19
Rory schlug um sich und
zog die Krallen durch die Erde, doch Jake drückte ihm erbarmungslos
die Luft ab. Er hatte seinen Leoparden akzeptiert, ihm völlige
Freiheit gegeben, und stellte fest, dass er selbst dabei genauso
präsent war wie immer. Jake war Jake, ob als Leopard oder als
Mensch. Das Tier war nicht grausamer als er, nicht weniger
herrschsüchtig, aber auch nicht dominanter. Das Äußere spielte
keine Rolle, er war immer er selbst, mit all seinen guten und
schlechten Eigenschaften, die er unter Kontrolle halten
musste.
Jake hielt seinen Gegner fest, bis er erstickt war
und der Herzschlag aussetzte. Er wartete ruhig ab, bis das tote
Gewicht zu Boden sank, und blieb noch ein wenig länger so stehen,
um ganz sicherzugehen, dass er sich nicht getäuscht hatte und dass
der Mann, der Emma entführen oder umbringen wollte, wirklich tot
war. Dann ließ er los und lief hinüber zu der Leopardin. Sie lag am
Boden. Blut rann aus ihren Wunden an Hals, Nacken, den Schultern
und Flanken. Joshua hockte neben ihr, wich jedoch, als Jake näher
kam.
Ohne Rücksicht darauf, dass der Regen auf seinen
nackten Körper traf, nahm Jake wieder Menschengestalt an, hob Emma
hoch und trug sie ins Haus. Die Leopardin schaute ihn an und
schüttelte kraftlos den Kopf. Jake spürte, wie ihre Muskeln sich
verdrehten, während sie sich in seinen Armen verwandelte. Er war
verblüfft, dass sie trotz ihrer Verletzungen dazu imstande war. Als
ihr Körper gegen diese zusätzliche Kraftanstrengung rebellierte,
stöhnte Emma auf und erstickte die Schmerzenslaute an seiner
Brust.
»Wo sind die Kinder, Süße?«, drängte Jake
sanft.
»Schutzraum«, krächzte Emma, während sie sich
zitternd an die wunde Kehle griff.
Etwas entspannter trat Jake in die Eingangshalle.
»Was zum Teufel.« Abrupt blieb er stehen, als er sah, dass Drake am
Boden lag und Conner nackt neben ihm kniete. »Wie schlimm ist
es?«
»Er verliert zu viel Blut. Ich habe per Funk den
Helikopter angefordert. Der Pilot meint, er kann fliegen, sobald
der Wind ein wenig nachlässt. Wir treffen uns am Landeplatz.«
»Und die Männer?«, erkundigte Jake sich nach den
Arbeitern, die nicht zu den Leopardenmenschen gehörten.
Conner zuckte die Achseln. »Die meisten Pferde sind
geflüchtet und ein paar schwer verletzt. Einige der Männer suchen
nach den Ausreißern, die anderen sind damit beschäftigt, die
Schäden zu beheben. Ein Leopard hat sich mit den im Stall
eingesperrten Tieren seinen Spaß gemacht.«
»Joshua«, rief Jake. »Hol Kleider für uns alle,
auch für Emma. Außerdem Handtücher und heißes Wasser. Wer kann am
besten auf Susan und die Kinder aufpassen?«
»Evan.«
»Ruf ihn her. Er soll sich auch um den toten
Leoparden kümmern. Wir werden für all das eine Erklärung brauchen.
Conner, bleib hier, bis ich Emma verarztet habe. Ich muss wissen,
wie schwer ihre Verletzungen sind.«
»Ich hab alles unter Kontrolle«, versicherte
Conner.
»Verdammter Bastard«, murmelte Jake, als er sich
vorbeugte, um Emma auf die Couch zu legen.
Sie wollte seinen Hals nicht loslassen. »Ich blute
doch. Wir werden es ruinieren.«
»Red keinen Unsinn. Wen interessiert diese dämliche
Couch? Ich muss dich untersuchen. Halt still, Süße.« Mit sanften
Händen betastete Jake die Wunden, die Emmas zarte Haut
verunstalteten, entdeckte aber kein arterielles Blut. Die meisten
Kratzer gingen tief genug, um zu bluten, würden aber keine
bleibenden Narben hinterlassen. Die Bisse an Hals und Kehle machten
ihm ein wenig Sorgen, doch Rory hatte darauf geachtet, nichts
Lebenswichtiges zu verletzen. Offensichtlich wäre er nicht so weit
gegangen, ein Weibchen umzubringen.
Ohne an eventuelle Blutflecken zu denken, warf er
Emma eine Decke über und ging neben Conner in die Hocke. »Wie lange
ist das Bein schon abgebunden? Nicht, dass er es verliert.«
»Als ob ich es nicht schon längst verloren hätte«,
sagte Drake müde und schloss die Augen. »Mein Leopard kann nicht
ewig so leben, Jake, und dies ist keine schlechte Art, aus dem
Leben zu gehen.«
»Ach, halt die Klappe«, herrschte Jake ihn an. »Ich
habe dir versprochen, wir kriegen dieses Bein wieder hin. Wenn du
aufwachst, geht es dir bestimmt besser. Der Chirurg,
mit dem ich über dein Problem gesprochen habe, steht schon
bereit.«
Drake riss die Augen auf. »Mit einem artfremden
Arzt darfst du nicht über uns reden.«
»Das weiß ich«, sagte Jake. »Vertrau mir.« Er
fasste Conner bei der Schulter. »Kannst du ihn begleiten?«
Conner nickte. »Ja, überlass das ruhig mir,
Jake.«
Joshua kehrte eilig zurück, er war immer noch
barfuß und nur mit einer Jeans bekleidet. Er warf Jake und Conner
ebenfalls eine Jeans zu. »Wir müssen ihn auf eine Bahre legen und
ihn zum Landeplatz bringen. Der Pilot meint, wir haben nur ein
kleines Zeitfenster. Jetzt oder nie. Evan ist unterwegs. Er sagt,
in den Stallungen sieht es ziemlich schlimm aus.« Joshua stellte in
der Halle und dem großen Zimmer Laternen auf und zündete zusätzlich
noch ein paar Kerzen an. »Irgendjemand hat sich am Generator zu
schaffen gemacht. Ich repariere ihn später.«
»Geh und hol die Kinder aus dem Schutzraum. Aber
mach vorher etwas Licht. Sie werden Angst haben. Sag Susan, sie
soll die beiden zusammen ins Bett stecken und bei ihnen bleiben.
Und dass Evan in ein paar Minuten kommt, Mami und Daddy kämen auch
bald. Evan kann ihnen das mit Drakes Verletzung erklären, dass es
deswegen noch ein bisschen dauert.«
Joshua nickte, rannte die Treppe hoch und ließ sich
von seinem Geruchssinn zu Emmas Zimmer leiten. Dort schnappte er
sich das erstbeste Kleidungsstück, raffte einige Handtücher
zusammen und machte Waschlappen nass, dann rief er Jake zu: »Ich
werfe dir Emmas Kleider und die anderen Sachen runter.«
Jake fing erst den Morgenmantel, dann die Tücher
und
die feuchten Lappen auf. »Wir müssen die Wunden desinfizieren und
dir ein Antibiotikum geben, Emma, damit du keine Entzündung
bekommst. Kratzer und Bisse von Katzen können zu tödlichen
Entzündungen führen.«
Emma nickte. »Mir geht’s gut, Jake, kümmer dich um
Drake.«
»Ihm können wir erst helfen, wenn er im
Hubschrauber ist. Ich möchte dich sauber machen und anziehen, damit
die Kinder nicht noch mehr Angst bekommen, als sie sowieso schon
haben.« Am liebsten hätte er jeden Quadratzentimeter ihrer Haut
abgesucht, um absolut sicherzugehen, dass Emma keine ernsthaften
Verletzungen hatte.
Jake säuberte jeden Kratzer und Biss und goss
beißendes Jod über die Wunden, so dass Emma sich aufbäumte und
anfing sich zu wehren, dann verband er sie, so gut er konnte, und
hüllte sie in den weichen Morgenrock.
»Wir müssen gehen, Jake«, brüllte Joshua. »Die
Kinder sind im Bett, sie weinen zwar, aber sie sind in Sicherheit,
und Evan ist da. Wir müssen Drake wegbringen, solange die Flaute
anhält. Der Pilot sagt, wir sollen uns beeilen.« Joshua kniete sich
ebenfalls neben Drake und schob ihm mit Conners Hilfe ein Backboard
unter, ehe sie ihn gemeinsam auf eine Trage hoben.
»Bleib bei den Kindern, Jake«, sagte Drake.
»Halt den Mund, verdammt nochmal«, schnauzte Jake
aus lauter Wut über den Kloß in seinem Hals. »Ich bringe dich zum
Hubschrauberlandeplatz und sorge dafür, dass du am Leben bleibst,
ob es dir passt oder nicht.« Wenn es einen Menschen gab, den er als
Freund bezeichnet hätte, dann Drake. Und nach allem, was dieser
Mann für ihn getan hatte, wollte Jake sich selbst um ihn
kümmern.
Er lief voraus und versuchte, nicht auf das
Schluchzen der Kinder zu hören, das aus dem oberen Stockwerk drang;
es wühlte nicht nur ihn auf, sondern auch seinen Leoparden. Heißer
Zorn stieg in ihm auf, während er mit Drake und den anderen durch
den Regen zum Hubschrauberlandeplatz hastete.
Unter der Küche, im riesigen, dunklen Weinkeller,
bewegte sich etwas und schlich auf die Treppe zu. Nachdem oben Ruhe
eingekehrt war und der spezifische Geruch der Leoparden sich
verzogen hatte, stieg das Tier lautlos die Stufen empor und legte
eine seiner riesigen Pranken auf den Türknauf. Es war Drake von den
Ställen gefolgt, um ihn umzubringen, doch dann hatte es die anderen
gewittert, wie sie zum Haus gerannt kamen und sich im Lauf
verwandelten. Da hatte es gewusst, dass es sich verstecken musste.
Es war ganz leicht gewesen, durch die offene Tür zu schlüpfen und
sich im Weinkeller zu verbergen.
Der Geruch eines Weibchens war ein so mächtiges
Aphrodisiakum, dass der Leopard ein ums andere Mal den Kopf hob,
grimassierte und es genüsslich einsog. Das Kinderweinen beunruhigte
ihn ein wenig, doch der überwältigende Blutgestank weckte alles
Wilde in ihm. Seine Prioritäten waren klar. Das erwachsene Weibchen
war die erste Wahl. Das kleine Mädchen rangierte an zweiter Stelle,
der Junge an letzter. Seine Pranke bekam Finger, die sich um den
Türknauf schlossen. Überaus vorsichtig drehte er ihn, öffnete die
Tür einen Spalt weit und schlüpfte hindurch.
Der eine Leibwächter, Evan, war im Haus geblieben,
zusammen mit Susan, Emma und den beiden Kindern. Der
Leopard tappte durch die dunklen Flure und mied das Dämmerlicht
der Laternen. Die Menschen hielten sich oben auf. Die Kleinen
weinten, und Emma versuchte, sie zu beruhigen, indem sie mit beiden
Kinder im Arm aufund ablief.
»Es dauert nicht mehr lange, Andraya. Daddy ist
bald wieder da«, sagte Emma. Dann sprach sie ins Funkgerät. »Sag,
dass du gleich zurückkommst, Jake, lass sie deine Stimme
hören.«
Jake fuhr sich mit der Hand durch das nasse Haar.
Kalte Regentropfen hingen in seinen Wimpern. Der Hubschrauber stand
bereits auf dem Landeplatz und lief mit rotierenden Flügeln warm.
Justin Right, der Pilot, kam auf sie zugerannt.
»Bitte, Jake. Die Kinder sind ganz
durcheinander.«
Sie selbst war auch ziemlich durcheinander. Sie
musste einen Weg finden, sich in den Griff zu bekommen und die
Kinder zu trösten. Jake schnaubte vor Wut, dass er nicht an zwei
Orten gleichzeitig sein konnte. »Draya, sei ein braves Mädchen. Ich
bin gleich wieder da.« Er hasste das. Emma brauchte ihn, die Kinder
auch, und er schickte Drake mit jemand anderem ins Krankenhaus,
obwohl er selbst mitwollte. Liebe war grausam, sie konnte einem
Mann das Herz brechen.
»Siehst du, Andraya? Hast du gehört, was Daddy
gesagt hat?« Emma hielt beide Kinder, ignorierte dabei den Schmerz,
wenn die kleinen Körper an ihren Wunden scheuerten. Die kleinen
Hände drückten auf den Verband an ihrem Hals, doch für Emma zählte
nichts anderes, als die Kinder zu beruhigen. Selbst Susan heulte.
Solange sie mit den Kleinen im Schutzraum gewesen war, hatte sie
sich zusammengerissen und versucht gute Laune zu verbreiten, doch
seit Joshua sie befreit hatte, war sie genauso weinerlich wie die
Kleinen.
Emma küsste beide Kinder abwechselnd. »Na kommt,
ich mache euch heiße Schokolade.«
»Der Generator ist noch nicht repariert. Das geht
nicht«, warf Evan ein.
Als die Kinder von neuem zu weinen begannen, warf
Emma ihm einen bösen Blick zu. »Dann eben kalte Schokolade. Das
macht Spaß. Wir setzen uns alle zusammen an den Tisch. Na los,
Susan, komm mit.«
Andraya bekam einen Schluckauf und klammerte sich
fester an Emmas Hals. »Bleib da.«
»Ich lasse dich nicht allein, Baby«, sagte Emma
sanft. »Wir gehen alle zusammen.«
»Wie sieht’s aus, Kyle, möchtest du Schokolade?«,
fragte Evan.
Kyle nickte heftig, nahm den Kopf aber nicht von
Emmas Schulter. Evan streckte die Hände aus, um ihn auf den Arm zu
nehmen, doch keins der Kinder wollte sich von Emma lösen. Sie
zuckte die Achseln und trug die Kleinen, eins auf jeder Seite, die
Treppe hinunter durch die Halle, wobei sie betete, dass ihr der
Morgenrock nicht von den Schultern glitt. Die Stelle, an der noch
Drakes Blut klebte, mied sie. Die Laternen gaben nicht allzu viel
Licht, so dass den Kindern nichts auffiel, doch Susan hinter ihnen
rang hörbar um Luft. Evan legte ihr eine Hand auf die Schulter, was
sie so weit beruhigte, dass sie ihm zur Küche folgte.
Emma setzte Kyle in seinem Hochstuhl ab. Die
Fenster klirrten, und ein heulender Windstoß veranlasste Andraya,
das Gesicht in Emmas Halsbeuge zu vergraben. Kyle schrie auf und
warf sich Evan an die Brust, der den Jungen sofort in die Arme
schloss.
»Der Wind scheint wieder zuzunehmen«, sagte Emma
beunruhigt. »Glaubst du, der Helikopter hat sicher starten
können?«
»Ich schau mal nach«, sagte Evan und trat ans
Fenster, um nach dem Landeplatz zu sehen. »Ist schon wieder alles
dunkel, Emma, Jake wird auf dem Rückweg sein.«
»Gott sei Dank«, flüsterte sie, und zum ersten Mal
an diesem Tag entspannte sie sich wirklich. Ihr war nicht bewusst
gewesen, wie sehr sie sich auf Jake und seine Hilfe verließ. Er
wirkte so stark und unerschütterlich.
Kyle zappelte und machte sich schwer, weil er
wieder zu Emma wollte. Evan stellte ihn auf den Boden, damit er zu
ihr laufen konnte.
Dann streckte Evan die Hand aus. »Komm, Kyle, gönn
Mami mal eine Atempause. Ich setz dich in den Hochstuhl. Emma, du
siehst aus, als würdest du gleich zusammenbrechen, und die Wunden
an deinem Hals scheinen auch wieder aufgegangen zu sein.«
Emma fasste an ihren Verband, und als sie die Hand
wieder zurückzog, waren ihre Finger blutbefleckt.
Susan hielt erschrocken die Luft. »Hier, Emma.« Sie
reichte ihr ein kleines Taschentuch.
Emma hatte sich halb zu Susan umgedreht, als sie
Evan plötzlich ächzen hörte. Schnell schaute sie sich um und sah,
wie sein massiger Körper zusammensackte. Emma rannte zu Kyle,
während Evan im Fallen auf eine große, fauchende Raubkatze feuerte,
die auf den Jungen zusprang. Emma hätte Kyle fast noch am
Schlafanzug zu fassen
bekommen, doch der Leopard schnappte ihn im Vorbeilaufen und wäre
beinah mit ihm gegen die Tür geprallt, da seine Pranke sich nicht
schnell genug verwandelte, um sie öffnen zu können. Evan rollte
sich herum und wollte ein zweites Mal feuern, doch Emma schrie:
»Nein! Du könntest Kyle treffen.«
Der Leopard stürzte mit ihrem Sohn nach draußen,
setzte über die Blumen und die niedrige Gartenmauer und verschwand
in der Nacht.
Andraya wurde hysterisch. Susan schrie. Emma packte
sie bei den Schultern. »Verriegle das Haus und hilf Evan, so gut du
kannst. Sag Jake, was passiert ist. Ich folge den beiden.«
»Das kannst du nicht«, protestierte Susan. »Warte
auf Jake. Der wird dich töten.«
Evan wollte Emma am Bein festhalten, als sie an ihm
vorbeilief, doch er griff daneben und fluchte laut. Dann versuchte
er wieder auf die Beine zu kommen, doch seine Rippen waren
gebrochen und das Atmen fiel ihm schwer. Susan hockte sich neben
ihn und spähte ängstlich in die Nacht.
»Ich kann sie nicht mehr sehen.«
»Mach dir keine Sorgen. Jake und die anderen werden
gleich da sein. Sie müssen den Schuss gehört haben.« Evan konnte
nicht gehen, deshalb zog er sich zur Tür, um sie wieder zu
schließen.
Wie auf der Flucht vor dem stürmischen Wind, der
sie heulend vor sich herjagte, preschten Jake, Conner und Joshua
aus der Dunkelheit. Sie waren klatschnass, barfuß und ohne Hemd im
Eiltempo zurückgelaufen, doch kaum außer Atem. Wieder schrie Susan
ängstlich auf, und als
Jake sich mit wutverzerrtem Gesicht vor Evan aufbaute, wich sie
erschrocken zurück.
Jake packte Evan beim Hemd, riss ihn fast vom Boden
hoch und musterte ihn mit grausamem Blick. »Wo ist sie?« Jake stieß
jedes Wort überdeutlich hervor, im Dämmerlicht wirkten seine Zähne
schärfer als sonst, die Eckzähne wesentlich länger.
»Sie ist hinter dem Leoparden her.« Evan brachte
die Worte nur mühsam heraus. »Er hat Kyle mitgenommen, ich konnte
sie nicht aufhalten, Jake.«
Jake fluchte und ließ Evan wieder los. »Schließ die
verdammte Tür, Susan.« Dann schloss er Evans Finger um den Griff
seiner Pistole. »Beim nächsten Mal tötest du ihn.«
Jake drehte sich um und rannte in die Nacht hinaus,
Conner und Joshua hinterher. Sie fanden Emmas Morgenrock gleich
hinter den Blumenbeeten und beschleunigten ihre Schritte, zogen die
Jeans aus, warfen sie jenseits des Gartens beiseite und
verwandelten sich im Lauf.
An einigen Stellen roch es besonders stark nach
Blut und dem Körpergeruch des Verfolgten. Sie hatten es also mit
Clayton zu tun, dem zweiten Mann, der von Trent und den Feinden
angeheuert worden war. Er rannte, so schnell er es mit Kyle im Maul
konnte. Das war sicher nicht leicht, denn bestimmt wehrte sich der
Junge. Vielleicht hatte er aber auch so viel Angst, dass er wie
gelähmt war.
Jake folgte den beiden mit klopfendem Herzen und
einem bitteren Geschmack auf der Zunge. Sein Sohn. Kyle. Er hatte
den Jungen in seiner Hand gehalten, ihm die Windeln gewechselt, ihn
gefüttert und ihm in die Augen gesehen - die den seinen so sehr
ähnelten. Er hatte sich
eingeredet, dass er nichts und niemanden liebte, dennoch war es
diesem Kind gelungen, sich in sein Herz zu stehlen, und nun war es
nicht mehr daraus wegzudenken. Dass er das, was er fühlte, nicht
offen zugegeben hatte - nicht einmal vor sich selbst - hieß nicht,
dass das Gefühl nicht vorhanden war. Er konnte nicht mehr leben
ohne seinen Sohn, ohne seinen vertrauensseligen Blick und die Liebe
und Freude in seinen Augen, wenn er ihn morgens anstrahlte.
Jake sagte sich, dass die Feinde den Jungen auf der
Stelle getötet hätten, wenn das ihre Absicht gewesen wäre. Nein,
dies war eine Entführung, um an einen Leoparden heranzukommen oder
um Macht über Jake zu gewinnen. Denn die hätten sie. Er würde alles
tun, um Kyle zurückzubekommen - einfach alles. Und wenn er sein
Leben gegen das des Jungen eintauschen musste, er täte es, ohne mit
der Wimper zu zucken.
Jake durfte nicht daran denken, wie ängstlich Kyles
kleines Herz wohl pochte, wenn er die scharfen Zähne und den heißen
Atem auf seiner Haut spürte. Jake kam die Galle hoch, und er zwang
sich, an etwas anderes zu denken, um bei Verstand zu bleiben,
solange er der Spur folgte.
Die Richtung, die Clayton eingeschlagen hatte, gab
ihm zu denken. Der Kidnapper suchte nicht das offene Gelände, wo er
Jakes Land ohne weiteres hätte verlassen können, sondern lief immer
tiefer in den Wald hinein. Zweimal entdeckten sie Schleifspuren,
parallele Furchen im Matsch, die Kyle mit seinen Fersen gezogen
hatte. Da, wo seine Haut aufgeschürft war, glänzten kleine
Blutflecke. Ohne einen Blick zu wechseln rannten die Männer
weiter.
Als Leoparden waren sie zu außerordentlichem Tempo
fähig, denn ihre Muskeln versetzten sie in die Lage so schnell zu
laufen, dass sie mit allen vieren für gewaltige Sätze abheben
konnten. Doch auf diese Weise verbrannten sie ihre Energie auch
schnell. Da Clayton einen Zweijährigen trug und seinen Nackengriff
oft anpassen musste, um das Kind nicht zu töten, kam er viel
langsamer voran.
Jakes Herz schlug schwer gegen seine Brust, als ihm
klarwurde, dass Emma den Kidnapper eher erreichen würde, als er sie
einholen konnte. Sie war kleiner und musste ihre Beine öfter
bewegen, um die gleiche Strecke zu bewältigen, also auch mehr
Energie aufbringen, doch sie hatte keine Last zu tragen und er
kannte sie und ihre Natur. Sie war hartnäckig und würde ihrer
Leopardin freien Lauf lassen, um ihren Sohn zurückzubekommen.
Wie viel Vorsprung mochten Clayton und Emma haben?
Groß konnte er nicht sein. Jake und seine Männer waren sofort zum
Haus zurückgelaufen, als sie den Schuss gehört hatten, außerdem
hatten sie sich bereits auf dem Rückweg vom Hubschrauberlandeplatz
befunden.
Der Wind peitschte durch die Bäume, dass die Stämme
sich fast bis zum Boden bogen. Jake vernahm unheilvoll knackende
Geräusche von abgeknickten Ästen. Der Sturm tobte jetzt wieder mit
voller Kraft, doch das war Jake ganz recht in dieser Stimmung; die
seit seiner Kindheit unterdrückte Wut stieg nun in ihm auf wie
brodelnde Lava - heiß, unaufhaltsam und tödlich. Ohne zu zögern
tauchte er seine dicken Pranken in das bald überflutende Wasser des
Flusses, nur der Gedanke an seinen Sohn in diesem kalten Strom ließ
ihn zusammenzucken. War Kyles Gesicht unter Wasser geraten? Hatte
Clayton überhaupt irgendwie auf ihn geachtet?
Jake zog sich mit den Krallen die Böschung hoch und
nahm die Spur am anderen Ufer wieder auf; die beiden Leoparden, die
neben ihm liefen, registrierte er kaum. Jetzt verstand er, was
Drake ihm ohne Worte zu vermitteln versucht hatte - indem er es ihm
vormachte. Ein Mann tat, was er tun musste. Er kümmerte sich um
die, die ihm anvertraut waren, schützte seine Familie und seine
Freunde und die Gemeinschaft, tat einfach das, was ihm richtig
erschien. Der ganze Rest - die Launen und die alltäglichen Fehler -
spielte keine Rolle. Nur dies, dieses Verschmelzen beider Hälften,
so dass sie zusammen rannten, zusammen dachten, gemeinsam das Leben
genossen oder sich seinen Gefahren stellten. Sein Verhalten lag in
seiner eigenen Hand.
Sein Leopard war ebenso besorgt um Kyle und Emma
wie Jake. Das Tier verausgabte sich, pflügte durch Matsch und
Pfützen, bereit, sich in reißende Flüsse und tückische Flussbetten
zu stürzen, die jederzeit überflutet werden konnten.
Einmal fand Jake eine Stelle, an der sein Sohn
offenbar versucht hatte zu entkommen, als Clayton ihn abgesetzt
hatte. Doch er entdeckte kein Blut und keine weiteren Flecken, so
als ob der Leopard versucht hätte, sich um den Jungen zu kümmern,
ehe er weiterlief. Außerdem entdeckte er Emmas kleinere Fährte in
der großen des Männchens. Sie holte rasch auf. Jake beschleunigte
sein Tempo und zog die anderen mit.
Emma konnte die Tatzen des männlichen Leoparden
durch den Schlamm platschen hören, während sie auf eine Lichtung
zurannten. Obwohl er wusste, dass sie hinter ihm war, machte er
keine Anstalten, sie von seiner Spur
abzulenken oder Kyle abzusetzen und sich ihr entgegenzustellen.
Das hieß, er hatte ein bestimmtes Ziel, wo es auch sein mochte, und
das verschaffte ihm einen Vorteil.
Emma machte sich solche Sorgen um Kyle, dass ihr
fast das Herz zersprang. Hin und wieder konnte sie ihn weinen
hören, manchmal protestierte er mit lautem Heulen, dann wieder
jammerte er nur leise und mitleiderregend. Das Maul der Leopardin
war nass von Regen und Tränen, doch sie gab nicht auf, selbst wenn
ihre Sicht verschwamm, und verließ sich darauf, dass ihre Tasthaare
ihr verrieten, was um sie herum war.
Der Wind blies ihr ins Gesicht und trug ihr den
Geruch der Menschen zu, der Feinde, die in ihren teuren Trucks
warteten, um ihr den Sohn zu rauben. Cathy und Ryan Bannaconni
zusammen mit Trent, diesem Widerling. Wahrscheinlich würden sie
sich um ihr Baby noch streiten, falls sie geplant hatten, dass Rory
ihnen Andraya brachte, damit jeder ein Kind bekam.
Emma bleckte die Zähne und folgte dem großen
Leoparden und Kyle ohne zu zögern ins Freie. Kurz vor der Gruppe
bremste die Leopardin ab. Man erwartete sie bereits. Trent zielte
mit einem Gewehr auf sie, während Ryan Bannaconni Kyle trotz seiner
Gegenwehr triumphierend in die Höhe hielt. Cathy griente, obwohl
ihr faszinierter Blick immer wieder zu Clayton zurückkehrte, dessen
Leopardenkörper sich für einen Moment auf dem Boden wand, ehe der
Mann sich splitterfasernackt erhob - ein Muskelpaket mit großen
Genitalien. Unbekümmert um seine Nacktheit inspizierte er den
Streifschuss an seiner Schulter.
Als Emma auf die Lichtung stürmte und stehen blieb,
musterte Clayton sie hungrig. Emma beachtete ihn gar
nicht. Kyle war das Einzige, was sie interessierte. Sie
verwandelte sich, nicht so schnell und so gekonnt wie das Männchen,
aber sie stellte sich ihnen in ihrer menschlichen Gestalt, nackt,
nur ihr langes Haar konnte ihren Körper bedecken.
Cathy stockte der Atem. Ryan stellte Kyle auf dem
Boden ab, ließ ihn aber nicht los.
Trent spähte in die Bäume, schüttelte den Kopf,
senkte das Gewehr und verzog das Gesicht. »Ich wusste es. Ich
wusste, dass ich Recht hatte.« Er sah zu Cathy hinüber. »Du hast
behauptet, sie könnte es nicht. Die Gene seien stark, aber sie
könnte sich nicht verwandeln. Am Ende hat meine Familie doch einen
Gestaltwandler produziert, und noch dazu ein Weibchen. Sie gehört
mir.«
»Das sehe ich anders, Trent«, sagte Ryan. »Ich hab
das, was sie will.« Damit packte er Kyle so fest, dass der Junge
aufschrie.
»Gebt mir das Kind«, forderte Emma ruhig. »Ihr
macht ihm Angst.« Sie bedeckte sich absichtlich nicht, sondern
richtete sich möglichst hoch und selbstbewusst auf. Jake würde
kommen. Diese Gewissheit war ihr Schutzschild. Er würde kommen und
Kyle vor diesen schrecklichen Ungeheuern retten, egal, was
passierte.
»Komm her, dann lass ich ihn gehen«, erwiderte
Ryan, der Kyle an den Haaren gepackt hielt. »Ein ausgewachsenes
Weibchen ist wesentlich mehr wert als dieser unterentwickelte
Welpe.« Damit riss er Kyle hoch und schüttelte ihn.
Kyle schrie und trat mit den Füßen, seine Augen
waren glasig vor Angst.
Cathy lachte. »Der ist nicht so stoisch wie Jake,
nicht
wahr, Liebling? Wahrscheinlich fehlen ihm die Leopardengene. Jake
hat nie einen Ton gesagt, egal, was wir mit ihm angestellt haben.«
Cathy legte den Kopf schief und schaute Emma an. »Und wie stoisch
bist du, meine Liebe? Wirst du unter der Peitsche oder dem Stock
auch flennen wie dieses wertlose Baby oder wirst du so ruhig
bleiben wie Jake?«
Emma ließ sich nicht einschüchtern und maß ihr
Gegenüber mit tödlichem Blick. Wenn sie in dieser Nacht sterben
musste, würde sie Cathy Bannaconni mitnehmen. Sie würde ihren Sohn
nicht in den Händen dieser Irren zurücklassen. »Sie sind
wahnsinnig. Das wissen Sie ja, oder?«
Cathy hörte nicht auf zu lächeln, doch ihre Augen
wurden blank und hart und ein grausames Aufblitzen verriet ihre
Absicht, kurz bevor sie Kyle in den Bauch trat. Der Junge brach
zusammen und wäre hingefallen, wenn Ryan ihn nicht am Haar
festgehalten hätte.
Ein leises, warnendes Knurren kam aus Emmas Kehle.
Sie spürte, wie ihre Muskeln arbeiteten und ihre Hände sich
krümmten. Ein Juckreiz überlief sie, und sie atmete tief ein und
aus, um den Wandel aufzuhalten. Sie zwang sich zu einem Lächeln.
»Ich frage mich, wie Sie schreien werden, wenn ich Ihnen das Herz
herausreiße und es Ihnen zeige«, sagte Emma ganz ruhig und leise,
doch sie meinte jedes Wort.
Cathy erbleichte und schaute hastig zu Clayton
hinüber, als wollte sie sich vergewissern, dass er die kleinere
Leopardin aufhalten würde, falls es nötig sein sollte. Sie machte
sogar ein paar Schritte auf ihn zu, doch der Mann musterte sie nur
angewidert von oben bis unten. Von ihm war offenbar keine Hilfe zu
erwarten.
»Sie gehört mir«, sagte Trent. »Ich habe meinem
Neffen das Geld gegeben, um ihre Mutter zu holen.«
Emma warf einen Blick auf Clayton; sie hatte seine
kaum verhohlene Verachtung für die anderen bemerkt. Diese Leute
hatten zwar Leopardenblut, konnten sich aber nicht verwandeln, und
obwohl Clayton in ihren Diensten stand, hatte er weder Respekt noch
Sympathie für sie. Und da Emma brünstig war, war sein Leopard
unwiderstehlich angelockt, ob er wollte oder nicht. Sie schenkte
ihm ein kameradschaftliches, beinah kokettes kleines Lächeln, und
bewegte sich so katzenhaft geschmeidig, als würde sich ihre
Leopardin gleich zeigen. Sie hoffte, in ihm einen Verbündeten zu
finden, wenn der Kampf begann. Allein würde sie nicht mit den
dreien fertigwerden.
Ohne Claytons Reaktion abzuwarten, wandte Emma sich
wieder den Feinden zu. »Wir gehören niemandem, Trent. Nach all den
Jahren, die ihr Zeit hattet, unsere Spezies zu studieren, habt ihr
nicht besonders viel gelernt. Ihr seid so eingebildet zu glauben,
dass das dünne Blut in euren Adern euch zu etwas Besonderem macht.
Aber Clayton hat euch erlaubt, seine
Dienste zu kaufen. Und Jake hat euch erlaubt, ihn als Kind zu quälen. Er hätte sich jede
Nacht in euer Schlafzimmer schleichen können, um euch beide zu
töten. Habt ihr jemals darüber nachgedacht? Wahrscheinlich nicht,
weil ihr nicht besonders intelligent seid, nicht wahr?
Wir haben ausfahrbare Krallen, Cathy, und sie sind
scharf, schärfer als die aller anderen Säugetiere. Habt ihr das
gewusst? Sie sind fast wie ausklappbare Stilette. Wir haben fünf an
den vorderen und vier an den hinteren Läufen. Genug, um dich in
mundgerechte Häppchen zu
zerlegen, meinst du nicht? Und dann wären da noch unsere Zähne.
Die durchtrennen Muskeln so mühelos wie ein Skalpell. Ich wette,
Clayton hat mehr als einmal daran gedacht, dich umzubringen, nur
damit du deinen frechen Mund hältst. Auch Jake wird sehr oft
darüber nachgedacht haben. Leoparden sind lautlose und listige
Jäger, man sieht sie nicht kommen. Wir tun nichts, was wir nicht
wollen.«
Die Augen hart und kalt, die spitzen Zähne fest
zusammengepresst, machte Cathy einen Schritt auf Emma zu. Ihre
Hände verkrümmten sich zu Klauen mit blutroten Nägeln, fast so als
ob sie sich verwandeln wollte. »Ach tatsächlich? Dann wolltest du
neulich wohl von all den Männern besprungen werden?« Cathy warf den
Kopf zurück, ihre elegante Aufmachung hatte dem strömenden Regen
nicht standgehalten, jetzt erinnerte sie eher an eine nasse Ratte.
»Willst du, dass ich dir mit den Nägeln dein ach so hübsches
Gesicht zerkratze?«
Emma schaute auf ihre eigenen Hände hinunter,
streckte sie aus und rief den Wandel herbei. Fasziniert sah sie zu,
wie dichtes Fell ihre Arme und Hände überzog, die Knöchel sich
verformten und lange, scharfe Krallen aus ihren Fingern wuchsen.
Dann hob sie die Tatzen und zeigte sie Cathy. »Möchtest du deine
jämmerlichen Krallen mit echten messen? Du bist erbärmlich und
alles andere als eine Bedrohung für mich.«
Clayton kicherte. Trent lachte. Und sogar Ryan
schnaubte höhnisch.
Cathys Gesicht verzerrte sich vor Wut. Mit einem
schrillen Schrei riss sie Kyle aus Ryans Händen und schlug dem Kind
mehrmals ins Gesicht. Kyle heulte auf, und Ryan
fluchte. Da griff Clayton ein, mit unglaublicher Geschwindigkeit
machte er gleichzeitig mit Emma einen Satz nach vorn. Er war einen
Sekundenbruchteil schneller, verwandelte sich im Flug und schlug
Cathy eine seiner Riesenpranken an den Schädel, so dass sie gegen
Ryan geschleudert wurde und beide stürzten. Dann verbiss er sich in
ihre Kehle und hielt sie gnadenlos fest.
Emma schnappte sich Kyle, während Trent das Gewehr
anlegte. Als sie mit Kyle im Arm auf den Wald zurannte, stürzte ein
großer Leopard mit glühenden goldenen Augen aus den Bäumen, der mit
Höchstgeschwindigkeit direkt auf Trent zuhielt. Zwei weitere große
Leoparden flankierten ihn. Trotz des heulenden Windes und des
Regens hallte der Gewehrschuss laut durch die Nacht. Emma hörte
Clayton aufbrüllen, dann war die Dunkelheit von grässlichem Knurren
und Todesschreien erfüllt.
Emma sah sich nicht um. Sie rannte mit Kyle in den
Armen zurück zum Haus. Der Junge klammerte sich schluchzend an sie,
erschöpft und halb wahnsinnig vor Angst und Schmerz. »Sie kann dir
nichts mehr tun. Sie kann dir nichts mehr tun«, wiederholte Emma
wieder und wieder, während sie über den unebenen Boden stolperte
und versuchte, den Jungen mit ihrem Körper zu schützen. Das Haar
klebte ihr an Kopf und Gesicht und bedeckte in tropfnassen Strähnen
ihren Rücken.
Der heulende Wind trug ihr die entsetzlichen
Kampfgeräusche zu, dazu den Geruch von Blut, rohem Fleisch und
nasser Katze - und noch von etwas anderem. Dann hörte sie ein kaum
wahrnehmbares Geräusch, das klang, als ob ein Schuh über Baumrinde
schabte. Emma hielt ihrem Sohn den Mund zu und blieb stehen.
Sie zischte Kyle zu, er solle ruhig sein,
gleichzeitig fiel ihr ein, was Trent getan hatte, als sie auf die
Lichtung gestürzt war. Man hatte nicht sie erwartet. Die Feinde
hatten gar nicht gewusst, dass sie sich verwandeln konnte. Sie
hatten damit gerechnet, dass Jake Kyle folgen würde, und sie hatten
nicht danach ausgesehen, als wollten sie vor ihm weglaufen.
Kyle hielt so still, als spürte er die Gefahr und
wüsste, wie wichtig es war, keinen Laut von sich zu geben. Er
schaute ihr direkt in die Augen, mit einem wissenden Blick,
erschrocken, aber auch entschlossen. Emma küsste ihn und drückte
ihn fest an sich, während ihr Herz laut zu pochen begann. Clayton
hatte Kyle absichtlich zu dieser Lichtung gebracht, um Jake dorthin
zu locken. Sie stellte den Jungen auf den Boden und legte einen
Finger an die Lippen, damit er nichts sagte. Er war beinahe
erstarrt vor Furcht. Emma hockte sich neben ihn.
»Mami muss Daddy helfen, Schätzchen. Du darfst dich
nicht rühren. Ich weiß, dass du Angst hast, aber du musst mir
versprechen, dass du hierbleibst. Geh nicht weg und keinen Mucks.«
Emma drückte den kleinen Jungen in das hohe Gras.
Kyles Augen, die so sehr an Jake erinnerten, sahen
mit einem Blick zu ihr auf, der für sein Alter viel zu intelligent
zu sein schien. Dann holte er tief Luft und nickte langsam.
Innerhalb von Sekunden hatte Emma ihn unter herabgefallenen Ästen
und Zweigen versteckt und das Gras um ihn herum wieder
aufgerichtet.
Dann folgte sie der fremden Witterung, verwandelte
sich im Gehen und lief auf allen vieren weiter, während Fell aus
ihrer Haut wuchs und ihr Kiefer sich dehnte, um
den wachsenden Zähnen Platz zu machen. Die Prozedur vollzog sich
immer schneller und schmerzloser, und allmählich gewöhnte sie sich
an die kräftigen Muskeln und den sehnigen Körper, der ihr ein viel
leichteres Fortkommen gestattete.
Emma schlug einen Haken, um sich von hinten
anzupirschen. Da. In einem Baum hockte ein Mann, der sich gerade
über einen dicken Ast schob, um besser zum Schuss zu kommen. Emma
konnte sich vorstellen, was für ein Chaos er durch seinen Sucher
sah. Vier Leoparden und drei Menschen, die sich einen
unerbittlichen Kampf auf Leben und Tod lieferten. Der Mann legte
das Gewehr an, das Auge am Sucher und den Finger am Abzug. Mit
starrem, fokussiertem Blick schlich Emma sich vorsichtig an und
machte den Jäger zum Gejagten.
»Hab ich dich, du elender Hurensohn«, sagte der
Mann leise und zufrieden.
Mit einem Satz sprang Emma in den Baum, landete auf
seinem Rücken und presste ihn mit ihrem Gewicht gegen den knorrigen
Ast. Der Mann stöhnte auf, ließ das Gewehr aber nicht einmal
fallen, als Emma den Kopf senkte und ihn in die Schulter biss,
erstaunt über die Leichtigkeit, mit der ihre Zähne sich durch die
dünne Haut und die Muskeln bohrten und sich eingruben. Blut lief
ihr in den Mund, so dass sie entsetzt wieder losließ.
Kaum war sie zurückgewichen, rollte der Mann sich
herum, fiel vom Baum herunter und schoss. Emma spürte, dass die
Kugel ihr Fell streifte und stürzte sich wieder auf ihn, diesmal
sprang sie ihm voll gegen die Brust. Der Mann versuchte das Gewehr
anzulegen, und als ihm das nicht gelang, setzte er es als Knüppel
ein, um auf ihre
Schulter einzudreschen und sie zurückzutreiben. Da zerkratzte ihm
die Leopardin den Bauch und packte ihn eher ängstlich als aggressiv
bei der Kehle.
Grimmig hielt Emma den Mann fest, obwohl ihr die
Tränen herunterliefen. Die Galle kam ihr hoch, und sie hatte das
Gefühl sich übergeben zu müssen. Sie war so angewidert, dass sie
mit sich selbst kämpfen musste, um nicht wieder Menschengestalt
anzunehmen. Der Mann wehrte sich, schlug mit dem Gewehr auf die
Leopardin ein und versuchte, es umzudrehen, um zum Schuss zu
kommen. Gerade als Emma mit Sicherheit glaubte, ihn keinen
Augenblick länger halten zu können, tauchte Jake auf.
Sofort warf er sich auf Emmas Gegner, und sie ließ
erschöpft los, sie fühlte sich elend, angeekelt und entsetzt, alles
auf einmal. Sie stolperte, stürzte und begann zu kriechen, zog den
Körper der Leopardin durch den Matsch, weg vom Schauplatz des
tödlichen Dramas. Sie wollte nichts mehr sehen und hören vom Töten.
Sobald sie sich von dem grässlichen Tumult entfernt hatte,
verwandelte sie sich und beugte sich schluchzend vor, um aus
Protest gegen die Geschehnisse dieser Nacht ihren Magen zu
entleeren.
Trotzdem schmeckte sie immer noch Blut im Mund,
einen bitteren Geschmack, den sie unbedingt loswerden musste. Sie
hob das Gesicht zum Himmel und ließ den Regen über sich laufen,
damit er sie reinigte. Sie empfand keine Reue, doch sie hasste es,
dass sie dazu gezwungen worden war, für ein anderes menschliches
Wesen die Wahl zwischen Leben und Tod zu treffen. Sie versuchte,
sich das Blut abzuwaschen, wobei sie unaufhörlich zitterte, ob vor
Kälte oder Abscheu wusste sie selbst nicht.
»Emma«, sagte Jake sanft.
Sie drehte sich zu ihm um. Mit seinen funkelnden
Augen, den Blutspritzern und tiefen Kratzern auf der Haut sah er
zum Fürchten aus, doch anscheinend war er größtenteils unbeschadet
aus dem Kampf hervorgegangen.
»Wo ist unser Sohn?«
Emma sah die Angst in seinen Augen, und auch, dass
die Hand, die er nach ihr ausstreckte, bebte. Sie deutete auf die
grasbewachsene Anhöhe, an der sie Kyle versteckt hatte. Jake nahm
sie bei der Hand und rannte eilig los. Emma war so erschöpft, dass
sie kaum mithalten konnte und auf dem unebenen Boden immer wieder
strauchelte, bis Jake einen Arm um ihre Taille legte, sie beinahe
mit den Füßen in die Höhe riss und sie die letzten Meter durch den
Matsch mitzog, ehe er stehen blieb und den kleinen Hügel musterte.
Er atmete schwer, stieß keuchend die Luft aus und sank auf die
Knie.
»Kyle!« Jake schob die Zweige beiseite, unter denen
Emma den Jungen versteckt hatte, und zog seinen Sohn an sich. Er
betastete ihn am ganzen Körper, wischte ihm die Tränen aus dem
Gesicht und merkte gar nicht, dass ihm selbst die Tränen kamen, als
er feststellte, dass Kyle nichts Ernstes fehlte. »Du hast überall
blaue Flecken. Das hätte nie passieren dürfen. Es tut mir leid,
Kyle. Ich hätte …« Jake schüttelte den Kopf und drückte den Jungen
fest an seine Brust, genau dort wo sein Herz schlug. »Jetzt kann
dir nichts mehr passieren, mein Sohn.« Er küsste Kyle auf den
Scheitel, rieb das Kinn an seinem dichten Haarschopf und flüsterte
ihm beruhigenden Unsinn zu. Er konnte es kaum glauben, dass er den
Jungen heil im Arm hielt.
Kyle warf seinem Vater die Ärmchen um den Hals und
begrub das Gesicht in seiner Halsbeuge. Jake zog Emma mit in die
Umarmung, und so knieten sie alle zusammen im Gras und klammerten
sich weinend aneinander. Es war Emma, die schließlich den Kopf hob
und versuchte, vernünftig zu sein.
»Wir müssen Kyle weg aus dem Sturm bringen, Jake.
Wie kommen wir nach Hause?«
Jake rieb das Gesicht noch ein letztes Mal über
Kyles Haar und sog seinen Geruch ein, einfach nur dankbar, dass er
noch lebte. Dann seufzte er und konzentrierte sich auf den Plan,
den er bereits gefasst hatte. »Wir haben verschiedene
Kleiderverstecke. Conner besorgt uns etwas zum Anziehen, und Joshua
ist unterwegs zur Ranch, um ein Auto zu holen. Er kommt so schnell
wie möglich zurück, dann bringt er uns zum Haus.«
»Die anderen Männer sind sicher nervös«, sagte Emma
voll Sorge um Joshuas Sicherheit. »Wenn sie einen Leoparden sehen,
werden sie ihn erschießen.«
»Keiner sieht Joshua«, versicherte Jake. »Nicht,
wenn er nicht gesehen werden will.«
»Was sollen wir der Polizei sagen?« Emma brauchte
gar nicht zu fragen, was mit den Feinden oder Trent geschehen war.
»Sie waren einflussreiche Menschen. Sie können nicht einfach
verschwinden.«
»Leoparden haben unsere Pferde angegriffen. Die
Raubtiere müssen einem Privatsammler entlaufen sein oder von einer
Ranch stammen, auf der illegal wilde Tiere für Jäger gezüchtet
werden. Anscheinend hat der Sturm sie etwas
durcheinandergebracht.«
»Ich habe gelesen, dass so etwas vorkommen kann -
dass wilde Tiere stark auf Unwetter reagieren«, bestätigte Emma.
»Und sicher hat jeder schon von diesen furchtbaren Zuchtprogrammen
gehört.«
Jake nickte. »Unwetter machen uns nervös.« Er
brachte ein kleines Grinsen zustande. »Und launisch. Du hast
zusammen mit Drake versucht, die Pferde zu retten; auch die
Großeltern und unser guter Freund Trent, der gerade mit seinem
Leibwächter zu Besuch war, wollten helfen. Die Leoparden haben dich
und Drake angegriffen. Drakes Verletzungen waren so schwer, dass
wir mitten in einem schrecklichen Sturm unseren Piloten gerufen
haben.«
»Weil uns keine andere Wahl blieb«, fuhr Emma fort.
»Das können wir beweisen, und unsere Wunden passen zu einem
Leopardenangriff. Glaubst du, Drake wird es schaffen?«
»Ich hatte bereits einen Orthopäden kontaktiert,
der sich Drakes Bein ansehen sollte. Ich habe einen gefunden, der
schon länger mit den Leopardenmenschen zu tun hat. Er glaubt, das
Bein so richten zu können, dass Drake sich wieder verwandeln kann.
Durch die neue Verletzung muss die Operation vorgezogen werden und
vielleicht ist sie komplizierter geworden, doch immerhin hatten wir
schon den richtigen Arzt. Winston hat sich im Krankenhaus mit ihm
getroffen. Ich habe dem Doktor genug Geld gegeben, dass er sich
eine Weile seinen Forschungen widmen kann. So ist sichergestellt,
dass er Drake sehr gut pflegt. Die Summe, die er für einen Erfolg
bei unserem Freund bekommt, ist sicher mehr als genug Anreiz, ihn
nicht nur am Leben zu halten, sondern sein Bein hundertprozentig in
Ordnung zu bringen.«
Vor Erleichterung schloss Emma kurz die Augen. »Ich
habe mir solche Sorgen gemacht, dass ich mich kaum getraut habe,
an ihn zu denken.«
»Der Rest der Geschichte geht so: Kyle ist in
unserer Abwesenheit von den wilden Tieren angegriffen worden, und
seine Großeltern haben die Leoparden zusammen mit Trent und seinem
Leibwächter verfolgt. Kyle hat blaue Flecke, Bisswunden und
Hautabschürfungen an den Fersen.« Jake wiegte sich und Kyle sanft
hin und her, was ihn mehr beruhigte als den Jungen, den er am
liebsten ewig im Arm gehalten und nie mehr aus den Augen gelassen
hätte. Das leise Weinen des Jungen war verstummt, anscheinend war
er fest eingeschlafen, erschöpft von der Tortur. »Als wir
dazukamen, hatten die Leoparden sie bereits zerfleischt, und wir
erschossen die Tiere. Die Kadaver haben wir natürlich verbrannt.
Alle Wunden passen zu einem Raubtierangriff.«
»Glaubst du wirklich, dass sie uns das
abkaufen?«
»Erzähl mir eine bessere Geschichte. Wir haben
verletzte und tote Pferde. Drake liegt auf dem Operationstisch,
während meine Frau und mein Sohn mit eindeutigen Verletzungen
davongekommen sind, außerdem haben wir vier tote Menschen, drei,
die zusammen umkamen, und einen Toten, der einsam gestorben ist, in
einem Baum hinterrücks von einem Leoparden angefallen. Sämtliche
Verletzungen stimmen mit einem Leopardenangriff überein. Sicher
glauben sie uns. Dass wir die Tierkadaver verbrannt haben, wird
ihnen nicht besonders gefallen, aber bestimmt hat man großes
Verständnis für einen Mann, der gerade seine Eltern verloren hat.
Alle auf der Ranch werden die Geschichte stützen, sie glauben sie
ja selbst.«
»Ich möchte nur noch nach Hause, Jake«, sagte Emma.
»Ich bin müde und verwirrt, und ich möchte Andraya sehen. Außerdem
sollten wir Susans Vater anrufen, sie wird auch etwas Zuspruch
brauchen.«
Jake legte eine Hand an Emmas Wange. »Es tut mir
leid, Emma. Ich hätte dich nie in die Sache hineinziehen
dürfen.«
Sie wand den Kopf, so dass ihre Wange über Jakes
Handfläche strich, und ihre Lippen seine Daumenkuppe berührten.
»Kyle ist auch mein Sohn. Er gehört genauso zu mir wie du. Und ich
lasse mir keinen von euch wegnehmen. Ich habe meine Wahl getroffen,
Jake.«
Jakes Herz zog sich zusammen, als er sich
vorbeugte, um sie zu küssen, dann schloss er sie zusammen mit Kyle
in die Arme. Er konnte es immer noch nicht laut sagen, weil er
Angst hatte, dass sie ihm weggenommen würden, wenn er seine Gefühle
eingestand, doch nun wusste er, was Liebe war - er hielt sie in den
Armen, heil und lebendig, geborgen an seinem Herzen.