matsch, weg vom Schauplatz des tödlichen Dramas. Sie wollte nichts mehr sehen und hören vom Töten. Sobald sie sich von dem grässlichen Tumult entfernt hatte, verwandelte sie sich und beugte sich schluchzend vor, um aus Protest gegen die Geschehnisse dieser Nacht ihren Magen zu entleeren.
Trotzdem schmeckte sie immer noch Blut im Mund, einen bitteren Geschmack, den sie unbedingt loswerden musste. Sie hob das Gesicht zum Himmel und ließ den Regen über sich laufen, damit er sie reinigte. Sie empfand keine Reue, doch sie hasste es, dass sie dazu gezwungen worden war, für ein anderes menschliches Wesen die Wahl zwischen Leben und Tod zu treffen. Sie versuchte, sich das Blut abzuwaschen, wobei sie unaufhörlich zitterte, ob vor Kälte oder Abscheu wusste sie selbst nicht.
»Emma«, sagte Jake sanft.
Sie drehte sich zu ihm um. Mit seinen funkelnden Augen, den Blutspritzern und tiefen Kratzern auf der Haut sah er zum Fürchten aus, doch anscheinend war er größtenteils unbeschadet aus dem Kampf hervorgegangen.
»Wo ist unser Sohn?«
Emma sah die Angst in seinen Augen, und auch, dass die Hand, die er nach ihr ausstreckte, bebte. Sie deutete auf die grasbewachsene Anhöhe, an der sie Kyle versteckt hatte. Jake nahm sie bei der Hand und rannte eilig los. Emma war so erschöpft, dass sie kaum mithalten konnte und auf dem unebenen Boden immer wieder strauchelte, bis Jake einen Arm um ihre Taille legte, sie beinahe mit den Füßen in die Höhe riss und sie die letzten Meter durch den Matsch mitzog, ehe er stehen blieb und den kleinen Hügel musterte. Er atmete schwer, stieß keuchend die Luft aus und sank auf die Knie.
»Kyle!« Jake schob die Zweige beiseite, unter denen Emma den Jungen versteckt hatte, und zog seinen Sohn an sich. Er betastete ihn am ganzen Körper, wischte ihm die Tränen aus dem Gesicht und merkte gar nicht, dass ihm selbst die Tränen kamen, als er feststellte, dass Kyle nichts Ernstes fehlte. »Du hast überall blaue Flecken. Das hätte nie passieren dürfen. Es tut mir leid, Kyle. Ich hätte …« Jake schüttelte den Kopf und drückte den Jungen fest an seine Brust, genau dort wo sein Herz schlug. »Jetzt kann dir nichts mehr passieren, mein Sohn.« Er küsste Kyle auf den Scheitel, rieb das Kinn an seinem dichten Haarschopf und flüsterte ihm beruhigenden Unsinn zu. Er konnte es kaum glauben, dass er den Jungen heil im Arm hielt.
Kyle warf seinem Vater die Ärmchen um den Hals und begrub das Gesicht in seiner Halsbeuge. Jake zog Emma mit in die Umarmung, und so knieten sie alle zusammen im Gras und klammerten sich weinend aneinander. Es war Emma, die schließlich den Kopf hob und versuchte, vernünftig zu sein.
»Wir müssen Kyle weg aus dem Sturm bringen, Jake. Wie kommen wir nach Hause?«
Jake rieb das Gesicht noch ein letztes Mal über Kyles Haar und sog seinen Geruch ein, einfach nur dankbar, dass er noch lebte. Dann seufzte er und konzentrierte sich auf den Plan, den er bereits gefasst hatte. »Wir haben verschiedene Kleiderverstecke. Conner besorgt uns etwas zum Anziehen, und Joshua ist unterwegs zur Ranch, um ein Auto zu holen. Er kommt so schnell wie möglich zurück, dann bringt er uns zum Haus.«
»Die anderen Männer sind sicher nervös«, sagte Emma voll Sorge um Joshuas Sicherheit. »Wenn sie einen Leoparden sehen, werden sie ihn erschießen.«
»Keiner sieht Joshua«, versicherte Jake. »Nicht, wenn er nicht gesehen werden will.«
»Was sollen wir der Polizei sagen?« Emma brauchte gar nicht zu fragen, was mit den Feinden oder Trent geschehen war. »Sie waren einflussreiche Menschen. Sie können nicht einfach verschwinden.«
»Leoparden haben unsere Pferde angegriffen. Die Raubtiere müssen einem Privatsammler entlaufen sein oder von einer Ranch stammen, auf der illegal wilde Tiere für Jäger gezüchtet werden. Anscheinend hat der Sturm sie etwas durcheinandergebracht.«
»Ich habe gelesen, dass so etwas vorkommen kann - dass wilde Tiere stark auf Unwetter reagieren«, bestätigte Emma. »Und sicher hat jeder schon von diesen furchtbaren Zuchtprogrammen gehört.«
Jake nickte. »Unwetter machen uns nervös.« Er brachte ein kleines Grinsen zustande. »Und launisch. Du hast zusammen mit Drake versucht, die Pferde zu retten; auch die Großeltern und unser guter Freund Trent, der gerade mit seinem Leibwächter zu Besuch war, wollten helfen. Die Leoparden haben dich und Drake angegriffen. Drakes Verletzungen waren so schwer, dass wir mitten in einem schrecklichen Sturm unseren Piloten gerufen haben.«
»Weil uns keine andere Wahl blieb«, fuhr Emma fort. »Das können wir beweisen, und unsere Wunden passen zu einem Leopardenangriff. Glaubst du, Drake wird es schaffen?«
»Ich hatte bereits einen Orthopäden kontaktiert, der sich Drakes Bein ansehen sollte. Ich habe einen gefunden, der schon länger mit den Leopardenmenschen zu tun hat. Er glaubt, das Bein so richten zu können, dass Drake sich wieder verwandeln kann. Durch die neue Verletzung muss die Operation vorgezogen werden und vielleicht ist sie komplizierter geworden, doch immerhin hatten wir schon den richtigen Arzt. Winston hat sich im Krankenhaus mit ihm getroffen. Ich habe dem Doktor genug Geld gegeben, dass er sich eine Weile seinen Forschungen widmen kann. So ist sichergestellt, dass er Drake sehr gut pflegt. Die Summe, die er für einen Erfolg bei unserem Freund bekommt, ist sicher mehr als genug Anreiz, ihn nicht nur am Leben zu halten, sondern sein Bein hundertprozentig in Ordnung zu bringen.«
Vor Erleichterung schloss Emma kurz die Augen. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht, dass ich mich kaum getraut habe, an ihn zu denken.«
»Der Rest der Geschichte geht so: Kyle ist in unserer Abwesenheit von den wilden Tieren angegriffen worden, und seine Großeltern haben die Leoparden zusammen mit Trent und seinem Leibwächter verfolgt. Kyle hat blaue Flecke, Bisswunden und Hautabschürfungen an den Fersen.« Jake wiegte sich und Kyle sanft hin und her, was ihn mehr beruhigte als den Jungen, den er am liebsten ewig im Arm gehalten und nie mehr aus den Augen gelassen hätte. Das leise Weinen des Jungen war verstummt, anscheinend war er fest eingeschlafen, erschöpft von der Tortur. »Als wir dazukamen, hatten die Leoparden sie bereits zerfleischt, und wir erschossen die Tiere. Die Kadaver haben wir natürlich verbrannt. Alle Wunden passen zu einem Raubtierangriff.«
»Glaubst du wirklich, dass sie uns das abkaufen?«
»Erzähl mir eine bessere Geschichte. Wir haben verletzte und tote Pferde. Drake liegt auf dem Operationstisch, während meine Frau und mein Sohn mit eindeutigen Verletzungen davongekommen sind, außerdem haben wir vier tote Menschen, drei, die zusammen umkamen, und einen Toten, der einsam gestorben ist, in einem Baum hinterrücks von einem Leoparden angefallen. Sämtliche Verletzungen stimmen mit einem Leopardenangriff überein. Sicher glauben sie uns. Dass wir die Tierkadaver verbrannt haben, wird ihnen nicht besonders gefallen, aber bestimmt hat man großes Verständnis für einen Mann, der gerade seine Eltern verloren hat. Alle auf der Ranch werden die Geschichte stützen, sie glauben sie ja selbst.«
»Ich möchte nur noch nach Hause, Jake«, sagte Emma. »Ich bin müde und verwirrt, und ich möchte Andraya sehen. Außerdem sollten wir Susans Vater anrufen, sie wird auch etwas Zuspruch brauchen.«
Jake legte eine Hand an Emmas Wange. »Es tut mir leid, Emma. Ich hätte dich nie in die Sache hineinziehen dürfen.«
Sie wand den Kopf, so dass ihre Wange über Jakes Handfläche strich, und ihre Lippen seine Daumenkuppe berührten. »Kyle ist auch mein Sohn. Er gehört genauso zu mir wie du. Und ich lasse mir keinen von euch wegnehmen. Ich habe meine Wahl getroffen, Jake.«
Jakes Herz zog sich zusammen, als er sich vorbeugte, um sie zu küssen, dann schloss er sie zusammen mit Kyle in die Arme. Er konnte es immer noch nicht laut sagen, weil er Angst hatte, dass sie ihm weggenommen würden, wenn er seine Gefühle eingestand, doch nun wusste er, was Liebe war - er hielt sie in den Armen, heil und lebendig, geborgen an seinem Herzen.