TEIL II
DIE JAHRE DER ERWARTUNG
18. KAPITEL
Bolsena lag hinter ihnen. Alessandro hatte sich an die Spitze der Reitergruppe gesetzt und genoß den frischen Wind auf seiner Haut. Die Hügellandschaft strahlte nach einem nächtlichen Gewitter kühle Morgenklarheit aus. In den Zweigen der Bäume glitzerten noch die Wassertropfen, manche fielen auf ihn, wie Punkte, die einen langen Satz beenden. Die Last der letzten Tage war von ihm gewichen, die düstere Stimmung zwischen der Mutter und den drei Geschwistern, die sich aus dem Weg gingen, um sich nicht wieder streiten zu müssen.
Zum Glück hatte er nicht mehr lange auf die Ankunft von Giovanni Crispo und den beiden Provençalen warten müssen. Er begrüßte Crispo schon auf der Brücke und ließ sich die beiden Mitreisenden vorstellen: Accurse Maynier und Ugo Berthone. Accurse, ein Doktor beider Rechte, wolle in Florenz nur eine Zwischenstation einlegen, er reite bald weiter nach Venedig, wo er eine Anstellung bei Dogen suche. Ugo dagegen, doctor philosophiae der Universität Bologna, plane, in Florenz Griechisch zu lernen und außerdem an der Accademia Platonica die größten Geister Italiens kennenzulernen.
Die Pferde wurden abgegeben, der Staub von der Kleidung geschüttelt. Im Großen Saal begrüßte Giulia die jungen Männer. Sie raffte ihr Kleid, verbeugte sich und legte Giovanni die Hand auf den Arm, als seien sie schon lange gute Freunde. Ugo Berthone, in der leicht abgeschabten Kleidung eines Scholaren, trat einen Schritt zurück, lief aber, wie Alessandro sofort bemerkte, dunkelrot an. Seine Augen waren auf Giulia geheftet, als müßte er sich jeden Zug ihres gleichmäßig geschnittenen Gesichts einprägen. Accurse Maynier, auffallend teurer gekleidet, lächelte ironisch.
Nun erschien auch die Mutter. Giovanni Crispo übergab ihr eine bemalte Obstschale als Geschenk und brachte gleichzeitig freundliche Grüße von Kardinal della Rovere, der ausrichten lasse, der Heilige Vater habe sich nach dem Flüchtling erkundigt und betont, er sei nicht nachtragend.
»Dem Herr sei Dank, meine Gebete wurden erhört«, rief sie mit einem vielsagenden Seitenblick auf Alessandro. Dann machte sie eine Geste, als wollte sie von dem Thema ein für allemal nichts mehr hören.
Als sie zu Abend speisten, konnte Ugo Berthone, der seine dichten lockigen Haare inzwischen von seiner Kappe befreit hatte, noch immer nicht seine Augen von Giulia lassen und grinste blöde wie ein Verliebter. Sie erwiderte, spöttisch lächelnd, seinen Blick und genoß offensichtlich die kaum zu übersehende Bewunderung. Accurse führte mit der Mutter ein höfliches Gespräch über die Zucht der Seidenraupe und den Anbau von Maulbeerbäumen, während Angelo schweigend und gedankenverloren vor sich hin aß.
»Ich glaube, du könntest bald wieder nach Rom zurückkehren.« Giovanni Crispo hatte sich mit leiser Stimme an Alessandro gewandt. Er näherte ihm sein Gesicht noch mehr und flüsterte: »Silvia Ruffini läßt dich grüßen. Ich traf sie während der Messe. Ihre frühere Kammerfrau hat ein Kind bekommen – von Silvias Vater, so erzählt man sich. Aber es gibt auch andere Gerüchte.« Crispo verzog seinen Mund zu einem schrägen Grinsen.
Die Mutter warf einen kurzen Blick auf die beiden, ließ sich aber gleichzeitig von Accurse die Vorteile der Seidenraupenzucht erklären.
Als sie ins Bett gegangen war, wie immer früh, erkundigte sich Giulia nach Ippolita. Crispo wollte zuerst nicht heraus mit der Sprache, seine Stimme wurde leise, aber schließlich begann er doch zu berichten.
»Vor Wochen tauchte Ippolita in einem Zustand höchster Verwirrung zu Hause auf, voll blauer Flecken, auch blutend. Sie sprach nur davon, daß der Teufel sie aus dem Kloster entführt habe, der Teufel mit Hörnern auf dem Kopf und einem langen Schwanz. Dann kreischte sie auf vor Lachen. Wir ließen einen Medicus kommen, der sich aber nicht äußern wollte. Und schon erschien ein Diakon aus dem Hause des Kardinals Borgia. Dem Kardinal sei zu Ohren gekommen, erklärte er, daß die aus dem Kloster Santa Cecilia geflohene Mutter Oberin wieder nach Hause gefunden habe. Es gebe aber Hinweise, sie sei vom Teufel besessen. Bevor sie als Hexe verfolgt und womöglich verbrannt werde, biete Kardinal Borgia als ihr Beichtvater und als Titularbischof des Klosters an, in seinem Palast einen exorcismus vorzunehmen, um das gefährdete Wesen zu retten. Meine Eltern waren entsetzt. Sie verstanden nicht, warum Ippolita das Kloster verlassen, was sie so zugerichtet und was der Kardinal Borgia mit der ganzen Sache zu tun hatte. Aber wenn der Herr Kardinal sich der Tochter annehmen wolle … Versteht ihr? Ippolita stürzte immer wieder zu Boden, wand sich in einer Haltung der Verzückung, hielt ihren Bauch, als sei sie schwanger, und stieß dei genitrix hervor.«
»Und was tatest du?« fragte Alessandro.
Giulia hing mit ängstlich aufgerissenen Augen an seinen Lippen.
»Nichts. Was sollte ich tun? Ich weiß ja selbst nicht, was geschehen ist. Weißt du denn was?« Fragend schaute er Alessandro an.
Alessandro schüttelte den Kopf.
»Und was geschah nun mit Ippolita?« fragte Giulia stockend.
Giovanni zuckte mit den Schultern und wandte sich mit Tränen in den Augen ab.
»Laßt uns zum Kamin gehen, hier ist es kalt«, sagte Alessandro.
»Sie ist doch nicht etwa tot?« flüsterte Giulia.
»Ich glaube nicht, aber Kardinal Borgia schweigt sich aus«, antwortete Giovanni. »Sie sei an einen sicheren Ort verbracht worden und büße dort, hat jemand aus seiner Umgebung verlauten lassen.«
Alessandro hatte sich vor das Feuer gesetzt und starrte an die Kassettendecke, über die wirre Schattenformen huschten. Giulia hielt Giovanni tröstend die Hand. Ugo beobachtete sie mit brennenden Augen, Accurse schaute ernst. Angelo, der die ganze Zeit zugehört, aber kein Wort gesprochen hatte, warf ein Holzscheit ins Feuer und murmelte ein Gebet vor sich hin. »Unsere Mutter hatte recht«, sagte er unvermittelt. »Seid nüchtern und wachsam, denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlingen könne.«
Das Feuer war hochgelodert und strahlte eine glühende Hitze aus. Alessandro liefen Schweißtropfen die Stirn hinunter.
»Nur der standhafte Glauben widersteht ihm und kann uns Kraft geben«, fuhr Angelo mit fester Stimme fort. Er warf ein Scheit nach dem anderen in das schon lodernde Feuer, bis der Kamin die Flammen nicht mehr fassen konnte und sie in den Großen Saal zu lecken begannen.
»Er allein kann den Feind in uns besiegen!«
Alessandro ließ sein Pferd in einen Zwischengalopp fallen. Er wollte sich nicht wieder zurückziehen lassen nach Capodimonte oder Rom. Er wollte die unangenehmen Vorkommnisse der vergangenen Wochen und Monate vergessen. Was ihn jedoch beschäftigte, war das schiefe Grinsen, das Crispo nicht unterdrücken konnte, als er die Gerüchte um Rosellas Bastard erwähnte. Dieses Kind und seine Mütter sollten ihr Fangnetz nicht bis nach Florenz auswerfen!
Zu seinem Erstaunen tauchte plötzlich Angelo neben ihm auf. Sein Bruder spornte sein Pferd an, als wolle er ein kleines Wettrennen mit ihm veranstalten. Alessandro ging darauf ein, gab seinem Rappen sogar die Sporen. Und nun galoppierten die beiden Pferde mit gestrecktem Kopf nebeneinander her. Ja, das hatte er noch nie getan – er lieferte sich mit seinem Bruder ein Rennen. Und Angelo konnte erstaunlich gut mithalten. Die Pferde galoppierten, was die Hufe hielten. Alessandro gewann eine halbe Länge, schaute sich nach Angelo um, der nach vorne starrte und nicht aufgeben wollte. Alessandro saß auf dem schnellsten Pferd im ganzen nördlichen Latium, er war der bessere Reiter – da wagte sein Bruder doch tatsächlich, ihn herauszufordern. Er berührte die Flanke seines Rappens mit der Peitsche, und der Rappe legte noch einmal zu. Alessandro juchzte auf vor Freude, und ihn durchfuhr ein lange vermißtes Freiheitsgefühl, ein Gefühl, zu siegen und alles erreichen zu können.
Angelo fiel zurück, und nach einer Weile, als auch sein Rappe zu ermüden begann, ließ Alessandro ihn nur noch traben und wartete auf seinen Bruder. Angelo erreichte ihn bald. Er saß kerzengerade im Sattel, dabei nicht steif, alles Gebeugte, das ihn sonst auszeichnete, war abgefallen. Da ritt er, der zukünftige Condottiere, der Kämpfer gegen die Ungläubigen, Mutters Liebling, stolz wie ein Caetani und aufgeputzt wie ein Orsini in seiner noch immer hahnenbunten Kleidung. Er wirkte keineswegs wie ein Verlierer, schaute ihn gelassen, ja sogar ein wenig verächtlich an.
»Wo bleibt der Bibelspruch?« rief Alessandro, nicht ohne Hohn in der Stimme. »Wie wär’s mit Liebe deinen Bruder wie dich selbst?« Als Angelo nicht reagierte, fügte er an: »Oder: Die Letzten werden die Ersten sein?«
»Wo, auf Erden oder im Himmelreich?«
»Hier wie dort!«
Alessandro brach in Gelächter aus, Angelo aber blieb ernst.
Als die Reisegruppe nach mehreren Tagen, in denen sie unbehelligt vorangekommen war, Florenz unter sich liegen sah, brach sie in spontanen Jubel aus. Florenz hingebettet im Arnotal, umschlossen von einer Mauer, beherrscht von Brunelleschis berühmter Kuppel. Überall ragten Türme in den Himmel, aus braunem Sandstein, Schutztürme, die Zeichen der Macht, Glockentürme, die Zeichen des Glaubens. Dazwischen der helle Marmor des Campanile. Mehrere Brücken eng beieinander und das glitzernde Band des Flusses. Angelo bestand darauf, in San Miniato zu beten und dann erst die Stadt zu betreten. Alessandro betrachtete währenddessen die Menschen, die ihm begegneten. Eigentlich sah es hier aus wie vor den Toren Roms, nur die zahlreichen Pilger fehlten, und insgesamt schienen die Florentiner besser gekleidet zu sein, wenn auch nicht auffällig und stutzerhaft. Die meisten trugen selbstbewußt ihren Kopf hoch. Alessandro wußte, er würde diese Stadt lieben.
Dieses Gefühl verstärkte sich noch, als sie ihre Pferde durch die vollgestopften Gassen und über den drangvoll engen Ponte Vecchio zogen. Auf der Piazza della Signoria und vor Santa Maria del Fiore blieben sie stehen und schauten sich um. Keiner beachtete sie, aber gleichzeitig wirkte auch niemand abweisend. Längst nicht so viele Bettler wie in der Heiligen Stadt, nicht soviel Schmutz, weniger Gestank. Rom war eine Ansammlung von Dörfern, verstreuten Ruinen, von Weiden und Weinbergen, Kirchen, Katen und Palästen. Rom war ein wucherndes, vielfältiges Labyrinth. Florenz dagegen wirkte wie eine geschlossene Einheit.
Ein Geldwechsler sprach sie an, aber sie erkundigten sich nur nach dem Weg zum Medici-Palast. Der Mann überließ seinen Stand sofort dem Gesellen und bot sich an, sie persönlich zu begleiten. Nicht ohne ironische Neugier fragte er nach ihrem Namen und ihrer Herkunft. »Ach Rom!« rief er aus, und der ironische Zug um seinen Mund verstärkte sich. »Caput mundi, die Heilige Stadt, der Heilige Vater, o ja, man hört nur Gutes! Leider fehlt mir die Zeit, mich auf eine Pilgerreise nach Rom zu begeben, um mich endlich von meinen zahlreichen Sünden zu befreien. Und es fehlt mir auch das Geld für all die Ablässe.«
Alessandro ging auf seinen Ton ein. »Ja, ein sündiges Leben hat schon seinen Preis. Und wenn man dann auch noch gegen das biblische Gebot Geld verleiht – wie die Juden, die den Heiland ans Kreuz schlugen …«
Der Geldwechsler bekreuzigte sich. »Messer, wo denkt Ihr hin. Geld für Zinsen – ja, wenn ich das täte, wie die Medici zum Beispiel, dann wäre ich reich. Ich bin nur ein armer Geldwechsler, versteht Ihr, ich verwerte den Brosamen, der vom Tisch der Reichen fällt.« Er schien an seiner eigenen Schauspielerei immer mehr Gefallen zu finden. »Dukaten, Florin, flämische Gulden, Silbertaler aus Tirol, französische Gold-Ecu, auch kleinere Münzen natürlich, sogar Kupfergeld. Und meine Waage ist genau. Münzen, bei denen die Legierung nicht stimmt, haben bei mir keine Chancen. O Gott, würde ich betrügen, meine Zunftgenossen würden mich steinigen, und der Bargello würde nicht lange fackeln. Nein, Florenz ist eine Stadt ehrlicher Arbeit, eine Stadt ehrlicher Bürger, freiheitsliebender Bürger, kunstliebender Mäzene …« Und er wollte nicht aufhören, seine Heimatstadt zu preisen.
Das Empfehlungsschreiben von Kardinal della Rovere öffnete Alessandro und seinen Begleitern das Portal des Medici-Palazzos an der Via Larga. Die Pferde wurden versorgt, und als sie noch im Innenhof an einem Tisch einen kleinen Imbiß zu sich nahmen, rannte lachend ein Junge an ihnen vorbei und warf im Laufen einen Ball einem Mann zu, der ihm zu folgen versuchte. Alessandro sprang blitzschnell auf und fing den Ball in der Luft ab, überreichte ihn dann mit einer freundlichen Verbeugung dem Mann.
»Lorenzo Medici«, stellte sich dieser ihm lächelnd vor, ohne jegliche Herablassung oder Überheblichkeit. Alessandro erschrak zuerst darüber, daß dieser Mann der berühmte und einflußreiche Lorenzo il Magnifico sein sollte. Diese unangenehm hohe Stimme, die vorstehende Unterlippe und die aufgeworfene lange Nase! Der Prächtige war ausnehmend häßlich. Aber sein Lächeln war gewinnend, seine Augen schauten offen, neugierig, mild, wissend – und in ihren Winkeln versteckte sich der Schmerz. »Alessandro Farnese, aus Rom.«
Alessandro verbeugte sich noch einmal, stellte dann seine Begleiter vor und überreichte Lorenzo de’ Medici das Empfehlungsschreiben. Dieser überflog es, rief seinen Sohn herbei. »Dies ist mein zweiter Sohn, Giovanni. Er soll auch einmal nach Rom, die kirchliche Laufbahn einschlagen – allerdings ohne sich aus der Engelsburg abseilen zu müssen.« Er zwinkerte Alessandro zu. Der Junge, im Gegensatz zu seinem Vater dicklich im Gesicht, aber mit hellen, wachen Augen, verbeugte sich.
»Hat Kardinal della Rovere …?« Alessandro sah Lorenzo erstaunt an.
»Nein, nein.« Lorenzo lachte. »Die Florentiner sind neugierige Leute, die Vertretung unseres Hauses in Rom muß immer auf dem laufenden sein …
aber Handel und Wandel, Geld und irdisches Gut interessieren Euch nicht, oder?«
Alessandro schüttelte den Kopf.
»Hoho«, rief Giovanni Crispo.
Angelo, Accurse und Ugo waren hinzugetreten und lächelten. Lorenzo lehnte sich entspannt an eine Säule, während sein Sohn, den Ball auf den Boden tippend, über den Hof lief und dann unter den Arkaden verschwand.
»Wenn Ihr an Geld nicht interessiert seid, woran dann?« Lorenzo schien in sokratischer Manier einen kleinen Disput eröffnen zu wollen.
»Am Wissen. Am Leben.« Alessandro setzte ein undurchsichtiges Lächeln auf. Wahrscheinlich wollte der Medici ihn aushorchen, wollte herausfinden, ob er für seine Accademia Platonica geeignet sei. »Und ihr?« Lorenzo wandte sich nun den anderen zu.
Angelo hielt seine Antwort zurück, Ugo kratzte sich am Kopf. Accurse schaute Lorenzo unverwandt an: »Macht und Verantwortung!«
»O, ein werdender Staatsmann!« Lorenzo lachte und klopfte Accurse auf die Schulter. Dann wanderten seine Augen erwartungsvoll zu Ugo.
»Seelenruhe und Glückseligkeit«, antwortete dieser.
»Der Schüler Epikurs spricht.« Noch immer lachend, wandte sich Lorenzo nun direkt an Angelo. Angelo schlug die Augen nicht nieder, zögerte jedoch mit seiner Antwort. Alessandro wollte ihm beispringen, unterließ es aber dann.
»Die Verpflichtung der Familie gegenüber ist mir wichtig. Und ein fester Glauben«, erklärte Angelo nun doch mit leiser Stimme.
Lorenzo wurde ernst. »Ja, die Familie ist ein hohes Gut. Mein Bruder hat für sie sein Leben gelassen. Der einzelne stirbt, aber in seiner Familie lebt er weiter.« Lorenzo nahm Angelos Arm. »Ich freue mich auf Euer Kommen.«
Angelo lächelte bedauernd. »Ich kann leider nicht in Florenz bleiben, ich muß mich in Venedig dem Feldzug gegen die Türken anschließen.«
Alessandro wollte erneut für seinen Bruder sprechen, wollte Lorenzo erklären, daß jeder erstgeborene Farnese nach der Familientradition Soldat würde, der zweite der Kirche dienen müsse, aber noch bevor er das erste Wort ausgesprochen hatte, hielt er inne.
War er seines Bruders Stimme? Brauchte sein Bruder überhaupt einen Helfer? Und war nicht Lorenzo de’ Medici völlig klar, wovon Angelo sprach? Auch sein zweiter Sohn sollte den kirchlichen Dienst einschlagen, während der erste bestimmt war, sein Nachfolger zu werden, Florenz zu regieren, mit oder ohne offizielles Amt.
»Schade«, sagte Lorenzo. »Einen Soldaten könnten wir in unserer Accademia gebrauchen, schon als advocatus diaboli.« Er wandte sich nun wieder der gesamten Gruppe zu, ließ seinen Blick von einem zum anderen gleiten und blieb schließlich bei Giovanni Crispo hängen. »Ihr habt bisher geschwiegen.« »Die Kunst«, antwortete dieser und verbeugte sich beflissen.
»Na endlich erwähnt jemand die Kunst«, rief Lorenzo. »Jetzt fehlt nur noch die Liebe. Habt Ihr noch nicht die vielen schönen Frauen in den Fenstern gesehen? In Florenz steht die Liebe hoch im Kurs.
Die göttliche und die irdische. Und wir beten die Schönheit an. Trotzdem kann ein häßlicher Mann wie ich der ungekrönte Herrscher der Stadt sein.
Wenn Ihr das verstanden habt, habt Ihr etwas von Florenz verstanden.«
Lorenzo wandte sich zum Gehen. »Seid herzlich willkommen im Hause der Medici. Laßt Euch ein Zimmer geben. Heute abend treffen wir uns wie immer zu einem zwanglosen Plausch – die Accademia tagt. Ich möchte Euch meinen Philosophen, Gelehrten und Dichtern vorstellen.«
19. KAPITEL
Als Silvia zum ersten Mal wieder auf die Dachterrasse gehen durfte, fühlte sie sich geblendet vom Licht, und sie mußte sich auf Rosella stützen, die sie begleitete. Die Stadt Rom war ihr fremd geworden, und sie drängte darauf, wieder in das Halbdunkel des Hauses zurückzukehren. Eine Weile saß sie mit Rosella zusammen, den Rosenkranz in den gefalteten Händen.
»Bleib noch ein Weilchen!« bat sie, als Rosella aufbrechen wollte. Aber diese schüttelte nur den Kopf. »Ich möchte deinem Vater nicht begegnen.«
»Er ist selten zu Hause.«
Rosella schaute prüfend auf ihre gepflegten Hände. »Weißt du, dein Vater … Schade … Aber ich bin und bleibe nur eine Magd … Wenigstens Sandro geht es gut.«
Silvia wußte nicht, was sie darauf entgegnen sollte, und nickte. Dann schaute sie Rosella mit flehenden Augen an. Doch Rosella schaute über sie hinweg und verließ das Zimmer.
Silvia blieb eine Weile versunken sitzen, setzte sich schließlich an ihr Schreibpult, holte sich ein Blatt hervor und steckte zwei Kerzen an. Sie betete stumm zur Jungfrau Maria und spitzte anschließend ihre Feder. Mit langsamen Bewegungen öffnete sie das Tintenglas, tauchte die Feder ein und schrieb auf ihr Papier: »Lieber Alessandro!« Aber schon nach der Anrede legte sie die Feder beiseite. Immer wieder während der zögerlichen Genesung versuchte sie, ihrem Retter, ihrem fernen Geliebten, zu schreiben, aber nie fand sie die richtigen Worte. Und je länger sie nach Worten suchte, desto nichtiger erschien ihr, was sie schreiben wollte. Nun war Alessandro, das hatte Rosella erzählt, nach Florenz abgereist. Von wem sie es wußte, blieb Silvia unbekannt. Überhaupt wurde Rosella ihr immer mehr zu einem Rätsel. Nach dem letzten heftigen Streit mit dem Vater hätte sie das Haus verlassen sollen, aber dann blieb sie doch und pflegte sie während ihrer Krankheit. Mit dem Vater stritt sie nicht mehr. Aber Silvia sah beide auch nicht zusammen.
Es war inzwischen Frühjahr des Jahres 1487, Silvia erinnerte sich kaum an das Ende des Winters. Sie hatte mit dem Tod gekämpft – oder mit dem Wahnsinn. Oder mit beidem. Es klang ihr noch ein Vers in den Ohren, ein eigener. War Rosella nicht da, saß der Vater am Bett und tupfte ihre Stirn ab. Silvia hörte ihn beten und weinen, ja endlos schluchzen. Zwischendurch sah Silvia lichtdurchflutete, rotgesprenkelte Ebenen, sah sich durch diese Ebenen reiten. Dann wieder stand der Überfall vor ihren Augen, die Mutter im Griff der stinkenden Männer.
»Nicht auch noch sie, mein letztes Kind!« hörte sie den Vater flüstern. »O Herr, warum mußt Du mich so prüfen?«
Silvia quälte der Durst, und sie bat um Wasser. Der Vater ging selber.
Und später saß dann Rosella an ihrem Bett und sang.
So mußten Wochen verstrichen sein.
Aber schließlich wurde Silvias Gemüt wieder klarer, und langsam fühlte sie sich gesunden. Rosella erschien nun in einem lichtgrünen Taftkleid mit geschlitzten Ärmeln und einem tiefen Ausschnitt. Sie duftete nach Rosen, und eine schwarze Dienerin folgte ihr.
»Ich habe jetzt einen eigenen Palazzo«, rief sie stolz. »Er liegt nicht weit von hier.«
Die schwarze Dienerin fächelte ihr kühle Luft zu. Rosella schien auf Silvias Reaktion zu warten. Aber Silvia schwieg und dachte an Sandro.
»Und wirst du deinen Kleinen jetzt zu dir nehmen?« fragte sie mit schwacher Stimme. Es waren die schönsten Stunden am Tag, wenn die Amme Sandro zu Silvia ans Bett brachte und die beiden miteinander spielten. Das Kind war wieder zutraulich, und sie erlebte mit ihm keine verwirrenden Veränderungen mehr.
»Ich lasse ihn dir«, antwortete Rosella lächelnd, »und deinem Vater. Der Junge soll es mal besser haben als ich und meine Brüder. Selbst wenn ich Geld besitze und einen eigenen Palazzo – ich werde doch immer die Kurtisane bleiben, die Hure, die Magd. Wenn ich die Männer nicht mehr anziehe, dann werfen sie mich weg. Schon jetzt muß ich kämpfen. Es gibt jüngere Frauen. Aber mein Vorteil ist die Erfahrung – und außerdem die Magie.« Sie lächelte wieder. »Ich kann mit Toten sprechen, und sie sagen mir die Zukunft voraus.«
Silvia sah sie skeptisch an.
»Manchmal glaube ich es selber.« Rosella lachte kurz auf und zog ihre Perlenketten zurecht.
»Du wirst noch einmal auf dem Scheiterhaufen enden«, flüsterte Silvia.
»Du hörst dich schon wie dein Vater an.« Rosella sprach ohne Vorwurf und Abwehr in der Stimme. »Es gibt eine alte Kupplerin, die mir einen Kräutersud zubereitet. Wenn ich ihn nehme und die Augen schließe … Verstehst du? Dann plötzlich sprechen sie zu mir, die Toten, ich sehe sie sogar, ich sehe sie wirklich.«
»Hast du schon meine Mutter gesehen?«
»Nur einmal. Sie hat sich nach dir erkundigt und war ganz freundlich.«
»Ich glaube dir nicht«, sagte Silvia.
Rosella lachte auf, nahm Silvias Hand, zog sie an ihre Brust. »Deine Mutter – ich hätte sie damals vielleicht retten können, aber ich haßte sie, sie schlug mich, meist ohne Grund, und ich wollte mich rächen. Einmal erschien sie mir tatsächlich. Aber sie war nicht freundlich, sondern schaute mich finster an und strich mit geöffneten Fingern über ihr Gesicht, als wolle sie es zerkratzen.«
Rosella hielt noch immer Silvias Hand. »Zur Zeit scheint der Herr milde gestimmt zu sein. Er blickt auf mich Sünderin und weiß noch nicht, was er mit mir vorhat. Ich habe so viele Ablässe gekauft, wie ich mir erlauben konnte. Und natürlich besuche ich täglich die Messe. Solange Kardinal Borgia zu meinen regelmäßigen Kunden gehört, fühle ich mich sicher. Viele Katalanen folgen ihm. Hier …« Sie nestelte aus ihrem Ausschnitt einen goldenen Anhänger. »Ihr Wappentier, der Stier. Rodrigo schenkte ihn mir, als ich ihm weissagte, er würde über seine Gegner siegen. Sein Name bliebe für alle Zeiten unvergessen. Ich vermied ihm allerdings zu sagen, was ich ebenfalls erfuhr: Daß ihn am Ende seines Lebens der Teufel holen wird.«
Silvia zuckte zusammen und ließ Rosellas Hand los. »Was weißt du über mich und Alessandro?« fragte sie nach einer Weile.
»Du liebst ihn.«
»Wird er je zurückkehren?«
»Das nehme ich an.«
»Und dann?«
»Sie äußerten sich nur vage bei diesem Thema.«
Silvia richtete sich auf und zog Rosella zu sich heran. »Und was haben dir die Toten über Sandros Vater gesagt?«
Rosella erhob sich abrupt. »Die Toten haben nichts gesagt«, erwiderte sie beim Gehen, »weil ich nicht gefragt habe. Du kennst Sandros Vater. Er steht dir sehr nahe. Basta!«
Silvia ließ ihren Blick von einer Kerze zur anderen wandern und starrte dann wieder auf das weiße Blatt, auf dem auffordernd Lieber Alessandro stand. Die Worte versagten sich ihr. Ihr Retter und Held wurde zu einem sich entfernenden Traum, der in Florenz umschwärmt wurde von den Schönen der Toskana. Hatte er Silvia, die kleine Römerin, inzwischen vergessen?
Silvia pustete beide Kerzen aus und saß im abgedunkelten Raum. Vor ihr noch immer der helle Schemen des Papiers. Der Zeisig sprang unruhig in seinem Käfig hin und her und tschilpte.
Draußen auf der Straße hörte sie ein Pferd vorbeitraben und einen Mann einem anderen etwas zurufen. Unten in der Küche klapperten die Mägde mit den Kupferkesseln, und ein Huhn gackerte aufgeregt. Ein einsames Lachen, wie losgelöst von allem, drang hoch.
Silvia flüsterte das Ave Maria. Die Wände gaben das benedicta tu in mulieribus zurück. Obwohl sie wieder gesund war, blieb das Haus ein düsteres Gefängnis. Wenn doch wenigstens ihre Brüder noch lebten! An ihrem Leben hätte Silvia teilnehmen können, solange sie kein eigenes führen durfte. Noch nicht einmal Gedichte waren ihr während der letzten Wochen und Monate eingefallen. Es schmerzte, Reime und Bilder zu finden für eine Sehnsucht, an deren Erfüllung sie nicht mehr glaubte. Aber war es Dante und Petrarca nicht ebenso ergangen? Sie waren jedoch erwachsene Männer, die neben ihren wehmütigen und sehnsüchtigen Träumen ein bewegtes Leben führen durften.
Als Silvia draußen im Gang die dunkle Stimme ihres Vaters und ein Juchzen und Quieken hörte, sprang sie auf. Schnell zündete sie wieder die Kerzen im Zimmer an und versteckte den begonnenen Brief. Und tatsächlich, ihr Vater trat ein, mit Sandro auf dem Arm.
»Du liest?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
»Du träumst!«
Sie nickte.
Sandro streckte ihr seine Ärmchen entgegen, und sie nahm ihn dem Vater ab. Sie scherzte mit dem Kind, und es lachte und patschte ihr mit seinen Händen ins Gesicht, zog dann an ihren Haaren. Schließlich gab sie dem Kleinen mehrere Klötzchen und setzte ihn auf ihr Bett. Sandro begann friedlich zu spielen.
Ihr Vater hatte sich an die Wand gelehnt und schaute zu. »Ich bin froh, daß ich wieder einen Sohn habe. Irgendwann werde ich ihn legitimieren lassen.«
Silvia warf einen kurzen Blick auf den Vater, dessen Gesichtszüge, so fand sie, während der letzten Monate scharf geworden waren. Was sollte sie darauf sagen? Für sie war Sandro das einzige Licht in den dämmernden Räumen des Hauses. Sandro war jemand, der ihre Liebe annahm. Und nie mehr seit ihrer Krankheit hatten sich seine Züge verzerrt. Sie selbst hatte damals etwas in ihn hineingehext – aber jetzt war alles vergessen.
»Ja«, sagte sie.
Ihr Vater marschierte unruhig durch das Zimmer, blieb vor dem Fenster stehen, ohne wirklich hinauszuschauen. »Ich suche nach einer Lösung, mußt du wissen. Aber es ist nicht einfach.«
Silvia antwortete nicht, fragte auch nicht nach, und eine Weile hörte man nur das fröhliche Gebrabbel des Kindes.
»Natürlich habe ich gemerkt, daß Rosella bei dir war.« Der Vater unterbrach sich kurz, sprach dann weiter. »Sie ist sehr erfolgreich, aber sie wird mir immer ungeheurer. Jetzt treibt sie sogar Nekromantie. Es wird der Tag kommen, da wird ihr alle Hexerei nichts nützen.«
»Aber du hockst doch auch täglich mit deinem Astrologen zusammen.« Silvia merkte selbst, wie patzig ihre Stimme klang, aber irgend etwas an ihrem Vater begann sie zu ärgern.
»Nun gut«, begann der Vater wieder, »Rosellas Untergang braucht uns nicht zu kümmern.« Er kratzte sich am Kopf. »Hab ich dich endlich!« Er knackte einen Floh und ließ das Tier dann mit unverhohlener Genugtuung über der Kerze verkohlen. »Der hat mich schon die ganze Zeit gepiesackt.« Wieder eine kurze Pause. »Eine Lösung, sagte ich. Am einfachsten wäre es, ich heiratete wieder. Mit der Mitgift könnte ich unser Gut in Frascati auslösen, und außerdem müßte ich das Fortleben unserer Familien nicht den schwachen Schultern eines Mädchens überlassen und dem Bastard einer Magd, die zur Hure wurde.«
Der Vater begann nun wieder im Zimmer auf und ab zu wandern, und er sprach wie zu sich selbst: »Mit dem Crispo verhandelte ich schon. Du und sein Sohn Giovanni …« – er warf einen kurzen Blick auf Silvia – »es müßte gehen. Natürlich spekuliert er darauf, daß er das ihm noch immer verpfändete Gut in Frascati behalten kann. Aber zur Zeit liegt alles auf Eis, weil sich der Herr Sohn nach Florenz verzogen hat, um seiner Liebe zur Kunst zu frönen.« Abrupt blieb der Vater vor Silvia stehen. »Ich kann noch nicht einmal deinen Eintritt in ein anständiges Kloster bezahlen!« Als sie erschrocken den Kopf hob, fuhr er schnell fort: »Nicht daß ich es erwäge – wenigstens zur Zeit nicht … Und die Erfahrungen mit Santa Cecilia sind ja nicht so, daß man dich so einfach … also, eine Lösung ist nicht in Sicht. Noch nicht einmal der Astrologe kann helfen!« rief er empört. »Er betont immer wieder: Die Venus stand im 12. Haus! Ja, das stimmt, sie stand bei deiner Geburt im 12. Haus, Aber dieses Wissen hilft mir nicht weiter. Um mir zu helfen, lasse ich ihn ja kommen.«
Silvia nahm Sandro in den Arm und drückte ihn, um nicht in Tränen ausbrechen zu müssen.
»Die Venus im 12. Haus«, murmelte der Vater. »Dies ist nahezu eine Paradoxie!«
20. KAPITEL
Alessandro fühlte sich sofort aufgenommen im Hause der Medici. Giovanni Crispo und den beiden Provençalen ging es nicht anders. Sogar Angelo lachte mehr, als Alessandro es von ihm gewohnt war. Verwirrend waren die vielen Menschen, die, von Lorenzo bewirtet oder unterhalten, im Palazzo oder in den angrenzenden Häusern wohnten und denen es fast ausschließlich um Kunst oder Philosophie ging. Die Accademia Platonica war keine Paukschule, bestand noch nicht einmal aus Lehrveranstaltungen, wie Alessandro sie von der Accademia Romana gewöhnt war, nein: Eine lose Gruppe von Humanisten traf sich, las insbesondere die platonischen Dialoge im Urtext, disputierte in sokratischer Manier um die entscheidenden philosophischen Fragen und genoß ansonsten das Leben. Natürlich, Marsilio Ficino übersetzte Platon, Angelo Poliziano erzog die Kinder von Lorenzo de’ Medici und dichtete nebenbei, Lorenzo selbst bestimmte die Politik der Stadt, kaufte alte Manuskripte und die Gemälde der besten Künstler und dichtete ebenfalls. Im Garten des Palazzos arbeitete der Bildhauer Bertoldo und bildete junge Menschen aus.
Alessandro hatte schon am ersten Abend seinen Griechischlehrer gefunden, und während Giovanni Crispo von Marsilio Ficino umschwärmt wurde, einem Alten, der ununterbrochen von der Liebe sprach, die mehrere Stufen durchlaufen könne und schließlich in der Schönheit, insbesondere des menschlichen, des männlichen Körpers kulminiere, fühlte er sich von einem jungen Mann mit langen blonden Locken, weichen Lippen und großen, ein wenig vorstehenden Augen angezogen: Giovanni Pico, Conte della Mirandola. Pico war derjenige, der am teuersten gekleidet war, sogar teurer als Lorenzo selbst. Bestickte Seidenstoffe, Pelzverbrämungen an seinem Umhang, Spitze am Kragen, versteckte Goldfäden. In Florenz, so erfuhr Alessandro, laufe man nicht so aufgetakelt herum wie in Siena, das habe man nicht nötig. Vorbild sei Lorenzo, der sich eine wahrhaft fürstliche Kleidung leisten könne, aber bescheiden nur Schwarz und Gold trage. Wahrer Reichtum zeige sich im Geiste, in einer generösen Geste, in der Fähigkeit, Kunst zu schätzen und dafür auch Geld auszugeben.
Pico war jemand, der überall mitredete, der von einer Gruppe zur anderen sprang, der offensichtlich drei Gedanken gleichzeitig denken konnte und außerdem zahllose Sprachen beherrschte. Alessandro staunte, als Pico plötzlich in ein gutturales Idiom verfiel: Arabisch, so hieß es. Aber Pico beherrschte auch das Aramäische, denn die Bibel sei ja ursprünglich in Aramäisch geschrieben, Jesus von Nazareth habe diese Sprache gesprochen. Hebräisch las er selbstverständlich ebenfalls. Und er kannte die Bibel halb auswendig, außerdem Platon, Aristoteles, Cicero, die englischen Philosophen. Zwischendurch erzählte er gern einen zweideutigen Witz.
»Ihr seid Alessandro Farnese, das sehe ich sofort«, begrüßte er Alessandro, »Ihr seid der famose Flüchtling aus der Engelsburg.«
Alessandro wunderte sich darüber, daß der Florentiner ihn kannte.
»Ich habe Freunde in Rom, viele Freunde. Wißt Ihr nicht, daß ich vor nicht langer Zeit dort war, um meine neunhundert Thesen in einer öffentlichen Debatte zu verteidigen, die Erkenntnisse unserer Zeit, die Vereinigung von Platon und Bibel, die Beweise für die christliche Religion – aber keiner von Euren so weinseligen und kapaunhaften Prälaten wollte mit mir streiten und nach der Wahrheit suchen. Im Gegenteil. Sie sagten mir schließlich Ketzerei nach. Ich wollte es nicht glauben. Aber die vatikanischen Dunkelmänner meinten es ernst. Als ich nach England flüchten wollte, haben sie mich in Frankreich inhaftieren lassen. Ja, mein römischer Freund, sieben Jahre Kirchenbann, ich saß für die Wahrheit sogar im Gefängnis. Zum Glück hat mich mein lieber Lorenzo herausholen lassen.«
Für einen kurzen Moment unterbrach Pico seinen Redestrom, und ein düsterer Schatten fiel über sein Gesicht. Aber dann sprach er nur noch schneller weiter: »Als ich jung war, wollte ich für die Wahrheit sterben. Ich glaubte, der Glanz der Wahrheit müsse auch das dunkelste Herz erleuchten und die römischen Dogmatiker überzeugen. Aber Pustekuchen!«
Alessandro mußte über diesen ungewöhnlichen Ausdruck, den er nicht kannte, lachen. »Sagt man in meiner Heimat«, unterbrach sich Pico, dann schaute er Alessandro freundlich-prüfend an. »Wenn wir nachher Calcio spielen, solltest du meiner Gruppe angehören. Wir sind die besten! Mit dir werden wir noch besser sein. Laß uns in den nächsten Tagen ausreiten, nur wir beide: Auch du hast im Kerker gesessen. Nur wer einmal im Kerker schmachtete, immer in Angst vor der Folter – haben sie dich gefoltert in der Engelsburg?« Pico trat nahe an ihn heran und zog ihm die Arme hinter den Rücken. »Sie ziehen dich so in die Höhe, schon das läßt dich vor Schmerzen aufschreien, und dann lassen sie dich abrupt herunterfallen. Es reißt dir die Schultern entzwei. Da wirst du schnell zum Krüppel …«
»Seid Ihr denn gefoltert worden?«
Pico ließ seine Armen kreisen. »Zum Glück nicht.« Wieder der düstere Schatten über seinem Gesicht. »Aber es hat auch so gereicht.« Und ohne sich zu entschuldigen, wandte sich Pico ab und stand schon neben Lorenzo, der gerade ein Liebesgedicht vortrug. Pico wollte unbedingt den letzten Reim verbessert sehen und fand den Ausdruck leidendes Herz zu flach. Ein Bild müsse her, sonst könne er ja auch gleich ein Sonett über seine Gicht schreiben.
»Soll ich?« fragte Lorenzo.
»Die Gicht ist nicht poetisch, der Liebeskummer aber schon, und in meisten die Sehnsucht«, rief Pico, doch sowohl Ficino als auch Lorenzo widersprachen ihm.
»Kerkerhaft ist auch nicht poetisch, nur öde«, mischte sich Alessandro ins Gespräch.
»Öde?« rief Pico aufgeregt. »Öde, ja, öde auch, aber sie ist der Schrecken selbst, sie ist der Vorhof der Hölle, völlig unpoetisch, Dante zum Trotz. Alessandro hat recht, wir wissen, wovon wir reden. Kommt, laßt uns Calcio spielen.«
Ficino wollte lieber Platon übersetzen, Lorenzo wies auf seine gichtigen Glieder hin, aber der Rest folgte Pico in den Garten, wo sich noch die Bildhauer zu ihnen gesellten. »Heute Kunst gegen Philosophie«, rief Pico und teilte die Gruppen ein.
»Und wo gehöre ich hin?« fragte Angelo, der übriggeblieben war. »Ich bin Soldat.«
Die alten Mitglieder der Accademia lachten. Alessandro verstand nicht, warum.
»Streben wir nicht seit Menschengedenken nach Frieden«, rief ein Mann, den Alessandro nicht kannte.
»Die Menschheit wird von den Philosophen lernen und auf den Krieg als ein barbarisches Mittel der Unvernunft verzichten«, dozierte sein Nebenmann. »Sogar die Türken werden irgendwann einmal ihre Krummsäbel beiseite legen und lieber Platons Staat lesen.« Sofort bildete sich eine Gruppe, die sich hitzig über Krieg und Frieden ausließ.
»Wir spielen jetzt!« befahl Pico, aber es dauerte eine Weile, bis er die Diskutanten auseinandergebracht und die beiden Mannschaften auf ihre Felder verteilt hatte. Angelo stand noch an der Seite. Alessandro winkte ihn herbei. »Nicht mehr als siebenundzwanzig Spieler pro Mannschaft«, rief Pico, »der Soldat kann den Schiedsrichter spielen.« Und schon stürmte er mit dem Ball in den gegnerischen Raum. Es dauerte nicht lange, bis er rüde zu Fall gebracht wurde.
Alessandro lernte schnell, wie er sich auf dem Feld zu bewegen hatte. Er erzielte den dritten Punkt für seine Mannschaft, weil er über einen jungen Bildhauer, der sich ihm in den Weg warf, mit einem großen Sprung hinwegsetzte. Pico jubelte. Kurz darauf versuchte Alessandro, dem Bildhauer den Ball zu entreißen, und tatsächlich gelang es ihm auch. Er warf den Ball zu Pico, der unbedingt durch ein Knäuel von Gegnern hindurchrennen wollte, aber aufschreiend zu Boden stürzte. Nach Luft ringend, war Alessandro stehengeblieben. Plötzlich spürte er einen Tritt in die Nieren und ging vor Schmerzen in die Knie. Neben ihm stand der junge Bildhauer, starrte ihn aus seinen tiefliegenden Augen an.
»Das ist gegen die Regel«, rief Alessandro empört.
»Erfolg kennt keine Regel«, antwortete der junge Mann kalt. Aber dann reichte er ihm die Hand und zog ihn hoch. »Michelangelo Buonarroti ist mein Name, der Tritt war eine kleine Rache, aber nicht bös gemeint.«
Schon stürmte eine Gruppe heran, in deren Mitte der Ball versteckt sein mußte. Pico zeigte auf Alessandro, der Ball kam plötzlich herangeflogen. Michelangelo wollte ihn abfangen, aber Alessandro war schneller. Er packte ihn, schlug mehrere Haken und rannte so schnell, daß ihm niemand folgen konnte. Die Abwehr des Gegners schien er unterlaufen zu wollen. Aber es war reine Taktik. Er warf sich zur Seite, machte eine Purzelbaum, stand schon wieder auf den Beinen und erreichte die gegnerische Linie. »Bravo, bravo!« rief Pico, klatschte und umarmte Alessandro. Mehrere Mitglieder ihrer Mannschaft sprangen an ihnen hoch und warfen sie um. »Der Römer ist ein echter Gewinn«, hörte Alessandro.
Als man sich wieder auf dem Feld verteilte, führte Alessandro seinen Handstand vor und bewegte sich einige Schritte auf den Händen vorwärts. Seine Mannschaft packte ihn plötzlich und warf ihn in die Höhe, fing ihn aber wieder auf und ließ ihn mehrfach fliegen.
»Wir beide werden Freunde sein«, sagte Pico atemlos, als das Spiel siegreich für ihre Gruppe beendet war. Er hatte seinen Arm auf Alessandros Schultern gelegt. »Heute abend kommst du mit mir. Ich will dir mein Geheimnis zeigen.«
»Aber ich muß meinen Bruder verabschieden, er reist morgen früh mit Accurse Maynier nach Venedig ab.« Alessandro wollte sich Picos Zugriff entziehen.
»Schönheit besiegt Bruderliebe«, rief Pico lachend und ließ ihn nicht los. »Du kannst dich von deinem Bruder morgen früh verabschieden. Schlaf nicht so lange. Das Leben ist kurz, man sollte es nicht vertun.«
Noch am selben Abend zog man los, um den Rest des Abends im Beisein des schönen Geschlechts zu verbringen. Die jungen Männer teilten sich in kleinere Gruppen, und Alessandro hatte selbstverständlich bei Pico zu bleiben. Er verlor zuerst die beiden Provençalen aus den Augen, dann Giovanni Crispo. Angelo, sein Bruder, hatte darauf verzichtet, sie zu begleiten, weil er sich ausgeschlafen auf die Reise machen wollte.
Getafelt wurde bei einer jungen Kurtisane, die ein vornehmes Haus in der Nähe von Santa Maria del Fiore führte. Tscherkessinnen, Griechinnen und Mohrinnen standen zur Verfügung, aber zuerst wurde gesungen und geplaudert. Bald darauf begann man ein Pfänderspiel, das dahin führte, daß ein Teil der anwesenden Männer und Frauen in halbnacktem Zustande in die Zimmer des Hauses verschwand.
Marsilio Ficino, der Platon-Übersetzer und der Älteste unter ihnen, gewann das Spiel und begann dann über das Prinzip der Liebe zu dozieren, das die Welt durchdringe und das zu erkennen sowie zu beschreiben ihm obliege. »Liebste Livia«, wandte er sich mit einem beziehungsreichen Blick an die Hausherrin, »Liebe ist, so schreibt Platon, Zeugung im Schönen – nicht wahr, mein lieber Farnese?« Alessandro, der gerade einem leichtbekleideten Berbermädchen in ihr Zimmer folgte, nickte, rief zwinkernd »Liebe ist in seinem Wesen Neugier, das sagt der Dichter« und schloß die Tür hinter sich. Als er mit dem Mädchen in den großen Saal zurückkehrte, sprach Ficino noch immer. Er erklärte gerade der Hausherrin, seine Schrift über Platons Gastmahl habe er einfach Über die Liebe genannt. »Wißt Ihr, schöne Livia, daß Eros es war, der mir eingab und mich antrieb, über ihn zu forschen. Beten wir darum die göttliche Liebe an, sie treibt unsere Seele zu einer Begeisterung, die alles Irdisch-Niedrige hinter sich läßt.«
»Nun komm schon, Marsilio«, sagte die Hausherrin ungeduldig und nahm seine Hand. »Eros ist müde von all den Worten und möchte Taten sehen.«
Alessandro trank einen Schluck Wein und beobachtete, das Berbermädchen auf dem Schoß, wie die Hausherrin den alten Philosophen in ihr Zimmer ziehen wollte. Aber Ficino sank plötzlich in sich zusammen. Er war im Sitzen eingeschlafen. Seufzend erhob sich die Hausherrin und warf einen Blick auf Alessandro, scheuchte das Berbermädchen mit einer Kopfbewegung von seinem Schoß. Bevor sie sich jedoch zu ihm setzen konnte, stürmte Pico, erst halb angezogen, in den Raum, ließ sich von ihr einige Bänder knoten und Knöpfe schließen und zog Alessandro ins Freie.
»Kannst du Laute spielen?« fragte er, als sie auf der Straße standen, im Licht der Fackeln, die Livias Haus beleuchteten.
Alessandro schüttelte den Kopf.
»Macht nichts, dann werde ich ihr mein Ständchen eben alleine bringen.« Schon zog er ihn am Baptisterium vorbei in Richtung Santa Maria Novella.
»Jetzt mitten in der Nacht?«
»Für die Liebe ist es nie zu spät.«
Tatsächlich waren sie beide nicht allein auf der Straße. Einige Männer und kleine Gruppen kamen ihnen entgegen, mit Fackeln oder Laternen in der Hand. Pico beugte seinen Kopf zu Alessandro und flüsterte ihm ins Ohr: »Sie wird demnächst heiraten. Einen Alten aus der Medici-Familie. Aber aus einer Neben-neben-Linie. Einen lächerlichen Krämer.«
»Ja und?«
»Ich werde sie entführen.«
Alessandro blieb stehen und schaute Pico zweifelnd an.
»Wenn du sie siehst«, fuhr dieser fort, »wirst du mich verstehen. Schön wie frischer Schnee und die reine Stirn der Engel, in ihrer Liebe heiß wie der Gluthauch der Hölle.«
Pico wollte Alessandro weiterziehen, aber Alessandro schüttelte den Kopf. »Ich bin Gast im Hause der Medici, und ich möchte nichts tun, was Lorenzos Gastfreundschaft enttäuschen könnte.«
»Lorenzo haßt den Krämer, die Verwandtschaft ist wirklich weitläufig, und meine Geliebte liebt mich, mich allein, verstehst du?« Pico sprang ungeduldig von einem Bein auf das andere.
»Aber das ist Wahnsinn«, rief Alessandro.
»Liebe ist Wahnsinn«, erwiderte Pico, »Eros ist ein grausamer Gott, er kennt keine Gnade, er geht über Leichen …«
»Ja, aber …« Alessandro starrte auf Pico, der ihn jetzt wie ein Irrwisch umkreiste. Die Spitzen seiner langen blonden Haare flogen immer wieder in die Flammen der Fackel und wurden versengt.
»Kein Aber, Eros haßt alle Aber, ich werde sie entführen, und du wirst mir dabei helfen!«
21. KAPITEL
Silvia erwachte schon vor Sonnenaufgang und begab sich auf die Dachterrasse, um im kühlenden Morgenwind den anbrechenden Tag zu beobachten. Sie fühlte sich wieder gesund. Aber was sie zunehmend verwirrte, waren die seltsamen Hitzeschübe, das Drängen im Bereich ihrer Lenden, die Sehnsüchte, die regelmäßig Alessandro herbeiphantasierten und die sich dann in gemeinsamen Fluchten auf einem weißen Einhorn, in Bildern von versteckten Lauben entluden. In zwei Jahren kam sie ins heiratsfähige Alter, und wen sie dann auch immer heiraten mußte oder durfte, sie würde sicher bald schwanger werden. Sie sah regelrecht ihren Leib anschwellen, bis er fast die Haut sprengte, und schließlich zog sich alles im Unterleib zusammen. Nein, sie konnte sich nicht vorstellen, wie es war, wenn die Wehen einsetzten, wenn durch diese kleine Öffnung zwischen den Schenkeln ein Kind gepreßt wurde – die Mägde im Haus beklagten das Schicksal, das Gott dem Weib zugedacht habe, aber dann lachten sie auch häßlich, in einer Übereinstimmung, die Silvia nicht verstand. Für die Mägde war Silvia noch ein Kind – solange, bis sie heiratete und selbst ein Kind geboren hatte. Ohne Ehemann war jede Frau ein unvollständiges Wesen, und ohne Kind war eine Frau noch keine richtige Frau. Folgerichtig war es daher, daß ein Mädchen, das keinen Mann fand, statt dessen um den Heiland warb, als Braut Christi den Schleier nahm und sich im Kloster in betschwerer Haft dem Leben verschloß.
Während der letzten Wochen hatte Silvia auch wieder mit Begeisterung gelesen, nicht nur Livius und die Metamorphosen, sondern auch Boccaccios Novellen und Dantes ach so göttliche Commedia. Petrarcas Canzoniere kannte sie auswendig. Ihre Finger hüpften in alter Geschicklichkeit über die Saiten der Laute, ihre Stimme klang rein und süß wie nie zuvor. Sogar der Lateinlehrer war mit ihr zufrieden, und dann hatte der Vater auch noch einen Lehrer in den artes liberales engagiert. Außerdem malte sie. Das hieß, sie versuchte es. Alles, was neu war, gefiel ihr.
Als Silvia am Ostersonntag mit ihrem Vater zum Hochamt ging, fanden sie kaum einen Platz in der Kirche. Die Menschen standen aufgeputzt und teilweise laut schwätzend beieinander. Während des Stufengebets wurde es leiser, aber plötzlich entstand eine Bewegung, ein Schieben und neugieriges Schauen, als erschiene der Heilige Vater persönlich. Aber es erschien kein Papst, sondern eine Frau in einem unschicklich offenherzigen Samtkleid, das über und über mit Perlen bestickt und von Goldfäden durchzogen war. Ihre Haare hatte sie unter einem Netz zusammengebunden, auf dem Scheitel prangte ein Rubin. Eine schwarze Dienerin fächelte ihr Luft zu, mehrere weitere Dienerinnen begleiteten sie, auch sie mit tiefen Ausschnitten. Die Donna lächelte in die Runde, ließ sich angaffen, grüßte mit einem Augenaufschlag einen dunkelhaarigen Edelmann. Silvia hielt den Atem an. Kein Zweifel, es handelte sich um keine Principessa, sondern um eine hochbusige Kurtisane – um Rosella. Silvia wollte ihren Vater anstoßen, aber er hatte Rosella längst erkannt, tat allerdings so, als lausche er aufmerksam dem Gebet. Als das Gloria erklang, lachte Rosella laut und verhandelte dann mit dem Edelmann. Der Vater riß die Augen auf und errötete.
Nun hatte Rosella sie entdeckt und winkte Silvia zu. Der Vater starrte sie an, als wollte er den bösen Blick abwehren. Rosella lächelte, kam sogar einen Schritt auf sie zu. Der Vater bekreuzigte sich. Rosella lächelte noch immer, aber Silvia konnte in ihren Augen eine tödliche Wut aufblitzen sehen. Zum Glück wandte sich Rosella nun mit ihren Begleitern um, lachte noch einmal ostentativ und verschwand in der Menge.
Wenige Tage später lernte Silvia auch den Hausastrologen näher kennen, einen dickwanstigen Mann mit einem glänzenden Glatzkopf, der an den Seiten und hinten von einem wilden Haarkranz umgeben war. Der Astrologe schlug seine Bücher auf und nahm umständlich Sichtgläser aus einer Lederhülle. Bald bewegte er sich, vor sich hin sprechend, in einem Universum fremder Zeichen und Zahlenreihen. Silvia meinte, jedes Wort zu verstehen, und doch konnte sie den Sätzen keinen Sinn zuordnen. Auch der Vater runzelte häufig die Stirn und kratzte sich hinter dem Ohr.
»Mars dominiert, immer wieder Mars«, rief der Astrologe in seiner rauhen Stimme aus und schaute auf den Vater.
»Aber ich bin ein friedlicher Mensch«, antwortete der Vater verwirrt, »tue niemandem etwas zuleide, war noch nie Soldat.«
»Habt Ihr keine Feinde?« Der Astrologe klopfte mit seinem Finger auf ein Zeichen, das in einem von einem Kreis umgebenen Dreieck sich befand. Die Finger, so fiel Silvia auf, waren erstaunlich schlank, die Nägel halbmondförmig geschnitten und sehr gepflegt, im Gegensatz zu dem langen Mantel, den der Astrologe nie ablegte und der besonders im Kragenbereich und auf der Brust Fettränder und breite Flecken aufwies.
»Ich habe keine Feinde«, antwortete der Vater mit schwacher, brüchiger Stimme.
Der Astrologe warf einen ungläubigen Blick auf ihn und wandte sich mit betontem Interesse Silvia zu. Er schaute sie an, blickte auf ein weiteres Blatt mit Chiffren und Zahlen. »Der Löwe im Aszendenten«, murmelte er, »die Sonne regiert, also fünftes Haus, ich sehe künstlerische Tätigkeiten, Freiheitsdrang« – er warf einen prüfenden Blick auf Silvia, die ihm neugierig zuhörte – »und da: Kinder!« Wieder der prüfende Blick. Silvia fand, daß er genau das traf, was sie erhoffte. Konnte er tatsächlich mit Hilfe seiner Zahlen und Zeichen, seiner Häuser und Elemente in ihre Zukunft schauen?
»Ich werde viele Kinder bekommen?« fragte sie nach.
»Es sieht so aus.«
Der Vater war inzwischen herangetreten und studierte mit gerunzelter Stirn die Karten. »Aber Ihr spracht doch von der Venus im 12. Haus.«
»Messer Ruffini, auf die Aspekte kommt es an.« Er richtete sich auf, strich sich mit seinen Händen über den fettigen Mantel. »Seit Jahrzehnten erforsche ich die geheimnisvollen Konstellationen der Sterne, in denen der Allmächtige unser aller Schicksal vorherbestimmt – damit wir für alles, was wir tun, den richtigen Zeitpunkt wählen. So können wir Gottes Plan zu unseren Gunsten – sagen wir: ausnutzen. Dazu sind wir Astrologen da. Wollt Ihr, Messer Ruffini, dies anzweifeln?«
Der Vater winkte entschuldigend ab. »Manchmal verstehe ich nur Eure Gedanken nicht, Meister«, sagte er, »obwohl wir häufig zusammensitzen.«
Plötzlich fiel alles Verbindliche im Verhalten des Astrologen ab, er richtete sich auf, griff nach seinen Papieren und Büchern.
»Wenn Ihr mein Wissen anzweifelt, dann geht zu den Zigeunerinnen!«
Der Vater machte eine beschwichtigende Geste. »Meister …«
»Wer rettete Euer Leben, indem er auf die Gefahren hinwies – Ihr wißt, wovon ich spreche?«
Der Vater wirkte immer gequälter und knickte regelrecht ein.
»Mars dominiert, sagte ich, aber Ihr wolltet nicht auf mich hören.« Der Astrologe stand nun vor dem Vater, als wolle er wie Mose die zwölf Gebote verkündigen. »Außerdem schuldet Ihr mir noch hundert Dukaten.«
»Ihr kriegt Euer Geld, ich bin gerade dabei …«
Silvia konnte das unterwürfige Stocken ihres Vaters nicht ertragen. »Muß nicht ein Astrologe wissen, ob er sein Geld erhält? Auch dies steht in den Sternen«, erklärte sie. Und als sie sah, wie der Astrologe erstaunt seine Augenbrauen hob, fuhr sie fort: »Überhaupt erklärt mir eins: Wenn der Allmächtige unser Schicksal in den Sternen festgelegt hat, was nützt uns das Studium der Himmelskörper. Wir können weder den Himmel verändern noch unser Schicksal. Oder glaubt Ihr etwa, der Mensch könne in Gottes Plan eingreifen?«
Die Augen des Astrologen wurden für kurze Zeit schmal. Wortlos steckte er seine Papiere unter seinen Mantel und wandte sich zum Gehen. »Vergeßt nicht: hundert Dukaten«, warf er schnarrend dem Vater zu. In der Tür drehte er sich noch einmal um und schaute Silvia finster an: »Wüßtet Ihr, Signorina, was ich noch alles über Eure Zukunft weiß, würdet Ihr erbleichen. Gottes Plan ist offen für gut und böse. Der Mensch kann wählen. Erkennt er sein Schicksal, kann er sich für einen der Wege entscheiden, den der Allmächtige für ihn angelegt hat. Und wir Astrologen wollen ihm bei dieser Entscheidung helfen.« Mit schweren Schritten trampelte er die Treppe hinunter.
»Und weiß der Allmächtige, wie der Mensch sich entscheiden wird? Er muß es wissen«, rief sie ihm nach.
»Hochmut kommt vor dem Fall«, murmelte der Astrologe. Auf dem Treppenabsatz angekommen, drehte er sich noch einmal um. »Du Tochter Evas, der Herr des Himmels und der Erden hat dir viele Prüfungen auf den Weg gelegt!« rief er mit ausgestrecktem Finger und verschwand.
Silvias Vater stand in sich versunken am Fenster und schaute auf die Gasse. Mit einer fahrigen Bewegung wandte er sich Silvia zu, blickte aber durch sie hindurch, als weile er an einem ganz anderen Ort.
»Hundert Dukaten – noch mehr Schulden«, murmelte er.
In der Nacht wachte Silvia auf. Sie hatte von dem Astrologen geträumt, von Löwen, Skorpionen und Krebsen, die langsam über eine schwarze Fläche krochen. Unruhig stand sie auf, trank einen Schluck Wasser und zog sich ein Schultertuch über. Mit einer Kerze in der Hand, schlich sie auf die Dachterrasse. Unter ihr schlief die Stadt.
Sie löschte die Kerze. Um sie herum wurde es so finster, daß sie kaum die eigene Hand erkennen konnte. Am Himmel stand kein Mond. Über ihr wölbte sich der Himmel. Silvia wollte noch einmal Gottes nächtliche Zeichenschrift sehen. Der Astrologe starrte auf Zahlenreihen und seltsame Figuren, auf Kreise und Dreiecke, die er selbst gezeichnet hatte. Aber all diese Zeichen sollten ja nur etwas abbilden, was aus der Schwärze über ihr heraustrat, kleine leuchtende Punkte, manche davon blinkend, andere starr wie tote Augen. In der Milchstraße fanden sich Myriaden kleiner Glühwürmchen zusammen, vielleicht die Seelen all der zu früh verstorbenen Kinder, die Kerzen, welche die Engel trugen. Silvia mußte an den kleinen Sandro denken, ohne den ihr Leben hier im Hause jeglichen Sinn verloren hätte. Sandro erfreute sie jeden Tag mit seinem Lächeln, ihr kleiner Bruder – der ihr wie ein eigenes Kind ans Herz gewachsen war. Daß sich sein Gesicht verzerrt hatte, wollte sie endgültig vergessen.
Silvia legte sich auf den Boden, der noch vom Tag her Wärme ausstrahlte, und schaute mit ausgestreckten Armen in den Himmel. Sie wollte das Ave Maria sprechen, aber schon nach ein paar Worten verstummte sie. Auch das inwendige Sprechen ging unter in einer Umarmung durch diese Himmelswölbung, die vor ihrem Blick zurückwich und sich gleichzeitig auf sie herabsenkte wie ein unsichtbarer Körper, der in sie eindrang, sie durchdrang, sie auflöste in einen der vielen flimmernden Sterne. Der Himmel schien sie aufzusaugen. Silvia spürte die Grenzen ihres Körpers nicht mehr, sie wußte nicht, ob sie mit geöffneten Augen nach oben schaute oder ob das Band der Milchstraße unter den geschlossenen Lidern sich bildete, ob sie schwebte oder fiel. Vielleicht lebte sie nicht mehr. Oder sie erfuhr nun, wie es war, wenn die unsterbliche Seele den Körper verließ. Ja, dies mußte das Gefühl sein, wenn der Todeskampf nachließ, wenn die Schmerzen schwanden, die Sinne sich verdunkelten.
Silvia versuchte, die Lippen zu bewegen. Rosa mystica, hörte sie, domus aurea, janua caeli. Du geheimnisvolle Rose, du goldenes Haus, du Pforte des Himmels. Und Maria schien aus dem Schleier der Milchstraße herauszutreten, Maria mit dem Jesusknaben an der Brust. Sie beugte sich zu ihm, aber nun lag er auf ihrem Schoß, und es war auch kein Knabe mehr, sondern ein ausgewachsener Mann, ein Toter, den sie beweinte.
22. KAPITEL
Alessandro wußte nicht mehr, wie viele Männer er getötet hatte. Nun weilte er schon über ein Jahr in Florenz, und es war ein aufregendes, erfülltes, glückliches Jahr gewesen – aber daß er sich von Pico della Mirandola in solch ein blutiges Abenteuer hatte hineinziehen lassen, war nicht nur unvorsichtig von ihm gewesen, sondern auch in höchstem Maße unmoralisch. Alessandro fühlte sich bloßgestellt und schuldig, außerdem befürchtete er, ins Gefängnis gesteckt oder zumindest der Stadt verwiesen zu werden. Und es wäre ihm recht geschehen. Immer wieder sah er die Toten in ihrem Blute liegen, sah sich gehetzt um sein Leben reiten, und im Stakkato seines Herzschlags hörte er eine ferne, durchdringende Stimme das alttestamentarische Gebet sprechen: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib!
Lorenzo il Magnifico allerdings schob die Schuld auf den Anstifter der Aktion und sah in Alessandros Verhalten nur einen fehlgeleiteten Freundschaftsdienst. Was Lorenzo allerdings auch nicht dulden wollte, war die blutige Selbstjustiz des gehörnten Ehemannes. So führte er ein ernsthaftes Gespräch mit Pico über die Verlockungen der Liebe sowie den Wert menschlicher Unversehrtheit und gab gleichzeitig dem Ehemann als Entschädigung für die verlorene Ehre einen gutdotierten Posten in Arezzo. Anschließend erklärte er eine öffentliche Debatte über das Geschehene für unerwünscht. Trotzdem gab es in der Accademia einige, die nun verstärkt über ethische Fragen diskutieren wollten, über Laster wie Neid und Raffgier, Selbstüberheblichkeit und wollüstige Gier, nicht zuletzt über die Grenzen zwischen Selbstverteidigung und Totschlag.
Alessandro konnte die abstrakten Dispute kaum ertragen. Er zog sich häufig zurück und ritt, während der Frühling das Land mit einem bunten, duftenden Teppich überzog, das Tal des Arno flußaufwärts und dann hinein in die Wälder des Casentino. Und eines Tages pilgerte er sogar ganz allein bis nach La Verna, um die Hilfe des heiligen Franciscus anzurufen. Er wunderte sich, daß er nicht – wie damals Silvia und ihre Mutter – von Wegelagerern angegriffen wurde. Er kannte die Gefahr, in der er schwebte, aber sie kümmerte ihn nicht. Er konnte sich wehren, dies hatte er nun erneut bewiesen, sogar gegen eine Überzahl. Er besaß ein schnelles Pferd. Und sollte es sein Schicksal sein, in frühen Jahren zu sterben, so mußte er Gottes Willen hinnehmen.
Während Alessandro sich unter einem blühenden Kastanienbaum von dem langen Ritt nach La Verna ausruhte, den Blick auf die Felsen und die in den Himmel ragenden Klostermauern gerichtet, zog das vergangene Jahr an ihm vorbei, das ein Gewitter intensiver Erlebnisse gebracht hatte. Ein letzter Blitz am Himmel, gefolgt von einem brechendlauten Donnerschlag, dies war das Ende jener Zeit: der Ritt nach Arezzo. Pico voran mit wehenden blonden Haaren, ungewöhnlich bunt gekleidet in seinen zweifarbigen Beinkleidern, dem bestickten Wams und dem Federschmuck auf seinem Barett. Sie waren bester Laune, fühlten sich jung, stark und unbesiegbar. Sie glaubten, die Welt müsse für sie, nur für sie da sein. Alle Frauen hätten für sie ihre Schenkel zu öffnen, und wenn es nur wegen einer Wette sei.
In Florenz hatten die jüngeren Mitglieder der Accademia und der Medici-Freunde Wetten darüber abgeschlossen, wer die meisten Frauen und Mädchen während der Karnevalstage verführen könne. Wenn auf der Piazza della Signoria das Feuerwerk in den Nachthimmel schoß, schaute man sich unter seinen Masken verstohlen nach einem schön geformten Busen um. Zuerst waren es nur Blicke, die ausgetauscht wurden. Aber was konnten Blicke nicht alles verraten! Die Augen tiefschwarz umrandet oder hell mit lichten Wimpern. Halb geschlossen aus den Abgründen des Körpers herausschauend, oder weit offen, lachend, auffordernd, neckisch. Dann ergab sich eine scheinbar zufällige Nähe, Schmeicheleien folgten, Berührungen beim Tanz auf den Straßen. Die dunklen Ecken in den Gassen und die verborgenen Eingänge bargen überall Liebespaare, und es mußte schnell gehen. Auch Lorenzo suchte, verborgen unter einer schwarzen Maske, während dieser Tage seine Geliebte auf. Pico stellte seiner Krämersverlobten nach, wie er sie nannte, und berichtete von Vollzug und Erfolg, von einer Leidenschaft, die sich in einem Feuerwerk entlade, das dem auf der Piazza della Signoria in nichts nachstehe. Alle lachten, am lautesten er selbst.
Die Wette gewann schließlich Alessandro. Vielleicht lag es nur an seinem Kostüm. Er hatte sich als Apollo verkleidet, lockig, wohlgeformt und schwärmerisch, und jagte zuerst einer Daphne nach. Das junge Mädchen verweigerte sich ihm – nachdem sie beide erhitzt und lachend eine Saltarella getanzt hatten und er sie in das Halbdunkel einer Seitengasse ziehen konnte. Sie wehrte ihn ab, als er seine Lippen in ihren Ausschnitt versenken wollte. Sie kicherte – und stieß ihn weg! Sein Verlangen stieg nur noch mehr. Er schob ihren Rock hoch und legte seine hektisch ausschlagende Männlichkeit frei. Aber die Daphne wollte flüchten. Er preßte sie gegen eine Hauswand, und nun war kein Halten mehr, auch als sie nach ihm schlug. Beide rutschten ab und fielen gegen einen sich in die Höhe schraubenden Glyzinienstamm, und als Alessandro noch fester zugreifen wollte, fühlte er plötzlich nur diesen Stamm. Das Mädchen war verschwunden. Es hatte sich tatsächlich in Luft aufgelöst. Und er meinte in der Ferne ein leises Gelächter zu hören. Wahrscheinlich hatte ihn ein anderes, ein glücklicheres Liebespaar beobachtet und ließ sich nun wieder lustvoll ineinandergleiten.
Ernüchtert zog Alessandro zur Piazza della Signoria zurück, entdeckte für kurze Zeit Picos blonde Haare, stieß sogar auf den kraushaarigen Michelangelo Buonarroti, der auf den Stufen der Galena dei Lanzi saß und hektisch die Menschen skizzierte, die an ihm vorbeitaumelten in ihrem heidnischen Bacchanal.
Daß diese Daphne ihm entwischt war, stachelte Alessandro heftig an. Noch in derselben Nacht gelang es ihm, die schwer behängte Frau eines Goldschmieds zu beglücken. Am nächsten Tag fanden dann Prozessionen statt, auch Alessandro marschierte in Begleitung der würdigen und der weniger würdigen Accademia-Mitglieder mit, neben Marsilio Ficino, der über Gliederschmerzen klagte und anschließend die Einheit der Liebe beschwor, die Schönheit, insbesondere auch die Schönheit der Körper, in denen das alles durchwirkende Prinzip des Eros kulminiere. Bei den Turnieren auf der Piazza Santa Croce ergatterte Alessandro einen günstigen Platz, und er wurde gegen eine nicht mehr ganz frische Frau gedrückt, die Witwe eines Wollhändlers, die ihn freiwillig ihr großes Haus zeigte. Sie hielt ihn allerdings nicht lange in ihren Gemächern, er vergaß schnell ihr Gesicht, und von der Begegnung mit ihr hielt er nur noch die freizügigen Szenen auf dem Wandteppich, ihr großes Muttermal auf dem linken Schulterblatt und ihre wuchtigen Hinterbacken in Erinnerung.
In der tiefen Nacht, als er nach Hause wankte, stieß er noch auf eine sehr junge, aufreizend hübsche Straßendirne von der anderen Seite des Arno. Ihr erhitztes Gesicht war schon verschmiert, die langen dunklen Haare fielen wirr durcheinander, aber gerade dieses animalische Aussehen zog Alessandro besonders an. Sie führte ihn in einen Verschlag, der in dem Hinterhof eines Möbelschreiners aufgestellt war, und beim Schein eines Talglichts saugte sie die letzte Kraft aus seinen Gliedern. Halb übereinanderliegend, schliefen sie dann ein.
Alessandro wachte früh auf und schaute dem Mädchen in das schlafende Gesicht. Er wußte nicht, was er denken und fühlen sollte, er schaute nur. Er folgte den Linien der Lippen, der Haarsträhnen, er strich mit seinen Fingern vorsichtig über ihr Kinn und dann hinab in die Mondgrube und wieder hinauf auf die Wölbungen, die sich leicht zur Seite neigten. Er küßte sie auf ihren Bauchnabel und ließ seine Lippen bis hin zu den schwarzen Kräuselhaaren gleiten. Sie wachte auf und lächelte ihn an. Sie zog seinen Kopf zu ihrem Gesicht. Je mehr er sich dem Gesicht näherte, desto mehr verzerrte es sich. Und plötzlich verwandelte sich dieses Gesicht in eine Medusenfratze, mit aufgerissenen Augen und bleckenden Zähnen, die Finger wurden zu Krallen, die seinen Rücken zerkratzten.
Alessandro floh aus ihren Armen, rannte auf die Straße, auf der die letzten Unermüdlichen nach Hause torkelten. Er schlief in seiner Kammer den halben Tag durch, stürzte sich abends erneut in das immer hektischer werdende Treiben.
Es waren wirre, gierige, rauschhafte Tage. Immer wieder von Trommlern und Pfeifern angeführte Aufzüge, Turnierkämpfe, Calcio-Spiele und Hatz auf Stiere. Von großen künstlichen Drachen aus kämpften Männer mit langen Spießen gegen die gereizten Tiere. Sie wurden begleitet von Stierkämpfern zu Fuß, die sich nur durch eine Rüstung oder durch ein ausgestopftes Lederwams vor den Hörnern schützen konnten. Auch sie trugen lange Spieße, um sich gegen die in wilder Panik herumrennenden Tiere zu wehren und sie zu töten.
Nachdem die stärksten und gefährlichsten Stiere endlich in ihrem Blut lagen – auch zwei der Fußkämpfer wurden so schwer verletzt, daß sie noch auf der Piazza starben –, ging man zur Bärenhatz über. Abgerichtete Hunde wurden auf einen Bären losgelassen, aber das Tier war an einen Pflock gebunden und konnte sich nicht richtig wehren. Angeblich hatte man ihm auch die Krallen ausgerissen. Trotzdem starben mehrere Hunde. Aber die restlichen bissen sich so in der Kehle und in der Schnauze des Bären fest, daß dieser am Ende aufbrüllend zusammenbrach und starb. Eigentlich hatte er gar nicht kämpfen wollen, dies sah man, aber das Volk brüllte, und die Hunde fielen ihn immer wieder tollwütig an. Alessandro konnte diesen Anblick nicht länger ertragen und schaute weg. Er ging gern auf Bärenjagd, aber in der freien Natur einen Bären zu verfolgen, zu stellen und schließlich zu töten war ein gefährliches Abenteuer, das einen ganzen Mann forderte. Dieses Spektakel hier aber fand statt, um die immer wieder durchbrechende Blutgier des Pöbels zu befriedigen.
Alessandro beobachtete die Zuschauer, die mit aufgerissenen Augen und Mündern die Hinrichtung verfolgten. Plötzlich wurde ihm schlecht. Das Bellen und Jaulen der Hunde, das schmerzverzerrte Gebrüll des Bären, das Toben der Menschen steigerten sich noch. Und in den Gesichtern der Frauen stand der Höhepunkt reiner Geschlechtslust! Er bedeckte seine Augen mit den Händen.
Als er wieder aufschaute, begegnete ihm ein anderes Augenpaar. Eine junge Frau schaute ihn ernst an. Er wußte, so würde ihn jetzt Silvia anschauen. Silvia, die er während des vergangenen Jahres hatte vergessen wollen, die aber noch immer eine Kammer in seinem Herzen bewohnte. Warum jetzt plötzlich Silvia, hier in Florenz, hier in dem wilden Treiben des Karnevals, in dem sich jeder zu verlieren drohte? Wie diese junge Frau blieb sie unberührbar in ihrer Reinheit. Abgehoben wie die Heilige Jungfrau. Und er sehnte sich nach einem Menschen, der ihm Liebesglück versprach ohne den Taumel der Sinnenreize, die ihn nur von sich selbst ablenkten und einen schalen Nachgeschmack, ein Gefühl der Leere hinterließen.
Alessandro schob sich zu der jungen Frau vor. Während er sich neben ihr einen Platz erkämpfte, berührte er dabei die Hand, mit der sie sich auf die Brüstung stützte. Beide sprachen sie kein Wort, aber ihre Augen hatten sich ineinandergebohrt. Sie drückte sich zur Hauswand und verschwand in einem Palazzo. Alessandro folgte ihr. Sie raffte ihr Kleid, überquerte den Innenhof und rannte durch das gegenüberliegende Portal wieder auf die Straße. Alessandro blieb ihr auf den Fersen. Auf der Straße wildes Gedränge. Ein einziger Blick noch, Silvias Blick, und plötzlich war sie verschwunden. Unmöglich, in diesem Gedränge voranzukommen. Er hatte sie verloren.
Zum Glück nahte die Fastenzeit. Der Überdruß quälte ihn derart, daß ihm das Leben eines Eremiten als eine Erlösung erschien. Widerwillig ließ er sich als Wettsieger den Gewinn, einen großen Phallos, umhängen. Anschließend machte er sich wieder an seine Studien.
Doch dann stürmte Pico in seine Kammer und berichtete in leuchtenden Farben von den Begegnungen mit der Krämerstochter, die bald heirate und Krämersfrau werde, die mit ihrem Krämersmann nach Arezzo ziehe, und er, Giovanni Pico, Conte della Mirandola, sei verzweifelt.
Alessandro hockte gerade über einem griechischen Text, wollte sich nicht stören lassen und zuckte mit den Schultern. Aber Pico ließ nicht locker. Es müsse etwas geschehen. Und zwar bald. Am nächsten Tag berichtete er, fünf Mann habe er zusammen. Eine Woche später waren es schon zehn. Nach Ostern heiratete seine Geliebte und zog tatsächlich nach Arezzo. Sie schrieb ihm leidenschaftliche Briefe, die er Alessandro zu lesen gab. Und im Mai erklärte Pico schließlich: »Ich habe fast zwanzig Männer zusammen, wir werden sie entführen!«
Alessandro schaute ihn entgeistert an. »Du meinst das nicht im Ernst!«
»Allerdings!« Pico sprang auf und beugte sich zu Alessandro, der noch immer dabei war, mühsam das Liebesgleichnis aus Platons Gastmahl zu übersetzen. »Wir reiten nach Arezzo und holen sie heraus. Sie ist bereit, ja sie drängt mich sogar.«
Pico erschien Alessandro plötzlich wie ein trotziger kleiner Junge, der unbedingt seinen Willen durchsetzen mußte. »Du würdest deine kleine Silvia auch entführen, wenn ihr Vater sie mit einem gewöhnlichen Krämer oder Handwerker verheiratete!«
Alessandro sprang ebenfalls auf und rief erregt: »Wie kommst du auf Silvia?«
»Du sprichst doch dauernd über sie.«
»Tue ich das wirklich?«
»Du liebst sie insgeheim, und eines Tages wirst auch du sie entführen.«
Alessandro schüttelte den Kopf, aber Pico gab nicht auf. Er hielt Alessandro am Arm und zog ihn nahe zu sich heran. »Sind wir nicht Freunde, Geistesverwandte? Ich brauche dich. Achtzehn Gesellen habe ich zusammen. Mit dir zusammen sind wir zwanzig. Dann können wir losschlagen.« Als Alessandro noch immer zögerte, fügte er noch an: »Reizt dich nicht das Abenteuer? Du bist nicht geboren, um über griechischen Manuskripten zu hocken oder als Kirchendiener Messen zu lesen und von Abenteuern anderer Leute in der Beichte zu hören. Du kannst dich nicht damit abfinden, nur Zweitgeborener zu sein. Über den Papst sprichst du mit Verachtung, von deiner Zeit als Skriptor mit Widerwillen, aber als du mir von Silvias Rettung erzähltest, leuchteten deine Augen. Du bist wie ich. Wir beide suchen das Abenteuer.«
Alessandro schaute in Picos Augen, die ihn festzunageln schienen. »Weiß Lorenzo davon?«
Pico wandte sich abrupt ab. »Ich brauche keine Erlaubnis von Lorenzo. Ich bin Graf, ich bin reich, ich bin niemandem Rechenschaft schuldig. Wir alle lieben Lorenzo, aber wir sind weder seine Diener noch seine Kinder. Er hat ja selbst eine verheiratete Frau als Geliebte, und manchmal führt er sie in eine seiner Villen auf dem Lande. Lorenzo ist der erste, der mich verstehen würde.«
Und dann ritten sie. Zwanzig Mann, alle die Schwerter umgebunden, manche sogar mit Brustpanzer und Helm. Nach einem Tag erreichten sie Arezzo, und noch in der Nacht wollten sie Picos Geliebte entführen. Aber es war bedeckt und so dunkel, daß an eine Flucht nach Siena nicht zu denken war. Sie suchten eine Herberge vor der Stadt, warfen die Gäste aus ihren Betten und nisteten sich dort ein. Alessandro fühlte sich in der Gesellschaft der jungen Männer unwohl. Es waren zwar einige Söhne aus den angesehenen Familien von Florenz dabei, auch zwei der jungen Schützlinge von Lorenzo, aber der Rest bestand aus bravi, die Pico geheuert hatte und die für Geld alles taten, bis hin zum Mord. Der Conte della Mirandola führte Männer an, die er auf seinem eigenen Grund und Boden aufgehängt hätte. Und er, Alessandro Farnese, stand an seiner Seite.
Während der Nacht bestürmte er Pico, die Entführung abzublasen und wieder nach Florenz zu reiten, in dessen Mauern so viele schöne, unverheiratete und reiche, aber auch kluge Frauen wohnten, die ihn alle verehrten, ihn, den vielsprachigen, weitgereisten und berühmten, zudem reichen Grafen von Mirandola. Pico drehte ihm den Rücken zu und schnarchte weiter.
Dann war es soweit. Die Vollmondnacht war klar. Man hatte innerhalb von Arezzos Mauern gewartet, brach die Tür des Krämerhauses auf, Pico stürmte in den ersten Stock und holte seine Geliebte, nackt wie sie war, aus dem Bett, hielt ihren ebenfalls nackten Mann mit dem gestreckten Schwert in Schach. Die junge Frau zog sich an, und schon galoppierten die Pferde durch die nächtlichen Straßen. Das Stadttor mußte gewaltsam geöffnet werden. Die Wachen stellten sich ihnen in den Weg, und der erste Kampf begann.
Alessandro hatte sich von Pico anstecken lassen. Er bemerkte, wie kaltblütig er reagierte, obwohl alle seine Sinne angespannt waren, wie sich die Angst, verletzt zu werden oder gar zu sterben, verband mit der Lust zu kämpfen und zu siegen. Er empfand sich als ein richtiger Farnese, als ein Kämpfer, ein Condottiere. Sein Vater und sein Großvater wären stolz gewesen auf ihn. Was hätte er darum gegeben, seinem Bruder Angelo zur Seite zu stehen in seinem Kampf gegen die Türken!
Alessandro sprang vom Pferd, weil er befürchtete, eine der Wachen könnte mit der Hellebarde das ungeschützte Tier verletzen. Die bravi prügelten mit ihren Schwertern drauflos, machten einen unnötigen Lärm, und als einer von ihnen verletzt wurde, grölten sie noch lauter. Alessandro empfand das Fechten eher wie ein Übungskampf, fast wie ein Spiel. Er tänzelte um seinen Gegner herum und versuchte, ihn aufzuhalten und ihm die Waffe aus der Hand zu schlagen. Als das Tor schließlich geöffnet wurde, sprang er auf sein Pferd und preschte voran. Mit einem Auge nahm er wahr, daß einer der Wachmänner auf dem Boden lag, in einer Lache aus Blut, aber noch am Leben. Als Alessandro nach einigen Metern sein Pferd zu einer engen Kehrtwendung zwang, sah er, wie einer der bravi sein Schwert in den hilflos daliegenden Mann senkte und ihm anschließend den Kopf abzuhacken versuchte. Er traf aber nicht genau, und als die ersten Bürger durch das Tor stürmten, rannte er zu seinem Pferd.
»Auf nach Siena!« rief Pico. »Dort sind wir in Sicherheit. Und ich kann endlich meine Geliebte ungestört …« Die restlichen Worte gingen im Johlen der bravi unter. Picos Truppe jagte unter Triumphgeheul in die helle Mondnacht.
Nach einem scharfen Ritt sammelte man sich. Zwei der Männer waren leicht verletzt, aber es herrschte eine euphorische Stimmung. Pico küßte unter dem Jubel der Begleitung seine Geliebte. Dann beratschlagte man, wo man rasten sollte. Einige sahen überhaupt keine Gefahr mehr und wollten sich an Ort und Stelle niederlassen, andere meinten, es sei sicherer, bis über die Grenze von Siena zu reiten. Als man noch mitten im Durcheinander der Diskussion war, sah Alessandro, der bisher geschwiegen hatte, auf dem Weg nach Arezzo. etwas Helles im Mondschein aufblitzen. Er ritt bis zur letzten Wegbiegung zurück, und tatsächlich konnte er in der Ferne die lauten Geräusche von Hufen hören. Wie gelähmt, lauschte er. Nein, es gab keinen Zweifel, ihnen war eine Verfolgertruppe auf den Fersen. Sofort warnte er Pico. Die bravi wollten es mit der zehnfachen Übermacht der Dörfler und Krämer aufnehmen, Picos Freunde aus Florenz schauten sich nachdenklich an.
»Wie kommen sie so schnell zusammen?« fragte einer.
»Sie müssen gewarnt worden sein«, sagte ein zweiter.
»Unter uns gibt es einen Verräter«, rief Pico aufgebracht, »oder zumindest einen, der zuviel geschwätzt hat.«
Die bravi murrten.
»Laßt uns so schnell wie möglich weiterreiten«, mahnte Alessandro. »Wer weiß, wie viele Männer uns verfolgen.«
Und erneut stürmte die Truppe los.
Als die Pferde zu ermüden begannen, hielten Pico und seine Begleiter an und schauten zurück. Niemand war zu sehen und zu hören. Als sich schon Erleichterung breitmachte, schrie plötzlich einer auf. Da waren sie, und sie waren nah. Sie mußten eine Abkürzung genommen haben. Und es waren wirklich viele. Vielleicht hundert, vielleicht zweihundert.
Die Flucht begann. Die bravi vorneweg, Alessandro hielt sich neben Picos Geliebter. Ein Bach mußte durchquert werden. Baumstämme lagen im Weg. Der Mond verschwand für kurze Zeit hinter einer Wolke, und man geriet in Gefahr, sich zu verirren. Dann wieder das gleißende Silberlicht, und schon waren die Männer aus Arezzo heran. Gut bewaffnet und voller Wut stürzten sie sich auf die flüchtende Truppe. Diesmal war es kein Spiel mehr, keine Fechtübung, diesmal ging es um das nackte Überleben, dies spürte Alessandro sofort. Neben den Bürgern aus Arezzo standen ihnen trainierte Söldner gegenüber, denen offensichtlich eine Erfolgsprämie winkte, denn sie gingen sofort zum Angriff über.
Pico wich ein Stück zurück. Alessandro mußte einen Hieb parieren, sich unter einem zweiten wegducken und dann mit einem kräftigen Stoß einen Gegner vom Pferd hauen. Schon lagen mehrere Männer auf dem Boden, Pferde wieherten vor Schmerz, bäumten sich auf, und ein undurchschaubares Kampfgetümmel entstand. Wo waren Pico und seine Geliebte? Die junge Frau wurde vom Pferd gerissen, schrie auf. »Giovanni!« rief Alessandro mit aller Kraft, aber niemand antwortete. Auch Picos Pferd war nirgends zu sehen. Nun stieß schon wieder einer nach Alessandro, eine Lanze kam seinem Pferd gefährlich nahe, und dann suchte plötzlich einer der Verfolger den Zweikampf. Alessandro wollte zurückweichen.
»Laßt ihnen die Frau und weg!« brüllte er.
»Wo ist Pico?« hörte er.
»Stell dich, du Feigling!« rief sein Gegner.
Wieder eine Wolke vor dem Mond, Dunkelheit, der Kampf erlahmte, das Gebrüll wurde dagegen lauter. Dann erneut der nächtliche Schattenriß, aufblitzende Klingen, um sich schlagende Pferde. Überall auf dem Boden blutende und schreiende Männer. Andere rührten sich nicht mehr. Er konnte dem Zweikampf mit dem Söldner nicht mehr ausweichen.
Alessandro schaute noch immer auf La Verna. Abweisend ragten die Felsen auf, darüber das Kreuz. Die Botschaft des Opfers, der Erlösung, der Gnade. Die Botschaft des Rückzugs und der Einsamkeit. Die Botschaft des Verzichts und der Armut. Über ihm die Kerzen der blühenden Kastanie. Über ihm die weit ausladende Krone eines Baums, der sich in voller Pracht entfaltete. Alessandro versuchte zu beten, fand aber keine Worte, sah nur diesen letzten Kampf verlangsamt und in allen Einzelheiten vor sich. Der unbekannte Gegner konnte es mit Alessandros Geschicklichkeit nicht aufnehmen, dafür kämpfte seine Wut mit. Alessandro war nicht wütend, und er wollte seinen Gegner auch nicht töten. Aber dann tötete er ihn doch. Sofort stürzten sich andere auf ihn. Noch einmal sah er das helle Kleid aufleuchten, das Picos Geliebte trug. Fast alle von seinen Männern lagen blutend oder tot am Boden. Pico selbst war nicht zu sehen. Alessandro kämpfte als einer der letzten. Als er eine Lücke erspähte, trieb er sein Pferd an, und mit der Kraft der Panik rannte es einen Mann um und jagte mit Alessandro davon. Er merkte sehr schnell, daß er nicht verfolgt wurde, aber auch, daß er alleine flüchtete. Daß er wie durch ein Wunder unverletzt geblieben war. Wie viele Männer er getötet hatte, wußte er selbst nicht.
Und jetzt, unter dem Kastanienbaum, mit Blick auf die Felsen von La Verna, auf den Ort, an dem der heilige Franciscus das Wunder der Stigmatisation erfuhr, dankte Alessandro dem barmherzigen Vater für das zweite Wunder der Rettung, mit dem ER ihn ausgezeichnet hatte.
23. KAPITEL
Silvia hatte Alessandro Farnese, ihren Retter, nicht vergessen. Sie war während der letzten Jahre zu einer jungen Frau herangewachsen und stand nun vor der Vollendung ihres fünfzehnten Lebensjahrs. Demnächst würde sie im heiratsfähigen Alter sein. Aber trotz der Überlegungen ihres Vaters, sie mit Giovanni Crispo zu verheiraten, dachte sie nicht daran, irgendeinen Mann aus den alteingesessenen Familien Roms zu heiraten. Für sie gab es nur einen Mann, dem sie sofort ihr Ja-Wort geben würde, und dieser Mann hieß Alessandro Farnese. Aber Alessandro lebte nun schon bald drei Jahre in Florenz.
Während des ersten Jahres hatte er kaum etwas von sich hören lassen, doch dann antwortete er plötzlich umgehend auf ihre Briefe, und schließlich schrieben sie sich regelmäßig. Silvia erzählte Alessandro viel vom kleinen Sandro, mit dem sie jeden Tag spiele und lache, von ihren Lateinstudien und Malversuchen, sie schickte ihm Gedichte und berichtete, sie sei jetzt sogar in Boccaccios Fußstapfen getreten. Alessandro erzählte in seinen Briefen von seinen Griechischstudien, von den Diskussionen über Platon, die Liebe und den idealen Staat, er erzählte von den Calcio-Turnieren und den Festen, vor denen man sich in Florenz kaum noch retten könne. Jede Anspielung auf eine Florentinerin vermied er. Alessandro schien das Leben eines philosophierenden Mönchs zu führen, Florenz wirkte nach seinen Berichten wie eine frauenlose Stadt. Auf die Nachrichten von Sandro ging er kaum ein. Kleine Kinder schienen ihn nicht zu interessieren. Während Silvia ihm ihr Herz ausschüttete, hielt er sich mit Liebesgeständnissen zurück. Und doch versteckte er zwischen den Zeilen seiner Briefe eine unerfüllte Sehnsucht. Dies spürte sie insbesondere dann, wenn er ihr Platons Überlegungen zur Liebe nahezubringen versuchte. Der Mensch, so führte er aus, sei ursprünglich rund gewesen, sei dann aus Übermut von Zeus bestraft und in zwei Hälften geschnitten worden. Diese Hälften sehnten sich nacheinander, sie versuchten, wieder zusammenzukommen, aus zweien eins zu machen und die menschliche Natur zu heilen. Dies Verlangen eben und Trachten nach dem Ganzen heißt Liebe, zitierte Alessandro den griechischen Philosophen, und sie verstand sehr wohl, daß er von seinem Verlangen sprach und daß er in ihr und sich selbst die zwei Hälften einer ursprünglichen Einheit sah.
Silvia saß lange Dämmerstunden auf der Dachterrasse und schaute nach Norden. In ihren Gebeten bat sie Gott um Alessandros Rückkehr. Immer wieder schrieb sie auch an Giulia Farnese und erkundigte sich, ob die Schwester vielleicht mehr wisse über die Rückkehr des fernen Geliebten.
Dann gelang es Giulia, Silvia nach Capodimonte einzuladen. Mutter Caetani und Tochter Farnese hielten sich gerade in Rom auf und planten, zu ihrem Stammsitz zurückzukehren. Man beschloß, Silvia gleich mitzunehmen. Die Frauen zogen im Schutz einer waffenstarrenden Truppe über die Straßen von Latium; daher gab es auch keine unbotmäßige Belästigung, geschweige denn einen Überfall.
In Capodimonte ließ sich Silvia von ihrer Freundin Alessandros Zimmer zeigen, mit den Büchern und Waffen, die er zu Hause gelassen hatte. Der Höhepunkt ihres Besuchs war der Aufenthalt auf der Isola Bisentina. Die beiden Freundinnen genossen unbeschwerte Tage auf dem Sirenenfelsen oder im Schatten der Steineichen, und Silvia lernte sogar schwimmen. Gelegentlich ritten sie auch: durch die lichten Wälder, durch die Olivenfelder und Weinberge. Silvia durfte auf einer von Alessandros Stuten reiten, sogar auf seinem Sattel sitzen. Das Pferd war gutmütig, ertrug ohne zu murren die fremde Reiterin, und Silvia fühlte sich ihrem abwesenden Alessandro nahe. Das einzige, was sie zunehmend befremdete, war das Gefühl, ständig von Madonna Caetani beobachtet zu werden.
An einem Abend probierten die Freundinnen unter ausgelassenem Gelächter die wertvollen Kleider der Familien Caetani und Farnese an. Als sie nur im Hemd vor dem einzigen großen Spiegel des Schlosses standen, rauschte plötzlich Giulias Mutter ins Zimmer. Aber sie war nicht allein. Eine andere Frau ihres Alters, streng gescheitelt in einem tiefroten Samtkleid, begleitete sie. Silvia, die sich erröten fühlte, wurde sie als Madonna Adriana del Mila vorgestellt. Madonna Caetani lächelte gewinnend, und Giulia wurde von der Besucherin mit einem Kuß begrüßt. Giulia entfuhr ein unterdrückter Seufzer, und als die Blicke der beiden Freundinnen sich trafen, verdrehte sie kurz die Augen. Silvia wollte schnell wieder ihr Kleid überstreifen, aber Madonna Caetani wies sie mit einer unzweideutigen Geste an, es zu unterlassen. Sie warf einen prüfenden Blick auf die beiden Mädchen und befahl dann einer Kammerfrau, ihr eigenes altes Hochzeitskleid aus der Truhe zu holen, von Staub zu befreien und auf mögliches Ungeziefer zu untersuchen. Sie wolle prüfen, ob es ihrer Tochter und auch Silvia passe. Ohne entschuldigende Vorrede ließ sie ihre Hände an Giulias Körper entlanggleiten, ertastete die Festigkeit ihrer Brüste und die Rundungen ihrer Hüfte. »Muß passen«, stellte sie fest und wandte sich fragend Madonna del Mila zu. Diese nickte anerkennend.
»Wem der Schöpfer solch einen schönen Körper und ein derart liebreizendes Antlitz gegeben hat, der wird es weit bringen«, sagte sie mit einer harten Stimme und einem unüberhörbar rollenden R.
Dann wandten sich beide Frauen Silvia zu. Silvia begann zu schwitzen. Seit Rosella aus dem Haus war, hatte sie, abgesehen von ihren wechselnden Kammerfrauen, niemand nackt gesehen. Nun standen plötzlich zwei Fremde vor ihr, ließen sich ein kostbar mit Perlen besticktes Brokatkleid reichen und hielten es an ihren Körper. Sie nickten und ließen zuerst Giulia das Kleid anziehen. Währenddessen glitt ihr Blick prüfend an Silvia herab. Silvia kam sich schon in ihrem Baumwollhemd nackt vor, aber nun zögerte Giulias Mutter nicht, das Hemd hochzuziehen. Silvia zuckte zurück, doch Madonna Caetani duldete keinen Widerstand. Unwillig wies sie Silvia an, ruhig zu stehen, sonst könne sie nicht abschätzen, ob das Kleid passe. »Du willst es doch ebenfalls anprobieren, oder?«
Silvia errötete und wehrte sich noch nicht einmal, als Madonna Caetani ihr das Hemd gänzlich über den Kopf zog. Beide Frauen betrachteten sie in aller Ruhe.
»Wohlgerundete Hüften«, bemerkte Madonna Caetani sachlich.
»Breit im Schritt. Ein gutes Becken«, bestätigte Madonna del Mila. »Sie wird sich weniger quälen müssen als Giulia.«
Silvia fühlte, wie die Röte ihren ganzen Körper überzog, und unwillkürlich bedeckte sie mit den Händen ihre Scham. Giulia hatte sich abgewandt, aber die beiden Frauen schienen überhaupt nicht wahrzunehmen, daß ihr Verhalten den beiden Mädchen quälend peinlich war.
»Würde ich nicht sagen«, widersprach Madonna Caetani. »Schaut Euch mal Giulias Brüste an!«
»Die Brüste sind wie von einem Künstler geschaffen, kein Zweifel, mit diesen Pfunden kann sie wuchern. Alle Männer würden ihre Freude daran haben.« Ein leichtes Lächeln huschte über Madonna del Milas Gesicht. »Die kleinen und die großen, die Söhne und die Väter.«
Madonna Caetani räusperte sich mißbilligend, aber Madonna del Mila schien ihre Reaktion nicht gehört zu haben und wies auf Silvia: »Diese junge Frau wird eine Reihe von Geburten gesund überstehen. Und seht Ihr die glatte Haut?«
An Stelle einer Antwort fuhr Madonna Caetani mit den Händen über Silvias Körper und befahl ihr dann, das Hochzeitskleid anzuprobieren. Giulia war das Oberteil zu eng gewesen, aber Silvia paßte es, als wäre es für sie genäht worden. Madonna del Mila nickte erneut anerkennend, auch Madonna Caetani nickte, nicht unzufrieden, und befahl Silvia, es wieder auszuziehen.
»Giulia wird das Kleid bei der Hochzeit tragen dürfen«, sagte sie zu Madonna del Mila.
Diese setzte eine hochmütige Miene auf. »Ein schönes Kleid, wenn auch nicht mehr ganz dem heutigen Geschmack entsprechend. Aber dies läßt sich durch einen guten römischen Schneider ändern. Allerdings würden mehr Goldfäden dem Kleid guttun, wie überhaupt die Höhe der von Euch angebotenen Mitgift noch zu wünschen übrig läßt, meine Liebe. Die Orsini sind anspruchsvoll, das weiß ich, aber in ganz Italien gibt es kein besseres Geschlecht. Im übrigen hat mein Vetter Rodrigo zugesagt, das Paar zu trauen, und er hat mir schon zugeflüstert, was er dem jungen Paar zu schenken gedenkt. Ihr werdet über seine Generosität staunen. Ein Borgia hat sich noch nie lumpen lassen.«
Silvia hatte inzwischen die Hochzeitsrobe ausgezogen und ihr eigenes Kleid übergestreift. Die beiden Frauen standen vor der Tür und schienen die beiden Mädchen nicht mehr wahrzunehmen. Giulia starrte ihnen nach und schien jedes Wort von ihnen aufsaugen zu wollen. Sie griff nun nach Silvias Hand und hielt sie fest.
»Und bei der kleinen Ruffini? An wen denkt Ihr?« Madonna del Mila warf nun doch einen Blick auf die beiden Mädchen und senkte ihre Stimme. »Ich kannte ihre Mutter flüchtig«, fuhr sie fort. »Die Arme. Ein schreckliches Schicksal. Ihr Vater scheint zur Zeit in Schwierigkeiten zu sein, das erzählte mir der alte Crispo, also, da habt Ihr nicht viel zu erwarten. Und habt Ihr schon Euren Astrologen befragt? Rodrigo kennt auch eine Nekromantin. Erstaunlich, sage ich nur, erstaunlich. Es gibt Dinge …«
Madonna Caetani warf einen Blick auf die beiden Mädchen. Es war ihr offensichtlich nicht recht, daß sie zuhörten. Sie winkte ihrer Kammerfrau, Silvia das Hochzeitskleid abzunehmen, und riß es an sich.
»Also, an wen denkt Ihr?« Madonna del Mila ließ nicht locker. »Ihr könnt daraus kaum ein Geheimnis machen wollen. Heutzutage will die Jugend doch überall mitreden. Wir wurden damals nicht gefragt, nicht wahr, meine Liebe? Aber natürlich wollen die Eltern das Beste für ihre Kinder. Mein Orso ist ein prächtiger Junge. Sein Auge – leider … Aber sonst: ein guter Charakter, gesund, kräftig wie ein Bär – und der Erbe von Bassano und vielleicht sogar von Bracciano!« Madonna del Mila war nun wieder lauter geworden und sprach halb in Richtung von Giulia. »Also, an wen denkt Ihr für die kleine Ruffini?«
Madonna Caetani flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Madonna del Milas Stirn kräuselte sich kurz, dann hielt sie ihr Ohr näher an Madonna Caetanis Mund. Schließlich schüttelte sie abwägend den Kopf, und die beiden Frauen verließen, ohne sich noch einmal zu den Mädchen umzudrehen, den Raum.
Silvia brauchte eine Weile, bis sich die Anspannung legte. Sie hörte Giulia etwas sagen, verstand aber ihre Worte nicht. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken, und am liebsten wäre sie jetzt allein in ihrem Zimmer in Rom gewesen. Sie fühlte sich mißbraucht von diesen beiden alten Vetteln, behandelt wie eine Kleiderpuppe – nein, wie eine Zuchtstute! Dabei gehörten diese Frauen überhaupt nicht zu ihrer Familie. Oder sollte etwa Madonna Caetani tatsächlich planen, ihren Alessandro mit ihr zu verheiraten? Hatte sie etwa aufgegeben, ihn in die kuriale Laufbahn zu peitschen, und suchte nun nach einer jungen Frau, die ihm und damit der Familie Farnese viele Kinder schenken könnte? Aber der Erstgeborene war doch sein Bruder Angelo. Sollte Madonna Caetani etwa planen, sie mit Angelo Farnese zu verheiraten? O Gott – vielleicht war Angelo ein stattlicher, kluger und liebevoller Mann … Aber sie liebte Alessandro, ihn und nur ihn!
Aber mußte sie nicht auch vernünftig sein? Sie wußte genau, daß nicht sie sich ihren zukünftigen Ehemann aussuchte, sondern ihr Vater. Allerdings war sie nicht bereit, irgendeinen Mann zu heiraten!
Ohne Liebe ging sie keine Ehe ein. Dann würde sie sich eher in ein Kloster flüchten. Dort könnte sie wenigstens dichten.
Aber ertrug sie wirklich, ein Leben lang in ein Kloster eingesperrt zu sein, den täglichen Gebetsmühlen ausgesetzt, ohne Aussicht auf die Freuden der Ehe und Mutterschaft?
Silvia fuhr mit beiden Händen über ihre Brust und ließ sie auf ihrem Bauch liegen. Sie mußte an den kleinen Sandro denken, an die Freude, die sie jedesmal empfand, wenn sie mit ihm tollte oder wenn er wieder etwas Neues gelernt hatte. Er sprach nun schon ganz ordentlich, lief neugierig im Haus umher und hielt die Amme auf Trab. Ja, die Amme sorgte noch immer für ihn, der Vater hatte sich um kein Kindermädchen gekümmert. Überhaupt kümmerte sich der Vater wenig um das Kind. »Er hat nicht die roten Haare der Ruffini-Männer«, erklärte er und fuhr dann mit erregter Stimme fort. »Die Hure hat mich betrogen. Ausgepeitscht gehört sie – dabei liegt ihr halb Rom zu Füßen.« Er kratzte sich am Hals und schüttelte dann den Kopf. »Wenn ich mal Geld benötigte, könnte sie mir einen ordentlichen Betrag zu einem ehrbaren Zinssatz leihen, sagte sie mir vor kurzem. Unsere ehemalige Kammerfrau, eine Hure, will mir Geld leihen! Diese Welt ist nicht mehr in Ordnung.«
Silvia wußte darauf nichts zu antworten, und der Vater verzog sich, plötzlich in sich gekehrt, in sein Studiolo.
In den nächsten Tagen brachte Silvia dem kleinen Sandro bei, Papa zu ihrem Vater zu sagen. Zuerst schaute der Vater unwillig auf. Sandro nahm ihn jedoch bei der Hand, sagte »Papa, ich muß dir was zeigen«, und der Widerstand des Vaters löste sich auf. Er folgte dem Kleinen. Er lächelte und nahm ihn sogar auf den Arm.
Silvia erschrak, als sie ein Schluchzen hörte. Sie war so in Gedanken gewesen, daß sie Giulia regelrecht vergessen hatte. Sie sah noch immer ihren Vater und den kleinen Sandro vor sich. Und die Unruhe hatte sich auch wieder gelegt. Die Frauen und ihr Vater mochten aushecken, was sie wollten, sie würde sich nicht zu etwas zwingen lassen, das ihr zuwider war. Nein, sie nicht!
Sie wandte sich Giulia zu, die aus dem Fenster starrte und Tränen vergoß. Silvia kniete sich neben sie und nahm ihre Hand. »Warum bist du so traurig, Giulia?«
Die Schminke um Giulias Augen war zerlaufen, ihre Augen gerötet. »Ich habe Angst, verstehst du, ich habe Angst«, flüsterte sie.
»Hast du vor der Ehe Angst?«
»Ach, wenn es nur die Ehe wäre!«
24. KAPITEL
Drei Jahre hielt sich Alessandro nun schon in Florenz auf, drei Jahre, die wie im Rausch vergangen waren. Die Sorglosigkeit des ersten Jahrs hatte durch Picos Entführungsversuch einen Dämpfer erhalten. Nach diesem so glimpflich abgelaufenen Abenteuer sah man Pico nicht mehr sehr häufig. Er war einer äußeren Verbannung durch Lorenzo entgangen, aber er schien sich nun zerknirscht in die innere Verbannung zurückzuziehen. Als Alessandro ihn nach längerer Pause wiedertraf, berichtete er, in der Zwischenzeit habe er bei einem alten Bekannten, bei Fra Girolamo Savonarola, die Beichte abgelegt, und das anschließende Gespräch habe sein Leben verändert. Als Alessandro Genaueres erfahren wollte, wich Pico aus und entschuldigte sich. In den folgenden Wochen hockte er über alten Manuskripten, studierte kabbalistische Texte und sprach, wenn er schwarzgekleidet auftauchte, über das Böse in der Welt. Es nehme überhand, und daher werde Gott ein Strafgericht senden. »Wir müssen wieder ein meditatives, zurückgezogenes Leben führen«, erklärte er Alessandro, als beide in der Abenddämmerung durch den Medici-Park spazierten.
In der Accademia spielte er nur noch eine Gastrolle. Als ihn Lorenzo einmal, nicht ganz ohne boshaftes Lächeln, aufforderte, eines seiner letzten Liebesgedichte vorzutragen, erklärte Pico, er habe seit geraumer Zeit keine Liebesgedichte geschrieben, er werde sich nie mehr dieser Tändelei hingeben, überhaupt habe er alle seine Gedichte verbrannt. »Der Himmlische Vater hat mich vor Tod und Verfolgung bewahrt, ich muß ihm danken und endlich das leichtfertige Leben aufgeben. Fra Girolamo geleitet mich zu Buße und Umkehr.«
Er stand auf, verbeugte sich leicht und verließ die Gruppe, die sich im Garten beim Brunnen niedergelassen hatte. Gemurmel und Getuschel folgten ihm.
Lorenzo seufzte bedauernd, las dann aus einem seiner letzten Gedichte:
»Drum schreckt mich auch das unstet wirre Handeln Und längst verstummter Töne Widerklingen Im Streit, dem alten, zwischen Leid und Lust.«
Aber niemand wollte so recht zuhören. Es gab sogar einige, die lachten. Lorenzo unterbrach sich selbst, schaute lange in die Runde der alten und jungen Männer, die alle von ihm ausgehalten wurden. Alessandro senkte voller Scham seinen Blick, und gleichzeitig fielen ihm die Zeilen ein, die in einem von Silvias Briefen gestanden hatten. Er flüsterte sie vor sich hin. Während das allgemeine Gespräch wieder aufgenommen wurde, neigte Lorenzo seinen Kopf ihm zu. »Ich möchte hören, was du gerade geflüstert hast!« bat er ihn.
»Es sind die Zeilen einer jungen Frau aus Rom.«
»Wie lauten sie?«
Auch Lorenzo hatte leise gesprochen, und da niemand zuhörte, zitierte Alessandro:
»Und weinend, lachend fühl ich innerlich: Mein kurzes Leben hab ich nicht vertan.
Ja, glorreich seh ich meine Stunde nahn!« Lorenzo lachte kurz auf. »Wer dies von sich behaupten kann, muß glücklich sein. Und hoffnungsvoll. Ich kann es nicht mehr sagen.« Ohne Alessandro die Möglichkeit einer Antwort zu lassen, fragte er: »Und du? Siehst du auch glorreich deine Stunde nahn?«
»Die Zukunft liegt in Gottes Hand«, antwortete Alessandro ausweichend.
Lorenzo deutete ein Nicken an und schaute ihm in die Augen, schaute dann durch ihn hindurch in die Ferne. Alessandro fiel auf, wie tief die Falten waren, die sich in Lorenzos Gesicht eingegraben hatten, wie spitz die Nase vorragte, wie unschön die Unterlippe sich vorschob, wie tief die dunkel umrandeten Augen in ihren Höhlen lagen. Und ihm wurde plötzlich klar, daß Lorenzo an die letzte Stunde dachte, während ihm die siegreiche Stunde vorschwebte.
Und wie zur Bestätigung seiner Vermutung flüsterte Lorenzo: »Ultima necat. Die letzte wird mich und auch dich töten. Wohl dem, der auf sie vorbereitet ist. Ich glaube, ich bin es nicht. Noch nicht.« Er stand auf, ließ seinen Blick über die fröhlich in heftige Diskussionen verstrickten Männer gleiten.
Alessandro wollte aufspringen, aber Lorenzo drückte ihn wieder auf seinen Hocker. »Du wirst länger leben als ich, länger auch als mein unvergessener Bruder. Dich beschützt ein Engel.« Lorenzos Mund war schmerzhaft verzogen, und in seinen Augen stand eine tiefe Schwermut. »Über ein Jahrzehnt liegt der Anschlag der Pazzi auf mich nun zurück, aber jedesmal, wenn ich in den Dom gehe, spüre ich noch die Dolche, die mich verletzten, meinen Bruder aber töteten. Die Pazzi haben dieses heimtückische Attentat ausgeführt, angestiftet hat es ein Papst, dessen Namen ich nicht in den Mund nehme.« Lorenzo seufzte und setzte sich noch einmal neben Alessandro. »Ich erwähne es selten, weil ich die Erinnerung nicht ertrage.«
Alessandro nickte und schaute Lorenzo mitfühlend an.
»Beim Hochamt, in Santa Maria del Fiore, haben sie ihren Anschlag ausgeführt, diese verblendeten Männer, und wie viele von ihnen mußten bei unserem anschließenden Rachefeldzug sterben! Weißt du, Alessandro, ich hasse Blutvergießen aus tiefstem Herzen. Aber es gibt Augenblicke, in denen es nicht zu umgehen ist. Damals rasten meine Anhänger vor Rache, sie waren nicht mehr aufzuhalten, auch von mir nicht.« Lorenzo ließ seine Augen auf ihm ruhen. »Ein Jahrzehnt Frieden liegt hinter uns, ein goldenes Jahrzehnt. Manchmal denke ich, daß wir zu sorglos geworden sind. Es werden dunkle Propheten auftreten und Haß säen, es werden wieder Kriege unsere gesegnete Heimat verwüsten … Ach, könnte doch der Friede ewig dauern! Aber die Menschen sind wie Wölfe, sie können Frieden und ein glückliches Leben nicht aushalten.« Lorenzo erhob sich, lächelte schmerzlich und verschwand, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Nach diesem Gespräch wußte Alessandro, daß seine Tage in Florenz sich dem Ende zuneigen mußten. Er war nun einundzwanzig Jahre alt und hatte sich dem Leben zu stellen. In Rom, in der Kurie, das hatte er auch Kardinal della Roveres Briefen entnommen, hatte man ihm verziehen. Seine Mutter schickte ihm immer seltener Geld und ermahnte ihn, trotz seiner jugendlichen Missetaten dem Auftrag seiner familiären Bestimmung zu folgen. Gelernt hatte Alessandro ebenfalls genug. Er konnte fließend Griechisch lesen und sich mit Marsilio Ficino über Platon unterhalten, ohne daß sich der alte Philosoph bemüßigt fühlen mußte, ihn zu belehren. Im Gegenteil, er empfahl ihm, seine ganze Kraft der Gelehrsamkeit zu widmen. Alessandro hielt diesen Gedanken nicht für den schlechtesten, und Ugo Berthone, mit dem er jetzt häufiger zusammen war, unterstützte ihn: »Lathe biosas, dies hat schon Epikur uns Männern empfohlen, führe ein zurückgezogenes, ein beschauliches Leben im Kreis ausgesuchter Freunde, bearbeite deinen Garten, liebe deine Frau, deine Kinder – und die Weisheit!«
Alessandro mußte lachen und winkte ab. Aber als er abends allein war und seine Gedanken – wie immer unter dem Motto: Erkenne dich selbst! – niederschreiben wollte, mußte er feststellen, daß er Ugo zu Unrecht ausgelacht hatte. Das Leben, das der alte Grieche und der junge Provençale empfahlen, hatte etwas Verführerisches. Sich einfach fallen lassen. Die Tage genießen. Der Welt nicht die Stirn bieten wollen. Und sich nicht von ihr vereinnahmen lassen. Auch Gott mußte man nicht davon überzeugen, daß man zu den Auserwählten gehörte. Man brauchte nicht vor dem Papst zu Kreuze zu kriechen und den Kardinälen zu schmeicheln. Sich nicht verstellen. Nicht lügen und betrügen. Nicht um Geld, Benefizien und Einfluß kämpfen. Nein, was zählte, waren Glück und Glückseligkeit.
Er schrieb Silvia all diese Gedanken, verband in verwickelten Schlußsätzen das Ziel, glücklich und natürlich auch tugendhaft zu leben, mit der platonischen Vorstellung der Liebe: Zeugung und Geburt im Schönen. »Und, liebste Silvia, heißt es nicht auch im ersten Brief des Johannes: Gott ist Liebe? Wenn wir lieben, sind wir in Gott. Kann man sich etwas Schöneres und gleichzeitig Gottgefälligeres vorstellen? Aber ist uns ohne göttliche Gnade dieser Weg zur Glückseligkeit gegeben? Können wir auf diese Weise werden, wer wir sind?«
Die Worte Liebe, Gott und Glück schrieben sich so leicht und unterschlugen die Zweifel, die Alessandro gleichzeitig plagten – insbesondere die Zweifel an Gott, und er stand in diesem Punkte nicht allein.
»Gibt es wirklich einen Gott, so wie ihn unsere Priester von der Kanzel verkündigen?« fragte Ugo, als Alessandro und er am Ende eines gemeinsamen Ausritts nach Florenz zurückkehrten und am Friedhof von San Miniato eine letzte Rast einlegten und auf die Stadt schauten. »Lukrez glaubt nicht daran. Wenn unsere letzte Stunde schlägt, hauchen wir unser Leben aus, und dann zerfallen wir zu einzelnen kleinen, nicht mehr teilbaren Atomen. Nur das abergläubische Volk glaubt an Fegefeuer und Hölle, an Himmel und die unsterbliche Seele. Unsterblich Werden wir, wenn überhaupt, durch unsere Taten, durch das, was wir denken und an unsere Schüler weitergeben, durch das, was wir zum Glück der Menschen beigetragen haben.«
Ugo hatte immer erregter gesprochen, sich dann zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Er versuchte, ruhig zu atmen.
»Aber weißt du wirklich, was Glück ist?« fragte Alessandro.
Ugo hielt seine Augen geschlossen und erwiderte mit leiser Stimme: »Epikur spricht von ataraxia, von Seelenruhe. Halte dich aus den Stürmen des Lebens heraus, und du wirst keinen Schiffbruch erleiden. Vermeide den Aufruhr der Leidenschaften. Schau einfach nur in Gelassenheit zu und lächle!«
Nun öffnete er wieder seine Augen, blickte Alessandro kurz an und ließ seinen Blick auf Florenz ruhen, ohne zu lächeln.
»Wenn du schon von Unsterblichkeit sprichst …«, erklärte Alessandro, »wer wird von uns unsterblich sein? Lorenzo vielleicht?«
Ugo schwieg abwesend, und Alessandro fuhr fort: »Hat er nicht unvergeßliche Verse gedichtet? Und konnte er nicht im Kreis seiner Freunde und Familie den Sonnenuntergang genießen, still und kontemplativ in seiner Villa fern der Stadt? Hat er nicht oft genug, wie dein Epikur, mit uns zusammengesessen und über Schönheit und Liebe, aber auch über Ruhm und Frieden philosophiert? Und am nächsten Tag wieder die Geschicke der Stadt geleitet? Denk daran, mit welchem Mut er allein nach Neapel gezogen ist, um König Ferrante den Frieden abzuhandeln! Lorenzo wird unsterblich sein, denn er hat zum Glück der Menschen beigetragen. Frieden und eine gute Regierung sind die Voraussetzung. Aber Lorenzo führte kein zurückgezogenes Leben. Er ist ein leidenschaftlicher Mensch und hat gelernt zu leiden. Trotzdem hörst du ihn nie klagen. Wenn seine letzte Stunde ihm schlägt, wird er sein Leben nicht vertan haben.«
Wortlos stand Ugo auf, streckte seine Glieder und tätschelte den Hals seines Pferdes, das friedlich Gras gerupft hatte. Wiehernd schüttelte es die Mähne.
Florenz lag im goldenen Licht der im Dunst versinkenden Sonne. Wie so häufig während der letzten Woche durchfuhr Alessandro das Gefühl, daß er sein sorgloses Leben gar nicht verdiene. Gott hatte ihm zweimal vor Tod und Verfolgung bewahrt, und was tat er? Er lebte in den Tag hinein. Er genoß diesen Blick über die Stadt, die ihn als Gast aufgenommen hatte, und philosophierte mit einem jungen Provençalen über Glück. Und natürlich kam ihm wieder Silvia in den Sinn. Allen Ehrgeiz hinter sich lassen, der Kirche endgültig Lebewohl sagen und das Mädchen heiraten, das er gerettet hatte, das eine reine Schönheit ausstrahlte, das ihn liebte. Ja, war ihre Einheit nicht vorherbestimmt? Waren sie nicht zwei Hälften eines Wesens, das ein Gott einmal geteilt hatte …
»Warum schweigst du plötzlich?« hörte er Ugo fragen.
Alessandro schüttelte den Kopf. »Ich mußte gerade an Silvia denken – ach Gott, damit begann alles.«
Ugo war herangesprungen und hockte sich direkt neben ihn. »Begann damals das Glück oder das Unglück?« fragte er inquisitorisch.
Alessandro zuckte mit den Achseln. »Es begann mit einem Unglück«, antwortete er schließlich. »Aber vielleicht führt es ja zum Glück.«
»Nein, nein«, widersprach ihm Ugo. »Unglück zeugt immer nur Unglück!« Er stand wieder auf, setzte sich erneut, kratzte sich am Kopf. Dann brach es aus ihm heraus:
»Frauen bedeuten Unglück. Insbesondere schöne Frauen. Frauen, welche die Seele entzünden, wie unser Freund Ficino sagt. Frauen, die in dich eindringen und nicht mehr loslassen. Zum Beispiel deine Schwester, Alessandro, deine schöne Schwester Giulia …«
»Wie kannst du so etwas sagen!«
Ugo seufzte tief, preßte seine Hände vor sein Gesicht. »Ich habe es dir noch nie erzählt«, antwortete er nach einer Weile, während er sich wieder auf den Boden legte und in den Himmel starrte, »ich habe deine Nähe gemieden, weil du mich immer an Giulia erinnerst. Ich habe ihr hundert Briefe geschrieben und nie einen abgeschickt, ich wollte längst wieder nach Bologna ziehen oder nach Paris oder noch weiter, nach London vielleicht, weil ich deine Schwester, die ich nur einmal gesehen habe – weil ich sie nicht vergessen kann.«
Alessandro schaute Ugo erstaunt an, aber dieser erwiderte seinen Blick nicht.
»Ich bin ein unbedeutender Provençale, ein armer Mann zudem, der nur durch die Großzügigkeit des Magnifico lebt – verstehst du mich?«
Ugo starrte noch immer in den Himmel, seine Stimme verriet die innere Erregung. Alessandro wußte nicht, was er antworten sollte.
»Verachtest du mich?« fragte Ugo.
»Warum soll ich dich verachten?«
Alessandro fühlte plötzlich eine tiefe Kluft zwischen den Menschen. Selbst zwischen denen, die sich Freunde nannten, ja vielleicht sogar, die sich liebten. Er hatte zwar bemerkt, daß sich Ugo in seine Schwester verliebt hatte, aber immer geglaubt, dieses Gefühl sei längst wie ein Strohfeuer verglommen. Was wußte Ugo denn schon von seiner Schwester? Aber wußte er, ihr Bruder, viel mehr von ihr? Giulia schrieb ihm zwar jede Woche einen Brief, er las sie jedoch nur flüchtig, legte sie achtlos in seine Truhe. Tausend Nichtigkeiten berichtete sie, dennoch fand er ihr Wesen nicht hinter ihren Zeilen. Und wie erging es ihm bei Silvia? Sie schrieb ihm noch häufiger, er las ihre Briefe gründlich und beantwortete sie wortreich – zu wortreich vielleicht …
»Liebst du sie nicht auch?« fragte Ugo.
»Wen? Giulia, meine Schwester?«
»Nein, Silvia.«
»Ja, ich glaube – obwohl ich sie lange nicht gesehen habe, obwohl ich sie eigentlich gar nicht kenne.«
»Ich kenne Giulia auch nicht. Und trotzdem liebe ich sie.«
Offensichtlich wußte Ugo nichts von den Hochzeitsvorbereitungen seiner Schwester. Alessandro überlegte, ob er ihn davon in Kenntnis setzen sollte. Aber dies würde den armen Provençalen nur verletzen. Nein, er wollte schweigen, wenigstens jetzt.
»Vielleicht bildest du dir die Liebe nur ein«, antwortete Alessandro.
Er merkte, wie Ugo erstarrte. »Es tut mir leid, ich wollte dich nicht kränken«, fügte er schnell hinzu.
Ugo schaute an ihm vorbei. Er stand schließlich auf, holte sein Pferd und machte sich bereit, in die Stadt zurückzureiten. »Ich werde demnächst nach Rom gehen und dort versuchen, eine Anstellung als Skriptor zu erhalten. Accurse Maynier kommt aus Venedig zurück, wir werden zusammen unser Glück in der Ewigen Stadt versuchen.« Seine Stimme sollte möglichst sachlich klingen. Er stieg in den Sattel. »Am liebsten würde ich in meine Heimat Provence zurückkehren, in einer kleinen Klause am Rande des Luberon philosophische Studien treiben und meinen Garten pflegen. Ich würde dort ein liebes, anspruchsloses Mädchen heiraten … Aber wovon soll ich leben? Und kennt mich überhaupt noch jemand in meiner Heimat?«
Alessandro mußte an Capodimonte denken, an Rubino, den Gefährten seiner Kindheit, der jetzt tot war, auch an die gemeinsamen Ausritte mit seinem Vater, an die Tage auf der Isola Bisentina … Wie aus einem Traum wachte er auf und schaute zu Ugo hoch. »Warte, ich komme mit«, rief er und schwang sich auf sein Pferd.
»Meinst du, ich kann auf dem Weg nach Rom in Capodimonte Station machen?« fragte Ugo.
»Natürlich«, rief Alessandro und trabte los. »Ich werde dir einen Brief mitgeben.«
Er ließ sein Pferd in einen derartig scharfen Galopp fallen, daß Ugo ihm kaum folgen konnte. Alessandro wollte ihm jetzt nicht ins Gesicht sehen. Was würde er sagen, wenn er in Capodimonte von Giulias bevorstehender Hochzeit erfuhr? Müßte er sich nicht betrogen vorkommen? Aber Ugo Berthone und eine Farnese – unmöglich!
»Vielleicht komme ich sogar mit«, rief Alessandro gegen den Wind, der ihm ins Gesicht blies. »Ich will nicht länger meine Zeit vertun.«
25. KAPITEL
Noch vor Giulias Hochzeit gelang es Silvia, ihre beiden Freundinnen einzuladen. Kaum saßen die drei beisammen, stieß Giulia in übertriebener Empörung aus: »Ich höre nur noch Orso und Mitgift, Aussteuer, Brautkleid. Es ist furchtbar!«
»Oh!« kreischte Clarissa auf, hielt dann ihre Hand vor den Mund und rief: »O Gott, du Arme! Ich bemitleide dich. Orso Orsini, ein beinahe Blinder. Was nützt da der Stammbaum der Familie. Ein Krüppel! Ach, Giulia, wie fühle ich mit dir!« Und mit all ihren Fettmassen stürzte sie sich auf Giulia und riß sie in ihre Arme.
Silvia beobachtete die beiden. Giulia entzog sich vorsichtig Clarissas Umarmung und ließ sich in der Fensternische nieder, Clarissa nahm ihr gegenüber Platz. Silvia ließ ihre beiden Freundinnen Zitronenwasser bringen und setzte sich dann zu ihnen. Giulia fuhr durch ihre blondgefärbten Haare. Nach dem Abnehmen eines durchsichtigen Haarnetzes fielen sie in lockerer Fülle über den Rücken, und außerdem dufteten sie nach Kamille. Giulias Gesicht, fand Silvia, war seit der letzten Begegnung noch schöner geworden. Mit den großen Augen und den hochstehenden Wangenknochen wirkte es unangreifbar. Silvia suchte nach einer Unregelmäßigkeit, nach einer Unreinheit der Haut. Aber selbst das allgegenwärtige Ungeziefer schien Giulia zu verschmähen, oder sie verwendete ein so wirksames Mittel, daß die Flöhe einen weiten Bogen um sie sprangen.
»Eigentlich ist Orso ein ansehnlicher junger Mann«, erklärte Giulia. »Wenn nicht das fehlende Auge wäre. Er soll jedoch einen gutmütigen Charakter haben. Und vielleicht sogar einmal das Stammschloß der Orsini am Lago di Bracciano erben – wenn einige seiner Vettern vor ihm sterben.«
Clarissa hatte sich zurückgelehnt und betrachtete ihre Fingernägel, suchte dann mit ihren Augen den Raum ab. »Hast du kein Marzipan?« fragte sie Silvia. Ihr Kinn hatte sich in den letzten Jahren verdoppelt, ihre rundlichen Wangen hingen nach unten, aber ihre Augen hüpften geschäftig hin und her. Vor ihrem Oberkörper wölbte sich eine monströse Brust, und ihren Ausschnitt zierte sie mit Ketten riesiger Perlen. An ihrem Ringfinger trug sie einen viel zu großen Smaragd. »Von Prinz Dschem.« Sie hielt Silvia ihre Hand hin, damit diese den Ring besser betrachten könne. »Diese Türken lieben kräftige Frauen, und er hat mich mit seinen Augen verschlungen, als mein Vater in meiner Begleitung ihn in Rom begrüßte. Obwohl er ein Gefangener des Papstes ist, führt er jetzt mitten im Vatikan ein unglaubliches Wohlleben.« Sie senkte ihre Stimme: »Er soll unersättlich sein.«
Giulia lächelte spöttisch.
»In welcher Beziehung?« fragte Silvia scheinheilig.
Clarissa kreischte wieder auf. »Ich kenne dich, Silvia«, rief sie, »du und dein Vater, ihr habt es faustdick hinter den Ohren.«
»Mein Vater …« Silvia schaute sie fragend an.
»Habt ihr eigentlich etwas von Ippolita gehört?« unterbrach sie Giulia.
Clarissa trank einen großen Schluck Zitronenwasser, rieb dann nervös ihre Fingerspitzen aneinander und schien sich schließlich in die Betrachtung ihres Smaragds zu versenken. Silvia zuckte mit den Achseln.
»Ich habe gehört, daß Borgia, der Katalane, sie immer wieder in sein Haus holt, um sie zu exorzieren. Aber in Wirklichkeit betreibt er mit ihr gotteslästerliche Messen. Oder er läßt sie vortanzen.« Clarissa beugte sich vor, was ihre Brustmassen in Bewegung brachte, und begann nun zu flüstern. »Ippolita ist wirklich mit dem Teufel im Bunde. Wie der Katalane. Das hat mein Vater gesagt. Und sie nimmt am Hexensabbat teil. Das könnt ihr mir glauben. Deshalb war sie auch so lange verschwunden. Sie mußte eingewiesen werden in all die teuflischen Hexenkünste. Der Satan, der aussieht wie ein häßlicher Ziegenbock und auch so stinkt, stieß sie zu Boden und machte es mit ihr auf die Weise der Sodomiten, dann küßte sie ihn unterwürfig auf den Mund und auf andere Körperteile« – Clarissa kicherte unsicher –, »hob seinen Schwanz, einen Eselsschwanz …« Sie unterbrach sich und zog nun ein angewidertes Gesicht. »Es ist wirklich eklig«, fuhr sie mit erhöhter Stimme fort, »ich kann es gar nicht erzählen.«
Sie schien sich zu besinnen, aber noch bevor Silvia oder Giulia etwas sagen konnten, brach es erneut aus ihr heraus: »Sie fliegt mit ihm zu dem Hexentreffen, wo ungeborene Kinder in Mörsern zerstoßen werden, zusammen mit Kröten und Vipern, dann kommt Honig dazu und Pfeffer. Das wird schließlich gegessen.« Clarissa schüttelte sich. »Sie zelebrieren eine Messe und entweihen die Hostie. Später fliegen sie wie Furien umher, mit zerzausten Haaren, mit nackten, eingefetteten Körpern, Besenstiele zwischen ihren Beinen, die Ziegenböcke bei ihnen, und sie treiben es in den Wolken, auch hier wieder in der Art der Sodomiten, und schließlich stürzen sie herab, so schnell, wie ein Adler sich auf eine Ammer stürzt.«
Clarissa lehnte sich zurück und atmete schwer. Sie war während des Sprechens immer lebendiger geworden, ihr Körper geriet in Bewegung, als wolle sie es den fliegenden Hexen nachmachen. Ob sie wirklich glaubte, was sie da von sich gab, fragte sich Silvia. Ja, sicher, sie glaubte daran, wie so viele andere Menschen auch. Insbesondere die Mägde im Haus glaubten an Hexen und Dämonen, an schwarze Magie und an den Teufel mit seinem Bocksgesicht, der sich an unschuldige Mädchen heranschlich mit seinem buschigen Schwanz …
Giulia hatte abwesend aus dem Fenster geschaut, lachte nun unsicher auf und schüttelte den Kopf, fuhr sich dann wieder durch ihre Haare. Ihre Augen, Einverständnis heischend, suchten Silvia und verdrehten sich. Silvia lächelte nur.
Giulia wandte sich wieder Clarissa zu und setzte ein wissendes Gesicht auf. »Verheiratete Frauen sucht der Teufel viel seltener auf«, erklärte sie, »das hat mir auf jeden Fall meine Mutter gesagt. Heirate, gehe regelmäßig zur Messe und beichte deine sündigen Gedanken, setze Kinder in die Welt und mach dich schön für deinen Mann – das ist die beste Medizin gegen Einflüsterungen des Teufels.«
Clarissa, die nur unwillig zugehört hatte, seufzte tief auf und kicherte dann. Ihre Augen flackerten plötzlich hin und her und fixierten schließlich Giulias Haare. Während sie mit den Händen glättend über die eigenen fuhr, öffnete sie den Mund, als wolle sie etwas sagen, schwieg dann aber.
Es entstand eine Pause. Silvia, die während Clarissas Erzählung ihren Vater mit Rosella vor sich gesehen hatte und auch den kleinen Sandro, fragte verunsichert: »Woher weißt du das alles?«
Aber noch bevor Clarissa antworten konnte, rief Giulia mit empörter Stimme: »Abergläubisches Zeug!« Wieder suchte sie einen zustimmenden Blick, fuhr sich nervös über ihre Brust und bauschte dann die Ärmel ihres Kleides auf. »Es gibt sicher Hexen, aber die fliegen doch nicht durch die Luft – auch nicht zusammen mit dem Teufel.«
»Du mußt es ja wissen!« giftete Clarissa. »Sogar mein Vater hat mir von den Einflüsterungen des Satans erzählt, von seinen Kniffen und Verlockungen, und er war bei vielen Verhören von Hexen dabei, sie gestehen es ja alle.«
Silvia verstand nicht, warum sich Clarissa so erregte. Natürlich gab es Hexen und auch den Satan, der viele Gestalten annehmen konnte und der sich gern unschuldigen Mädchen näherte, indem er ihnen sündige Gedanken einflößte, aber … »Ich glaube auch nicht, daß Hexen auf Besenstielen fliegen«, wandte sie laut ein, »und daß Kinder in Mörsern zerstoßen werden – das geht doch gar nicht.«
»Ungeborene Kinder«, beharrte Clarissa, »sie werden den Müttern aus dem Leib geschnitten, ihr habt ja keine Ahnung!«
»Aber du hast Ahnung, liebe Clarissa.« Giulia hatte nun ein überlegen-spöttisches Gesicht aufgesetzt, in ihrer Stimme schwang Ironie.
»Heirate du nur deinen Einäugigen!« Clarissa lief rot an vor Wut, und während sie sprach, tropfte ein wenig Speichel aus ihren Mundwinkeln. »Und laß dich von ihm bespringen …«
»Aber Clarissa!« Silvia, entsetzt über die schmutzige Ausdrucksweise ihrer Freundin, schüttelte den Kopf. Doch Clarissa ließ sich nun nicht mehr bremsen. Sie verzog ihr Gesicht zu einer gehässigen Grimasse und rief: »Daran denkt sie doch nur, die Giulia. Schau dir nur ihre offenen Haare an, wie eine Kurtisane hat sie sich ihre Locken bis auf den Po fallen lassen, ja wie eine Kurtisane, und dir, Silvia, muß ich sagen, daß deine Rosella Roms berühmteste Hure ist. Kardinal Borgia, der Katalane, hat sie ganz besonders in sein Herz geschlossen, das hat mein Vater gesagt, sie ist eine Hexe, und der Bastard dieser Hexe lebt in eurem Haus …«
Silvia starrte Clarissa an und wußte nicht, wie sie auf diesen Angriff reagieren sollte. Clarissas Worte wiederholten sich in ihrem Kopf ein zweites Mal und schienen drohend zu hallen. Unwillkürlich hob sie die Arme, als müsse sie Sandro vor einem Angriff schützen, ließ sie aber sofort wieder fallen, als sie Clarissas Gesicht sah. Es war vor Wut und gleichzeitiger Angst verzerrt. Dann hörte sie sich sprechen: »Wenn du noch einmal etwas über meinen kleinen Sandro sagst, werfe ich dich aus dem Haus!« »Deinen Sandro!?«
»Nun streitet euch nicht!« versuchte Giulia zu schlichten.
Aber Clarissa war noch nicht am Ende. Sie wischte sich den Speichel vom Kinn, und plötzlich zuckten ihre Mundwinkel. Noch einmal fuhr sie mit dem Handrücken über Kinn und Mund und schrie mit gequetschter Stimme: »Rosella da Roma, so wird sie genannt, cortigiana honesta curiam sequens, diese Bezeichnung hat ihr der Borgia zugeschanzt, alle Spanier rennen in ihr Haus, die Franzosen und die Deutschen, sie lockt sie zu sich, um an ihnen ihre Hexenkünste anzuwenden. Ihre Brüder sind Mörder, einen hat der bargello schon hängen lassen, ein anderer lebt von Straßenhuren, ein Vetter macht mit seiner Bande die Gegend um Nepi unsicher – das ist deine Rosella, die Mutter eures Bastards …« »Schluß jetzt!« schrie Silvia in höchster Erregung. »Du fette Giftschlange, du bösartige Natter, du eifersüchtige Viper!« Ihr standen die Tränen in den Augen.
Plötzlich stand der Vater in der Tür. Die roten Haare leuchteten, seine Miene faltete sich sorgenvoll. Clarissa, die aufgesprungen und erstaunlich behende zur Tür gerannt war, prallte auf ihn. Einen Moment sah es so aus, als wolle er sie auffangen und in die Arme schließen, aber dann zuckte er doch zurück und schaute von einem Mädchen zum anderen. Sein Blick blieb an Silvia hängen, und plötzlich verengten sich seine Augen: »Was ist denn hier los? Warst du das, die gerade eine solch unchristliche Beschimpfung …«
»Es ist alles meine Schuld, Messer Ruffini«, rief Clarissa. »Ich bin ja so böse, o Gott!« Sie ließ sich fallen, und der Vater mußte sie auffangen. Aber sie entglitt seinen Armen und fiel vor Silvia auf die Knie, nahm ihre Hand, drückte sie, zuerst an ihr Gesicht, dann an ihre weiche Brust. »Silvia, verzeih mir, ich wollte dich nicht kränken, aber der Satan …«
Silvia trat einen Schritt zurück, Clarissa rutschte auf Knien hinter ihr her.
»Steh doch auf!« rief Silvia.
Giulia war herangesprungen und wollte Clarissa die Hand reichen, auch der Vater griff ihr unter die Arme, um sie hochzuziehen. Clarissa heulte und schluchzte, und als sie wieder auf den Beinen stand, ließ sie sich in die Arme des Vaters fallen. »Ich bin keine Hexe, das dürft ihr nicht glauben, wirklich nicht!«
»Ist ja gut!« Der Vater klopfte ihr begütigend auf den Rücken. »Niemand glaubt, daß du eine Hexe bist.« Er machte keine Anstalten, sich von ihr zu befreien, und Clarissa klammerte sich weiterhin an ihn.
»Ich bin ja so allein«, schluchzte sie, »ihr könnt das alle nicht verstehen, mein Vater sperrt mich weg, und ich habe Angst vor den Abgesandten des Satans. Jede Nacht …«
Der Vater strich ihr nun über den Kopf und zog sie langsam aus dem Zimmer. Silvia wollte ihm folgen, blieb dann aber in der Tür stehen. Clarissa klammerte sich noch immer an ihn, beide zogen sie langsam den Gang entlang und verschwanden um die Ecke. Silvia hörte Clarissa schluchzen, hörte die Stimme des Vaters, der wie zu einem Kleinkind sprach. Silvia drehte sich um und schaute Giulia ratlos ins Gesicht.
Giulia hob die Schulter und drehte sich dem Fenster zu. »Sind wir nicht alle allein?« fragte sie flüsternd.
Silvia stellte sich zu ihr und legte ihr den Arm auf die Schulter.
»Du wirst bald heiraten und hast dann eine Familie. Aber Clarissa muß mit ihrem jähzornigen Vater zusammenleben.«
Giulia nahm Silvias Hand und lehnte sich leicht an ihren Körper.
»Glaubst du, es macht Spaß, einen einäugigen Mann zu heiraten?«
»Ach Gott, das sind doch Äußerlichkeiten. Hauptsache, er achtet dich. Und wenn du viele Kinder auf die Welt bringst und gesund bleibst …«
»Ja, davon redet Adriana del Mila auch immer. Kinder, nur Kinder. Die erste Amme ist schon ausgesucht. Und fast täglich schaut sie nach mir, schreibt mir vor, was ich essen soll, will mir das Reiten verbieten, und bringt mir Pulver und Säftchen und gibt tausend Ratschläge. Und schließlich schwärmt sie von Kardinal Borgia, ihrem mächtigen Vetter, der uns trauen werde, und läßt ihre R’s nur so rollen.« Giulia hatte sich umgedreht, legte beide Arme auf Silvias Schulter und schaute ihr in die Augen.
»Weißt du, daß ich manchmal davon träume, eine Frau zu sein, der berühmte Männer zu Füßen liegen, Condottieri, Fürsten, Kardinäle – kein halbblinder Orso Orsini.«
Silvia lachte. »Dann mußt du Kurtisane werden.«
Giulia zuckte, dann stimmte sie in das Lachen ein. »Aber eine Farnese wird doch keine Kurtisane. Eine Farnese wird eine Orsini und thront im verschlafenen Bassanello im Kreis ihrer Kinder, unter Aufsicht der Schwiegermutter.«
Silvia wußte nicht recht, was sie darauf antworten sollte. »Du bist so schön, Giulia«, sagte sie schließlich. »Dein Traum wird in Erfüllung gehen, die ganze Welt wird dir zu Füßen liegen. Schon jetzt spricht man in Rom überall von der schönen Giulia.«
Giulia schüttelte heftig den Kopf. Sie streckte sich, fuhr sich durch ihre Locken, straffte ihre Brust. Aber ihre Miene blieb traurig. »Ich habe trotzdem Angst …«
»Wovor?«
Giulia schwieg, und Silvia seufzte. Sie sah wieder ihren Retter vor sich, Giulias Bruder. Das Leben könnte so schön sein, dachte sie. Sie heiratete Alessandro, Giulia den Orsini oder einen anderen jungen Mann aus Roms besten Familien, sie lebten in der Nachbarschaft, zogen die Kinder gemeinsam auf, feierten Feste, machten Ausflüge in die Weinberge und lasen gemeinsam Boccaccio. Rom wurde immer reicher und größer, immer mehr Künstler und Humanisten kamen in die Ewige Stadt. In Italien herrschte, sah man von kleinen Fehden und Auseinandersetzungen ab, schon lange Frieden. Und alle Herrscher waren bemüht, ihn zu erhalten. Dem Volk ging es gut, es gab keine Hungersnöte, keine verheerenden Pestepidemien. Nur die Wegelagerei war ein schwer auszurottendes Übel. Aber vielleicht gelang es einem stärkeren Papst als dem jetzigen, auch dieses Übel einzudämmen.
Silvia seufzte noch einmal aus ganzem Herzen. Das Leben könnte so schön sein, wenn Alessandro sie heiratete. Den kleinen Sandro würden sie aufziehen, vielleicht sogar adoptieren …
Als hätte sie Silvias Gedanken erraten, sagte Giulia: »Ich glaube, Alessandro kommt bald zurück.«
26. KAPITEL
Alessandro hatte sich entschlossen, zusammen mit Ugo Berthone und Accurse Maynier Florenz zu verlassen und nach Capodimonte zu reiten, von wo aus er seine Rückkehr nach Rom zu betreiben beabsichtigte. Aber dann erreichte ihn die Nachricht seines Bruders Angelo, er habe seinen ersten Kampf gegen die Türken bestanden und wolle seine Mutter besuchen. Alessandro möge doch in Florenz auf ihn warten.
Alessandro entschloß sich daher, noch die Sommermonate in der Stadt am Arno zu bleiben. Er konnte das Gefühl, eine wichtige Entscheidung oder ein wichtiges Ereignis stehe bevor, nicht unterdrücken. Dieses Gefühl wurde verstärkt durch die Aussage eines Astrologen, den Alessandro gelegentlich konsultierte: Die bevorstehende Konjunktion von Venus und Mars werfe ihre Schatten voraus, sie werde wie einst die Entführung Helenas durch Paris bedeutende Auswirkungen zeitigen. Alessandro empfahl diesen Astrologen – er hatte in Rom die ersten Kreise von Adel und Kurie beraten – Giovanni Crispo, der, wie er betonte, unbedingt Hilfe in einer wichtigen Angelegenheit benötige. Crispo wurde von der Nachricht über die drohende Konjunktion derart verunsichert, daß er sich entschloß, den Aufforderungen seines Vaters nachzukommen, in die Heilige Stadt zurückzukehren und dort möglichst schnell die junge Frau zu heiraten, die der Vater für ihn auserkoren hatte. Crispo war, nachdem er diesen Entschluß gefällt hatte, Alessandro gegenüber ungewohnt gesprächig. Die junge Frau, so habe der Vater geschrieben, sei jetzt gerade ins heiratsfähige Alter gekommen, sei durchaus hübsch zu nennen, dabei gesund und verspreche als Mitgift ein einträgliches Gut in Frascati. Alessandro, der während seines Aufenthalts in Florenz wenig Kontakte mit Crispo gepflegt hatte, horchte auf. Aufgedreht begann Crispo über seine Pläne zu berichten, sich einmal eine große Kunstsammlung anzulegen. Die Erträgnisse einer ordentlichen Mitgift könnten ihm dabei helfen. Aber am liebsten wünsche er sich, ein einfaches Leben auf dem Land zu führen, viele Kinder in die Welt zu setzen, auf die Jagd zu gehen und zu malen. Er stelle sich vor, Heilige abzubilden, ihnen aber das Antlitz eines Kardinals oder einer edlen Römerin zu geben. Wer gut zahle, würde von ihm als Heiliger dargestellt. Sein Vater halte von der Malerei überhaupt nichts, für einen Römer aus bester Familie gehöre sich eine solche Tätigkeit nicht, Malen sei ein Handwerksberuf und solle Handwerkersöhnen überlassen bleiben – aber mit der Heiligen-Idee werde er ihn überzeugen, zumal sein Vater für einträgliche Ideen immer ein offenes Ohr habe. Nicht zufällig verkehre er mit dem jungen Agostino Chigi, der dabei sei, Roms reichster Bankherr zu werden. Dies hätte sein Vater geschrieben.
Crispos Geschwätz ging Alessandro auf die Nerven. Im Grunde mochte er ihn nicht, vielleicht weil Crispo ein besonders schöner Mann war – mit seinen langen schwarzen Haaren, den großen sanften Augen und dem kräftigen, aber fleischigen Kinn. Womöglich lag es am Mund, den Alessandro zu weich und weiblich fand. Aber gleichzeitig mußte er zugeben, daß die wie geschminkt leuchtenden Lippen makellos sanft geschwungen und, so war ihm mehrfach zu Ohren gekommen, bei den schönen Frauen der Stadt berühmt waren. Dabei galt Crispo alles andere als ein Draufgänger. Nie hatte er eine Wette um die höchste Zahl der verführten Damen gewonnen, er hatte auch nur einmal an dem erotischen Wettstreit teilgenommen. Er diskutierte selten in der Accademia, hielt sich dafür gerne in den Werkstätten der Maler und Bildhauer auf. Besonders Domenico Ghirlandaio hatte es ihm angetan, und er hatte sich außerdem mit dem jungen Michelangelo Buonarroti angefreundet, den auch Alessandro gut kannte, weil er mit ihm schon mehrere hitzige Diskussionen über Kunst und Religion geführt hatte.
»Du kennst sie«, erklärte Giovanni Crispo in seiner zu hohen Stimme. »Es ist eine Ruffini. Aber, verstehst du, Mars und Venus – oder Venus und Mars, gleichwie –, der Astrologe meint, eine Ehe, die unter der zu erwartenden Konstellation geschlossen werde, stehe unter keinem guten Stern, wenn man nicht schnell handele.«
Alessandro sah forschend in Crispos dunkle Augen, als müsse dort ein Geheimnis versteckt liegen. Alle seine Muskeln spannten sich an, und noch während er überlegte, wie er jetzt reagieren müsse, hörte er sich in einem viel zu lauten, ja heftigen Ton sagen: »Ich kenne nur eine Ruffini – und die kannst du nicht meinen.«
Crispo sah ihn erstaunt an: »Wieso? Ich meine Silvia Ruffini, die Tochter von Rufino Ruffini, die du … gerettet …« Er unterbrach sich, eine leichte Röte überzog seine Schläfen.
»Ja, ich weiß schon.« Alessandro sprach noch immer viel zu heftig. Er sprang auf, rief »Gratuliere!« und stürmte aus dem Zimmer. In den Gärten des nahegelegenen Klosters San Marco versuchte er sich zu beruhigen. Was er da gehört hatte, war unglaublich. Silvia Ruffini, die ihm wöchentlich ihre Liebe gestand, die er ebenfalls zu lieben glaubte, nein, die er liebte – sie sollte den Schönling Crispo heiraten! Und er erfuhr es nebenher! Natürlich heiratete man gewöhnlich nicht aus Liebe, und es war auch möglich, daß er wieder in den Kirchendienst eintrat und nicht heiraten durfte – doch noch war alles offen.
Aber so waren die Frauen: falsch, schwach und wankelmütig. Sie umgarnten die Männer, schwafelten von Liebe, ließen sich anbeten, und dann heirateten sie einen anderen. Giovanni Battista Crispo – ein Möchtegern-Maler mit weibischen Lippen und Stroh im Kopf! Und er, Alessandro, wußte von nichts! Ugo hatte recht. Frauen bedeuteten Unglück. Liebe bedeutete Unglück. Er hatte dieses kleine Mädchen aus den Fängen von mordlüsternen Wegelagerern befreit, und sie verheimlichte ihm die Wahrheit! Nein, dies ertrug er nicht!
Zum Glück erfuhr er noch rechtzeitig von ihren Lügen. Er war nicht auf diese junge Frau angewiesen. Es gab viele Frauen auf der Welt, auch wenn keine … Nein, er brauchte sie nicht! Überall drängten sich ihm Frauen auf, und sie beherrschten das Handwerk der Liebe wahrlich besser! Darüber hinaus hatte ein Mann seine Aufgaben, seine Ziele, seine Verantwortung – und, nicht zu vergessen, seine Freiheit! Frauen dagegen bedeuteten immer eine Einschränkung der Freiheit. Er hatte zu leichtfertig vergessen, wie ihn Silvia und Rosella durch den kleinen Sandro, seinen angeblichen Sohn, hatten binden wollen. Er war sogar stolz gewesen. Aber auch dieser Versuch zeugte nur wieder von der Falschheit der Frauen.
Mit dem Ausruf »O Gott, gib, daß ich sie vergesse!« stürzte Alessandro in eine Rosenlaube und sank dort auf eine Bank, das Gesicht hinter den Händen verborgen.
Nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte, näherten sich ihm Schritte auf dem Kies. Er hatte allein sein wollen, aber nun konnte er nicht mehr fliehen. Er hörte ein leises Stöhnen, das er kannte: der von Gicht geplagte Lorenzo!
Tatsächlich entdeckte Lorenzo ihn und ließ sich sofort an seiner Seite nieder.
»Es spricht sich herum, daß du uns bald verlassen willst«, begann er lächelnd das Gespräch. »Ein großer Verlust für die Accademia und insbesondere für die Medici.«
Alessandro wußte nicht, wie er diese Schmeichelei einschätzen sollte, seufzte mitleidheischend und erwiderte schweigend das Lächeln.
»Laß mich gleich zur Sache kommen, Alessandro, die Zeit läuft uns davon«, fuhr Lorenzo fort. »Könntest du dir vorstellen, einmal Gesandter der Stadt Florenz zu sein, in Venedig, vielleicht sogar in Frankreich – oder in Rom?«
Dies ist die Lösung, schoß es Alessandro durch den Kopf. Nicht zurückkehren, sondern Italien verlassen. Silvia dem schönen Crispo und Capodimonte dem Bruder Angelo überlassen, nie mehr die herrschsüchtige Mutter sehen, kein römisches Intrigenspiel zwischen della Rovere und Borgia, keine Skriptorien oder Sakristeien – für Lorenzo nach Frankreich gehen und alles hinter sich lassen. Rom, nein, Rom kam nicht in Frage. Alessandro überlegte, wie er seine Worte wählen sollte, wie er die Begeisterung über diesen Vorschlag in einer abwägenden Formulierung mildern konnte.
Aber plötzlich war die Begeisterung verschwunden. Er wollte es nicht glauben, aber so war es. Was wollte er in Frankreich? Sollte er alles, was er liebte, zurücklassen? Sollte er noch viel weiter als nach Florenz fliehen?
Er preßte seine Hände zusammen und versuchte sich dann zu entspannen. Natürlich konnte Lorenzo seine Verkrampfung nicht verborgen bleiben.
»Ich danke dir, Lorenzo, für das Vertrauen …«
»Hör zu, Alessandro!« Lorenzo rückte näher an ihn heran und dämpfte seine Stimme. Die Falten in seinem Gesicht hatten sich in der letzten Zeit vertieft, die Schatten um die Augen verdunkelt. »Du hast den Prediger von San Marco gehört, Picos neues Vorbild. Ich unterstütze sein Kloster, ich habe ihn zum Prior ernannt – aber dieses Geschenk beeindruckt ihn überhaupt nicht. Obwohl er ein Fremder in der Stadt ist, hat er mir bis heute noch keinen Antrittsbesuch abgestattet.« Er lächelte gequält. »Er hat meine Eitelkeit gekränkt, aber dies geht nur ihn und mich etwas an. Nein, mich beunruhigt die Art, wie der Dominikaner von meinen Mitbürgern aufgenommen wird, wie man an seinen Lippen hängt …«
Lorenzo machte eine Pause, seine Stimme wurde noch leiser. »Wie meine Mitbürger auf seine Sprüche hereinfallen. Er ist ein dämonischer Volksverführer, das spüre ich, aus ihm spricht das schlechte Gewissen der Menschen, und er wird seinen Bannstrahl richten gegen all das, was die Medici verkörpern. Die goldenen Medici-Zeiten nähern sich dem Ende.«
Verloren schaute er in die Ferne. »Meine Schmerzen nehmen manchmal überhand, und ich weiß nicht, wie lange ich noch leben werde. Ich denke, daß die Medici in Zukunft sicherer auf zwei Standbeinen stehen. Daher möchte ich meinen Einfluß im Vatikan erhöhen und werde meinen zweiten Sohn Giovanni demnächst nach Rom schicken.« Seine Augen ruhten abwartend auf Alessandro.
Alessandro war froh, daß Lorenzo sprach. Er fühlte sich total verwirrt. Gerade noch wollte er am liebsten nach Frankreich gehen, jetzt erschien ihm eine Aufgabe in Rom als Lösung. Auf jeden Fall brauchte er etwas, was ihn von Silvia befreite. Aber Lorenzos Befürchtungen verstand er nicht recht. Sollte der große Lorenzo sich vor dem Einfluß eines kleinen Dominikanerpredigers fürchten? Pico hatte Savonarola wieder nach Florenz geholt, der Mönch hielt anklägerische Predigten, und die Menschen strömten ihm zu, aber warum sollte dieser fanatische Priester die goldenen Zeiten dem Ende näherbringen?
Lorenzo fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Giovanni wird bald Kardinal. Das ist schon mit Papst Innozenz abgesprochen. Der Preis ist hoch, aber ich bin bereit, ihn zu bezahlen. Natürlich ist Giovanni mit seinen dreizehn Jahren noch viel zu jung für einen solch verantwortungsvollen Posten. Offiziell wird der Heilige Stuhl daher seine Ernennung erst in drei Jahren verkündigen. Bis dahin kann Giovanni das kanonische Recht studieren, und ich versuche, ihm in Rom eine Hausmacht zu schaffen.« Lorenzo schaute Alessandro prüfend an. »Du könntest mir dabei helfen.«
Alessandro fühlte sich von Lorenzos Vertrauensbeweis geehrt. Giovanni de’ Medici eine Hausmacht schaffen – diese Aufgabe beschränkte sich nicht auf Spitzeldienste oder langweilige Schreiberei. Er mußte nach Rom zurück, mitten hinein in die Stadt der Intriganten, mußte Allianzen schmieden und mit Geldgeschenken Gutwetter machen. Er wußte jedoch nicht, ob er dies wirklich wollte. Lag darin auch eine Zukunft für ihn?
»Versteh mich recht, Alessandro, langfristig möchte ich, daß Giovanni einmal Papst wird.« Lorenzo sah ihn forschend an.
Alessandro verzog keine Miene. »Ich weiß nicht, ob diese Aufgabe mich nicht überfordert«, erklärte er vorsichtig. Aber gleichzeitig eilten seine Gedanken weit voraus: Würde Giovanni de’ Medici tatsächlich Papst, könnte er ihm dann nicht einen einflußreichen Posten im Vatikan verschaffen? Könnte er, Alessandro Farnese, ihm nicht gar nachfolgen als Pontifex maximus? Der Medici war jünger als er, unbedarfter – wenn sein Vater ihm solch ein hochgestecktes Ziel setzte, warum sollte er, der Farnese, sich nur mit einer dienenden, zweitrangigen Rolle zufriedengeben? Gab es nicht schon einen Papst in seiner Familie? Und sechs Kardinäle? Silvia heiratete Crispo, war für ihn verloren – warum nicht doch wieder in den Kirchendienst eintreten …?
Lorenzo legte seine Hand auf Alessandros Arm. »Auch du kannst es einmal weit bringen. Du mußt nur wollen – und zwar jetzt und nicht irgendwann! Als ich so alt war wie du, starb mein Vater, und ich mußte eine schwere Verantwortung übernehmen. An seinen Aufgaben wächst der Mensch.«
»Ich werde darüber nachdenken«, erwiderte Alessandro, äußerlich ganz ruhig. Aber in seinem Innern tobte es.
Lorenzo erhob sich unter Stöhnen. »Gut. Ich vertraue deiner Verschwiegenheit. Demnächst reist der natürliche Sohn von Kardinal Borgia, Cesare d’Artignano, von Perugia nach Pisa, um dort seine juristischen Studien zu vervollständigen. Er trägt noch den Namen seines offiziellen Vaters, hört ihn aber nicht gern. Wir werden ihn hier empfangen, wie es sich für jemanden ziemt, der einer aufsteigenden Familie angehört. Ich hoffe, du bist dabei.«
Am Morgen des Tages, der dem heiligen Bartholomäus gewidmet war, ging ein heftiger Gewittersturm über Florenz und den umliegenden Bergen nieder und ließ den Arno anschwellen. Schon befürchtete man eine Überschwemmung, aber plötzlich ließ der Regen nach, der Donner krachte noch mehrfach, als wolle er sich nicht so schnell geschlagen geben, und in einer fast schwarzen Wolke zuckten Blitze, Aber unter dieser Wolke riß der Himmel in einem hellen Gold auf, und die Sonne schickte ihre Schwefelstrahlen über die Stadt, die nun in einem göttlichen Licht zu leuchten begann.
Alessandro zog mit der Gesandtschaft der Signoria dem Kardinalssohn entgegen. Cesare trat aus dem Schatten eines Wäldchens heraus und galoppierte ihnen auf seinem Rappen entgegen. Ein großer Troß folgte ihm.
Alessandro hatte einen Jüngling erwartet, aber der Sohn des Spaniers war trotz seiner fünfzehn Jahre schon ein kräftiger, ja ein athletischer Mann. Lange schwarze Haare umrahmten sein Gesicht und fielen bis auf die Schultern. Sein Hemd wurde unter dem Hals durch eine Goldborte geschmückt. Als Reitgewand trug er ein schwarzes Wams und darüber einen ebenso schwarzen Samtumhang. Seine Handschuhe aus hellem Leder waren über den Handgelenken aufgestulpt und wirkten ein wenig feminin.
Die Gesandtschaft aus Florenz sprang von ihren Pferden, um den Kardinalssohn zu begrüßen, aber dieser blieb mit spöttischem Lächeln auf seinem Rappen sitzen. Es entstand eine Unruhe unter den Florentinern, die der Borgia-Sohn sichtlich genoß. Alessandro hatte Zeit, seine äußere Erscheinung genauer zu studieren. Dunkle Augen, ein starkes Kinn. Eine gesunde braune Hautfarbe. Das Barett auf seinem Kopf wurde umrahmt von zwei Kordeln, an denen eine Goldquaste hing. An der Seite, über der Schläfe, war Cesares persönliches Emblem aufgestickt, ein schwarzes A und Ω, Alpha und Omega.
Als Cesare schließlich mit einem Satz vom Pferd sprang, wußte Alessandro sofort, daß hier jemand vor ihm stand, der mindestens ebenso gut reiten konnte wie er, und als er ihm schließlich die Hand reichte, spürte er einen stählernen Griff, der die Kraft seines Gegenübers prüfen wollte. Noch bevor Cesare alle Gesandten der Stadt begrüßt hatte, sprang er wieder aufs Pferd und trabte wie ein besitzergreifender Eroberer den Hügel hinab auf das Stadttor zu. Die Gesandten folgten ihm, der Troß setzte sich in Bewegung.
Beim Bankett ließ Cesare, der unter seinem schwarzen Samtumhang nun ein Brokatwams trug, sein eigenes Silberbesteck auflegen, was die älteren Ratsherren der Stadt nicht ohne Murren hinnahmen. Lorenzo lächelte nur. »Er tritt auf wie ein Fürst, er sieht aus wie ein Gladiator in königlichen Gewändern, er ziert sich mit einem Emblem wie Gott persönlich, legt aber auf wie ein Emporkömmling«, flüsterte er Alessandro zu, als sie sich zu Tisch setzten.
Alessandro war von Lorenzo gegen alle zeremoniellen Vorschriften in seine und in die Nähe des Gastes gesetzt worden. Er hielt sich beim Gespräch zurück, das Cesare teils in Italienisch, teils in Latein führte. Cesares Stimme war nicht so tief, wie man hätte erwarten können, aber wohlklingend, und natürlich rollte der Sohn des Katalanen, wie sein Vater, das R. Er wolle in Pisa nicht nur das kanonische, sondern auch das römische Recht studieren, der hervorragende Ruf der Stadt locke ihn. Florenz sei tatsächlich so schön, wie man ihm vorgeschwärmt habe, und die Frauen der Stadt, die an dieser Tafel versammelt seien, stünden an Schönheit den römischen Frauen in nichts nach. Clarice, Lorenzos Frau, eine geborene Orsini, lächelte gequält, aber die anderen stießen unter künstlichem Augenaufschlag ein Oh! aus.
Leider, so fand Alessandro, aß der junge Spanier nicht wie ein Edelmann, sondern wie ein Bauernsohn aus den Abruzzen. Immer wieder schienen ihn Wellen der Gier zu überfallen, dann schlang er wahllos Fleischstücke und Pasteten, Brot und Oliven in sich hinein und spülte sie mit Chianti hinunter.
Für Cesares Aufenthalt in Florenz schlug Lorenzo einen gemeinsamen Messebesuch vor, und zwar bei dem über die Grenzen der Stadt berühmten Dominikanerprior von San Marco, Girolamo Savonarola. Cesare nickte unwillig, aber seine Augen leuchteten auf, als ihm eine gemeinsame Jagd in den Wäldern angekündigt wurde.
»Bären?« rief er.
»Nein«, antwortete Lorenzo mit einem charmanten Lächeln. »Nur Schwarzwild und Hirsche.«
»Auch gut«, erwiderte Cesare und hielt seine zweizinkige Gabel in die Höhe, »aber wir müssen schon ran an die Hauer. Selbst ist der Herr!« Er rollte das R ganz besonders lang und führte mit seiner Gabel eine Stoßbewegung aus, lachte dann unbekümmert auf, zwinkerte Alessandro zu, äffte die Mienen einiger Ratsherren und insbesondere das hochnäsigmißgelaunte Gesicht von Clarice de’ Medici nach. Alessandro wußte nicht, warum Cesare ihm zugezwinkert hatte, aber er konnte seinen Blick nicht von diesem jungen Mann lassen, der sich so unbekümmert und selbstsicher aufführte, der aber gleichzeitig in seinen tiefdunklen Augen ein Geheimnis verbarg. Alessandro warf einen kurzen Blick auf Lorenzo, und er meinte in dessen Miene eine ähnliche Reaktion zu erkennen. Allerdings lag leichter Spott auf seinen Lippen. Alessandro fand jedoch, daß Spott dem Kardinalssohn gegenüber nicht angebracht sei.
»Schon eine Weile, lieber Cesare, habe ich darüber gerätselt«, fragte nun Lorenzo, »was die Zeichen auf Eurem Emblem wohl bedeuten mögen.«
Cesare ließ sich eine Schüssel mit parfümiertem Wasser reichen, um seine Hände zu säubern, und kaute weiter. Lorenzo wollte sich wieder von ihm abwenden, weil sich sein Gast mit der Antwort allzu lange Zeit ließ, aber dann stellte Cesare die Gegenfrage: »Ich sehe an Eurer blutroten Kopfbedeckung überhaupt kein Emblem. Ihr habt Eure Lebensziele also schon erreicht?«
Lorenzo lächelte freundlich, ohne zu antworten.
»Na, dann will ich Euch sagen, was Alpha und Omega bedeuten«, rief Cesare.
»Er ist ein Gotteslästerer«, hörte Alessandro den Erzbischof von Florenz seinem Nachbarn Marsilio Ficino zuflüstern.
»Aut Caesar aut nihil – das ist mein Wahlspruch«, rief Cesare so laut, daß es auch noch die am untersten Ende der Tafel Sitzenden verstehen mußten, »alles oder nichts, der Anführer oder das Schlußlicht, Sieg oder Tod.« Er schaute sich triumphierend um. Marsilio Ficino neigte seinen Kopf dem Erzbischof zu und sagte mit leiser Stimme: »Ich glaube, der junge Mann hat den Sinn des griechischen Buchstabens Omega nicht verstanden.«
Der Erzbischof nickte. »Obwohl der Sohn eines Kardinals, ist er ein Gotteslästerer!«
Cesares Augen fixierten ihn, und mit einem höhnischen Lächeln rief er ihm zu: »Und Ihr werdet uns nachher die Leviten lesen?«
Der Erzbischof wandte sich entrüstet ab.
»Nein, lieber Cesare«, antwortete Lorenzo an seiner Stelle, »dies wird der Prior von San Marco tun.«
»Ja, das sagtet Ihr schon. Ich habe offensichtlich die beiden Pfaffen verwechselt. Obwohl ich sie als Kardinalssohn auseinanderhalten müßte. Aber ich sehe den kleinen Klosterbruder nirgendwo an unserer Tafel. Ist dies die berühmte florentinische Höflichkeit?«
»Da Fra Girolamo Savonarola weltlichen Genüssen abhold ist, hat er unsere Einladung abgelehnt und bisher auf die Ehre, von Euch begrüßt zu werden, verzichtet. Er ist sicher ins Gebet vertieft. Wir werden ihm später begegnen, unter der großen Kuppel von Santa Maria del Fiore. Der Dom faßt die Menschen kaum, die den kleinen Klosterbruder hören wollen.«
»Da bin ich aber mal gespannt!«
»Das könnt Ihr auch!« sagte Lorenzo mit einem undurchschaubaren Lächeln.
27. KAPITEL
Der Vater wirkte von Tag zu Tag gehetzter. Silvia, den kleinen Sandro auf dem Arm, folgte ihm durch die Korridore des Hauses bis in sein Studiolo, wo er auf einen Stapel Zettel wies, auf denen Zahlenlisten und astrologische Symbole verzeichnet waren.
»Ich brauche keinen teuren Astrologen«, erklärte er mit einer fahrigen Handbewegung, »um zu wissen, daß uns die Konjunktion von Mars und Venus ins Haus steht. Eine äußerst ungünstige Konstellation für Eheverträge.« Er schob die Zettel ineinander und legte ein zerfleddertes Buch über sie. »Ich kann nicht mehr warten. Der alte Crispo sitzt mir im Nacken, sein Sohn wird bald in der Stadt eintreffen.« Gedankenverloren starrte er auf heruntergebrannte Kerzen und eine alte Sanduhr.
Der kleine Sandro spielte mit Silvias Haaren und krähte vor Lachen, als sie ihn kitzelte. Als sie ihn absetzte, lief er zu dem Vater und faßte seine Hand. »Silvia hat mir ihren Zeisig geschenkt. Komm, ich will ihn dir zeigen, Papa!«
Der Vater lächelte Sandro an, noch immer mit abwesendem Blick, schüttelte dann den Kopf.
»Ich hole ihn«, rief Sandro und rannte zur Treppe, auf der er sich Schritt für Schritt nach unten bewegte.
Silvia, die ihm nachgeschaut hatte, wandte sich nun wieder ihrem Vater zu.
»Ich liebe Giovanni Crispo nicht«, sagte sie mit Nachdruck in der Stimme.
Der Vater klopfte nervös mit den Fingern auf das zerfledderte Buch. Er schaute sie nicht an. »Ich weiß, du träumst deinem Farnese nach, aber Träume bezahlen mir keine Schulden, und solange sich der Rovere ziert … er ist ein alter Fuchs, er weiß wahrscheinlich, daß ich mit dem Rücken zur Wand stehe, und daher will er seine fette Tochter möglichst billig verhökern.«
Silvia waren die Reden ihres Vaters seit Monaten sattsam bekannt. Sie starrte auf den Treppenabsatz, hinter dem der kleine Sandro verschwunden war. Wenn sie ihn nicht hätte! Er war ihr einziger Lichtblick in diesen Jahren des Wartens und der Langeweile. Aber jetzt hoffte sie auf einen zweiten Lichtblick. Giulia hatte ihr berichtet, daß Alessandro zusammen mit seinem älteren Bruder bald zurückkehren werde, und ihre Mutter hätte mit Adriana del Mila vereinbart, nicht nur sie mit Orso zu verheiraten, sondern auch Orsos Schwester Lella Angelo Farnese zur Frau zu geben. Vielleicht könne man sogar eine Doppelhochzeit feiern. Natürlich habe sie schon mit Kardinal Borgia gesprochen. Die Häuser Orsini, Caetani und Farnese würden nun noch enger zusammengeschmiedet und außerdem mit den Borgia verbunden, auf diese Weise sei man nicht nur den Colonna gegenüber stärker, sondern könne auch über Kardinal Caetani, dem Bruder von Madonna Caetani, die Stellung Rodrigos im Konsistorium stärken, und wenn dies gelänge, auch Alessandro wieder in der Kurie verankern …
»Mit anderen Worten«, unterbrach Silvia Giulias Wortschwall, »deine Mutter denkt nicht mehr daran, daß Alessandro und ich … vielleicht …«
Giulia blickte zur Seite. »Was weiß ich, was meine Mutter denkt und plant. Die letzten Nachrichten aus dem Vatikan zeigen, daß der Papst Alessandro verziehen hat und mein Bruder nach Rom zurückkehren darf, vielleicht sogar eine Stelle als apostolischer Sekretär bei Kardinal della Rovere erhält.« Und dann begann sie wieder von dem Hochzeitskleid zu schwärmen, das bei dem besten Schneider von Rom in Arbeit sei und mit Edelsteinen bestickt werde.
Auch Orso habe sie nun näher kennengelernt. »Er ist ein sehr höflicher Mensch, trotzdem hat er mich mit seinem einen Auge verschlungen. Kardinal Borgia will es sich nicht nehmen lassen, uns beide ins Brautgemach zu führen – du weißt ja, daß er auch mein Beichtvater ist. Er ist so liebevoll und voller Verständnis!«
»Hast du keine Angst mehr?« unterbrach sie Silvia. Giulia schaute sie nun ernst an, und wie schon hundertmal zuvor, war Silvia fasziniert von der ruhigen Schönheit, die ihr Antlitz ausstrahlte. Die ausgewogenen Gesichtszüge erweckten in ihr immer wieder Bewunderung und ließen gleichzeitig den eindringenden Blick abprallen. Giulia zeigte während der letzten Zeit verstärkt die Angewohnheit, sich hinter die Maske ihrer Schönheit zurückzuziehen. Dann war sie plötzlich auch ihrer Freundin Silvia fremd.
»Madonna Adriana hat mir einmal zugeflüstert, daß die Ehe nicht nur Pflichten, sondern auch Freuden bringe, und daß ein erfahrener Mann auf dem Instrument eines schönen Körpers zu spielen verstünde.«
Silvia verstand ihre Freundin nicht mehr. Sie verstand weder die Logik dessen, was Giulias zukünftige Schwiegermutter sagen wollte, noch verstand sie Giulias Gefühle. Der Mund ihrer Freundin lächelte, aber die Augen lächelten nicht mit.
Noch immer starrte Silvia die Treppe hinab. Ein Stockwerk tiefer hörte sie den kleinen Sandro nach seinem Vogel rufen. Die Amme antwortete ihm, und eine der Hausmägde scherzte laut mit dem Verwalter.
Plötzlich spürte sie, wie zwei Arme sich um ihren Oberkörper legten. Ihr Vater war hinter sie getreten und drückte sie an sich. Dies hatte er seit Jahren nicht mehr getan.
»Ich weiß nicht mehr weiter«, flüsterte er. »Mit Clarissas Mitgift könnte ich Frascati auslösen. Dann hätten wir wieder Einnahmen. Ich würde unser Haus in Rom verkaufen, mit dem Erlös deine Mitgift zahlen und mich schließlich nach Frascati zurückziehen. Was bietet mir Rom! Es verführt nur. Es war deine Mutter, die unbedingt hier wohnen wollte. Ja, als deine Brüder noch lebten …«
Es entstand eine Pause, während der Silvia ihre körperliche Anspannung nicht verlor. Sie war froh, daß sie ihrem Vater nicht ins Gesicht blicken mußte.
»Hast du eigentlich meine Mutter geliebt?« fragte sie leise. Als er nicht umgehend antwortete, fuhr sie fort: »Oder wurdet ihr verheiratet, ohne daß man euch fragte?«
Silvia merkte, wie sich die Umarmung ihres Vaters verspannte.
»Natürlich hat man uns nicht gefragt«, antwortete er nach einer Weile. »Aber Liebe kann auch mit der Zeit entstehen. Durch Nähe. Und sie kann wachsen.«
»Wart ihr wirklich glücklich miteinander?«
»Warum fragst du?«
»Ich habe mein Leben noch vor mir, und ich möchte glücklich werden. Ist Glück nicht das Wichtigste im Leben?«
»Ohne Gottes Gnade wird niemand glücklich. Sein Wille geschehe. Wenn sein Segen auf einer Ehe liegt, dann wird sie auch glücklich.«
Silvia wollte sich herumdrehen und ihrem Vater ins Gesicht sehen. Sie wollte nicht mehr zulassen, daß er sich versteckte. Aber er hielt sie fest und legte nun seine Wange auf ihren Kopf.
»Ihr wart nicht glücklich«, sagte sie mit harter Stimme. »Du hast Mama nicht geliebt.« Als er schwieg, fügte sie noch an: »Und ich auch nicht.«
Es tat ihr leid, daß sie ihren Vater verletzen mußte, aber es lag nicht an ihr, daß er seine Schulden nicht loswurde.
»Deine Mutter hat all ihre Söhne verloren, das hat sie nie verwunden, und schließlich mußte sie auf diese schreckliche Weise sterben. De mortuis nil nisi bene. Über Tote soll man nie schlecht sprechen, das weißt du, sie rächen sich.«
Silvia mußte schlucken. »Auch ich habe meine Brüder verloren. Und du deine Söhne. Ich schäme mich für meine Gefühle, aber ich konnte sie trotzdem nicht lieben.«
Während ihr die Tränen über die Wangen liefen, richtete sich ihr Vater auf. Er strich ihr mit einer sorgenden Geste über den Kopf und stellte sich, ihr den Rücken zudrehend, vor das Wandregal. Er nahm die alte Sanduhr und drehte sie um, legte dann die Bücher ordentlich übereinander.
»Sie besucht mich jede Nacht«, sagte er leise. »Sie will, daß ich dich ordentlich verheirate. Aber sie will nicht, daß ich den Bastard aufziehe oder gar adoptiere. Sie will ihn sterben sehen.«
Silvia schrie auf. »Das darfst du nicht sagen! Du beschwörst seinen Tod!« Und wieder brachen Tränen aus ihren Augen, und sie schluchzte hilflos auf.
»Es sterben so viele Kinder«, sagte ihr Vater, »das weißt du genau, es ist Gottes Wille.«
Silvia trommelte nun mit ihren Fäusten auf seinen Rücken. »Sandro darf nicht sterben. Wenn er stirbt, sterbe ich auch. Ich habe nur ihn.«
Ihr Vater drehte sich um, nahm ihre Hände und sah sie traurig an. »Er ist ein gesundes Kind, er wird nicht sterben. Und außerdem: Hast du nicht auch mich?«
»Und wenn sie ihn verflucht?«
»Tote haben keine Macht über Lebende.«
»Wirklich?«
»Man darf ihnen keine Macht einräumen.«
»Das ist etwas anderes.«
Der Vater stand verloren vor ihr. »Du hast recht«, sagte er und schaute auf den Boden.
Silvia konnte den Anblick ihres Vaters nicht ertragen. Sie wollte die Treppe hinunterrennen und nach Sandro sehen, aber als sie aus dem Zimmer stürmte, kam er gerade hochgetappt, den Vogel vorsichtig in der Hand haltend.
»Papa, Papa!« rief er. »Er pickt mir immer in den Finger. Das kitzelt.«
Ihr Vater war neben sie getreten, und nun traten ihm Tränen in die Augen.
»Ich werde Sandro mit nach Frascati nehmen und dort aufziehen. Er ist mein Sohn, mein einziger Sohn. Gott hat ihn mir geschenkt.« Er nahm Sandro hoch und gab ihm einen Kuß auf die Wange. Der Zeisig pickte nach ihm, und er mußte lachen. Auch Sandro lachte.
»Wir gehen alle zusammen nach Frascati«, rief Silvia. »Ich werde euch nie verlassen.«
»Wir können nicht zusammen gehen«, sagte der Vater nach einer Weile. »Du mußt heiraten, das weißt du doch. Du mußt Giovanni Crispo heiraten. Dann wird alles gut.«
28. KAPITEL
Eine Serie ferner Blitze ließ erahnen, daß sich etwas über den Köpfen zusammenbraute. Alessandro strich nach dem Empfang der Signoria, den er später als der Kardinalssohn verlassen hatte, durch die Straßen der Stadt, weil er noch keine Müdigkeit spürte. Immer wieder sah er Cesare vor sich und fragte sich, ob ihn der Sohn des spanischen Kardinals nun abstieß oder ob er ihm Bewunderung abnötigte.
Um sich abzulenken, kehrte Alessandro schließlich bei der Kurtisane Livia ein. Er mochte Livia, weil sie ihn in Erscheinung und Auftreten an Rosella erinnerte und weil sie zuließ, daß er in ihren Armen einschlief. Dies war ein süßes Wegtauchen, und bevor er bei ihr in Bewußtlosigkeit versank, dachte er immer: Auf diese Weise zu sterben, das wäre ein wahres Gottesgeschenk. Hinzu kam, daß Livia es für einen symbolischen Preis machte, weil sie, wie er glaubte, in ihn verliebt war.
Als er an das Portal ihres Hauses in der Nähe von Santa Maria del Fiore klopfte, hieß es, sie sei nicht frei, er solle wieder gehen. Er ließ sich aber nicht abweisen, und nach einer Weile erschien Livia tatsächlich. Sie wirkte mitgenommen von den Anstrengungen ihres Berufs. Ihre Augen schauten trübe. »Ich sollte mich nicht auf junge Römer einlassen«, sagte sie seufzend. »Aber du bist ja ein sanfter Liebhaber.« Als sie unter ihrem roten Samtbaldachin lagen, im Licht zweier Kerzen, die am Kopfende flackerten, flüsterte sie: »Laß uns heute nur zusammenliegen. Dein Vorgänger hat mich geschunden wie ein junger Stier. Mir tut alles weh. Du mußt zart sein wie ein Lamm.«
Aber Alessandro konnte in ihren Armen nicht einschlafen. Draußen näherte sich das Gewitter, und Windstöße fuhren durch die Fensterläden und ließen die Flammen der Kerzen verstärkt flackern. Livia schlief inzwischen. Er schaute ihr ins Gesicht, das mit den geschlossenen Augen und dem halboffenen Mund leblos wirkte. In der nächtlichen Schwüle hatte sie die Decke von ihrem nackten Körper gestreift, und Alessandro fielen blaue Flecken an den Beinen und blutige Kratzer auf Brust und Rücken auf, ja sogar Würgemale am Hals. Als ein Blitz ihren Körper für einen Augenblick in ein kalkiges Licht tauchte, erschrak er, weil er glaubte, sie könne tot sein. Leise zog er sich an und verließ das Haus.
Das Gewitter rückte nun näher, aber noch regnete es nicht. Im Palast der Medici angekommen, sah er Lorenzo wie die Bronzefigur eines Philosophen am Brunnen des Innenhofs sitzen und auf den Wasserstrahl starren. Wieder beleuchtete ein Blitz dieses Bild, und nun erfaßte Alessandro eine plötzliche Angst vor dem Tod. Wenn dies alles, was er während der Nacht gesehen hatte, keine göttlichen Fingerzeige waren, dann gab es keine. Er war nicht so abergläubisch wie die meisten Menschen, die an Geisterbeschwörung und Hexensabbat, Nekromantie, Kartenlesen und hundert andere Formen von Magie glaubten, aber er glaubte an die Botschaft der Sterne und daran, daß der Allmächtige den Menschen gelegentlich Zeichen sandte; daß ER manchmal unerwartet auftauchte, obwohl ER als deus absconditus in der Regel so fern war, daß ihn kein Rufen erreichte. Aber in dieser Nacht, während sich ein Gewitter dramatisch näherte, stieß Alessandro zweimal auf das Abbild eines toten Menschen, und dies konnte kein Zufall sein.
Beunruhigt von diesen Zeichen, kniete er sich vor das Kruzifix an der Wand und betete zu seinem persönlichen Gottvater. Aber der Herr antwortete nicht. ER sprach auch nicht durch seinen gekreuzigten Sohn zu ihm. Aber ER war, das spürte Alessandro, heute anwesend. Und seine Anwesenheit gab seinem Sohn Kraft.
Weil alle Müdigkeit endgültig von ihm gewichen war, verließ Alessandro trotz des Unwetters erneut den Palast und wanderte zum Ponte Vecchio. Inzwischen tobte das Gewitter, und Regen stürzte nieder. Viele Menschen strömten in die Kirchen, um zu beten, und, wie er, zu den Ufermauern und Brücken. Der Arno war schon gefährlich angestiegen, und in der schnellen Blitzfolge konnte er die braunen Fluten unter sich fließen und wirbeln sehen. Tierkadaver blieben an den Brückenpfeilern hängen, drehten sich mehrfach und wurden wieder weitergerissen. Und da trieben auch Menschen heran. Ein Aufschrei ging durch die Menge. Eine Mutter mit einem kleinen Kind, das sie noch an sich preßte! Alessandro glaubte, sie lebe noch, und ohne nachzudenken, stieg er auf die Brüstung, um hinabzuspringen und sie zu retten.
Die Elemente waren in Aufruhr, Wassermassen rauschten ihm entgegen, und eine Serie von Blitzen ließen den Fluß, die Häuser und die Menschen um ihn herum in grellen Zuckungen tanzen. Die krachenden Donnerschläge übertönten alles, auch das Geschrei der Menge. Er sah nur noch geöffnete Münder, Arme, die sich nach ihm ausstreckten, Hände, die nach seinen Beinen und Armen griffen. Noch einmal sah Alessandro die junge Mutter mit ihrem Kind, aber nun löste es sich aus ihren Armen und verschwand, sie drehte sich mehrfach und wurde in einen Strudel gerissen. Alessandro fiel. Über ihm zuckten Blitze über den Himmel wie ein Kreuz.
»Ja, ich werde Dir dienen«, schrie er in höchster Angst, dann war alles schwarz. Schließlich schälten sich mehrere Gesichter aus der Schwärze. Menschen beugten sich über ihn.
Langsam wurde ihm klar, was geschehen war. Die Passanten hatten ihn, bevor er sprang, von der Brückenmauer gezerrt. Um die Frau mit ihrem Kind zu retten, wäre er beinahe in den Tod gesprungen. Aber Gott hatte ihm erneut einen Schutzengel gesandt. Wortlos, aber nachdrücklich.
Während Alessandro, noch ganz benommen, zum Palast der Medici in der Via Larga schlich, hörte plötzlich der Regen auf, obwohl das Gewitter weiterhin direkt über der Stadt tobte und unablässig seine Blitze herniederschickte. Schon flackerten am Ende mehrerer Straßen Feuer auf. Aber Alessandro kümmerten sie nicht. Er sah die reißenden Fluten vor sich, die schlafende Livia, dann aber wieder den Spanier, der so lustvoll sein R rollte und die Räte von Florenz vor den Kopf gestoßen hatte. Als Alessandro in der Nähe der Kuppel von Santa Maria del Fiore vorbeiging, wurde es für einen Augenblick taghell, und gleichzeitig krachte ein Schlag, der den Dom wie bei einem Erdbeben erzittern ließ. Dachziegeln fielen herab, schlugen neben ihm auf das Pflaster. Sie hätten Alessandro treffen können, aber sie trafen ihn nicht, und er ging ungerührt weiter, und als er bald darauf im Bett lag, schlief er trotz des nur langsam abziehenden Gewitters sofort ein.
Am nächsten Morgen schien die Sonne aus einem klaren Himmel. Sie spiegelte sich in Hunderten von Pfützen, und abertausend Tropfen glitzerten. Die Dächer und Gassen waren reingewaschen, nur an den Stellen, an denen die Bäche, die durch die Gassen geflossen waren, sich an einem Hindernis gestaut hatten, stapelte sich der Unrat. Der Arno war wider Erwarten nicht über die Ufermauern getreten, die Schäden waren weniger schlimm als erwartet. Die Stadt war schon auf den Beinen, weil man sehen wollte, ob die Kuppel getroffen und wirklich ein Blitz durch die Laterne herniedergefahren war bis auf das Kruzifix und den Altar. Die Bürger von Florenz standen in kleinen Gruppen zusammen und diskutieren. Der Blitzeinschlag sei ein unmißverständliches Zeichen Gottes, der verhindern wollte, daß der Prior von San Marco seine Haßpredigten in die Menge schmettere, sagten die einen. Auch die anderen sahen darin ein Zeichen Gottes. Aber es bestätige nur, was der große Fra Girolamo als Stimme des Herrn, als nimmermüder Prophet seit Jahr und Tag den satten und sündigen Menschen entgegenschleudere.
Zur Messe drängten sich fünfzehntausend Menschen in den Dom. Altar und Kruzifix fanden sie unberührt. Gott hatte sich also keineswegs gegen Fra Girolamo gewandt, und so wollten alle den wortgewaltigen Bußprediger hören.
Lorenzo il Magnifico, der unerklärte Herrscher der Stadt, erschien ebenfalls mit seiner Familie, dem ganzen Anhang an Philosophen und Künstlern und natürlich seinem Gast aus Rom. Lorenzo hatte erneut darauf bestanden, daß Alessandro einen Platz in seiner Nähe erhielt, und so konnte Alessandro sowohl den Prior beobachten als auch Cesare. Und er konnte die Reaktionen der neugierigen, faszinierten, gläubigen Menge studieren.
Savonarolas kreisrunde Tonsur ließ die Glatze wie unter einem Heiligenschein leuchten. Seine tiefliegenden großen Augen starrten immer wieder in die Menge, die nicht wagte, seinen Blick zu erwidern. Der Prior war nicht groß, seine Stimme war eher dünn, aber er sprach mit Pathos. Er ließ die Messe von seinen dominikanischen Confratres eröffnen, stieg dann zur Lesung und Deutung des Evangeliums auf die Kanzel. Aus seiner schwarzen Kutte, die er durch kein Meßgewand ausgetauscht hatte, schoß eine Hand mit einem ausgestreckten knochigen Finger und zeigte in die Höhe, in die Kuppel. »Ecce gladius Domini super terram cito et velociter. Siehe das Schwert Gottes über der Erde, schnell und geschwind!« Die Menge zuckte und schaute unwillkürlich nach oben. Wie jeden Sommersonntag schickte die Sonne ihre Strahlen durch die Fenster des Gotteshauses. Aber diesmal sahen die Menschen in ihnen einen Fingerzeig Gottes. Alessandro beobachtete Cesare, der mit heruntergezogenen Mundwinkeln spöttisch und verächtlich lächelte. Lorenzo neben ihm schaute ernst und aufmerksam auf den Prior. Schwere Schatten umrandeten seine Augen.
Savonarola wetterte nun gegen Völlerei und Wohlleben, sodomitische Buhlerei und Luxus, Simonie und Tyrannenherrschaft. Plötzlich machte er eine Pause, und die Menge starrte ihn erwartungsvoll an. Er verlängerte sein Schweigen und beugte sich über den Kanzelrand, als wollte er in die Menge hineinsteigen, die sich näher herandrängte. Mit einer weitausgreifenden Geste wies er auf Lorenzo und die neben ihm Sitzenden, noch immer, ohne ein Wort zu sagen. Dann hob er langsam seinen Arm und ließ ihn, weiterhin die Menge fixierend, wie ein Schwert fallen. »Du mußt es mit ihnen machen, wie die Römer mit denen, die den Tarquinius wieder einsetzen wollten«, donnerte er. »Gegen Christus nimmst du keine Rücksicht und willst sie gegen einen Bürger nehmen? Laß der Gerechtigkeit ihren Lauf. Schlage ihm den Kopf ab. Und wäre er auch das Haupt der vornehmsten Familie, schlage ihm den Kopf ab!«
Ein tiefes Atmen ging durch die Menge, und einzelne Männer schrien »Ja« und »So soll es sein« und »Tötet sie«. Mehrere Frauen sanken ohnmächtig nieder. Aber Savonarola fing die Erregung der Massen sofort ein und sagte mit leiser, sanfter, beschwörender Stimme: »Ihr wißt, was geschrieben steht: Du sollst Gott mehr als den Menschen gehorchen.«
Wieder sanken Frauen zu Boden. Lorenzo hatte sein Gesicht bedeckt. Cesare starrte auf den Prediger, sein spöttisches Lächeln war eingefroren, und in seinem Blick glomm Bewunderung auf.
Und noch leiser sagte Savonarola: »Gott hat mich zu seinem Werkzeug ernannt, er spricht durch meine Zunge.« Dann schmetterte er über die Köpfe der Menschen hinweg: »Wer mir folgt, folgt Gott. Wer mich verfolgt, verfolgt Gott! So sei es und so ist es und so wird es immer sein!«
Und wieder ekstatische Ja-Rufe aus der Menge, die sich erneut zur Kanzel drängte. Als die ersten an die Pfeiler gepreßten Menschen aufschrien, bewegte sich die Menge wie eine schwere Pechsuppe wieder zurück. Lorenzo, seinen Kopf auf eine Hand gestützt, ließ seinen Blick über die Gläubigen wandern und traf Alessandros Augen. Eine knappe Kopfbewegung und das kurze Hochziehen einer Augenbraue folgten, als wolle er sagen: All das geht vorbei, dem Demagogen werden bald seine Anhänger weglaufen und er kann sich wieder in seine Zelle in San Marco zurückziehen. Cesare schien nachdenklich geworden zu sein. Die Mienen der alten AccademiaMitglieder waren versteinert. Marsilio Ficino beugte immer wieder seinen Kopf zu Lorenzo und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ugo, Accurse und Giovanni Crispo saßen nebeneinander in der dritten Reihe, halb verdeckt, und starrten erstaunt und ungläubig auf den Prediger.
Savonarola lehnte sich weit über die Kanzelbrüstung und schien die Menge umarmen zu wollen, dann stellte er sich wieder steif auf und schien Gott persönlich anzusprechen: »Zuvor wandte ich mich jedoch an den Herrn und sprach: Ich sehne mich nach Frieden und Ruhe; Du aber hast mich hervorgezogen, indem Du mir dein Licht zeigtest. Ich möchte mich ausruhen und finde keine Stätte. Ich möchte mich stille halten und nicht sprechen, aber ich kann nicht; denn das Wort Gottes brennt in mir wie Feuer und verzehrt mir das Mark in den Knochen, wenn ich ihm nicht Luft mache. Wohlan denn, o Herr, weil Du es willst, daß ich auf dieser hohen See umhertreibe, so soll Dein Wille geschehen.«
»Amen«, brüllten seine Anhänger, und die Menge atmete ein tiefseufzendes »Amen« hinterher.
Alessandro bemerkte, wie Ugo seinen Blick suchte. Ugo formte seine Lippen zu einem Wort, das Alessandro für Lügner hielt, und schüttelte leicht den Kopf. Aber obwohl auch in Alessandros Ohren Savonarolas Bekenntnis verlogen klang und von einer geradezu satanischen Selbstüberschätzung zeugte, fühlte er sich von den Worten doch auf eine seltsame Weise angesprochen. Ihm fielen die Ereignisse der letzten Nacht ein, sein plötzlicher Glaube an Gottes Auftreten, an seine Zeichen und Botschaften, und er fragte sich, ob Savonarola nicht tatsächlich davon überzeugt war, daß Gottes Wort in ihm wie Feuer brenne, daß er geschickt sei, gegen die Mächtigen, die Reichen und die Sündigen der Welt seine Sätze zu schmettern.
Nun wandte sich der Prediger Rom zu.
»Tritt her, verruchte Kirche, höre, was der Herr zu dir spricht: Ich habe dir die schönen Gewänder gegeben, und du hast Abgötterei mit ihnen getrieben. Die Sakramente hast du durch Simonie entweiht. Ein Haus der Unzucht hast du aufgeschlagen, ein Haus der Schande allerorten. Die Wollust hat aus dir eine schamlose Dirne gemacht, die auf dem Stuhle sitzt und, wie Salomo sagt, alle heranlockt. Wer Geld hat, geht hinein und kann tun, was ihm gefällt. Geld, Geld ist alles, wonach die Kirche strebt. Ihre Glocken tönen um Habsucht, und ihre Priester gehen um Geld zum Chore. Sie verkaufen die Sakramente, handeln mit der Messe. Sobald der Abend kommt, geht der eine zum Spiel, der andere zur Konkubine. Ja, jeder Priester hat seine Konkubine, ohne Hehl treibt man Unzucht und schändet Gottes Wort. Früher nannten die Priester ihre Söhne Neffen; heute nennen sie sie schamlos und offen Söhne!«
Savonarola hielt kurz inne und schaute offen zum Chor, wo Cesare neben Lorenzo saß und kurz davor war, aufzuspringen. Alessandro hörte ihn »Ich erwürge den Hundesohn« zwischen den Lippen herauspressen. Lorenzo legte ihm begütigend die Hand auf den Arm. Aber Cesare schrie: »Du wirst noch durch einen Borgia sterben, du tyrannischer Prophet, du machtgieriger Heuchler!«
Savonarola zuckte zurück, durch die Menge ging ein anschwellendes, empörtes Raunen, und diesmal bewegte sie sich in Richtung Chor. Aber noch bevor sie dort anbranden konnte, ergriff der Prior wieder das Wort. »Ich halte keine Buben noch Konkubinen, wie die Kardinäle zu Rom und die Tyrannen anderswo, sondern predige das Evangelium Christi. Aber von Rom steigt ein Pesthauch zum Himmel auf. In Rom grasen die fetten Kühe, von denen Arnos spricht, die Buhlerinnen der Kirche. Rom ist die Tochter Babylons, sie bedeutet Verwirrung und Laster. So flieht vor ihr! Denn wahrlich ich sage euch: Es wird kommen ein neuer Cyrus, ein neuer Nebukadnezar, und er wird die Sünder, die Lasterhaften, die falschen Priester und die Tyrannen hinwegfegen. Dies sage ich euch, und ich irre so wenig, wie Gott irrt.«
Inzwischen war das Raunen der Menge immer lauter geworden, immer mehr Männer brüllten etwas, dazwischen einzelne Schreie von Frauen, und schließlich entstand ein Tumult, in dem Savonarola kaum noch zu verstehen war. »Wer mich verfolgt«, schleuderte er noch in die Richtung des Chors, »verfolgt Gott!« Und ohne ein Schlußgebet, ohne versöhnende Geste und ohne ein Amen verließ er fluchtartig, die Kapuze über seinen Kopf gezogen, die Kanzel und war verschwunden.
Der Versuch seiner Confratres, die Messe in ihrer gewohnten Ordnung zu Ende zu bringen, mißlang. Niemand wollte mehr zuhören oder gar still beten. Opferung, Wandlung und Kommunion interessierten nicht. Der Tumult legte sich nur langsam, und schließlich strömte die Menge träge zu den Ausgängen und schob sich aus den Portalen. Vereinzelte Rufe und Flüche waren noch zu hören.
Lorenzo, umringt von seinen Freunden, bewegte sich langsam dem Seitenausgang zu. Kaum blinzelten sie ins helle Mittagslicht, wandte sich Cesare an ihn: »Und diesen tollwütigen Hund ernährst du an deinem Hofe? Warum erschlägst du ihn nicht?« Ein schwerer, unterdrückter Schmerz prägte Lorenzos Miene. Seine Bewegungen waren langsam. Alessandro tat so, als reiche er ihm freundschaftlich seinen Arm, und versuchte, ihn zu stützen. Lorenzo lächelte dankbar, ließ aber nicht zu, daß ihn jemand berührte. »Florenz ist nicht Rom«, sagte er. »Florenz ist eine Stadt, in der das Recht herrscht und Meinungen geduldet werden, die …«
»Meinungen?« unterbrach ihn Cesare. »Dieser Ketzer hetzt das Volk gegen Euch und Rom, gegen die heilige Kirche auf, ja, er ruft zum Mord an Euch auf, habt Ihr das nicht gehört?«
»Ich bin kein Tyrann, selbst wenn Savonarola mich so nennt. Ich werde mich auch durch seine Worte nicht zum Tyrannen machen lassen«, antwortete Lorenzo mit ungewohnt scharfer Stimme.
»Wer sich nicht wehrt, ist verdammt, unterzugehen.« Cesare stellte sich vor Lorenzo und hinderte ihn daran, weiterzugehen.
Lorenzo blieb stehen und sprach nun wieder mit ruhiger Stimme: »Vor zwölf Jahren ist schon genug Blut geflossen, als die Pazzi, angestiftet von einem Papst, mich zu ermorden versuchten. Mein über alles geliebter Bruder fiel unter ihren Dolchen. Ich will nicht, daß Blutrache, Fehden, Aufruhr und politischer Mord wiederkehren. Florenz soll der Welt ein Beispiel geben für Frieden und die Herrschaft des Volkes.«
Cesare streckte vor Lorenzo seine athletische Figur. »Es ist besser, gefürchtet und geachtet zu werden als geliebt. Denn in der Liebe des Volkes steckt immer Verachtung. Und außerdem ist die Liebe des Volkes so wankelmütig und käuflich wie die Liebe einer Dirne. Die Florentiner laufen in Scharen dem Prediger zu, und Euch verachten sie. Und eines Tages werden sie Euch zum Tyrannen erklären und enthaupten, wie es der Demagoge gefordert hat. Und ich werde sagen: Schade, Lorenzo de’ Medici war reich an Geld und Gaben, kunstliebend und eine Weile auch mächtig. Aber er war so dumm, an das Gute im Menschen zu glauben. Er hat zugelassen, daß ein fanatisches Mönchlein ihn stürzt.«
Lorenzo wirkte neben Cesare wie ein alter, gebrechlicher Mann. Fast alle Mitglieder der Accademia sprachen gleichzeitig auf den Römer ein, so daß keiner mehr ein Wort verstand. Lorenzo schob sich nun, ohne ihm zu antworten, an Cesare vorbei. Er grüßte lächelnd einen jüdischen Silberschmied und winkte einer halbverschleierten Frau zu, die kaum merklich zurückwinkte. Dann nahm er seinen jüngsten Sohn bei der Hand.
Als Cesare ihn wieder eingeholt hatte, sagte er ruhig und freundlich: »Wir reisen noch heute zur Villa Cafaggiolo, lieber Freund, speisen, tanzen, plaudern und gehen morgen früh auf die Jagd.«
29. KAPITEL
Die Hitze brütete über der Stadt Rom, die Todesfälle in den Vierteln am Tiber nahmen wie jedes Jahr zu, man befürchtete allgemein den Ausbruch der Pest. An manchen Tagen zog ein fauliger Verwesungsgestank durch die Straßen, der auch die auf den Hügeln gelegenen Palazzi nicht verschonte. Silvia schrieb in den Abendstunden an einer Novelle, manchmal auch ein sehnsüchtiges Gedicht, aber die Hitze ließ sie schlecht schlafen, und am Tag döste sie unruhig dahin. Der Vater verfluchte die Hitze, die der Teufel geschickt haben müsse. Er fluchte, weil nichts geschah, kein akzeptables Mitgiftangebot von Kardinal della Rovere, keine Nachricht von Clarissa, noch immer kein Crispo-Sohn in Rom, kein Schuldenerlaß, Frascati noch immer verpfändet. Dabei wünsche er nichts so sehr, wie den Rest seiner Tage auf dem Land zu verbringen.
»Rom ist eine verfluchte Stadt, ein neues Sodom, und eines Tages wird Gott sein Feuer vom Himmel schicken oder seine Fluten. Oder seine Racheengel. Wenn Mars und Saturn in Konjunktion treten, werden fremde Heere wie Heuschrecken das Land überziehen und alles kahlfressen. Rom wird brennen, wie einst unter Nero, es wird geplündert wie unter dem Vandalen Stilicho – und wer ist daran schuld?« Er unterbrach sich selbst, weil er keine Antwort wußte.
Seit Tagen schon schmetterte der Vater seine Philippika gegen alles und jeden. Silvia litt wie er unter der Hitze, aber sie ließ sich nicht so gehen, und sie fand, auch der Vater könne sich zusammenreißen. Daß Giovanni Crispo noch nicht in Rom angekommen war und sein Vater nichts ohne ihn entscheiden wollte, war ihr recht. Denn ihr Herz wehrte sich heftig gegen die Heirat.
Auch Sandro schien unter dem schwülen, drückenden Wetter zu leiden. Er war plötzlich bockig, er schrie viel, wollte nicht richtig essen und schlug nach der Amme. Und dann, während Silvia sich wieder die Prophezeiungen des Vaters anhören mußte, die Tiraden über die Schlechtigkeit der Welt, über die Geldgier und den Geiz der Priester, über die Hurerei in der Stadt, über die Wucherzinsen der Juden, die endlich einmal von Gott gestraft werden müßten, hörte sie ein lautes Fiepen. Dann kam Sandro hereingerannt, in der Hand den Zeisig. Der Vogel bewegte sich nicht. Er war tot.
Silvia nahm ihn Sandro aus der Hand, schaute ihn sich genauer an und warf ihn dann zornig aus dem Fenster. »Was hast du getan«, herrschte sie den Kleinen an, und noch bevor er antworten konnte, schrie sie: »Du hast ihn getötet!«
Er schaute sie aus großen, traurigen Augen an, und dieser Blick machte sie noch wütender. Mit gellender Stimme wiederholte sie: »Du hast ihn getötet!«
Sandro starrte jetzt bockig nach unten und reagierte nicht.
»Es ist doch nur ein Vogel«, sagte der Vater, »er hat es sicher nicht mit Absicht getan.«
»Er hat ihn getötet!« fuhr sie ihn an. Mit einem Stirnrunzeln stand der Vater auf, strich Sandro kurz über den Schopf und verließ das Zimmer.
Der Junge schien nun weinen zu wollen. Die Mundwinkel zuckten, und er wollte sein Gesicht hinter den Händen verbergen. Aber Silvia schlug die Hände weg und riß Sandros Kopf an den Haaren nach oben. Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz und Angst, er begann zu wimmern – dabei war er es doch gewesen, der den Vogel getötet hatte. Und Silvia schlug ihm zum ersten Mal in seinem Leben ins Gesicht. Er sah sie ungläubig an und heulte dann richtig los. Plötzlich blitzten wieder die Dämonen aus seinen Augen, und der Teufel verhöhnte sie.
»Du Bastard einer Hure, warum hast du meinen Zeisig getötet?« schrie sie und schlug immer wieder auf das Kind ein, das sich zusammengekrümmt auf den Boden warf. Schließlich trat sie nach ihm. »Du verfluchter Bastard, ich hasse dich, dich soll der Teufel holen!«
Schließlich ließ sie von ihm ab. Sie sah das wimmernde Bündel vor sich liegen, und langsam dämmerte ihr, was sie getan hatte. Noch bevor sie Sandro aufheben konnte, war ihr Vater zurückgekommen, hatte sie beiseite geschoben, den Jungen tröstend in den Arm genommen und ihn dann auf Verletzungen untersucht. Das Gesicht des Kindes war noch immer verzerrt und lief blau an. Sandro schnappte nach Luft, und einen Augenblick sah es so aus, als müsse er ersticken. Aber dann konnte er wieder normal atmen und begann von neuem zu weinen.
»Geh mir aus den Augen!« herrschte der Vater Silvia an und trug den Jungen fort.
Sie verzog sich in ihr Zimmer. Auch sie weinte nun, betete dann schluchzend das Ave Maria. Vor ihr stand das verzerrte Gesicht des Jungen, und das leidende Gesicht des Gekreuzigten an der Wand schien sie zu verhöhnen.
Silvia schrie auf. Der Teufel hatte sich wieder ins Haus geschlichen, er grinste aus allen Wänden, packte sie mit seinen kalten, schmierigen und gleichzeitig brennendheißen Fingern, sein Atem stank, seine Nägel grub er in ihr Fleisch, und als sie nach ihm schlagen wollte, hörte sie ihn lachen und blitzschnell ausweichen. Vor ihr das Pult. Neben ihr ein Hocker. In der Ecke ihre Truhe. Das Bett. An der Wand der höhnische Heiland, der angeblich alles Leid der Welt auf sich genommen hatte. Sie kniete auf dem kalten Stein. Sie sah ihn nicht mehr, den Teufel, aber sie hörte ihn noch. Und er faßte sie von hinten, er griff nach ihren Brüsten, seine Krallen rutschten über den Bauch bis zwischen die Beine, und sein Atem stank so, daß sie glaubte, sich übergeben zu müssen.
Der Teufel will aus dir eine Hexe machen, schoß ihr durch den Kopf. Sie versuchte, um Hilfe zu rufen, aber mehr als ein gurgelndes Geräusch brachte sie nicht hervor. Er befahl ihr, anbetend die schwärenden Lippen zu küssen, seinen Eselsschwanz zu heben. Er wollte in sie eindringen nach der Art der Teufel. Sein scharfer Bocksgestank umhüllte sie, nahm ihr den Atem, lähmte die Gegenwehr.
Half ihr denn niemand? Ihr Vater, nach dem sie rief? Der Gekreuzigte, der doch den Satan besiegt hatte? Sie warf sich, wie in Anbetung, auf den Boden. Sie stieß mit dem Schädel auf die Fliesen, und Schmerzen explodierten hinter der Stirn. Aufschreiend sprang sie hoch und begann zu tanzen. Sie drehte sich und hüpfte, sie verrenkte ihre Glieder und riß sich schließlich alle Kleider vom Leib. Irgendwann fiel sie erschöpft und wie tot auf ihr Bett.
Sie wagte sich erst am nächsten Tag wieder aus ihrem Zimmer. Der Durst plagte sie. Auf dem Weg zur Küche begegnete sie zuerst der Amme, die sich bekreuzigte und ihr dann auswich, dann Sandro, der sich verschämt an die Wand drückte. Als sie ihn hochnehmen wollte, wehrte er sich. Schließlich erschien auch ihr Vater. Sie wollte sich weinend in seine Arme werfen, aber er blieb abweisend und kalt.
»Soll ich einen Priester rufen lassen, der dir die Beichte abnimmt?«
Sie schüttelte entschieden den Kopf.
Ihr Vater schaute sie prüfend an. »Es ist vielleicht auch besser so. Er könnte auf falsche Gedanken kommen. Wir brauchen nur an Ippolita Crispo zu denken.« Er hielt wieder inne. Der kleine Sandro drückte sich an seine Knie. Der Vater strich ihm über den Kopf und schickte ihn dann zur Amme.
»Wenn man den Teufel ruft, steht er schon vor der Tür. Nein, er steht im Raum.«
Dann nahm er Silvia doch in den Arm. Ihr waren die Tränen versiegt. Sie fühlte seine Wärme, aber sie glaubte nicht mehr an seinen Schutz. Sie fühlte sich schuldig und voller Scham.
»Wenn ein Priester deinetwegen ins Haus kommt und der alte Crispo von solchen Anfällen erfährt, ist es aus mit der Heirat. Dann kann ich dich nur noch in ein abgelegenes Kloster stecken. Aber welcher Orden nimmt freiwillig ein Mädchen auf, das im Geruch steht …« Er unterbrach sich und ließ sie stehen.
Silvia wünschte zu sterben.
Während der nächsten noch immer brütendheißen Tage versank für sie alles in Dunkelheit. Sie verstand sich nicht mehr. Der kleine Sandro hatte Angst vor ihr. Und der Vater schwieg, in Gedanken versunken.
Dann erschütterten eine Reihe von Gewittern die Stadt. Es regnete kaum, aber die Blitze entfachten überall Feuer. Der Gestank, der aus dem Tiber aufstieg, war kaum zu ertragen. Die Stadt schien in Lähmung zu verfallen. Die Morde nahmen zu, das Raubgesindel beherrschte während der Nacht die Straßen. Ganze Hundemeuten streunten hungrig durch die Gassen und Hinterhöfe und fielen Kinder an, sogar Frauen und Männer. Papst Innozenz hatte sich in die Albaner Berge verzogen.
Als Silvia bewegungslos auf ihrem Bett lag und Alessandro herbeisehnte, ihren Retter und Erlöser, hörte sie plötzlich einen Schrei. Es war die Amme. Aber Silvia konnte sich nicht vom Bett wegrühren. Die Hitze lähmte sie. Die Angst, daß der Teufel sich eine andere Frau im Haus gegriffen habe und sich, kaum würde er ihrer ansichtig, wieder auf sie stürzen könnte, hielt sie in ihrem Zimmer. Draußen auf den Gängen entstand Unruhe. Die Mägde schrien nach dem Herrn. Die Tür zu ihrem Zimmer wurde aufgerissen, aber niemand benachrichtigte sie, was geschehen war.
Mühsam erhob sie sich und schwankte auf den Gang. In Sandros Zimmer fand sie schließlich fast die gesamte famiglia versammelt. Der Junge glühte vor Fieber. Und trotzdem klapperte er mit den Zähnen. Immer wieder kippten seine Augen nach oben weg, und man sah nur noch das Weiße.
Silvia konnte nicht reagieren. Quälend langsam waren ihre Bewegungen.
Da stand ihr Vater. Neben ihm ein Chirurgus. Er schnitt mit einem kleinen krummen Messer Sandro in den Arm. Der Junge schrie aber nicht. Eine kleine Blutfontäne, Blutstropfen auf den Fliesen. Daneben die Sandalen des Priesters, in denen Zehen steckten wie die Krallen des Teufels.
Sie war schuld. Sie hatte dem kleinen Engel die Krankheit gebracht. Sie war eine Hexe. Sie mußte sterben, den Feuertod sterben. Noch bevor sie Alessandro wiedersah, bevor sie die Freuden der Liebe und der Mutterschaft genießen konnte, wurde sie auf einen Holzstoß geführt, die Flammen leckten an ihr, fraßen ihr das Kleid weg, erhitzten ihre Haut, glühten sich hinein in sie, bis sie sich in ihnen auflöste, bis ihre Seele gen Himmel flog, dorthin, wo ihre Mutter auf sie wartete.
Langsam wankte Silvia in ihr Zimmer.
Dem kleinen Sandro ging es ein paar Tage besser.
Das Fieber sank, und man glaubte schon, er würde genesen. Silvia wollte ihn pflegen, sie wollte an seinem Bettchen wachen, seine Stirn kühlen und ihm zu trinken geben, sie wollte ihn in den Schlaf singen und mit ihm beten. Aber man ließ sie nur widerwillig zu ihm, und der Kleine nahm sie nicht mehr wahr. Das Fieber stieg erneut. Die Amme tupfte ihm die Stirn ab. Silvia hielt seine glühende Hand. Sie zog ihn sogar aus dem Bett und hielt ihn auf ihrem Schoß. Sandro war nicht bei Bewußtsein. Beim nächsten Aderlaß spritzte sein Blut ihr ins Gesicht.
Noch einmal fiel das Fieber. Aber Sandro war jetzt schon so schwach, daß er nicht mehr sprechen konnte. Plötzlich erschien Rosella neben dem Vater. In lange Gewänder gehüllt, nur das Gesicht frei, trat sie ans Bett. Sie starrte auf das Kind und bekreuzigte sich. Sandro lächelte. Aber er lächelte nicht seine Mutter, er lächelte Silvia an. Es war die Stunde seines Todes.
30. KAPITEL
Da das Unwetter keine schweren Schäden angerichtet hatte, konnte man ohne Probleme bis zum Landhaus der Medici reiten. Dort war schon alles für die Jagd vorbereitet. Abends wollte keine Stimmung aufkommen, und so begab man sich frühzeitig ins Bett, um noch vor Tagesanbruch auf den Beinen zu sein. Am nächsten Morgen standen die Hundeführer mit ihrer Meute bereit, die Pferde waren gesattelt. Alessandro schaute sich um, wer von seinen Freunden dem jungen Cesare d’Arignano die Ehre der gemeinsamen Jagd gab. Lorenzo hatte sich natürlich eingefunden, obwohl er mehr die Falkenjagd liebte und zur Zeit, wie Alessandro unschwer an seinen vorsichtigen und langsamen Bewegungen erkannte, unter Schmerzen litt. Auch seine Söhne Piero und Giovanni saßen schon im Sattel. Pico della Mirandola war dabei und Accurse Maynier, Giovanni Crispo und eine Reihe junger Adliger aus Florenz. Marsilio Ficino und die älteren Männer der Accademia hatten sich entschuldigen lassen, sie seien für die anstrengenden Freuden der Jagd nicht mehr jung genug.
Der Jagdaufseher von Cafaggiolo hat mit seinem jungen Gehilfen schon ausgekundschaftet, wo das Schwarzwild aufzuspüren sei. Die Hundeführer konnten die erwartungsfroh bellende Meute kaum noch halten. Cesare hatte sich zwar einen Sauspieß und einen Langbogen geben lassen, aber seinen eigenen Jagddolch mitgebracht. Alessandro beobachtete, wie er seine Schärfe prüfte, und mit einer stolzen Geste über die Goldverzierungen und eingelegten Rubine des Griffs strich. Er trug hautenge, gestreifte Beinkleider und ein kurzes Jagdwams aus Leder. Offensichtlich war es ihm schon am frühen Morgen sehr warm, denn er knüpfte sich die Armel ab und entblößte seine Arme. Mehr noch als an den Tagen zuvor bewunderte Alessandro Cesares Gestalt. Jede Muskelfaser, jede Sehne war deutlich ausgeprägt. Aber auf diesem Körper, über den sich Donatello und Verrocchio gefreut hätten, weil sie ihn zum Vorbild eines griechischen Gottes hätten nehmen können, saß ein Kopf mit einem Gesicht, das kaum Sympathien erweckte. Die Züge waren zwar männlich markant, aber der Mund wirkte verkniffen und die Augen …? Verschlagen, fiel Alessandro als erstes ein, aber er glaubte sich sofort verbessern zu müssen. Die dunklen Augen schauten prüfend, vielleicht sogar lauernd die Menschen um ihn herum an; in den Momenten jedoch, in denen sich Cesare unbeobachtet fühlte, stand in ihnen plötzlich eine unausgesprochene, einsame Trauer. Eine Trauer, die schnell in Entschlossenheit, ja Grausamkeit umschlagen konnte.
Die Hunde voran, ritt die Jagdgesellschaft eine Weile durch halboffenes Gelände. Der Wind kam ihnen nun deutlich entgegen, und Lorenzo ließ die Gruppe am Rande eines unübersichtlichen und dichten Eichenwaldes anhalten. Der Jagdaufseher wies auf den aufgewühlten Boden der Lichtung hin und auf mehrere Waldwege oder Schneisen, die in offeneres Gelände führten. Er wolle jetzt mit den Hunden das Schwarzwild, das mit Sicherheit im Eichengebüsch lagere, umgehen und, sobald es Witterung aufgenommen habe, in ihre Richtung treiben. Da der Wind gut stünde, könnten die Herren in aller Ruhe die Tiere abwarten und dann in dem offeneren Gelände verfolgen und stellen.
»Worauf wartest du noch?« blaffte ihn Cesare an. Lorenzo schaute erstaunt auf und gab dem Jagdaufseher einen Wink. Eine Weile hörte man nur sich entfernendes Hundegebell. Die Männer sprangen von ihren Pferden, vertraten sich die Beine und schlugen ihr Wasser ab.
Inzwischen war es heiß geworden, die Hunde waren kaum noch zu hören, die Männer dösten im Gras.
»Wann kommt eigentlich dein Bruder Angelo?« fragte Accurse Maynier.
»Er sollte längst hier sein«, antwortete Alessandro mit halblauter Stimme. »Hoffentlich ist er unterwegs nicht aufgehalten oder gar überfallen worden.«
»Aber er wird sich doch zu wehren wissen – als Condottiere.«
Alessandro legte unsicher-abwägend seinen Kopf zur Seite.
»Mein Bruder Angelo kannte sich immer besser in der Bibel aus als in der Feldherrenkunst. Und ein großer Fechter war er auch nicht.«
Cesare war inzwischen, auf dem Rücken liegend, eingeschlafen und schnarchte. Lorenzo saß in sich gekehrt auf einem Stein, das Kinn auf seine Hand gestützt. Giovanni Crispo holte einen Brief aus einer Innentasche seines Jagdkleides und überflog ihn noch einmal. Pico las ein Buch, und Lorenzos Söhne alberten herum.
Plötzlich wurde das Hundegebell lauter. Cesare öffnete die Augen, sprang auf und schwang sich aufs Pferd. Die anderen folgten ihm. Und dann ging alles sehr schnell. Aus dem Gebüsch brach eine Bache mit einer Reihe von Frischlingen, schlug einen Haken und verschwand nach Süden. Cesare lachte. »Toskanisches Jagdglück!« rief er höhnisch. Aber der Hohn verging ihm, als mehrere Keiler, darunter ein mächtiger, grauborstiger mit gefährlich vorstehenden Hauern, auftauchten. Alessandro wunderte sich, daß sie nicht besprochen hatten, wie sie bei der Jagd vorgehen wollten, aber Lorenzo hatte bisher geschwiegen, niemand hatte so schnell die Tiere erwartet, und jetzt war es zu spät.
Die Pferde wieherten auf, tänzelten unruhig hin und her, die Reiter griffen nach ihren Spießen. Giovanni nahm sich den Bogen und legte einen Pfeil auf die Sehne. Einer der Jagdhelfer, die bei ihnen geblieben waren, rief ihnen zu, sich ruhig zu verhalten und abzuwarten, wohin die Keiler flüchten würden. Außerdem sollten sie sich vor dem Grauborstigen in acht nehmen, das sei ein ganz gerissener, er habe schon einmal einen Mann tödlich verletzt.
»Halt’s Maul, wir wissen selber, was zu tun ist«, brüllte Cesare und stürmte auf die Keiler zu. Die Tiere waren sofort verschwunden, und Cesare brachte sein Pferd vor dem Dickicht zum Stehen. Inzwischen war die Hundemeute herangekommen. Wütendes Schnauben, Bellen und Knurren, aufheulende Hunde. Und wieder brach die Rotte aus dem Dickicht, verfolgt von der Meute. Ein paar Hunde bluteten schon, ein Keiler humpelte, an seine Seite hatten sich mehrere Hunde verbissen. Wie auf Absprache stürmten die Keiler in unterschiedliche Richtungen davon, und die Jäger wußten nicht recht, welchem Tier sie folgen sollten. Cesare brüllte wieder etwas, er ließ sein Pferd hochsteigen und galoppierte dann dem Grauborstigen hinterher. Er achtete nicht auf die Hunde, und sein Pferd trampelte einen zu Tode. Alessandro folgte ihm.
Der Keiler nutzte jedes Hindernis, um geschickt wegzutauchen. Ein Teil der Hunde folgte ihm, andere jagten dem Rest der Keiler nach, die sich geschickt verstreuten. Die Hundeführer schrien den Hunden etwas zu, aber nun wurden sie von zwei noch jungen, leicht verletzten und wütenden Keilern angegriffen, und das Durcheinander vergrößerte sich.
Lorenzo schaute sich unsicher um und folgte dann Cesare und Alessandro, der Rest der Jagdgruppe schloß sich ihm an.
Der alte Keiler war plötzlich in einer dichten, dornigen Gebüschgruppe verschwunden, in die kein Reiter ihm folgen konnte. Auch die Hunde waren nicht mehr zu sehen; ein wütendes Aufheulen zeigte aber, daß das Tier sich ihnen gestellt hatte. Die Jäger griffen nach ihren Spießen, nur Crispo legte einen Pfeil an und spannte den Bogen. Cesares Pferd tänzelte nervös hin und her, die anderen Reiter verteilten sich langsam um das Gebüsch. Und da brach der Keiler wieder hervor, mit blutigen Hauern. An seinen Rücken hatte sich einer der Hunde verbissen und wurde bis zum nächsten Baumstamm mitgeschleift, und bevor man dem alten Keiler folgen konnte, hatte er schon den Hund abgestreift und griff ihn nun direkt an. Die Hauer schlitzten dem aufheulenden Tier die Seite auf.
Aber nun war der Keiler eingekreist und sah kein Entkommen mehr. Schon steckte Crispos Pfeil in seinem Rücken. Alessandros Spieß erreichte seine Hinterflanke, eine wütende Bewegung schüttelte ihn ab. Aus einer klaffenden Wunde sprudelte Blut. Cesare ließ sein Pferd zurückgehen und griff nach dem Sauspieß, mit dem er das Tier tödlich verletzen konnte. Aber dafür hätte er absitzen müssen. Doch der Keiler, noch viel zu wenig geschwächt, wütete unter den Hunden. Cesare gab einen unartikulierten Schrei von sich, schleuderte seinen Spieß. Dieser sollte das Herz des Keilers treffen, aber da ihm gerade ein Hund an die Kehle ging, durchbohrte er den Hund und verletzte den Keiler nur leicht.
Der Jagdgehilfe wollte seinen Hunden zu Hilfe eilen. Mit dem Jagdspieß ging er den Keiler frontal an. »Laß ihn mir, laß ihn mir!« schrie Cesare. Der Spieß bohrte sich in den Keiler, und für einen Augenblick glaubte Alessandro, der Kampf sei entschieden, der Keiler, der wie der Fürst der Unterwelt sieben Leben zu haben schien, nun endlich erledigt. Er sprang vom Pferd, Cesare und Giovanni Crispo folgten. Sie hatten ihre Dolche in der Hand, mit denen sie dem Tier den Todesstoß versetzen wollten. Auch der Jagdhelfer griff nach seinem Dolch. Doch in diesem Augenblick, so nah am Tod, schienen dem Keiler ungeahnte Kräfte zu wachsen, und obwohl er aus vielen Wunden blutete, obwohl sich immer mehr Hunde in seine Flanken verbissen, stürzte er sich auf den jungen Mann.
Alessandro wollte ihm zu Hilfe eilen, aber Cesare riß ihn zurück. Gleichzeitig stolperte Crispo über einen Hund und schlug der Länge nach auf den Boden. Sein Dolch fiel ihm aus der Hand. Der Keiler hatte inzwischen den Jagdhelfer umgerannt und schlitzte ihm zuerst den Arm und die Brust, dann die Kehle auf. Hilflos lag er unter dem vor Blut triefenden Tier. Cesare rief etwas, ebenso der auf dem Boden liegende Crispo und Lorenzo, der noch auf seinem Pferd saß und nicht wagte, seinen Spieß zu werfen. In dem Durcheinander war niemand zu verstehen.
Der Keiler griff jetzt Crispo an, und nun ließ sich Alessandro nicht mehr zurückhalten. Aber bevor er eingreifen konnte, hatte Cesare dem Keiler seinen Dolch in die Seite gestoßen. Kaum steckte die Klinge, packte er die beiden Hauer und warf sich auf das Tier, um den sich mit letzter Kraft Wehrenden zu Tode zu ringen. Auf den blutiggekratzten Armen traten die Sehnen und Adern hervor. Die Muskeln schwollen an. Cesare schrie und keuchte. Der Keiler versuchte ihn abzuschütteln, aber es gelang ihm nicht. Für einen kurzen Augenblick schienen die Kämpfenden zu erstarren. Cesare versuchte, dem Keiler durch eine Drehung das Genick zu brechen, aber das Tier wehrte sich noch immer. Alessandro nahm Pico den Spieß ab, richtete ihn vorsichtig gegen das Tier, um nicht bei einer falschen Bewegung Cesare zu treffen. Der Keiler zuckte hoch, warf Cesare ab. Aber nun traf ihn Alessandros Spieß, und er brach endgültig zusammen.
Crispo sprang auf. Sein Gesicht war totenbleich. Cesare blieb noch einen Moment auf der blutgetränkten Erde liegen, rollte sich dann zur Seite und erhob sich auf seine Knie. »Das war knapp«, flüsterte er und wandte sich Alessandro zu, der ihm die Hand reichte, um ihm aufzuhelfen. Aber Cesare stand von alleine auf. »Ich hätte ihm das Genick gebrochen«, stieß er hervor und gab dem toten Keiler noch einen Fußtritt. »Trotzdem Dank«, warf er Alessandro zu, zog seinen Dolch aus dem Tier, wischte die Klinge und den funkelnden Griff sorgfältig ab.
Lorenzo kümmerte sich inzwischen um den wimmernden Jagdhelfer und versuchte, ihm Wasser einzuflößen. Der Mann flüsterte noch ein paar Worte, verlor dann das Bewußtsein, und kurz darauf atmete er nicht mehr.
Alessandro starrte Cesare an, der sich, ohne dem Toten einen Blick zu gönnen, den Staub von seinem Wams klopfte und seine Rißwunden untersuchte. Crispo neben ihm mußte sich übergeben. Der Jagdaufseher war inzwischen hinzugekommen und versuchte, die unversehrten Hunde anzuleinen und sich mit weiteren Gehilfen um die verwundeten zu kümmern. Es herrschte ein Rufen, Brüllen und Bellen. Alessandro, den Blick starr auf Cesare gerichtet, ging ein paar Schritte auf ihn zu. Cesare drehte ihm verwundert das Gesicht zu.
»Du schaust, als wolltest du mich ermorden, Farnese«, rief er mit einem künstlichen, viel zu hohen Lachen. Wie ein bedrohtes Raubtier sprang er zur Seite, packte Alessandro an den Schultern und schüttelte ihn. »Du hast das graue Ungeheuer besiegt, nicht ich.« Sein Mund lächelte, aber aus seinen dunklen, kalten Augen sprach Wut. »Vielleicht hast du mir sogar das Leben gerettet, Farnese.« Er riß Alessandro an seine Brust, daß ihm die Luft wegblieb. »Ein Borgia vergißt so etwas nicht!«
31. KAPITEL
Lange nach Sandros Tod erwachte Silvia wie aus einem quälenden Traum. Sie erinnerte sich an die Geschehnisse der letzten Wochen nur verschwommen, fern und losgelöst. Ihr Haus, der kleine Palazzo der Ruffini, erschien ihr leer und leblos. Der Vater stieg wie ein Geist aus seinem Studiolo herab, verließ, meist am späten Abend, schweigend das Haus. Die Mägde stritten sich häufig. Noch nicht einmal Bianca, ihre Schimmelstute, war ordentlich gestriegelt und mit Wasser und Hafer versorgt. Nur Barbone, der bärtige Knecht, der zu alt war, um noch schwere Arbeit zu leisten, hing regelmäßig die Laternen neben das Hausportal, kehrte mit einem Reisigbesen die Korridore und auch den kleinen Innenhof und entfernte die Spinnweben. Er sprach kaum, aber er lächelte Silvia aus seinem zahnlosen Mund an, und wenn sie unbemerkt das Haus verlassen wollte, ließ er sie heraus und wartete dann so lange am Portal, bis sie zurückkehrte.
Silvia begann wieder an Alessandro zu schreiben. Er hatte lange nichts von sich hören lassen. Sie sehnte sich nach seinen Zeilen, aber sie war unfähig, von Sandros Tod zu berichten, ihn überhaupt nur zu erwähnen, und so blieb sie mitten im Brief stecken und zerriß ihn. Auch in den nächsten Tagen und Wochen gelang es ihr nicht, einen Brief zu beenden. Je schwerer sie sich tat, desto mehr vermißte sie seine Zeilen. Aber er schwieg beharrlich. Er mußte sich in eine andere Frau verliebt haben und wollte sie vergessen.
Silvia hielt es nun in den grauen, verschmutzten Mauern ihres Hauses, dieses immer fremder werdenden Gefängnisses, noch weniger aus. Sie mußte sich ablenken, sie suchte Hilfe, sie wollte das Schicksal herausfordern. Sie begann durch die Straßen, die Gassen und sogar die dunklen Hinterhöfe Roms zu streifen, ohne die Begleitung eines Knechts, der sie hätte beschützen können.
Doch die Stadt beachtete sie nicht.
Immer häufiger führte Silvias Weg an Rosellas Palazzo vorbei. Sie beobachtete die Adligen und Prälaten, die dort tagsüber eintraten, und sie glaubte einmal auch Kardinal Borgia erkannt zu haben. Wäscherinnen und Handwerker, auch Kupplerinnen verließen den Nebeneingang, und nachmittags, vor der Vesper, sah sie Rosella, aufgeputzt wie eine Königin und umgeben von einem Hofstaat junger Mädchen, aus dem Portal treten und in Richtung Santa Maria sopra Minerva ziehen.
Eines Tages jedoch lag Rosella auf einem Kissen im Fenster. Sie war stark geschminkt, und falsches Haar türmte sich turbanartig auf ihrem Kopf. Huldvoll grüßte sie manche der höhergestellten Passanten. Als sie Silvia entdeckte, winkte sie heftig und rief: »Welche Freude, dich zu sehen, Contessina. Du mußt hereinkommen und dir meinen kleinen Palast anschauen!«
Silvia zögerte. Rosella kam zum Portal geeilt und zog sie ins Haus. Sie bot ihr schweren, süßen Wein und Konfekt an und führte sie dann durch den Palazzo. Silvia hatte noch nirgendwo solchen Luxus und Reichtum gesehen: Teppiche und Ledertapeten an den Wänden, Gemälde mit goldenen Rahmen, ein betrunkener Bacchus, nackte rundschenklige Nymphen und bocksfüßige Faunsgestalten, deren mächtige Schwänze sich gierig hochreckten. Überall tummelten sich Engelchen und trieben frech ihren Schabernack. Eine schwere Anrichte mit Obst und Süßigkeiten beherrschte die Stirnseite des Raums, mehrere bemalte Truhen umgaben den Kamin. Ein Spinett stand in der Ecke, neben ihm lagen Flöten und Lauten. Um einen langen Eichentisch reihten sich geschnitzte Stühle. Und das ganze Haus war von einem schweren süßen Duft durchzogen. Junge Tscherkessinnen, noch jünger als Silvia selbst, begegneten ihnen, und schwarzhäutige Dienerinnen lächelten und verbeugten sich stumm.
»Du hast Glück, kein Mann zur Zeit, keine Krankheit, kein Gezeter und alle geschwätzigen Kupplerinnen ausgeflogen. Ich habe ein wenig Ruhe zum Plaudern.«
Silvia fand, daß Rosella deutlich älter geworden war. Im Gegensatz zu ihrem überbordenden Haar, das zudem noch Edelsteine schmückten, umhüllte ihren Körper nur ein leichtes, unter der Brust zusammengebundenes Seidengewand. Die Pantoffeln waren mit Perlen bestickt. Rosella, nach Rosenwasser duftend, bewegte sich hoheitsvoll.
»Du siehst schlecht aus, mein Hühnchen – und spazierst ganz allein durch diese gefährliche und gewalttätige Stadt?«
Silvia nickte. Sie wußte darauf nichts zu sagen. Sie konnte nichts erklären. Sie stellte sich vor, Sandro, herangewachsen, würde sie als Sohn des Hauses begrüßen, wie eine Tante, als Freundin der Mutter, als ältere Schwester …
Als hätte sie ihre Gedanken erraten, sagte Rosella: »Ja, unser süßer Sandro. Er war nicht stark genug für diese Welt. Nun ist er bei den Engeln.« Sie seufzte. »Vielleicht gehört er auch dorthin.« Als Silvia protestieren wollte, fügte sie noch schnell an: »Der Sohn einer Hure, der nicht legitimiert wurde – er hätte es immer schwer gehabt.«
Rosella leerte ihr Weinglas, ein kostbares Glas aus Murano, und goß sich sofort ein neues ein. »Einer Hure …« Sie wiederholte das Wort, als müsse sie ihm nachhorchen, und warf einen mitleidigen Blick auf Silvia. »Aber diese Hure hat es weit gebracht. Ich bin jetzt eine vom Heiligen Stuhl anerkannte Kurtisane, eine cortigiana honesta, und kann mir erlauben, die höchsten Preise der Stadt zu nehmen. Ich besitze mehrere Häuser und verleihe auch Geld. Kardinal Borgia und seine Freunde besuchen mich regelmäßig. Juan, sein Sohn, erfuhr bei uns, was es heißt, seinen Mann zu stehen. Auch Cesare hat sich bei mir schon ausgetobt. Aber er soll sich jüngere Mädchen greifen für seine Wünsche, ich ziehe inzwischen die charmanten älteren Herren vor, die einen dicken Bauch haben und einen gemütlichen Schwanz. O, entschuldige das Wort!«
Silvia mußte plötzlich an Ippolita denken. Clarissa hatte damals erwähnt, Kardinal Borgia exorziere sie. Vielleicht wußte Rosella mehr von ihr. »Hast du etwas von Ippolita Crispo gehört?« fragte sie.
»Ich dachte, sie wäre wieder im Kloster Santa Cecilia. Aber genau weiß ich es nicht. Das arme Mädchen. Sie hat es nicht ausgehalten …«
Rosella unterbrach sich und verstummte.
»Was hat sie nicht ausgehalten?« fragte Silvia. »Den exorcismus?«
»Was weiß ich! Ich kümmere mich nicht um den kirchlichen Kram. Mir ist es auch gleichgültig, was Kardinal Borgia tut, wenn er nicht bei mir ist. Hauptsache, er läßt die Dukaten springen.«
Silvia wußte darauf nichts zu sagen. Rosella trank wieder, und als Silvia noch immer schwieg, fragte sie: »Wie geht es meinem Rotschopf Rufino? Ich habe ihm Geld zu günstigen Zinsen angeboten, aber er ist zu stolz, es anzunehmen. Dafür läuft er der fetten Tochter des Kardinals nach, du weißt schon, deiner Freundin Clarissa. Sie ist allerdings mehr an unserem einträglichen türkischen Gefangenen Dschem interessiert als an einem verarmten Römer.« Ohne eine Pause einzulegen, wechselte Rosella das Thema. »Und du sollst den ältesten Crispo-Sohn heiraten?«
Silvia schaute erstaunt auf.
»Ja, ich bin gut informiert, Piccolina. Dein Vater hat Spielschulden bei dem alten Crispo, hat ihm euer Gut in Frascati verpfändet, und nun kann er die Mitgift nicht aufbringen. Er müßte ihm das Gut überlassen. Dabei habe ich deinem Vater angeboten, ihm aus der Patsche zu helfen. Aber er hat abgelehnt, der Dummkopf.«
Während Silvia noch überlegte, was sie darauf antworten sollte, fuhr Rosella fort: »Wir haben uns geliebt, dein Vater und ich – bis deine Mutter dahinterkam. Sie wollte mich aus dem Weg räumen!« Rosella lachte kurz auf, schrill und heftig. »Ist dir bekannt, Piccolina, daß deine Mutter mir nach dem Leben trachtete?« Rosella griff so ungeschickt nach ihrem Pokal, daß der Wein überschwappte, dann goß sie ihn sich zwischen die gierig aufgestülpten Lippen. »Aber das hätte sie schon geschickter anstellen müssen, die kalte Schlange.«
Rosella leckte sich die letzten Reste Wein von den Lippen, verstummte kurz, als müsse sie noch über ihre letzten Worte nachdenken, dann straffte sie ihren Körper, strich sich die Haare aus der Stirn und wandte sich Silvia zu. »Entschuldige meine dummen Reden, vergiß sie einfach. Manchmal bin ich zu offen, das ist nicht gut in dieser verlogenen Stadt. Weißt du, ich habe deinen Vater sehr geliebt. Aber Liebe ist etwas Schreckliches. Sie führt nur ins Unglück. Das laß dir gesagt sein. Unser wichtigster Schatz und unsere Waffe ist unser Körper. Die Männer sind gierig, sind verrückt nach ihm, außerdem brauchen sie ihn für ihren Nachwuchs. Also nutze die Macht deines Körpers! Doch trenne ihn von deinen Gefühlen! Die Liebe mischt sich allzu leicht ein, sie macht uns schwach, sie treibt uns in den Wahnsinn – und in den Mord.«
Rosella hielt erneut inne, als müsse sie ihren Rededrang unterdrücken, und legte ihre Hand tröstend auf Silvias Arm. »Ich weiß, an wen du denkst – an deinen fernen Alessandro. Vergiß ihn! Er war in Florenz der größte Stecher von allen jungen Männern. Das weiß ich aus sicherer Quelle.«
Silvia starrte Rosella entsetzt an, dann verbarg sie das Gesicht hinter den Händen. Sie konnte den auf sie einstürmenden Gefühlen nicht mehr standhalten. Rosellas Worte über Alessandro machten ihr unversehens klar, warum er nicht mehr schrieb. Sie bewies, daß all seine verschnörkelten Liebeserklärungen selbstverliebte Lügen waren, daß er sich lustig machte über sie, die kleine Römerin, die er einmal gerettet und die sich unsterblich in ihn verliebt hatte. Jetzt verspürte er keine Lust mehr, ihr zu schreiben, war ihrer endgültig überdrüssig, ließ sie einfach fallen, bandelte mit einem toskanischen Edelfräulein an, plante vielleicht, mit einer Medici die Ehe einzugehen.
Und sie, sie sollte Giovanni Crispo heiraten, den sie gar nicht kannte. Dies bestimmte ihr Vater, weil er seine Spielschulden loswerden wollte. O heilige Mutter Gottes, warum starb sie nicht! Warum löschte sie der Allmächtige nicht einfach aus!
Silvia konnte die Tränen nicht zurückhalten. Rosella setzte sich neben sie und legte den Arm um ihre Schulter. Weindunst, vermischt mit dem Duft aus Rosenwasser, umhüllte sie.
»Alessandro …«, brachte sie heraus.
»Er wird dich ebensowenig heiraten, wie dein Vater mich geheiratet hat.« Rosellas Stimme klang barsch, obwohl sie Silvia gleichzeitig an sich drückte. »Und was soll ich tun? Crispo heiraten? Vielleicht ist er häßlich, dumm und langweilig.«
»Es ist besser, du heiratest einen Crispo, vorausgesetzt, er hat genug Geld, als daß du dein Leben lang auf einen Farnese wartest und schließlich im Kloster endest.«
Silvia schluchzte auf. »Aber ich habe Alessandro doch geliebt.«
»Leidenschaftliche Liebe bringt nur Unglück. Sie macht uns abhängig und schwach. Ich glaube, daß die Liebe, die wir Frauen zu vergeben haben, sich rechnen muß. Heirate Crispo und ficke heimlich, wen du willst. Ficke meinetwegen auch Alessandro, wenn er nach Rom zurückkehrt und Lust auf dich hat.«
In Silvia protestierte alles. »Aber er schreibt mir nicht mehr, er hat mich vergessen!« rief sie. »Außerdem würde ich nie meinen Ehemann betrügen. O Gott, nie!«
»Nie?« Rosella lachte höhnisch auf. »Nie! Auch gut. Dann ist das Leben langweilig … Aber wer in den Dämmerstunden gern sehnsüchtige Sonette schreibt – warum nicht?«
Silvia schaute Rosella gequält an. »Du sollst nicht ehebrechen, heißt es«, stammelte sie. »Und die Ehre der Frau …«
»Und was war mit der Ehre deines Vaters, als er meinen Rock hob – schon zu Lebzeiten deiner Mutter? Du sollst nicht ehebrechen!« Sie lachte erneut höhnisch auf.
Silvia fühlte Haß gegen Rosella aufsteigen, obwohl sie spürte, daß Rosella recht hatte. Aber sie wollte, sie konnte es nicht zugeben.
»Du warst eine Hure, und mein Vater war ein Mann – das kann man überhaupt nicht vergleichen …«
Rosella wollte etwas antworten, ließ es aber dann. Sie zog den Gürtel fest und hob mit den Händen ihre Brüste, strich sich über die Haare. Schließlich flüsterte sie: »Zuerst war ich deine Kammerfrau, dann erst die Geliebte deines Vaters, und ob ich es anfangs freiwillig tat …«
Silvia schaute auf, wischte sich die Tränen aus den Augen und entdeckte in Rosellas Gesicht, unter der Schminke, die Spuren zunehmender Verwüstung. Ihr Haß war schon wieder verschwunden. Sie wollte auch nicht mehr an Rosella und ihren Vater denken. Die Bilder, die aufstiegen, ekelten sie.
Rosella reichte ihr ein Tüchlein und schaute dann aus dem Fenster. »Liebe muß sich rechnen«, wiederholte sie mit tonloser Stimme, noch immer abgewandt. »Und zwar solange sich dein Körper noch versilbern läßt. Nach ein paar Jahren verfällt er ohnehin. Dann mußt du soviel Geld haben, daß es dich schützen kann, wenn du alt bist. Irgendwann kaufst du dir einen Platz in einer bedeutenden Kirche, du bestellst einen Bildhauer, der dich als junge schöne Frau in Marmor meißelt, und einen Maler, der dich als junge, liebende Maria verewigt – oder auch als Maria Magdalena. Und noch in hundert Jahren werden die Pilger vor deinem Grabmal stehen und sich fragen, wer denn diese schöne Frau war. Und sie werden lesen: Rosella da Roma, quedam cortegiana, hoc est meretrix honesta, requiescat in pace.«
Rosellas Augen überflog ein dunkler Schatten, sie lachte auf und verzog höhnisch ihren Mund. »Noch kommt der Borgia. Sogar seine Söhne drängen sich hier herein, wenn sie in Rom sind. Wenn ich will, kann ich jeden kriegen.« Sie wandte sich wieder Silvia zu. »Jeden!«
Silvia antwortete nicht. Sie verstand Rosellas Stolz, sie verstand sogar ihre Geldgier. Aber gleichzeitig glaubte sie zu spüren, daß sich Rosella immer nah am Abgrund bewegte. Wie schnell konnten die einflußreichen Besucher sich von ihr abwenden … Reichtum war ebenso vergänglich wie Liebe und Freundschaften. Sie brauchte nur an ihren Vater zu denken!
»Vielleicht sind Kinder besser«, sagte sie.
»Besser?« Rosellas Stimme war wieder laut und barsch.
»Viele Kinder zu haben bringt mehr Glück als viel Geld. Geld kann schnell verlorengehen, aber Kinder werden dich dein Leben lang begleiten und lieben.«
»So? Dein Leben lang? Sie sterben weg wie die Fliegen. Oder die Männer nehmen sie dir weg und stoßen dich in die Gosse. Oder sie verraten dich, kennen dich nicht mehr, wenn du sie brauchst.«
Silvia begriff zu spät, daß Kinder zu erwähnen falsch gewesen war. Rosellas Stimme klang scharf und verbittert, ihre Augen schauten haßerfüllt in den Raum, und sie selbst überfielen die Bilder von Sandros Tod.
Unwillkürlich traten ihr Tränen in die Augen.
»Was flennst du wieder?« blaffte sie Rosella an.
Silvia schüttelte den Kopf, wischte sich die Tränen ab und stand auf, um zu gehen. Rosella begleitete sie zur Tür, nahm sie in den Arm und drückte ihren Kopf an ihre Schulter. »Vielleicht hast du sogar recht, mein Hühnchen. Im Gegensatz zu mir kannst du noch viele Kinder auf die Welt bringen. Sie werden nicht alle sterben und könnten dir das Glück bringen, nach dem du dich so sehnst.«
32. KAPITEL
Nachdem Kardinal Borgias Sohn von Florenz nach Pisa weitergereist und Angelos Ankunft jeden Tag zu erwarten war, stand auch Alessandros Abreise kurz bevor. In diesen melancholischen Tagen fühlte sich Alessandro unruhig und voll widersprüchlicher Gedanken. Bevor er einschlief, mußte er immer wieder an Cesare denken. Auf der einen Seite beeindruckte ihn die wilde, unbekümmerte Art des jungen Mannes, dieser starke, entschlossene Körper, die Sicherheit, mit er sich bewegte! Cesare war eins mit dem, was er tat, obwohl er d’Arignano hieß und ein Borgia war – und dann sein Anspruch: Aut Caesar aut nihil. Unglaublich, als Bastardsohn eines Kardinals so aufzutreten! Aber keiner hatte ihn ausgelacht. Dies war das eigentlich Unglaubliche daran. Er hatte als einziger gewagt, dem fanatischen Prediger von San Marco die Stirn zu bieten. Der Sohn eines Stiergeschlechts senkte den Kopf und ging den Gegner direkt an – dies konnte er nur bewundern.
Auf der anderen Seite stieß ihn die hochfahrende und hoffärtige Art des jungen Mannes ab, seine menschenverachtende Art, mit der er den Jagdgehilfen dem Tod preisgegeben hatte. Der arme Mann hatte ihm nichts getan, als Geschöpf Gottes verdiente er wie jeder andere Schutz und Beistand.
Irgendwann schlief Alessandro über seinen Gedanken ein und stürzte in einen Traum, der nicht mehr weichen wollte. »Du mußt kämpfen!« rief Cesare lachend und machte eine obszöne Geste. »Aber ich muß ihn doch retten«, antwortete Alessandro und zeigte auf den sterbenden Jagdgehilfen, der sich allerdings in den auf dem Boden liegenden Crispo verwandelt hatte. Alle standen um ihn herum, die ganze Jagdgesellschaft, sogar sein Bruder Angelo. Alessandro wollte Crispo auf die Beine ziehen, aber Crispo schien schon tot zu sein. Auf eine erschreckende Weise verwandelte sich das Geschehen nun. Alessandro zog einen kleinen Jungen aus dem Wasser, versuchte, den wild mit den Armen um sich Schlagenden in sein Boot zu ziehen. Das Boot drohte jedoch zu kentern, und der Junge, der nun ganz deutlich sein Bruder Angelo war, trieb ab, trieb den Arno hinunter und zerschellte an einem Brückenpfeiler, und am Ufer standen türkische Bogenschützen und sandten ihm ihre Pfeile nach. Wie ein Platzregen prasselten sie auf das Wasser und ließen den Arno anschwellen. Eine Frau drehte sich langsam im Fluß. War es Rosella? Oder gar Silvia? Die Pfeile der Türken hatten ihr Gesicht zerstört.
Als Alessandro langsam aus dem Traum erwachte, zerfielen die Bilder. Zurück blieben verwirrende Bruchstücke und ein würgendes Angstgefühl. Schnell zog er sich an und wanderte zum Ponte Vecchio. Eine Weile schaute er in die Fluten. Aber kein Körper trieb heran, unter ihm strömte nur das Wasser, das in der Bleifarbe des frühen Morgens dahinfloß, als wollte es ihm den Boden unter den Füßen wegziehen. Es galt, nun endgültig Abschied zu nehmen von diesem Fluß, es galt, eine Entscheidung zu fällen über Lorenzos Angebot, für die Medici in Rom tätig zu werden. Gleichzeitig mußte er sich darüber im klaren werden, ob er nun wieder in den Dienst der Kurie eintreten sollte oder nicht. Vielleicht ließ sich sogar beides verbinden. Aber was sich damit nicht verbinden ließ, war die Hoffnung, die sich an den Namen Silvia knüpfte. Sie hatten sich geliebt, sie hatten viele Briefe miteinander ausgetauscht, um die Ferne zu überbrücken, und doch hatte die Brücke der Worte ihre Liebe nicht getragen. Sie war durch den Fluß der Zeiten weggeschwemmt worden. Silvia, die für ihn die verführerische Reinheit verkörperte, verriet ihren Retter und ließ sich verheiraten – auch noch mit dem hohlen Schönling Giovanni Battista Crispo, der weihevoll das Wort Kunst im Munde führte, als sei ihm gegeben, ihre Botschaft in die Welt zu tragen. Aber wie die Botschaft lautete, war er unfähig zu sagen. Außerdem beherrschte er das Griechische noch immer nicht.
Unter Alessandro rauschte der Fluß so, wie die Jahre in Florenz an ihm vorbeigerauscht waren. Er hatte in dieser Stadt mit vielen jungen Frauen zusammengelegen, aber die meisten hatte er nach kurzer Zeit vergessen. Sie verschmolzen zu einem einzigen Bild, dem Bild der Livia, die neben ihm lag in der geheimnisvollen Stille des Schlafes. Er hatte sie nicht wieder wecken wollen.
Im Hintergrund stand aber in all den Jahren Silvias Bild, und mit jedem Brief, den er erhielt und schrieb, hatte sich seine Liebe erneuert. Allerdings hatte er nie daran gedacht, ihr zu sagen, er verzichte auf seine Laufbahn als Kirchendiener und wolle sie heiraten. Die Angst, seine Freiheit zu verlieren, war zu groß. Auch dann noch, als Silvia aufhörte, von Sandro, dem Kind mit seinen Augen und seinem halben Namen, zu erzählen.
Nun hatte Silvia die Konsequenzen gezogen. Was blieb Alessandro da anderes übrig, als zurück in den Schoß der Kirche zu flüchten? Zumal sein Bruder Angelo aus seinem Kampf gegen die Türken zurückkehrte und nun sicher nicht mehr sein Erstgeburtsrecht aufgeben wollte. Alessandro hatte gelegentlich daran gedacht, daß in der Vergangenheit so viele Farnese auf dem Schlachtfeld geblieben waren und womöglich auch seinen bibelkundigen, aber im Kämpfen wenig geübten Bruder das Schicksal seiner Vorfahren ereilen könnte. In diesem Fall wäre der Weg für ihn, den Zweitgeborenen, frei, sich seinen eigenen Lebensweg zu wählen. Denn der mütterliche Wunsch, sich in die Reihe der Zölibatäre einzugliedern, fiele weg, und als Erbe der FarneseBesitztümer brauchte er nicht an zusätzliche Einkünfte und Benefizien zu denken. Aber all diese heimlichen Überlegungen waren nun hinfällig, Angelo war der Condottiere, der er hatte werden sollen, und konnte als Oberhaupt der Familie Farnese ein Orsini-Mädchen oder irgendein anderes heiraten, ein Kind nach dem anderen zeugen und dies alles mit frommen Sprüchen begleiten. Die Mutter würde glücklich sein. Und der jüngere Bruder mußte dazu den Segen geben.
Opfer , Entsagung, Verzicht – diese grauen, schwächlichen Worte schwammen inmitten seiner Gedanken wie ein langsam wirkendes Gift. Aber er wollte sich von ihnen nicht lähmen oder gar umbringen lassen. Er wollte nicht verzichten – nicht auf die Frauen, nicht auf Reichtum und Ruhm, er wollte durch das Leben stürmen und lieber früh sterben, als fett und weinselig in den Kapellen, Sakristeien und Beichtstühlen seine Liturgien herunterzuleiern oder seine Stunden zu verdämmern.
Aber wie war dies möglich? Nun hatte er jahrelang Platon gelesen und mit den klügsten Humanisten Italiens kluge Dispute geführt, wußte aber noch immer nicht, wer er eigentlich war, was er eigentlich wollte. Das gnothi sauton, das Erkenne dich selbst des delphischen Apollon erreichte man nicht durch bloßes Nachdenken, sondern durch Handeln, nicht durch eine vita contemplativa, sondern durch eine vita activa. Aber zu Beginn dieser vita activa mußten Entscheidungen stehen.
Mit der aufgehenden Sonne hatte sich das Wasser unter ihm golden gefärbt. Er hob den Kopf und schloß geblendet die Augen. Die Entscheidungen waren längst gefallen. Andere Menschen hatten sie für ihn getroffen. Silvia wollte Crispo heiraten. Und damit war sie für ihn verloren. Seine Mutter wie auch Kardinal della Rovere hatten immer daran festgehalten, er müsse in den Kirchendienst zurückkehren, um einmal Kardinal zu werden. Er war der Zweitgeborene, er mußte hinter Angelo zurückstehen, dagegen konnte er sich nur vergeblich auflehnen. Er mußte derjenige werden, der er war.
Wenige Tage später erreichte Angelo Farnese, von Venedig kommend, Florenz. Alessandro erkannte seinen Bruder kaum wieder. Angelo trug ein Wams aus Samt, einen in der Taille zusammengebundenen, gefältelten Umhang und geschwungen gemusterte Beinkleider. Ein dunkelblaues Barett mit einer Goldborte zierte seinen Kopf. Die Haare drängten darunter hervor und fielen bis auf die Schultern. Alessandro hatte seinen Bruder eher schmächtig in Erinnerung, alle Farnese zeichneten sich durch einen drahtigen Körper aus, nicht durch bäuerische Bulligkeit. Aber dem bibelfesten Angelo waren erstaunlich breite Schultern gewachsen, er preßte Alessandro bei der Begrüßung an sich wie ein Ringer, und Alessandro spürte eisenharte Muskeln.
Braungebrannt und mit markanten Gesichtszügen stand er nun vor ihm und lachte ihn an. »Du machst eine Miene, als käme ich aus dem Jenseits. Der Kriegsdienst hat mich ein wenig verändert, das ist wahr.«
Alessandro kämpfte noch immer gegen seine Verwirrung. »Was ist geschehen?« fragte er stockend.
Um Angelos Mund spielte ein spöttischer Zug. »Ja, lieber Bruder, die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, heißt es bei Jesaja. So erging es auch mir. Zuerst haben mich alle Hauptleute ausgelacht, und die Söldner nahmen mich nicht ernst, bis ich begriff, daß mir Bibelsprüche im Feldlager nicht weiterhelfen. Ich mußte oft an unseren Vater und an unseren Großvater denken und fragte mich, wie sie sich wohl Anerkennung verschafft hatten. Dann bin ich täglich geritten und gelaufen, habe gefochten, gerungen und Lanzenstechen geübt – bis ich mich stark genug fühlte, auch dem Feind gegenüberzutreten. In einer großen Schlacht konnte ich mich nicht bewähren, aber ich geriet mit meinen hundert Mann in einen Hinterhalt. Es wurde ein blutiges Gemetzel, und ich stand keineswegs nur betend dabei. Lieber Bruder, schau mich an: Vor dir steht ein Sieger. Der Herr gab mir Kraft, mich zu wehren.«
»Und du hast einen Türken getötet?« fragte Alessandro ungläubig und noch immer verwirrt.
Angelo wurde ernst. »Nicht nur einen«, antwortete er leise und ohne jeglichen Stolz.
Alessandro wandte sich ab, weil er den Anblick seines verwandelten Bruders nicht mehr ertrug. Zum Glück begrüßte Angelo nun Lorenzo und die anderen Mitglieder der Accademia-Familie, so daß Alessandro unbemerkt in den Garten flüchten konnte. In der Rosenlaube fand er einen ungestörten Platz, in dem er sich von dem Anblick des vor Gesundheit und Kraft strotzenden Angelo erholte. Er begriff, daß jetzt die letzten Hoffnungen zerstoben. Werde, der du bist, wiederholte er mehrfach still vor sich hin, werde, der du geboren bist, nimm deine Bestimmung an, ergebe dich dem vorherbestimmten Schicksal. Alles ist entschieden. Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Amen, basta und so soll es sein!
Ein Schatten fiel auf ihn, und als er aufschaute, stand Ugo vor ihm. Alessandro war so mit sich beschäftigt gewesen, daß er ihn nicht gehört hatte, und forderte ihn auf, sich neben ihn zu setzen.
Eine Weile schwiegen sie beide. Dann sagte Ugo: »Du wirkst in dich gekehrt und melancholisch, Alessandro – der Abschied von Florenz? Von der Jugend?«
Alessandro hob kaum den Kopf. »Und du?« Ugo hielt die Hände vor sein Gesicht, als wolle er beten. »Ich muß mich verkaufen«, sagte er mit rauher Stimme.
»Wenn man kein Geld hat, muß man sich immer verkaufen. Oder anbiedern. Warum bleibst du nicht in Florenz? Lorenzo hätte sicher eine Aufgabe für dich. Oder warum gehst du nicht an die Universität von Bologna zurück? Lathe biosas! Das ist doch dein Wahlspruch.«
Ugo wirkte gequält. »Du weißt genau, warum ich nach Rom gehe«, flüsterte er.
»Noch immer Giulia?«
Er nickte.
»Aber …« Alessandro wollte nicht aussprechen, daß eine Farnese nie einen mittellosen provençalischen Doktor der Philosophie heiraten würde. Darüber mußte sich Ugo im klaren sein. Er rannte einem Trugbild nach. Genauso, wie er selbst einem Trugbild nachgerannt war.
»Natürlich weiß ich, daß ich sie nie heiraten werde«, sagte Ugo mit fester Stimme.
»Aber warum ziehst du dann in ihre Nähe und quälst dich?«
»Warum ziehst du in die Nähe von Silvia Ruffini?
Wirst du dich nicht quälen?«
Darauf wußte Alessandro nichts zu antworten.
Am übernächsten Tag war der Zeitpunkt des Abschieds gekommen. Alessandro versprach Lorenzo und seinen Söhnen, ihren geplanten Besuch in Rom vorzubereiten und dem Namen Medici einen besonders guten Klang zu geben. Den Mitgliedern der Accademia Platonica versprach er, Florenz bald wieder zu besuchen.
Ficino riet ihm, dem Licht gelehrter Wahrheit zu folgen und sich nicht in dem düsteren Labyrinth vatikanischer Kirchen und Verliese zu verlieren. Und er zwinkerte ihm zu. Pico verdrückte einige Tränen und flüsterte, er verdanke ihm sein Leben, und er werde bis an seine letzten Tage für ihn beten. »Wir müssen alle Buße tun, auf Eitelkeiten verzichten, auf Reichtum und die Versuchungen des Fleisches! Begib dich zurück in den Schoß der Mutter Kirche, lieber Freund, und werde einmal Stellvertreter Christi! Vertreibe all die geldgierigen und brünstigen Pharisäer aus dem Tempel des Herrn!«
Die Verabschiedung dauerte lange, weil ihm noch viele gute Ratschläge gegeben wurden. Dann zog Alessandro mit Angelo, Giovanni, Ugo und Accurse zum Dom, betete noch einmal und verließ die Stadt.
Kaum lagen die Befestigungen hinter ihnen, wurde die Gruppe aufgehalten, weil ein junger Mann, ein Maultier im Schlepptau, hinter ihnen hergehetzt kam und laut schrie, sie sollten warten. Es war Michelangelo Buonarroti.
»Ein Wunder«, begrüßte ihn Giovanni Crispo lachend, »ich hatte nicht mehr daran gedacht, daß du fertig wirst.«
»Ich kann das Relief auch wieder mitnehmen«, schnaubte der junge Bildhauer ärgerlich, während Alessandro und die anderen ihn neugierig umringten. »Ich habe nämlich bei ihm eine Marmorarbeit bestellt – ein Geschenk für meine zukünftige Braut«, erklärte Crispo, nicht ohne anzügliches Lächeln, »aber der junge Mann wurde und wurde nicht fertig.«
»Zehn Dukaten«, rief Michelangelo Crispo mit gerunzelter Stirn zu und forderte einige der den Trupp begleitenden Knechte auf, ihm beim Umpacken der schweren Marmorarbeit zu helfen. Crispos Maultier ging unter der Last fast in die Knie.
»Ein stolzer Preis«, sagte Crispo. »Michelangelo, du bist noch sehr jung.«
Der Bildhauer schaute ihn finster an: »Aber ich weiß, was ich wert bin.«
»Dann wollen wir erst einmal sehen, ob auch dein Werk zehn Dukaten wert ist.« Crispo war abgesprungen und versuchte, den in Decken eingeschlagenen Marmorblock freizulegen. Alessandro und die anderen Reisenden gesellten sich zu ihm. Nur Angelo blieb auf seinem Pferd sitzen.
Gemeinsam legte man den Marmorblock auf die Wegböschung und befreite ihn von den Decken. Michelangelo wandte sich ab. Es wurde still, als das Relief schließlich freigelegt war. Eine Madonna am Fußende einer Treppe, mit ihrem Kind auf dem Schoß. Ältere Kinder spielten hinter ihr. Der Säugling hatte an der Brust getrunken, aber nun schien er eingeschlafen zu sein. Der Blick der Frau war nicht liebevoll dem Kind zugewandt, auch nicht dem Betrachter. Sie schaute ernst, ein wenig traurig in die Ferne, schien zu träumen. Ob die Kinder auf der Treppe ihre eigenen waren? Konnte sie die Last, sie aufzuziehen, nicht mehr tragen? War der Vater der Kinder vielleicht gestorben, so daß sie betteln mußte?
»Schön, wenn auch ungewöhnlich«, sagte Crispo nach einer Weile. Er betrachtete das Relief intensiv und strich mit seinen Fingern über den Stein. »Eine Frau mit mehreren Kindern, das ist auf jeden Fall ein passendes Brautgeschenk – was meinst du, Farnese? Die Frau könnte allerdings mehr Freude ausstrahlen …« Er gab den Helfern einen Wink, das Relief wieder einzupacken und dem Maulesel auf den Rücken zu laden. Er kramte aus seiner Reisebörse mehrere Dukaten. »Ich gebe dir acht«, sagte er zu Michelangelo, »das ist mehr als genug.«
Mit abweisendem Gesicht nahm der junge Bildhauer das Geld entgegen. Die Reisenden stiegen in den Sattel. Sie winkten ihm Lebewohl und ließen die Pferde antraben. Nur Alessandro blieb noch neben Michelangelo stehen. Das Bild der Madonna hatte sich, obwohl er es nur kurz betrachten konnte, tief in ihn eingegraben. Es kam ihm bekannt vor wie ein Traum, der sich mehrfach wiederholt hatte und nun, in Stein gemeißelt, zusammengefaßt worden war. Aber es konnte auch sein, daß das Relief ihn nur an die bettelnden Zigeunerinnen erinnerte, die an den Straßenrändern saßen und manchmal, so fand er, eine tiefe Verzweiflung ausstrahlten. Alessandro hatte ihnen oft ein paar Soldi zugeworfen.
»Sie schaut tatsächlich voller Trauer«, sagte er zu Michelangelo. »Aber ich glaube, gerade das gefällt mir an dem Relief.«
Der junge Bildhauer zuckte mit den Achseln.
»Die Frau wurde mit einem Mann verheiratet, den sie nicht liebt« fuhr Alessandro fort, »sie hat ihm die Kinder geschenkt, die er von ihr erwartete, aber sie muß an den Mann denken, dem ihre eigentliche Liebe gilt.«
Michelangelo sah ihn ernst und prüfend an.
Alessandro nickte seufzend. »Ich hätte dir das Relief abkaufen sollen …«
»He, Farnese, wir warten auf dich«, hörte er rufen.
Michelangelo antwortete nicht, zuckte nur erneut mit den Achseln.
»Du hast mehr Dukaten verdient«, sagte Alessandro, als er Michelangelo zum Abschied umarmte. »Aber du weißt selber, daß Geld nicht das Entscheidende ist. Ich glaube, du bist ein großer Künstler. Dein Werk zeigt die Wahrheit. Und es trifft ins Herz.«
Über Michelangelos Gesicht huschte ein Lächeln.
»Wann kommst du nach Rom?«
»Hier habe ich meine Familie – und meinen Gönner. Und meine Lehrer. Verschaffe mir einen großen Auftrag, und ich komme nach Rom.«
Alessandro war auf sein Pferd gestiegen. »Vielleicht finde ich jemanden. Auf jeden Fall bist du mir jederzeit willkommen.«
Michelangelo reichte ihm die Hand und schaute ihn noch einmal aus seinen tiefgründigen Augen an. »Wir werden uns wiedersehen, Alessandro. Und vergiß nicht: Wir beide schaffen es!«
33. KAPITEL
»In den Sternen ist unser Schicksal verzeichnet, man muß es nur erkennen«, sagte der Vater leise zu Silvia und fügte dann verzweifelt an: »Ich sehe zwar die Zeichen, kann sie aber nicht richtig deuten. Es ist furchtbar.« Seine Stimme war lauter geworden, fiel dann in sich zusammen. »Wenn ich sie damals richtig gedeutet hätte – ich hätte euch nicht ziehen lassen. Ich war ohnehin dagegen, für ein so junges Mädchen wie dich schon einen Ehevertrag anzubahnen – aber deine Mutter wollte es so. ›Rufino, wir werden mit der besten und mächtigsten Adelsfamilie Roms verwandt sein‹, höre ich sie rufen. ›Da kann man nicht warten!‹ Ihr Wunsch, dich zu verheiraten, war unser Verderben.«
Aus seinen Augen flossen Tränen. Silvia schaute ihn mitleidig an, fühlte sich aber gedrängt zu widersprechen. »Wenn alles von Gott vorherbestimmt ist, dann konnten wir dem Überfall nicht entweichen«, antwortete sie. »Dann kann der Mensch sich nicht für richtig und falsch, für gut oder böse entscheiden, dann gibt es keine Willensfreiheit – nichts ist vorherbestimmt.«
»Man muß die Sterne nur richtig lesen«, entgegnete der Vater.
»Und steht auch in den Sternen, daß ich jetzt nicht mehr einen Orsini, sondern Giovanni Crispo heiraten soll?«
Ihre Stimme war schnippisch, und der Vater schaute erstaunt auf. »Du bist im heiratsfähigen Alter – und alles paßt.« Er wischte sich mit einem Tuch die Augen trocken und legte seinen Arm um Silvia. »Das weißt du doch. Die Crispo sind eine aufsteigende Familie. Giovanni ist ein schöner Mann, Roms unverheiratete Töchter reißen sich um ihn.« Der Vater drückte Silvia an sich. »Merkur und Venus nähern sich einer Konjunktion, das zeigt mir …«
»Aber der Vater Crispo hat sich lange Zeit nicht gerührt«, unterbrach ihn Silvia, »sie sind gar nicht mehr an mir interessiert.«
Ihr Vater schaute sie erschrocken an. »Wer sagt das?«
»Das sagt niemand. Aber ist denn Giovanni überhaupt schon aus Florenz zurückgekehrt?«
»Sie müssen dieser Tage in Rom eintreffen.«
»Sie?« rief Silvia erregt. »Ist Alessandro auch dabei?« Sie merkte selbst, wie ihre Stimme zu jubeln begann. Sie wollte ihrem Vater einen Kuß geben, aber er wehrte sie ab. »Schlag dir deinen Alessandro aus dem Kopf. Du mußt Giovanni Crispo heiraten. Der Farnese wird ohnehin wieder in den Kirchendienst eintreten. Abgesehen davon, würden sie eine zu hohe Mitgiftsumme fordern. Nein, es läßt sich nur mit dem Crispo machen.«
Der Vater starrte erneut auf seine Zeichen und Zahlen und begann zu rechnen.
»Und was ist mit Clarissa?« fragte Silvia patzig. »Sollte sie dir nicht ein schönes Sümmchen bringen?« Der Vater schaute mit Leidensmiene auf, und diese Miene reizte Silvia noch mehr als seine Heulerei. Sie wünschte sich einen starken Vater, keinen Schwächling, der sich nur stark und stur zeigte, wenn es darum ging, seine Tochter zu verkaufen.
»Wolltest du nicht Schwiegersohn eines einflußreichen Kardinals werden, womöglich eines künftigen Papstes?« fuhr sie fort.
Der Vater schaute noch leidender.
»Mein Vater, der Schwiegersohn eines Papstes – dann hast du doch ausgesorgt!« Sie war laut und bestimmend geworden. »Dann brauche ich wirklich keinen Crispo mehr zu heiraten.«
»Della Rovere will kaum noch etwas zahlen, und die junge Signorina ziert sich – wegen eines Ungläubigen! Was sind das für Zeiten!« Die Stimme des Vaters war nun vollends brüchig. »Ich will nur noch nach Frascati zurück und dort in Ruhe leben. Es gibt kein Glück mehr für mich, ich spüre es.« Er sprach so leise, daß Silvia ihn kaum verstand.
Und plötzlich kam ihr eine neue Idee.
»Heirate doch Ippolita! Dann schuldet Vater Crispo dir eine Mitgift. Die Schulden bei ihm wären sofort bezahlt.« Je mehr Silvia über diesen Einfall nachdachte, desto überzeugender schien er ihr. Die Mutter Oberin, die ihr so geholfen hatte während der ersten Monate im Kloster, ihre Freundin, lebte dann ganz in ihrer Nähe. Sie würde aus den Fängen des Kardinals Borgia befreit …
»Sie war vom Teufel besessen.« Die Stimme des Vaters klang nun wieder sachlich, und dies zeigte Silvia, daß er ihren Vorschlag sich zumindest durch den Kopf gehen ließ.
»Sie ist ein so lieber Mensch – und auch nicht so dick wie Clarissa. O Gott, sie würde uns lieben …« Silvia schlang ihre Arme um den Hals ihres Vaters und drückte ihm einen Kuß auf die Wange. Vielleicht hatte sie tatsächlich eine Lösung gefunden.
»Der alte Crispo spricht nie von ihr«, sagte der Vater. »Und die Gerüchte, die über sie in Umlauf sind … Ich weiß nicht … Vielleicht holen wir uns den Teufel auch in unser Haus. Ich bin froh, daß wir ihn endlich mit Rosella los sind.«
Sein zögerliches Sprechen zeigte, daß er noch immer über ihren Vorschlag nachdachte. Er befreite sich aus Silvias Umarmung, warf einen prüfenden Blick auf sie und stellte sich ans Fenster. »Vielleicht lebt sie gar nicht mehr«, sagte er, aber bevor Silvia noch protestieren konnte, korrigierte er sich selbst: »Ich habe allerdings auch nichts von ihrem Tod gehört. Und wenn Kardinal Borgia sie vom Teufel befreit hat, müßte sie … Also, du heiratest Giovanni, ich heirate Ippolita …« Ein rachsüchtiger Ausdruck zog über sein Gesicht. »Dann muß der Crispo mir das zurückgeben, was er mir gestohlen hat. Wir sind wieder zu dritt, Chigi, er und ich, das Spiel beginnt von neuem.«
Der Vater gab Silvia, plötzlich in guter Stimmung, einen liebevollen Klaps auf die Wange und ließ sich seinen Mantel bringen, um in die Vesper zu eilen. »Willst du mich nicht begleiten? Du müßtest auch mal wieder zur Beichte.« Er wartete aber keine Antwort ab, sondern eilte aus dem Zimmer. »Ich werde Zwiesprache mit Gott halten«, rief er noch aus dem Gang, »und mit deiner Mutter.« Silvia hörte ihn pfeifend die Treppe hinuntereilen, rannte zum Treppenabsatz und schaute ihm nach. Er schüttelte die Faust. »Warum bin ich nicht längst darauf gekommen!« stieß er hervor.
»Warte!« rief sie ihm nach, aber er hörte sie nicht. »Ich will Giovanni aber nicht heiraten«, flüsterte sie kraftlos, wie zu sich selbst.
Der Vater war schon verschwunden.
Langsam ging Silvia zurück in sein Studiolo. Ihr Blick fiel auf die Bücher mit all den astronomischen Symbolen und Listen, mit dem Himmelskreis, in den die Stellung der Sternzeichen und Planeten eingezeichnet war. Entschieden schlug sie die Bücher zu. Während der Vater die Vesper besuchte, mußte sie herausfinden, wo Ippolita sich aufhielt. Womöglich lebte ihre Freundin tatsächlich wieder in ihrem alten Kloster. Dort mußte sie als erstes nachfragen. Silvia verließ umgehend das Haus. Sie überquerte den Tiber auf der Ponte Sisto, eilte durch die verwinkelten Gassen von Trastevere, fand bald Santa Cecilia. Sie fragte an der Klosterpforte nach Ippolita, der Mutter Oberin. Aber es gab nur eine Schwester Ippolita, und als sie schließlich gerufen wurde, sah Silvia in ein altes, ausgemergeltes, mißtrauisches Gesicht. Fluchtartig verließ sie den Besucherraum, eilte in die Kirche. Als sie dort auf die Knie sank, um das Ave Maria zu beten und nachzudenken, sah sie plötzlich hinter dem Altar eine tiefverschleierte Nonne tanzen. Die Nonne schlug die Zimbel, hüpfte und sang und schien Silvia unablässig zu winken. Vielleicht war Ippolita Crispo doch zurückgekehrt! Silvia starrte zum Chorraum, in dem die schwarze Gestalt noch immer ihre Verrenkungen ausführte. Plötzlich beugte sich die Nonne nach vorne, riß ihren Rock hoch und entblößte ihr Hinterteil. Silvia meinte gleichzeitig ein höhnisches Kichern zu hören. Entsetzt schaute sie sich um. Außer ihr und der schamlosen Nonne befand sich niemand in der Kirche.
Sie fühlte sich trotzdem von allen Seiten beobachtet und bekreuzigte sich. Ihr Mund war trocken, und der Hals fühlte sich zugeschnürt an. Mit fast tonloser Stimme rief sie »Ippolita!«. Wieder riß die Nonne den Rock hoch, drehte sich tanzend um die eigene Achse, warf ihren Oberkörper auf den Altar und schrie schließlich: »Warum kommst du nicht?«
Wie tot lag sie nun da.
Silvia wagte kaum zu atmen, schaute sich immer wieder vorsichtig um. Aber der Innenraum der Kirche schien ebenfalls den Atem anzuhalten. Auf Zehenspitzen schlich sie zum Chorraum. Die Nonne hatte den Kopf unter den Armen versteckt und zitterte.
»Ippolita?« flüsterte Silvia.
Das Zittern verstärkte sich. Der rechte Arm bewegte sich ein wenig, und ein einzelnes Auge starrte sie an. Es wurde so aufgerissen, daß die Pupille kreisrund hervortrat. Blutig gezackte Adern durchzogen das Weiße des Augapfels. Mit einem Schrei richtete sich die Nonne auf, riß ihre Arme hoch, und bevor sich Silvia versah, warf sie sich auf sie. Aber jetzt schrie sie nicht mehr unartikuliert, sondern schrie ihren Namen. Und Silvia erkannte in dem mageren, gezeichneten Gesicht mit seinen tiefliegenden, dunkel umrandeten Augen tatsächlich Ippolita.
Ippolita hatte sich mit solcher Wucht auf sie geworfen, daß beide neben dem Altar zu Boden stürzten. Sie bedeckte Silvias Gesicht mit Küssen, lachte und weinte und preßte sie an sich. »O Silvia, du rettest mich, du mußt mich retten«, flüsterte sie atemlos. »Sie haben mich hier eingesperrt und verleugnen mich, meine Eltern wollen nichts mehr von mir wissen, Kardinal Borgia will den Teufel aus mir heraustreiben. O Silvia!«
Wie ein großes Kind klammerte sie sich an Silvia, wälzte sich mit ihr über den Boden neben dem Altar. »Woher kommst du? Woher weißt du, daß ich hier bin? Sie sperren mich in den Carcer. Wenn sie mir Wasser und Brot bringen, starre ich sie an, mit dem bösen Blick, sie weichen zurück, und ich kann ihnen entweichen. Manchmal kreische ich auch, bis sie zu Boden stürzen. Ich kreische den Teufel herbei, und dann kommen die Abgesandten des Kardinals mit ihren Peitschen und Ruten, mit Weihrauch und Wasser. Ich werde gesalbt und geschlagen, und wenn er dann selber kommt, mit seinem bösen Stecken, wenn er mir die Beichte abnimmt, wenn er mir die Strafen auferlegt und ich niederknien muß …«
»Sei still«, flüsterte Silvia und strich ihr übers Gesicht. Aber Ippolita sprang auf, riß ihren Rock wieder hoch und drückte Silvias Finger auf blaue und dunkelviolette Striemen.
»Die Peitsche saust nieder, immer wieder«, preßte sie atemlos hervor, »und dann dringt er ein, wie der Erzengel Michael, mit seinem Schwert, um den Teufel aus mir herauszujagen.«
Wie von einem Schlag getroffen, stürzte sie zu Boden und bewegte sich nicht mehr. Als Silvia sich niederbeugte, hörte sie sie beten: »Magnificat anima mea Dominum. Hochpreist den Herrn meine Seele.«
»Ippolita«, flüsterte Silvia, »verstehst du mich, wir wollen dich hier herausholen.«
»Exsultavit Spiritus meus in Deo, salutari meo. Mein Geist frohlockt in Gott, meinem Heile.« Ippolita hielt ihr Gesicht hinter den schwarzen Ärmeln ihrer Bekleidung verborgen.
»Mein Vater soll mit deinem Vater reden. Vielleicht kannst du ihn heiraten.«
»Quia respexit humilitatem ancillae suae: ecce enim ex hoc beatam me dicent omnes generationes. Quia fecit mihi magna qui potens est. Denn gnädig blickt Er auf Seine niedre Magd; siehe, selig preisen mich von nun an die Geschlechter. Denn Großes hat an mir der Mächtige getan.« Ippolita sprach immer schneller und lauter, sie wiederholte die Sätze, sprang auf und begann wieder zu tanzen.
»Er will mich heiraten, er will mich heiraten«, sang sie, drehte sich um die eigene Achse und warf die Arme anbetend vor dem Kruzifix hoch.
Silvia stand neben dem Altar und spürte, daß sie am ganzen Leib zitterte und nicht mehr sprechen konnte. Ihre Knie wurden weich, und sie mußte sich setzen. Ippolita, die in der Pose der Anbetung erstarrt war, sank in sich zusammen und setzte sich neben sie. Langsam schob sie ihre Haube vom Kopf und entblößte ihre Haare, lockerte sie und ließ sie über ihre Schultern fallen. Der irre Blick war aus ihrem Gesicht gewichen, sie schaute Silvia forschend an.
»Er will mich wirklich heiraten?« Sie wirkte nun völlig normal und vernünftig.
Silvia nickte. »Es war meine Idee. Ich soll deinen Bruder heiraten, aber …«
Ippolita ließ sie nicht ausreden, fiel ihr um den Hals. »O ja, du mußt ihn heiraten. Wir werden alle glücklich.«
»Aber eigentlich liebe ich noch immer Alessandro Farnese. Obwohl er mich vergessen hat.«
Ippolita küßte ihre Hand und wiederholte unaufhörlich: »Wir werden glücklich, wir werden glücklich.«