TEIL I
DAS ENDE DER UNSCHULD
1. KAPITEL
Silvias Mutter hatte ihr erstes Ziel erreicht. Das Oberhaupt der Orsini-Familien lud Rufino Ruffini, seine Gemahlin sowie seine Tochter auf die Burg am Lago Bracciano ein, um die Möglichkeit einer Ehe zwischen einem der zahlreichen Orsini-Söhne und Silvia auszuloten. Es war das Jahr des Herrn 1486, Papst Innozenz VIII. Cibò war Oberhirte der Christenheit.
Silvia schlief die letzte Nacht vor dem Aufbruch schlecht, weil sie wußte, daß große Veränderungen sie erwarteten. Noch trennten sie drei Jahre vom heiratsfähigen Alter, aber wäre erst einmal der Ehevertrag geschlossen, dann zählte nur noch ihre Zukunft als Mutter, vorbei wären die unbeschwerten Tage der Kindheit, die langen Sommer in Frascati, der Wind in ihren Haaren, während sie den großen Olivenhain entlangritt, über die blumengesprenkelte Wiese … Übergangslos wechselte sie vom Grübeln in einen Traum. Noch immer sah sie das Bild der Wiese vor sich und an seinem Rand einen sich schlängelnden Fluß, in dem sie schwimmen wollte. Ihre Brüder winkten ihr lachend zu. Aber dann verschwand einer nach dem anderen, und schließlich hörte sie von dem ältesten nur die dunkle Stimme; er wandelte, versteckt unter einer Kutte mit weit übers Gesicht gezogener Kapuze, über die Engelsbrücke zur Burg der Päpste und weiter in Richtung San Pietro. Sie rannte ihm nach, bis er sich in einem grellen Lichtschein verlor und sie schweißgebadet aufwachte.
Schnell zündete sie eine Kerze an und versuchte zu beten. Aber es wollte ihr nicht gelingen, weil das Bild ihres ältesten Bruders nun nicht mehr gnädig eingehüllt vor ihr stand. Der abkühlende Schweiß auf ihrer Haut ließ sie zittern, und ihr Herz schlug schnell und heftig. Bei der Engelsbrücke hatten sie ihn aus dem Tiber gezogen und auf einem Handkarren zum Ehernhaus im Rione della Pigna gebracht. Zufällig befand sich ein Stoffband mit seinem Namen an den Resten der Kleidung; sonst hätte man ihn gleich ins Massengrab geworfen, in dem die Heilige Stadt ihre zahlreichen unbekannten oder unkenntlichen Toten begrub.
Silvia stand fassungslos vor dem Bruder, neben ihr der Vater, der ihren Kopf an sich drückte, um sie von dem Anblick der entstellten Leiche zu befreien. Die Mutter wandte sich ab und verließ den Raum. Silvia hörte einen langen, verzweifelten Schrei, der in einem tierischen Wimmern verebbte. Dann sprach die Mutter tagelang nicht mehr. Sie schloß sich in ihr Zimmer ein und war nicht zu bewegen, an dem Begräbnis des Sohnes teilzunehmen. Als Silvia ihr wieder begegnete, hatten sich ihre Gesichtszüge verhärtet, die Augen waren überschattet, die Stimme kalt und scharf.
Obwohl noch gedämpfte Trauerstimmung im Hause herrschte, erklärte die Mutter einige Wochen später, ohne daß das Thema vorher angeschnitten worden war: »Silvia ist zwar erst zwölf Jahre alt, aber wir sollten schon jetzt einen Ehevertrag mit den Orsini abschließen.«
Silvia erstarrte. Der Vater zögerte mit einer Antwort, warf einen traurigen Blick auf seine Tochter, strich ihr dann über den Kopf. Hilfesuchend drückte sie sich an ihn. Aber die Mutter ließ sich nicht abhalten, Silvia ans Fenster zu ziehen, ungeduldig den Sitz von Hemd, Ärmeln und Gürtel zu richten und ihr einige der unbotmäßigen Haare aus der Stirn zu streichen. Dann eilte sie zu ihrer Aussteuertruhe, hob den Deckel, starrte hinein und ließ ihn wieder geräuschvoll fallen. Sie richtete sich auf und rauschte, offensichtlich ziellos, durch den Raum. Das Seidenkleid schleifte über den Boden, die streng geflochtenen Zöpfe schienen sich am Hinterkopf auflösen zu wollen, so daß sie die Haare mit einer nervösen Bewegung zurechtrückte.
Schließlich baute sich die Mutter vor dem Vater auf. »Wenn die Mitgift hoch genug ist, werden die Orsini nicht nein sagen.« Sie schaute ihn auffordernd an. »Dein Vermögen hat sich in den letzten Jahren durch Gottes Hilfe vermehrt, es wird Zeit, daß wir beginnen, seine Früchte zu ernten.«
Der Vater bewegte zweifelnd den Kopf hin und her: »Ich werde den Astrologen fragen, ob der Zeitpunkt günstig ist. Aber ich glaube nicht, daß gerade die Orsini … Sie werden mich auslachen.« Er wandte sich zum Gehen.
»Wenn ihnen deine Golddukaten in ihre gierigen Augen stechen, werden sie ihren Dünkel vergessen.« Die Mutter ließ einen prüfenden Blick über Silvias Gesicht gleiten. »Häßlich ist unsere Tochter auch nicht, außerdem hat sie ein angenehmes Wesen.«
Silvia fühlte sich erröten und schaute auf den Boden.
»Die Mitgift muß überzeugend hoch sein.« Die Stimme der Mutter wurde lauter, fast schrill, während sie erneut an Silvias Kleid herumnestelte. »Die Orsini brauchen unablässig Geld bei ihren Fehden gegen den Papst und die Colonna oder wen auch immer.« Als der Vater das Zimmer schon verlassen hatte, rief sie ihm noch nach: »Dein Astrologe hat zwar düstere Wegstrecken angedeutet, aber Licht am Ende des Weges gesehen. Hoffentlich behält er recht.« Ihre Stimme wurde plötzlich leise. »Der düstre Tod liegt hinter uns, jetzt muß das Licht des Lebens folgen.«
Silvia traten Tränen in die Augen. Sie mußte an ihre Brüder denken und spürte gleichzeitig eine beklemmende Angst vor dem, was sie wie hinter einer Nebelwand erwartete.
Die Mutter wischte ihr mit einer fahrigen Bewegung die Tränen von den Wangen. Plötzlich verzerrte sich ihr Mund, und sie schluchzte für einen kurzen Augenblick auf. Aber die Augen blieben trocken und kalt. Dann drehte sie Silvia wie eine Puppe hin und her.
»Du wirst bald Formen bekommen. Der Allmächtige segne dein Becken!« Während ihr kritischer Blick sich milderte, schluchzte sie erneut auf. »Drei Söhne habe ich diesem Mann geschenkt, und keiner ist mir geblieben. Wo bleibt da Gottes Gerechtigkeit? Wo kann da Licht am Ende des Weges sein?« Nun füllten sich ihre Augen doch mit Tränen. Silvia riß sich von ihr los und rannte zu ihrem Vater in sein Studiolo. Am liebsten hätte sie geschrien, damit sie dieses beklemmende Würgegefühl verließ, aber sie vergrub nur ihr Gesicht an seiner Brust. Er strich ihr über den Kopf.
»Soll ich dir aus den Metamorphosen des Apuleius vorlesen?« fragte er nach einer Weile beruhigend. Sie nickte heftig. Und als er mit seiner vibrierenden, dunkel und hell werdenden Stimme las, vergaß Silvia die toten Brüder. Statt dessen folgte sie neugierig den abenteuerlichen Wegen des verwandelten Esels, erlebte seine Liebesabenteuer in fernen wunderbaren Welten, rang leidenschaftlich mit Chloë um den verlorenen Amor, weinte und lachte und träumte sehnsüchtig von dem, was jenseits der Wände ihres Hauses lag.
Als der Vater erschöpft und mit müder Stimme das Buch zur Seite legte, wünschte sich Silvia, mit ihm noch auszureiten, auf Bianca, ihrer Schimmelstute, die ihr der Vater zu ihrem zwölften Geburtstag geschenkt hatte – zu den Weinbergen, die sich nach Osten hin an den Palatin anschlossen, oder sogar auf der Via Appia über die Aurelianische Mauer hinaus. Sie wünschte sich, mit ihm nach Frascati zu reisen, zu den silberglänzenden Olivenhainen, den Weinbergen und weise nickenden Pinien, die aussahen wie graue Kardinäle mit ihren runden Schirmhüten.
»Aber mein Kind …«, antwortete der Vater. »Bis ich die Schutztruppe beisammen habe, wird die Sonne zu tief stehen, und außerdem möchte es deine Mutter nicht.«
Sie waren während der letzten Woche überhaupt nicht mehr zusammen ausgeritten, denn die Einladung der Orsini war eingetroffen, und die Mutter ergriff eine fiebrige Rastlosigkeit, die sich auf die ganze famiglia übertrug.
Und nun brach der Tag an, der sie zu ihrer zukünftigen Familie bringen sollte.
»Sancta Maria, Mater Dei, ora pro nobis peccatoribus, nunc et in hora mortis nostrae. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen«, flüsterte Silvia. Wieder ruhiger geworden, glaubte sie noch einmal einschlafen zu können und blies die Kerze aus. Aber sie blieb wach, traumlos, voll wirrer Gedanken, bis sie erste Geräusche im Hause hörte. Noch bevor Rosella, ihre Kammerfrau, sie wecken konnte, stand sie auf, öffnete die Fensterläden und schaute hinaus in den dämmergrauen Himmel der Ewigen Stadt. Dann kniete sie sich vor ihr Kruzifix und das Madonnenrelief, die beide über dem kleinen Pult neben dem Bett hingen, und betete noch einmal das Ave Maria.
Kurz nach Öffnung der Stadttore ritten Silvia und ihre Mutter durch die Porta del Popolo, um über die Via Cassia zum Lago Bracciano zu gelangen. Rosella begleitete sie und außerdem eine kleine bewaffnete Eskorte. Der Vater wollte noch ein letztes Mal den Astrologen konsultieren und später nachkommen.
Bald hatten sie Rom hinter sich gelassen und ritten durch den taufrischen Morgen. Bauern mit vollbeladenen Eseln begegneten ihnen, andere trieben Schweine vor sich her. Junge Frauen trugen frisches Gemüse in einem Korb auf dem Kopf. Auch Pilger waren schon unterwegs, zerlumpte Bettler und Gestalten mit gierigen Blicken. Leichter Dunst lag über den Niederungen, aber die Hügel glänzten in einem satten Grün, das durchsprenkelt war von rotem Mohn.
Noch bevor die Sonne im Zenit stand, lagen einige Meilen hinter ihnen. Es war heiß geworden, und nun begegnete ihnen kein Mensch mehr. Silvias Mutter tupfte sich die Schweißperlen von der Stirn, und Rosella schlug vor, im Schatten eines nahegelegenen Wäldchens zu rasten und zu frühstücken. Die Mutter nickte. Die Männer der Eskorte ritten voran, suchten nach einem geeigneten Platz. Zwei ließen sich auf den Boden fallen und schlossen die Augen, die anderen erklärten, sie wollten nach Wasser suchen, hier gebe es zweifellos Quellen. Sie verschwanden hinter den Bäumen. Silvia hörte ihre Stimmen noch eine Weile. Dann schienen sie vom Wald verschluckt. Vögelgezwitscher erklang statt dessen, unterbrochen vom Kläffen des Zwergspaniels, den die Mutter unbedingt hatte mitnehmen wollen. Rosella plapperte, ganz gegen ihre Gewohnheit, aufgeregt vor sich hin, während sie die Tragetaschen des Maultiers leerte und den Proviant aus den Körben holte.
Silvia hatte sich auf den Boden fallen lassen. »Papa wird uns hier nicht finden«, sagte sie zu ihrer Mutter, die, auf dem Rücken liegend, verärgert die Fliegen verscheuchte.
»Doch, doch«, rief Rosella.
»Wie ich ihn kenne, wird dein Vater gar nicht vor heute mittag aufbrechen«, antwortete die Mutter und schloß seufzend die Augen.
Das Hündchen bellte noch immer aufgeregt. Rosella fauchte es an und trat nach ihm, um das Gekläffe zu beenden, aber erst als Silvia es auf den Arm nahm, beruhigte es sich.
Rosella schaute sich um und verschwand dann hinter einem Busch, um, wie sie rief, ihre Notdurft zu verrichten. Aber kaum war sie verschwunden, stieß sie einen lauten Schrei aus. Die beiden gerade noch vor sich hin dösenden Soldaten sprangen auf, griffen nach ihren Waffen. Silvia schaute sich verwirrt um und flüchtete sich zu ihrer Mutter – da stürzten schon drei Männer hinter dem Gebüsch hervor. Verfilzte Haare, Stoppelbart, vor Schmutz starrende Kleidung – doch aus edelsten Stoffen! Für einen Augenblick schien Silvia alles unwirklich, überlaut hörte sie ihren kleinen Spaniel bellen, und schon befand sie sich mittendrin im blutigen Handgemenge. Die beiden Schutzsoldaten versuchten noch zu kämpfen, aber dem einen schlugen die Wegelagerer die Hand ab, bevor er sein Schwert heben konnte, dann rammten sie ihm einen Spieß in die Brust, dem anderen spalteten sie den Kopf. Auch das Hündchen mußte sterben, mit einem Streich schlugen sie es in zwei Teile.
Silvia klammerte sich noch immer an ihre Mutter, die um Erbarmen bettelte und Lösegeld anbot. Einer der Männer riß die beiden auseinander und hielt der Mutter den Mund zu, der andere warf Silvia auf den Boden, und ehe sie sich versah, waren schon ihre Hände und Füße gefesselt. Die Mutter wehrte sich mit erstickender Stimme verzweifelt gegen die keuchenden und schnaufenden Männer. Silvia wand sich auf dem Boden und suchte Hilfe zu erspähen. Vergeblich. Als sie laut »Rosella, Rosella!« rief, drückte ihr einer der Wegelagerer den Mund zu und hielt ihr sein Messer an die Kehle. »Ein Laut noch, und ich rasier dich ab«, spie er ihr ins Gesicht. Die Mutter stöhnte und trampelte, während ihr zwei Männer die Kleider vom Leib reißen wollten. Das Messer schnitt Silvia in den Hals; voller Angst und Entsetzen rührte sie sich nicht mehr. Ihre Mutter lag inzwischen halbnackt auf dem Boden, von einem der Männer im Klammergriff gehalten, während der andere ihre Knie auseinanderzudrücken versuchte.
Der Mann, der Silvia gefesselt hatte, griff nun auch ihr zwischen die Beine. Sein stechender Gestank nahm ihr den Atem. Fluchend ließ er wieder von ihr ab, weil ihn die Fesseln behinderten. Die Mutter trat wild um sich. Der Stinkende ließ Silvia liegen und schlug der Mutter mehrmals ins Gesicht, bis ihr Blut aus Nase und Mund floß, und drückte ihr dann sein Messer an den Hals. Sie erstarrte und gab den Widerstand auf. Der erste machte sich über sie her. Die Mutter zuckte, bäumte sich auf, wollte schreien, wurde aber gewürgt. Dann lag sie wie tot da, während die Männer sich gegenseitig anstachelten und sich, einer nach dem anderen, zwischen ihre Beine knieten.
Hinter dem Busch tauchte nun ein vierter Wegelagerer auf, der Rosella hinter sich her zerrte. Ihre Haare standen nach allen Seiten ab, ihr Hemd war so eingerissen, daß eine ihrer Brüste freilag. Zwischen den Beinen des Mannes baumelte unverdeckt sein Geschlechtsteil; grinsend machte er eine unmißverständliche Geste. Freudiges Gejohle der anderen Männer war die Antwort. Silvia schrie schrill um Hilfe. Sofort ließ der Mann Rosella los und warf sich auf sie. Er riß einen Stoffetzen von ihrem Reisekleid und stopfte ihn ihr in den Mund. »Gleich bist du dran!« stieß er hervor.
Die Männer fesselten Rosella, nicht ohne grölend ihre zweite Brust freizulegen, durchwühlten anschließend die Taschen, steckten die Dukaten und den Schmuck ein und stopften sich gierig den Proviant in den Mund. Silvia blickte auf ihre Mutter, die regungslos auf dem Rücken lag, die Augen geschlossen. Zwischen ihren Beinen hatte sich eine Blutlache gebildet. Aber dann öffnete sie die Augen und stöhnte auf. Ihr Körper krümmte sich. Die Männer schauten sich auffordernd an.
»Mach du’s!« stieß der eine hervor. Der Angeredete schüttelte den Kopf.
Rosella, die zusammengekauert dabei gehockt hatte, richtete sich plötzlich auf und schrie »Nein!«.
»Halt’s Maul, Hure!« Sie konnte sich gerade noch unter einem Faustschlag wegducken und warf sich wimmernd auf den Boden.
»Wir müssen weg. Die stört nur«, drängte der erste Mann.
Die anderen kauten schmatzend.
»Und die Kleine?«
»Später …«
»Los, würfeln wir!« krächzte der erste Mann, und schon warf er einen kleinen Knochen auf das Tuch. Silvia sah statt der Punkte gekreuzte Schwerter, eine Axt, einen Galgen. Als schließlich ein Totenkopf oben lag, brüllten die Männer auf. Einer zog das Messer, mit dem er gerade ein Stück Schinken geschnitten hatte, durch den Mund und erhob sich verärgert grunzend. Silvia bemerkte nur noch Rosellas entsetzten Blick und schloß die Augen. Einen Augenblick lang herrschte eine ungewöhnliche Stille, keine Schmatzgeräusche, kein Sprechen, kein Schreien. In dieser Stille hörte Silvia plötzlich laut und vernehmlich einen Vogel singen. Und in den Gesang hinein einen erstickten Gurgellaut.
Es dauerte eine Weile, bis sie wieder wagte, die Augen zu öffnen. Rosella hatte ihren Kopf zwischen den Knien verborgen. Der Vogel sang noch immer.
»Wir sollten verschwinden«, sagte einer der Männer zwischen zwei Bissen.
Ein anderer wies mit einer Kopfbewegung auf Silvia. »Und sollen wir die etwa mitschleppen?«
»Die ist sicher noch Jungfrau«, sagte der dritte und leckte sich über die Lippen.
Ein dreckiges Lachen folgte, und vier Augenpaare richteten sich gierig auf ihren Körper. »Bald nicht mehr!« Ein weiteres Gelächter, dann rissen sie wieder mit ihren faulen Zähnen Stücke aus dem gepökelten Fleisch, wie Straßenköter, die sich über Aas hermachen.
»Wir packen die Weiber aufs Pferd und hauen ab, die hatten sicher nicht nur zwei Männer dabei.« Der Mann goß sich Wein aus einem Ziegensack in den Mund, und der rote Saft floß ihm über die Mundwinkel in den Bart. Sein Kumpan kroch mit gezücktem Messer auf Silvia zu und schnitt ihr die Fußfesseln durch.
»He, das Täubchen läuft uns noch weg!«
»Keine Angst«, rief der Mann und entblößte seine braunen Zahnstummel. »Die pfähl ich, daß sie sich nicht mehr rühren kann.« Er schnitt Silvia ins Reitkleid und entblößte ihre Beine.
»Laß sie, wir hauen ab! Später ist noch genug Zeit …«
Einer zerrte Rosella zum Pferd und band sie bäuchlings auf dem Sattel fest. Aus aufgerissenen Augen blickte sie Silvia bettelnd an. Schon schlug Silvia wieder der unglaubliche Gestank des Mannes entgegen. Er nahm ihr den Knebel aus dem Mund und stülpte ihr seine Lippen entgegen, als wolle er sie küssen. Schnell wandte sie sich ab. Ihr Blick fiel auf ihre Mutter. Sie lag noch immer auf dem Rücken, den Kopf zur Seite gedreht, die Augen starr nach oben gerichtet. Aber ihr Hals … ihr Hals klaffte wie ein aufgeschnittener Granatapfel.
Silvia öffnete den Mund, um zu schreien. Die Stimme versagte. Sie glaubte, sich übergeben zu müssen, doch ihr Körper bebte nur und verkrampfte sich. Dann überschwemmte sie wieder eine Woge des Gestanks. Der Mann mit dem entblößten Geschlechtsteil biß sie ins Ohr und kniete sich dann zwischen ihre Beine. Silvia starrte auf das gerötete Teil, das sich drohend aufrichtete, das immer höher wuchs und gierig zuckte. Und daneben die blutverkrustete Hand, auf der sich lange schwarze Haare wie eine Schlangenbrut ringelten. Sie schloß die Augen, und mit Gewalt spreizte der Mann ihre Schenkel.
Silvia glaubte, sterben zu müssen. Sie wartete auf den Schmerz, der spitz in sie eindringen mußte, um ihr dann das Becken auseinanderzureißen. Das Schnaufen kam näher. Stumm begann sie, das Ave Maria zu beten. Sie krampfte sich zusammen, und ihre Sinne strömten alle zu der Körperöffnung zwischen ihren Beinen. Plötzlich Hufgetrappel, ein aufwieherndes Pferd, Schreie und Flüche. Sie riß ihre Augen auf, flog zur Seite. Vor ihr, hoch zu Roß, ein Mann, ein junger Edelmann. Ein flammender Retter, von der Jungfrau geschickt, ein Erzengel, ein Gottesstreiter. In seiner Hand hielt er einen Jagdspieß. Hinter ihm tauchten zwei Gehilfen auf.
Die Wegelagerer stürzten zu ihren Waffen. Da schnellte der Arm des Reiters nach vorne, und schon steckte der Jagdspieß einem der Räuber in der Brust. Der Räuber starrte hoch, aus seinem Mund quoll ein Schwall von Blut, er torkelte einen Schritt vor und brach zusammen. Der Retter riß nun sein Schwert aus der Scheide und trieb sein Pferd direkt auf den zweiten Wegelagerer zu. Dann ließ er sein Roß vor ihm hochsteigen und ausschlagen. Vom Huf an der Schulter getroffen, ging der Mann zu Boden. Inzwischen rangen die Jagdgehilfen mit den zwei restlichen Räubern, und wenig später stürzten auch die Männer, die Wasser hatten holen wollen, aus dem Wald herbei. Blut spritzte Silvia ins Gesicht. Drei Wegelagerer lagen schon reglos auf dem Boden. Der vierte versuchte zu fliehen. Aber der Retter setzte ihm nach, spannte seinen Bogen, und mitten im Galopp ließ er den Pfeil abschwirren. Kopfüber stürzte der Flüchtende zu Boden.
Silvia war gerettet. Starr lag sie auf dem Rücken, die Bilder des Geschehenen wirbelten zusammen und stürzten ab, ihr wurde schwarz vor Augen. Aber dann war sie wieder da, ganz wach, und wollte aufspringen.
Rosella wurde losgebunden. Sie lachte und weinte, schluchzte und schrie.
Silvia griff nach dem Kleid und bedeckte ihre Blöße. Ihr Retter war vom Pferd gestiegen und wies auf die Mutter. »Legt sie in eine Decke!« rief er seinen Gehilfen zu.
»Mama!« flüsterte Silvia und warf sich auf den leblosen Körper.
Der rettende Engel nahm sie in den Arm. »Ihr ist nicht mehr zu helfen. Der Herr hat sie zu sich genommen.«
Silvia drohte zu Boden zu sinken. Er hielt sie. Sie fühlte nichts mehr.
»Ihr seid gerettet«, flüsterte er.
Silvia entzog sich seinen Armen und starrte auf die Decke, unter der die Mutter lag.
Rosella richtete ihr Kleid. Mehrfach warf sie einen forschenden Blick auf den Retter, und als dieser ihn mit einem erstaunten Gesichtsausdruck erwiderte, wandte sie sich wieder Silvia zu. »Meine Kleine«, stieß sie unter Schluchzen hervor. »O Gott, was ist geschehen! Diese Mörderbande!«
Als Silvia, noch immer am ganzen Körper zitternd, dem Retter dankte, trat er einen Schritt zurück und neigte seinen Kopf. »Mein Name ist Alessandro Farnese. Ich bin apostolischer Skriptor. Ich war auf der Jagd. Zum Glück …«
»Ich heiße Silvia Ruffini«, brachte sie hervor. »Meine Mutter wollte mit mir nach Bracciano reisen, damit ich …« Ihre Stimme versagte, und der starke Engel nahm sie erneut in die Arme.
Angeführt von Alessandro Farnese und seinen beiden Jagdgehilfen, ritten sie schließlich nach Rom zurück. Zwei Männer der Schutztruppe verdrückten sich, nachdem sie die Porta del Popolo durchschritten hatten. Die Decke, in die die Mutter eingewickelt war, troff vor Blut. Es lief die Flanke des Maultiers hinab und tropfte auf den Boden. Hinter ihnen eine Blutspur und das Geschrei neugieriger Menschen.
Als sie das Haus der Ruffini erreichten, tobte die Menge, als wäre sie von einer Hinrichtung angestachelt. Die Mägde stürzten aus dem Portal und schrien auf, die Pferdeknechte brüllten nach dem Vater. Er eilte die Treppe herunter. Als er sah, daß man eine eingewickelte Leiche auf eine Bahre legte, erstarrte er. Er faßte sich an den Hals und bedeckte dann sein Gesicht mit den Händen. Schließlich bekreuzigte er sich und schlug die Decke zurück. Noch hatte niemand ein erklärendes Wort geäußert. Alle starrten den Vater an, danach die Tote. Silvia sah ihre Mutter zum letzten Mal – mit einem schwarzen Kranz um den Hals, einem aufgerissenen Mund und halbgeöffneten, starren Augen. Rosella wollte sich jammernd über sie werfen, aber Alessandro Farnese hielt sie zurück, und sie warf sich an seine Brust. Er befreite sich von ihr und trat mit dem Vater noch näher an die Mutter heran. Sie bekreuzigten sich erneut, dann berührte der Vater die Tote mit den Lippen. Seine Miene war versteinert, aschfahl sein Gesicht. »Er hat es gewußt!« flüsterte er tonlos. Auch Silvia beugte sich noch einmal über die Mutter.
Der Vater befahl, die Tote ins Haus zu bringen und einen Priester zu rufen. Dann ließ er sich erzählen, was geschehen war. Wortlos umarmte er schließlich den Retter seiner Tochter.
Alessandro Farnese blieb bis zum Abend bei ihnen, und Silvia spürte, wie sie sich darüber freute. Ihr Vater dankte ihm immer wieder. Tränen rannen den Männern über die Wangen. Silvia versuchte, das Zittern ihres Körpers zu unterdrücken. Sie starrte auf Alessandros lange, feingliedrige Finger, als könnten sie ihr Trost spenden, als läge in ihrer Berührung ein tiefer Segen. Dann schaute sie ihm ins Gesicht: liebevolle Augen voller Mitleid und Güte. Er sagte etwas, was sie nicht verstand, sie hörte nur die weiche Stimme. Er war ihr so seltsam vertraut …
Langsam ließ das Zittern nach.
Der Vater jammerte. »Ich verstehe es nicht. Ich bin ein friedlicher Mann, noch nicht einmal besonders reich, habe keine Feinde … O Gott, zuerst meine Söhne, jetzt meine Frau, warum muß der Herr mich so strafen!« Und er brach wieder in Schluchzen aus.
Alessandro nickte und warf dann, schmerzlich lächelnd, einen Blick auf Silvia. »Eure wunderbare Tochter hat der Herr verschont«, sagte er, ohne seinen Blick von ihr abzuwenden. »Er muß mit ihr noch viel vorhaben.« Er zupfte sich seinen Jagdkittel zurecht und strich sich über die Haare.
Der Vater drückte Silvia an sich. Sie spürte seine Wärme, den vertrauten Geruch. Ach, ihr geliebter Vater, ohne ihn könnte sie nicht leben! Für einen Augenblick schien die geschändete und ermordete Mutter nicht mehr zu existieren. Die beiden Männer blickten Silvia an und schienen sich dann gegenseitig einer Prüfung zu unterziehen.
»Die Orsini sind für uns verloren«, sagte der Vater, und seine Stimme wurde sachlich und kalt. »Wenn erst einmal durchsickert, was geschehen ist … Hoffentlich sind andere Familien nicht so anspruchsvoll und übersehen das Unglück. Sonst bleibt nur das Kloster.«
Entsetzt schrie Silvia »Nein!«.
»Ist ja gut, mein Püppchen«, versuchte ihr Vater, sie zu beruhigen.
»Sie blieb unberührt, das ist sicher«, flüsterte Alessandro dem Vater zu. »Es gibt keinen Grund, Ihr versteht …«
Dann starrten die Männer stumm in die verrußte Öffnung des Kamins. Silvia hockte, in Decken gehüllt, dabei. Immer wieder lief das blutige Geschehen vor ihren Augen ab, und immer strahlender erschien ihr der von Gott gesandte Retter.
2. KAPITEL
Es war unfaßbar, und er glaubte zu träumen. Doch was er sah, war kein Traumbild, er konnte aufstehen und sich bewegen, der Körper gehorchte ihm – aber weiter als bis zur Tür gelangte er nicht. Der Raum war verschlossen. Draußen würfelten lärmend die Wachen. Ja, er saß im Kerker. Vor ein paar Tagen war er zur Jagd gegangen, hatte das Wild nur nachlässig verfolgt, weil er den Tag in der freien und frischen Natur genoß, er stieß auf Wegelagerer, verhinderte, daß ihrem ruchlosen Überfall nicht nur eine, sondern drei Frauen zum Opfer fielen – und heute saß er in einer Zelle im Turm der Engelsburg, wie ein Verbrecher, er, von Vaterseite ein Farnese, von Mutterseite ein Caetani, unter seinen Vorfahren ein Papst und viele Kardinäle, er saß im Kerker und wußte nicht, warum. Er, der apostolische Skriptor, hatte einer Jungfrau das Leben und die Ehre gerettet – und dies war nun die Antwort des Papstes. Aber so waren die Verhältnisse unter Innozenz VIII. Cibò: Rechtlosigkeit und Wegelagerei, ja, bürgerkriegsartige Kämpfe im Umland der Ewigen Stadt. Sogar in Rom selbst waren private Rachefeldzüge an der Tagesordnung, und nachts herrschte ohnehin das Recht der schnellsten Dolche. Jeden Morgen fischte man Tote aus dem Tiber. Und gleichzeitig wurden unschuldige Menschen eingekerkert, gefoltert und hingerichtet. Wer sich nicht freikaufen konnte, hatte schlechte Karten. Wer dagegen Dukaten klimpern ließ, dem war der Mord schon verziehen, bevor er ihn überhaupt begangen hatte. Und die Kassen des Papstes brauchten immer Geld.
Alessandro ging unruhig in der Zelle auf und ab. Wahrscheinlich beruhte alles auf einem Mißverständnis. Oder auf einer Verleumdung. Bald kämen seine Mutter und sein älterer Bruder Angelo und holten ihn heraus. Im Notfall mußten sie einige Dukaten hinlegen. Und dann würde er hocherhobenen Hauptes vor den Heiligen Vater treten: Er hatte das höchste Gut einer Jungfrau gerettet! Und dabei zwei Verbrecher persönlich den Orkus hinabgeschickt. Noch jetzt zitterte seine Hand, wenn er daran dachte. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er getötet, er, ein Mann der Kurie, der die niederen Weihen bereits empfangen hatte, der einmal, wenn es nach seiner Mutter ging, Kardinal werden sollte … Signora Ruffini hatte er nicht mehr retten können, er fand sie in ihrem Blut, nackt, mit verdrehtem Kopf und klaffender Wunde. Aber ihre bezaubernde Tochter hatte er vor Schändung und Schande bewahrt, die erwachende Rose, die reine Lilie, mit ihren dunkelbraunen, leicht schräg stehenden, ach so verwundeten Augen, wenigstens sie … Er hatte sich als Mann bewährt – und dafür saß er nun im Kerker.
In der Nacht hatten ihn die sbirren aus dem Stadtpalast der Farnese geholt, über den Campo de’ Fiori geschleppt, wo noch die am Abend zuvor Gehenkten baumelten, und zum Torre di Nona gebracht. Er tobte und beschimpfte den Bargello, aber der lachte nur. Vom Heiligen Vater persönlich sei die Festnahme angeordnet, erklärte er schließlich, der Skriptor Farnese sei nicht zur Niederschrift eines wichtigen breve erschienen, ohne Entschuldigung, und dies nun schon zum wiederholten Male. Es war ein höhnisches, widerliches Lachen, gleichzeitig fast gutmütig, und gerade dieser väterliche Ton steigerte Alessandros Wut noch. Aber es nützte nichts. Die sbirren schleppten ihn über die Engelsbrücke in die Burg der Päpste, in das alte Mausoleum des Hadrian, übergaben ihn dem Kastellan, der ihn mit den Worten »Die Fledermäuse schwirren bald zurück« begrüßte. Mit den Händen ahmte er ihren zackigen Flug nach. »Pst, pst!« machte er und legte einen Finger auf die Lippen. Dann ließ er Alessandro die Fesseln abnehmen und winkte ihn zu sich.
»Hat sie dich drangekriegt?« flüsterte er ihm ins Ohr.
Alessandro schaute ihn verständnislos an und wollte aufbrausen.
Der Kastellan winkte ab. »Vorzugsbehandlung«, flüsterte er, »ein sauberes Bett, regelmäßige Leerung des Eimers, anständiges Essen und genug Wasser.« Dabei rieb er Daumen und Zeigefinger aneinander. »Bei entsprechender Bezahlung, versteht sich, aber Madonna wird sich schon großzügig zeigen.« Er grinste und betrachtete Alessandro, der sich kaum hatte anständig ankleiden können. »Der Heilige Vater will persönlich vorbeischauen und Euch die Leviten lesen. Erst kauft die Familie ein Amt, dann füllt der Herr Sohn es nicht aus – bleibt einfach weg, unentschuldigt. Die Ungläubigen hätten dich dafür gehängt. Aber Seine Heiligkeit ist ja so gütig!« Alessandro trat an eine Schießscharte und schaute nach draußen. Rom lag im frühen Tagesschimmer, rosig eingebettet, als würde es wach geküßt. Die ersten Straßenhändler und Wasserträger hörte er schon brüllen.
Nein, es war ein schlechter, elend langer Traum. »Meine Kinderchen kehren zurück. Da, siehst du sie?« Der Kastellan wies auf schwarze Schatten, die unters Gebälk krochen. Mit plötzlich veränderter Stimme brüllte er nach den Wachen: »Satansbrut ihr! Führt ihn in seine Zelle, reicht ihm Wasser und Brot und verriegelt die Tür!«
Wie ohnmächtig war Alessandro in einen kurzen Schlaf gesunken. Jetzt lag er auf seinen Strohsäcken und starrte auf die Balken, über die langsam und suchend ein Insekt kroch. In dem Stadtpalast der Farnese schlief er unter einem samtenen Baldachin, und auch in Capodimonte oder in einer der anderen Burgen der Familie gab es anständige Betten, die vor Ungeziefer schützten, das sich gern nachts von der Decke fallen ließ. Und gegen Wanzen wurde ein Pulver gestreut. Duftkräuter zerrieben. Morgens kleidete ihn ein Kammerdiener an, und jederzeit stand eines der vielen Mädchen im Haus bereit. Fortuna war eine Dirne, das sagten schon die Alten, heute war man Herrscher und morgen Sklave, die Griechen verkauften ganze Städte in die Sklaverei – nein, Sklave würde er nie, und nie würde er lange eingekerkert bleiben, nicht er, Alessandro Farnese, der Sohn eines Kriegergeschlechts.
Er starrte auf das Insekt, das bewegungslos abwartete. Der zweitgeborene Sohn eines Kriegergeschlechts! Und das bedeutete: Titel und Lehen erbte sein Bruder Angelo, der Erstgeborene mußte das Geschlecht fortpflanzen, während dem zweiten Sohn der Kirchendienst blieb. So war es Onkel Caetani ergangen und weiteren fünf Kardinälen Caetani, nicht zuletzt dem Urahn Benedetto, Papst Bonifaz VIII., den die Mutter nie aufhörte, als leuchtendes Vorbild im Munde zu führen.
Ach, seine Mutter! Seit sein Vater vor einem Jahr gestorben war, herrschte die Mutter über die Familie, nicht etwa sein älterer Bruder Angelo, der bestimmt war, Condottiere zu werden. Dabei grübelte Angelo lieber über Gott nach und fragte jeden, warum eigentlich Christus, Gottes einziger Sohn, am Kreuz hatte sterben müssen.
Eine dumme Frage. So war es eben. Jesus von Nazareth starb am Kreuz, um die Sünden der Welt auf sich zu nehmen, um sie alle zu erlösen. Basta. Und auf zum fröhlichen Jagen. Zum Fechten und Rennen. Zum Ringen und Tanzen. Gut – auch um Cicero zu lesen. Seine Lehrer an der Accademia Romana hatten sich über die Bibelgläubigen lustig gemacht. »Abergläubische Kinder«, erklärte Pomponeo Leto und fuhr lachend fort, die Messe sei antiken Opferkulten nachempfunden, sei eigentlich heidnisch, Gotteslästerung, der wahre Gott, so es ihn gebe, brauche keinen Weihrauch und protzige Häuser, er sei fern, unaussprechbar, unnahbar, nicht zu fassen, ein deus absconditus, die Natur bestehe aus kleinen Teilen und zerfalle nach dem Tod, alles vergehe, das habe schon Lukretius Carus gesagt, De rerum natura, und vor ihm die Griechen, Demokritos zum Beispiel …
Aber sein gottsuchender Bruder Angelo hatte zu heiraten, Kinder zu zeugen und in einer Schlacht zu fallen, während er als der Jüngere langweilige Messen lesen sollte, Beichten abnehmen, Sakramente spenden, und bevor er das tun durfte, mußte er noch langweiligere breves und bullae schreiben, in dunklen, staubigen Skriptorien hocken, mit weindunstigen Prälaten Kurtisanenwitze austauschen und immer wieder vor dem Papst buckeln.
So wollte es seine Mutter.
Und die Folge war: Er saß im Kerker, von einem Papst eingesperrt, unter dem Bestechung und Verbrechen herrschten. Dabei hatte das Sagen im Vatikan sowieso Kardinal della Rovere, der starke Mann im Heiligen Kollegium. Er hatte den Cibò auf den Stuhl Petri gehievt, aber er ließ auch dessen Nepoten- und Günstlingswirtschaft zu.
Wann kam endlich seine Mutter und kaufte ihn hier frei? Vielleicht wußte sie noch nicht … Man mußte ihr Boten nach Capodimonte schicken … Aber der Kastellan hatte doch von einer Madonna gesprochen. Damit konnte er nur seine Mutter meinen. Jeder in Rom kannte seine Mutter, Madonna Caetani, wie sie sich nannte. Daß sie jetzt eine Farnese war, interessierte sie wenig. Die Caetani standen haushoch über den Farnese, glaubte sie, waren ein kuriales Schwergewicht – und die Farnese? Als Condottieri hatten sie sich mit Söldnern herumgeprügelt. Allerdings mußte man sich fragen, warum seine geliebte Mutter Giovannella Caetani dann Pierluigi Farnese geheiratet hatte. Hatte nicht sogar schon der Bruder des Vaters eine Orsini in sein Haus geholt? Die Farnese brauchten sich vor niemandem zu verstecken, vor keiner Caetani, keiner Orsini oder Colonna. Und schon gar nicht vor der Familie des Papstes. In den Farnese steckte die unverbrauchte Kraft eines klugen und schnellen Leoparden, sie waren Kämpfer, Sieger …
Aber sein Vater war seit einem Jahr tot, seine Mutter dagegen erfreute sich bester Gesundheit. Sie verkehrte mit Kardinälen, wie Giuliano della Rovere, auch mit den Spaniern, wie Rodrigo Borgia, sogar mit dem Heiligen Vater stand sie auf bestem Fuß – weil sie ihnen zu schmeicheln wußte. Seine Mutter beherrschte alle Formen der Verstellung.
Morgen würde sie in den Vatikan eilen und Papst Innozenz bitten, ihren pflichtvergessenen Heldensohn freizulassen. Schließlich hatte er nicht nur Hirsche gejagt, sondern die junge Ruffini gerettet. Ganz Rom würde davon sprechen. Er hatte dem Verbrecher den Speer in die Brust gejagt. Jeden Stier hätte er mit einem solchen Stoß zur Hölle geschickt. Noch jetzt sah er die brechenden Augen des einen Mannes, den er mit dem Speer erledigt hatte, hörte er den Aufschrei des anderen, dem sein Pfeil in den Rücken gedrungen war. Arme und Beine zuckten, das Gesicht im Dreck, eine Hand umklammerte einen morschen Zweig, unter dem Leib bahnte sich ein blutiges Rinnsal seinen Weg.
Alessandro stellte sich an die Maueröffnung, die ein wenig frische Luft hereinließ. Ihm war schlecht. Die stickige Luft und die Erinnerung an die Toten … Er hatte zwei Männer im Kampf getötet! Aus ihm war endgültig ein Mann geworden. Sein Bruder Angelo hatte noch niemanden im Kampf getötet, ja, er hatte noch nicht einmal in einer Schlacht gekämpft. Selbst bei der Jagd war er ungeschickt. Vor Keilern hatte er Angst, vor Bären sowieso. Dabei war Bärenjagd der Höhepunkt allen Jagdglücks. Alessandro liebte wie fast alle Männer, die er kannte, die Jagd: Dieses Suchen, Verfolgen, Stellen und Töten erregte ihn. Aber das Blutvergießen stieß ihn auch ab, insbesondere wenn ein Tier keine Chancen hatte zu entkommen oder sich wenigstens tapfer zu wehren, weil eine ganze Hundemeute es zerfleischen wollte und eine Jägermeute sich mit seinen Spießen auf es stürzte. Bei der Bärenjagd allerdings mußte man tagelang in die Berge reiten. Lautlos tappten die Bären davon und versteckten sich im unwegsamen Gelände. Aber wenn man sie stellte … jeder Prankenschlag streckte einen Jagdhund nieder, die Pfeile brachen sie ab, und wenn sie sich auf die Jäger stürzten, dann galt es gemeinsam und schnell zu handeln. Sein bester Jagdhüter war das letzte Mal tödlich verletzt worden, und das braune Vieh war entkommen. Er, Alessandro Farnese, hatte einen Moment zu lange gezögert. Dieser Kampf hatte ihm lange Zeit den Spaß an der Bärenjagd genommen. Der Blick des Jagdhüters, bevor er sein Leben aushauchte … Immerhin ließ Alessandro ihm mehrere Messen lesen und versorgte die Witwe mit Geld, besorgte ihr sogar einen Mann und bezahlte die Mitgift.
Seine Mutter hatte ihn ausgelacht, ihn sogar getadelt. So viele Dukaten wegen eines lächerlichen Jagdhüters! »Wenn du für jeden toten Diener aus deiner famiglia Goldmünzen rollen läßt, wirst du nie mehr Geld haben für die wirklich wichtigen Dinge im Leben, zum Beispiel für ein teures Amt. Du sollst einmal Kardinal werden, kein Almosengeber. Für die guten Taten haben wir die Heiligen.«
Vielleicht werde er einmal ein Heiliger, hatte er mit ironischem Unterton geantwortet.
Seine Mutter lachte schrill. »Du Tunichtgut ein Heiliger? Eher geht eine ganze Kamelherde durch ein Nadelöhr!«
»Als daß ein Farnese ins Reich Gottes komme?« Manchmal liebte er, mit seiner Mutter zu streiten.
Wenn er sie im Wortgefecht besiegte, dann sah er in ihren Augen Stolz aufglimmen.
»Soll ich nicht Kardinal werden?« fuhr er mit erhobenem Finger fort. »Aber du traust mir nur zu, Kameltreiber zu werden.«
»Für einen Kameltreiber bist du zu ungeduldig.
Aber Kardinal könntest du werden, denn Kardinäle kommen nie ins Himmelreich. Wenn sie geschickt sind, kommen sie ins Reich des Geldes. Das ist schon Segen genug.« Die Mutter lachte wieder voller Genugtuung.
»Das sind gotteslästerliche Redensarten.« Verächtlich zog sie die Augenbraue hoch, aber dann nahm sie ihn in den Arm und küßte ihn auf die Stirn. »Ich segne dich, mein Sohn, du bist ein Caetani und ein Farnese. Auch wenn du nur mein Zweitgeborener bist, könntest du es weit bringen. Sehr weit.«
Die frische Luft, die aus dem Loch in der Wand in seine Zelle strömte, tat ihm gut. Er fühlte wieder die alte Kraft in sich aufsteigen. Noch immer konnte er nicht fassen, was mit ihm geschah. Er reckte sich, spannte seine Muskeln und machte einen Handstand. Vorsichtig seinen Körper ausbalancierend, bewegte er sich zur Zellentür. Er hörte die Wärter würfeln.
»He!« rief er. »Öffnet die Tür und laßt mich mitwürfeln!«
Das Fensterchen wurde geöffnet. »Schaut mal, was der junge Kirchenmann für Kunststücke beherrscht!«
Alessandro bewegte sich vorsichtig zurück, noch immer auf den Händen.
Die Tür wurde geöffnet. »Bravo, Gaukler!«
Er sprang wieder auf die Füße und kramte seinen letzten Dukaten aus dem Geldsäckchen. »Das ist Gold und glänzt verführerisch.« Er hielt ihn in die Höhe und drehte ihn hin und her.
Der Kastellan kam herangeschlurft, eine Flasche Wein in der Hand. »Was ist mit Euch? Her mit dem Geld!«
Blitzschnell ließ Alessandro die Münze verschwinden.
Der Kastellan wollte sich auf ihn stürzen, stolperte aber und fiel zu Boden. Keiner der Wärter rührte sich, um ihn aufzurichten. Der Kastellan rieb sich fluchend sein Knie. »Spielst du Schach?« stieß er, noch immer auf dem Boden, hervor.
»Ich spiele alles, was ihr wollt«, sagte Alessandro, »und hier geht es nicht um wertloses Kupfergeld.«
»Ich könnte dich erdrosseln lassen«, polterte der Kastellan.
»Sicher, wenn du anschließend hängen willst.«
Der Kastellan fletschte seine Fledermauszähne, schwieg aber.
»Kommt her, laßt uns eine Runde würfeln!« rief Alessandro. Er setzte sich auf einen Schemel, nahm die Weinflasche, die auf dem Tisch stand, und setzte sie an den Mund. Dann griff er sich den Würfelbecher und ließ die Würfel verführerisch gegeneinander schlagen. »Setzt euch, ihr Engelswärter, ich laufe euch schon nicht davon!« Wieder ließ er die Goldmünze zwischen seinen Fingern aufleuchten. »Und Ihr, Herr der Fledermäuse, geruht, Euch zu uns zu setzen und das Glück herbeizurufen. Das Glück ist eine Dirne!«
Alessandro ließ die Würfel rollen, noch bevor sich alle gesetzt hatten.
Drei Sechsen! Er warf auf Anhieb drei Sechsen. Die Wachen glotzten, als hätten sie es mit Magie zu tun.
»Der Satan ist mit ihm«, zischte der Kastellan. Die Wachen glotzten noch immer. Alessandro lachte verächtlich auf.
3. KAPITEL
Mit dem Überfall hatte erneut der Tod in Silvias Leben eingegriffen. Er hatte sich in all seiner blutigen Gewaltsamkeit gezeigt, war aber über Nacht verschwunden. Hinterlassen hatte er einen Dämon, der die Herrschaft über das Haus der Ruffini an sich zu reißen drohte. Die Mutter wurde ohne großen kirchlichen Pomp in der Familiengruft in Santa Maria ad Martyres beigesetzt. Zur Ausrichtung einer standesgemäßen Zeremonie fehlte dem Vater die Kraft. Er schloß sich tagelang in sein Studio ein, ließ nur seinen Astrologen zu sich und manchmal seinen Beichtvater. Versorgen ließ er sich von Rosella. Silvia suchte vergeblich seine Nähe, und sie verstand nicht, warum er sie nur flüchtig berührte, wenn er ihr nicht ausweichen konnte. Dann begann er, zur Frühmesse das Haus zu verlassen und erst wieder in der Nacht zurückzukommen, manchmal gar nicht. Ein Teil der Dienerschaft lief davon. Silvia irrte durch die leeren Korridore des Hauses. Wenn wenigstens Rosella für sie dagewesen wäre! Rosella, die doch alles hatte miterleben müssen, die, hinter dem Gebüsch verborgen, hatte ertragen müssen, wovon Silvia gerade noch verschont worden war. Rosella aber bediente sie nicht mehr und ließ sie allein.
Der einzige, der Silvia in diesen Tagen half, war ein Zeisig, mit dem sie oft spielte. Er hüpfte fröhlich hin und her und flog immer wieder heran, setzte sich auf ihre Schulter und pickte ans Ohr oder ließ sich auf ihrem Finger nieder und gab ihr ein Küßchen. Hilfreich war auch der Gedanke an ihren Retter, an Alessandro Farnese. An den Helden, der furchtlos die Wegelagerer getötet hatte. An den Ritter hoch auf seinem Roß, mit langen dunkelbraunen Haaren, mit dunklen Brauen über großen vertrauenswürdigen Augen und einer stolz geschwungenen Adlernase. Warum klopfte er nicht an das Portal des Hauses und besuchte sie?
Auch die Bücher des Vaters konnten Silvia nicht ablenken. Sie las das große Werk des Livius, und lange Stunden grübelte sie über die Geschichte vom Raub der Sabinerinnen. Käme Alessandro und raubte sie, würde sie zwar ihrem Vater nachweinen und um Rache schreien, aber gleichzeitig jubeln. Denn von ihrem Retter träumte sie. Sie träumte, er würde sie aus den Fängen der verdreckten, stinkenden Männer befreien, auf sein Pferd ziehen und mit ihr davonreiten. Wohin genau, das vermochte sie sich nicht vorzustellen.
Und dann vertiefte sie sich in die Geschichte der Lukrezia, die nicht ertragen konnte, ihre jungfräuliche Ehre verloren zu haben, und sich selbst entleibte. Beinahe wäre es ihr ähnlich ergangen. Lukrezia war ihre Schwester. Sie spürte noch das Blut, das ihr in Erwartung des Schmerzes in den Unterleib schoß. Ja, dort zwischen den Beinen, an diesem Ort der weiblichen Ehre, lag ein Geheimnis. Nicht nur, daß dort ein Kind gezeugt wurde. Tastete sie vorsichtig mit ihren Fingern die kleinen Rundungen ab, die Vertiefung, die bei Rosella ein dunkles Haarbüschel verbarg, spürte sie dieses den ganzen Körper erfassende Geheimnis, etwas Angenehmes, Süßes, Wildes.
Silvia zog sich mit ihrem Zeisig auf die Dachterrasse zurück und las erneut die Geschichte von Lukrezia. Der Zeisig hüpfte um sie herum und suchte nach Körnchen. Manchmal flatterte er auf, kam aber immer wieder zurück. Silvia schaute ihm nach, ohne ihn wirklich wahrzunehmen: Hätte sie sich ebenfalls den Tod geben müssen, wenn Alessandro sie nicht gerettet hätte? War wirklich die verlorene Ehre schlimmer als der Tod? Nein, entschied sie. Wurde eine Frau zu einer unsittlichen Tat gezwungen, konnte niemand sie dafür zur Verantwortung ziehen. Den Ehrverlust zu ertragen, vom Schmerz ganz abgesehen, war schon Strafe genug. Das Leben brauchte nicht zu enden.
Silvia holte ihren Blick, der sich in der Ferne verloren hatte, wieder zurück und suchte nach dem Zeisig. Er war verschwunden. Saß auch nicht auf der Brüstung. Flatterte nicht herbei, als sie ihn mit süßen Rufen lockte. Tränen füllten ihre Augen. Sie rief und rief, aber der Vogel hatte sie verlassen.
Silvia rannte durch das Haus und suchte Rosella. Zum Glück fand sie ihre Dienerin. Rosella lachte, brach dann in Tränen aus, schüttelte sich schließlich wieder vor Lachen. »Ein Zeisig, Bambolina, was ist schon ein Zeisig! Der sucht die Freiheit.«
Aber am nächsten Tag hockte der Zeisig wieder auf der Brüstung der Dachterrasse und flog auf ihre Schulter, als sie ihm entgegenstürzte. Beinahe hätte sie ihn vor Freude erdrückt.
Abends betete Silvia lange den Rosenkranz, weil sie sich schuldig fühlte. Sie freute sich unmäßig über die Rückkehr des Zeisigs, dachte aber zu wenig an ihre Mutter und vergaß, sie in ihre Fürbitten einzuschließen. Dies mußte eine Sünde sein. Ihre arme Mutter hatte ein schreckliches Ende gefunden. Daran zu denken schmerzte und verwirrte. Daher fühlte sie eine Erleichterung, als sie beigesetzt war. Um ihre Brüder, ihre Spielgefährten, hatte Silvia mehr geweint. Gemeinsam mit dem Vater waren sie ausgeritten oder hatten sich in den Ruinen herumgetrieben, zwischen Unkraut, Schlangen, verwilderten Hunden und Bettlergesindel, waren dort auf seltsame Marmorstücke gestoßen, auf einzelne Hände oder Füße. Einmal fanden sie ein halbzerstörtes Relief: Zu erkennen war ein Kind, das eine verschleierte Frau einem Mann reichte, und daneben eine auf den Kopf gestellte Fackel. Silvia hatte sich mit ihrem ältesten Bruder um dieses Relief gestritten, bis der Vater es schließlich ihr zugesprochen hatte. Jetzt hing es an der Wand ihres Zimmers, neben dem Kruzifix und einem Bildnis der Muttergottes. Der Bruder war ihr aber nicht böse gewesen. Abends kuschelten sie vor dem Kamin, der Vater erzählte aus seiner Kindheit und Jugend, von seinen weiten Reisen. Nur die Mutter hockte nicht dabei. Sie trat in den Raum, warf einen strengen Blick auf die Familie und verschwand wieder.
Und dann starben kurz nacheinander die jüngeren Brüder, schließlich wurde der älteste bei der Engelsbrücke aus dem Tiber gezogen. Die Mutter hüllte sich in lange schwarze Kleider. Wenn sie Rosella begegnete, blitzte Haß in ihren Augen auf. Der Vater bestand jedoch darauf, daß Rosella weiterhin zur famiglia gehörte.
Als Silvia eines Abends mit einem Talglicht durch das Haus zog und in einer Fensternische auf einen dunklen Schatten stieß, erschrak sie so, daß ihre Beine weich wurden. Der Tod, schoß es ihr durch den Kopf. Aber es war nur Rosella, die, in ein langes Tuch eingewickelt, wie ein großes düsteres Tier in die Fensteröffnung kroch, als wolle sie sich jeden Augenblick auf die Straße stürzen. Silvia blieb vor ihr stehen.
Rosella brach plötzlich in Tränen aus. »Ich bin schwanger«, schluchzte sie auf, »ich bin schwanger!«
Silvia drückte sich an sie und weinte mit ihr. Rosella ließ sich auf den Boden gleiten. Als ihre Tränen versiegt waren, starrte sie ins Leere und flüsterte unvermittelt: »Ich habe Angst.« Silvia schaute sie fragend an. Kaum noch verständlich, fügte Rosella an: »Ich hasse sie alle!«
»Wen haßt du?« rief Silvia ungeduldig.
Aber Rosella schien ihre Frage nicht gehört zu haben. Nach dumpfem Brüten stieß sie plötzlich wütend und gleichzeitig verzweifelt aus: »Wenn der Bastard auf die Welt kommt, bringe ich ihn um und gehe in den Tiber!«
Silvia rief entsetzt und gleichzeitig bettelnd: »Du mußt immer bei mir bleiben!«
Rosella lachte verächtlich und befreite sich aus ihrer Umklammerung.
Dann geschah etwas, was Silvia aus ihrem dunklen Trott riß. Ein dunkler Vorhang schien zur Seite geschoben, nein, heruntergerissen. Die langen düsteren Gänge des Hauses hatten tausend Verstecke und überall Augen. Silvia beobachtete, wie Rosella ihren Vater in eine Ecke des Hauses zog und heftig auf ihn einredete. Er schüttelte den Kopf, drückte sie dann aber an die Wand und hob ihren Kittel. Sie wehrte ihn ab und flüsterte etwas, wies auf den sich schwach vorwölbenden Bauch. Dann drehte sie sich bereitwillig um und bückte sich.
Silvia sah, wie ihr Vater sich mit gebeugtem Rücken hechelnd an Rosella krallte und sein Becken immer wieder stoßweise gegen ihr Hinterteil drückte. Ekel und Abscheu ließen Silvia tagelang nichts essen. Sie kniete vor dem kleinen Elfenbeinkruzifix in ihrem Zimmer und betete unaufhörlich. Wenn sie nicht betete, las sie in der Bibel. Nachts träumte sie von dem Überfall, immer wieder tauchten die dreckigen Gestalten auf und griffen ihr zwischen die Beine, dann machten sie sich über Rosella her, legten eine ihrer Brüste frei, wie auf den Bildern der Muttergottes, und leckten daran oder nahmen sie in den Mund, wie der Jesusknabe, aber nun verwandelten sie sich in ihren Vater, und schließlich kam Alessandro wie der heilige Georg herangeritten und durchbohrte ihn mit seiner Lanze. Silvia wollte schreien, brachte aber keinen Laut heraus. Am Morgen war sie noch ganz benommen.
Erst auf der Dachterrasse kam sie zu sich, versuchte, alle schrecklichen Bilder aus ihrem Kopf zu verbannen, nur ihn nicht, ihren Retter. Ihn wünschte sie sich groß, stark und strahlend. Aber sie brauchte es sich nicht zu wünschen. Er war groß, stark und strahlend. Wieder in ihrem Zimmer, schrieb sie Alessandro einen Brief. Ein Knecht sollte ihn überbringen. Er habe den Brief abgeliefert, erklärte der Knecht, aber trotzdem antwortete Alessandro nicht und besuchte sie noch immer nicht.
Eines Tages gelang es Silvia, ihren Vater nach ihm zu fragen, und er erzählte ihr, Alessandro Farnese sei in die Engelsburg gesperrt worden, der Heilige Vater persönlich habe dies angeordnet.
Entsetzt rief sie: »Das darf er nicht!« Und nach einer kurzen Pause: »Ich will zu ihm!«
Der Vater lachte sie aus.
Silvia verstand ihn nicht mehr und begann zu weinen.
»Gut«, sagte er, »ich werde mich erkundigen, warum man ihn in den Kerker geworfen hat.« Nach einer Weile, als Silvia nicht aufhören wollte, laut und verzweifelt zu schluchzen, fügte er ernst an: »Der Papst ist leicht erregbar und launisch; außerdem ist er Wachs in den Händen von Kardinal della Rovere. Wer weiß, was die beiden gegen die Farnese im Schilde führen. Die Familie Farnese stand immer auf Seiten der Orsini, und die Orsini betrachtet der Papst zur Zeit als Verbündete seiner Feinde.« Als Silvia sich noch immer nicht beruhigen wollte, nahm er sie seit langer Zeit zum ersten Mal wieder in den Arm. »Dein edler Retter wird schon wieder freikommen. Wahrscheinlich ist alles ein Mißverständnis. Du bist wohl verliebt in ihn?«
Silvia entwand sich seinen Armen und rannte in ihr Zimmer. Sie verschloß die Tür, kniete nieder und betete, noch immer weinend, zu Maria, der Gnadenreichen. Warum half ihr die Muttergottes nicht, die Verwirrungen, die Schmerzen, das Fieber und die Sehnsüchte zu überwinden?
Rosella verbarg inzwischen nicht mehr, daß sie jeden Abend zu dem Vater ins Bett kroch, und ließ sich von den Kammerfrauen der Mutter bedienen, als wäre sie die Herrin des Hauses. Sie legte sich lange in einen dampfenden Badezuber, das Wasser duftete betäubend nach Kräutern, und sang leise vor sich hin. Sie rief Silvia zu sich, strich ihr über den Kopf, und forderte sie auf, ihr Petrarca-Verse vorzusingen. Silvia tat es widerwillig. Rosella war schließlich nichts anderes als ihre Kammerfrau gewesen, und nun sorgte an ihrer Stelle ein dicklicher Trampel aus Trastevere für sie, während Rosella ihren sich rundenden Leib pflegte. Der Lehrer, bei dem Silvia das Lautespiel lernte, begab sich nach den Unterrichtsstunden zu Rosella, und dann hörte Silvia auch sie zupfen und danebengreifen. Aber sie griff nur anfangs daneben. Sehr schnell, dies mußte Silvia sich eingestehen, spielte Rosella fast ebenso geschickt wie sie selbst, und als sie dann auch noch zu singen begann, mußte Silvia weinen vor Neid und Rührung. Rosellas Stimme klang weich wie Samt und klar wie ein Glockenton von Santa Maria della Pace.
Endlich erhielt Silvia einen Brief von Alessandro. In ihrer Aufregung achtete sie nicht darauf, daß sein Siegel erbrochen war. Seine Schrift zog sich in langen Schwüngen über das Papier, insbesondere die Schleifen glitten tief unter die Zeile. Das »g« zum Beispiel schien hinabstürzen zu wollen, kopfüber, aber dann riß es sich wieder hoch und setzte seine Reise auf dem Papier ruhig fort. Stundenlang hätte Silvia mit ihren Fingern der Feder nachfolgen können.
Zu ihrem Vater kam manchmal eine Zigeunerin, die in seiner Hand las und die tatsächlich einen Bruch in seiner Lebens- und Herzlinie festgestellt hatte. Ihr zeigte sie Alessandros Brief. Die Augen der Zigeunerin verdunkelten sich, und sie verlangte erst einmal einen Dukaten. Über diese Geldgier war Silvia so verärgert, daß sie die Zigeunerin davonjagte. Später bereute sie ihre Tat.
»Liebste Silvia«, schrieb Alessandro. O Gott, war sie wirklich seine Liebste? »Horaz schrieb einmal: Das Schicksal stiftet Unglück, damit wir besser unseren Wert erkennen können. So mag es Dir ergangen sein, so ergeht es mir jetzt. Nach Deiner wundersamen Rettung, durch die der Allmächtige unsere Lebenswege hat kreuzen lassen, hat ER mich nun in den Kerker geführt. Der Heilige Vater selbst war SEINE rechte Hand. Statt auf die Jagd zu gehen (und Dich retten zu dürfen), hätte ich bei ihm sein müssen, um den Entwurf eines breve zu notieren. Seine Heiligkeit war tief gekränkt, und in Demut muß ich gestehen, daß ich sehr nachlässig meinen Pflichten nachgegangen bin, seitdem mein Vater mir vor vier Jahren das für einen Vierzehnjährigen ehrenvolle Amt eines apostolischen Skriptors erworben hat. Aber so wie nicht nur ein einziger Planet über das Firmament zieht und in manchen Jahren Mars und Saturn in Konjunktion stehen, so mögen viele Gründe sich in einer Tat verdichten, und nur der Allwissende überschaut sie alle. Wenn sich unsere Lebensbahnen nun gekreuzt haben – als begegneten sich Venus und Jupiter –, so war auch dies schon am Firmament vorgezeichnet. Wie meine Schwester Giulia warst Du mir vertraut. Oder als sei ich Dir schon in einem früheren Leben begegnet.
Giulia wirst Du hoffentlich eines nicht allzu fernen Tages kennenlernen. Sie ist nur wenig älter als Du, aber beide entsteigt ihr wie die schaumgeborene Venus auf der Muschel dem tiefblauen, sanft schimmernden Meerestraum des Weltenschöpfers, um den jungen Männern von Rom den Kopf zu verdrehen. Euer Bildnis hilft mir, die Tage im Kerker mit Gleichmut zu überstehen. Der HERR weiß, was ER tut. ER prüft uns, damit wir stärker werden. Dies gilt auch für Dich, meine liebste Silvia. Schließe mich in Deine Gebete ein, Dein Alessandro.«
Dann folgte noch ein Postskriptum: »Ungehörig ist es von mir, Dich so vertraut anzureden. Aber ich folge der Stimme meines Herzens. Cor, unde venis? fragt der Dichter. Mein Herz, wohin wirst du noch gehen?« Ein zweites Postscriptum folgte: »Gräme Dich nicht, daß Dein Retter nicht Sommerluft atmen kann. Meine Familie darf mich mit dem Notwendigsten versorgen. Das Schlimmste an meinem Los ist, das Sonnenlicht Deines Antlitzes nicht in der Düsterkeit meiner Zelle leuchten zu sehen, sondern von ihm nur träumen zu dürfen.«
Silvia drückte den Brief an ihre Brust und fühlte ihr Herz pochen. Ihr Alessandro mußte, weil er sie gerettet hatte, im Kerker schmoren! Er durfte nicht das Sonnenlicht sehen, den Strahlenkranz, den Abglanz des Allmächtigen. Er sehnte sich nach ihr! Am liebsten wäre sie zu ihm geeilt und hätte ihn befreit. Ja, sollte sie versuchen, eine Audienz beim Heiligen Vater zu beantragen, und um Verzeihung bitten für seine Nachlässigkeit? Aber durften Frauen überhaupt den vatikanischen Palast betreten?
Sie fragte Rosella.
Rosella strich ihr lächelnd über den Kopf und sagte nur: »Mein Kind!«
Silvia trumpfte auf: »Aber Alessandro hat auch dir das Leben gerettet.«
»Ich liebe ihn dafür.« Rosella antwortete mit einem spöttischen Lächeln und brach dann in lautes Lachen aus. »Verstehst du, wir lieben ihn beide.« Sie schürzte die Lippen und warf Silvia einen Kuß zu.
Verwirrt schaute Silvia auf.
»Ach, Piccolina!«
»Nenn mich nicht so!« herrschte Silvia sie an.
»O verzeiht, Contessina!« Sie verbeugte sich, soweit ihr dicker Bauch es ihr erlaubte, und rauschte dann hinaus. Erst jetzt sah Silvia, daß sie ein Kleid ihrer Mutter trug und auch die Ohrringe der Ruffini.
Tagelang dachte Silvia über ihr Gespräch nach, und dabei wurde sie immer trauriger. Ja, sie überfiel eine melancholia, die durch die Gedanken an Alessandros Kerkerhaft noch vertieft wurde. Sie wollte ihm helfen, wie auch er ihr geholfen hatte, aber sie wußte nicht, wie. Sie war ein kleines, eingesperrtes Mädchen, das nicht einmal ohne Begleitung zur Messe gehen durfte. Sie vermißte die Gespräche mit ihrem Vater, der nie Zeit für sie hatte und den sie schon gar nicht auf Rosella ansprechen durfte. Er wurde dann grob und drohte mit dem Kloster.
Und im Hintergrund stand die Mutter. Silvia hörte ihre Stimme, und in ihren Träumen wurde sie regelmäßig von ihr besucht. Ihre Mutter sah aus wie eine gepeinigte Märtyrerin und zeigte auf sie mit gebrochenen Fingern und einem Kranz blutigroter Rubine um den Hals.
Silvia wachte schweißnaß auf und entdeckte Blut zwischen ihren Schenkeln.
Als sie das Blut Rosella zeigte, lachte die sie aus und erklärte ihr die Ursache.
Silvia fühlte sich gedemütigt und schmutzig: erneut aß sie tagelang nichts mehr. Beim Lateinunterricht, oder wenn sie Laute spielen sollte, paßte sie nicht auf und machte nur Fehler. Sie magerte ab und schlich nachts durch die leeren Gänge des Hauses.
Ein weiteres Mal beobachtete sie den Vater und Rosella. Es war spätabends, die Tür zum Schlafraum des Vaters stand einen Spalt offen. Rosellas Bauch und Brüste waren mächtig gewachsen, aber ihr Gang blieb gerade, ihre Haare fielen ihr lockig über die Schultern, und das starke Kinn reckte sich stolz nach vorne. Silvia fand sie schön. Ihr Vater war, wie sie selbst, abgemagert, sehnig, seine Brust von hellen Haaren bedeckt. Sein Haupthaar glänzte rot. Die beiden standen nebeneinander, nackt, wie der Schöpfer sie geschaffen hatte. Vaters Hand lag auf Rosellas Bauch und knetete dann eine ihrer Brüste. Ihre Hand spielte mit seinem männlichen Glied, bis es sich erhob. Der Vater mit seinen dürren Schultern, mit seiner Bauchfalte und darunter dieser Speer, der in seiner Größe so gar nicht zu ihm paßte!
Rosella schob den Vater zu seinem Bett und drückte ihn in die Kissen. Langsam kniete sie sich über ihn, bis die zwei mächtigen halbmondförmigen Pobacken sich auf seine männliche Waffe gesenkt hatten. Seine Augen brachen. Einen Augenblick glaubte Silvia, ihr Vater würde sterben, aber dann öffnete er sie wieder, stöhnend. Sie erschrak. Denn plötzlich waren die Augen klar und stechend auf sie gerichtet. Er wollte sich aufrichten, wollte Rosella abwerfen, aber sie bedeckte sein Gesicht mit Küssen und preßte ihren herzförmigen Doppelmond gegen sein sich aufbäumendes Becken.
Schnell schob Silvia die Tür zu, schlich in ihr Zimmer, schloß sich ein und betete.
Nachts schrieb sie einen Brief an Alessandro, in dem sie ihm erzählte, sie habe von Minotaurus geträumt; sie sei eine der Jungfrauen gewesen, die ihm als Opfer zugeführt würden. Sie hatte den Traum erfunden, aber als sie erst einmal begonnen hatte, ihn auszumalen, konnte sie nicht mehr aufhören. Schließlich wurde sie zu Ariadne, die Theseus half, das Labyrinth zu verlassen, nachdem er den unersättlichen Stiermenschen getötet hatte. »Ich werde auch Dir den Weg aus dem Labyrinth der Engelsburg weisen«, schrieb sie, ohne zu wissen, wie sie dies anstellen sollte.
Alessandro hatte sie gerettet, und so wollte auch sie ihn retten. Er litt – ihretwegen. Sie wollte nicht, daß irgend jemand ihretwegen litt. Sie war immer eine brave Tochter gewesen und eine gute Christin. Aber sie war ein kleines Mädchen. Wie sollte sie den Weg in Roms uneinnehmbare Festung finden? Wie sollte sie Ariadnes Faden hineinschmuggeln?
4. KAPITEL
Die Hoffnung, schnell wieder der Engelsburg zu entkommen, schwand von Tag zu Tag. Alessandro vermehrte seine Dukaten beim Würfeln, besiegte den Kastellan im Schachspiel und ertrug so lange geduldig die Geschichten der Fledermäuse, bis sie beide betrunken einschliefen.
»Ich fliege mit meinen Flatterfreunden jede Nacht zur Madonna und hole mir ihre Befehle ab«, berichtete der Kastellan morgens, mit geschwollenen und triefenden Augen. »Was man alles sieht, wenn man unhörbar durch Roms dunkle Straßen und dann hinaus in die Campagna zuckt!« Er zog seine Oberlippe nach oben und entblößte seine fast schwarzen Zähne. »Das Blut plätschert übers Pflaster, das schon die Legionen der Cäsaren trug. Aber kein Julius Cäsar weit und breit, kein Alexander der Große. Nur ein Giuliano della Rovere und ein Rodrigo Borgia.« Er kicherte und krähte vor Lachen.
»Und ein Alessandro Farnese!«
Der Kastellan schaute ihn einen Augenblick verwundert an, schlug sich dann mit einem lauten »Hohoho« auf die Schenkel. »Da muß ich meine Engelchen fragen. Vielleicht schließen sie dich ja noch in ihr Herz.« Und wieder stieß er ein Kichern und Krähen aus.
Die Wärter hatten sich eine Hure von der Straße geholt und machten sich über sie her. Die Frau schrie und rief etwas in einem neapolitanischen Dialekt, den Alessandro nicht verstand. Als Antwort stöhnte der eine, der andere grunzte ein »Mach schnell!«.
Silvias Brief in den Händen, verzog Alessandro sich in die hinterste Ecke seiner Zelle. Der Empfang des Briefes hatte ihn einen halben Dukaten gekostet. Für den Transport seines eigenen hatte er den Kastellan dreimal im Schach besiegen müssen. Der ochsenäugige Wärter, der ihn zu den Ruffini bringen sollte, maulte über seinen Auftrag, gab sich aber dann doch zufrieden und kam gutgelaunt zurück, weil er reichlich entlohnt worden war.
Die Wärter spielten mit der Hure Vergewaltigung und boten sie anschließend freundschaftlich Alessandro an. Er fand sie aber zu schmutzig. Spuren der Krätze, Ausschlag über den Körper verteilt und Läuse in den Haaren. Außerdem stank sie wie alle hier. Alessandro winkte dankend ab, ließ sie dafür aber seinen Eimer zum Abtritt hinuntertragen.
Er legte sich auf die Pritsche und las noch einmal Silvias Brief. Sie wollte ihn erretten. Sie sah sich als Ariadne an der Seite des Theseus. Aber wo fand er den Minotaurus? Wem ähnelte das teuflische Fabelwesen? Sicher nicht dem Kastellan, dem Herrn der Fledermäuse, und sicher nicht dem Papst, dem Herrn der gläubigen Seelen. Und sollte er selbst ein Theseus sein, ein Minotaurus-Bezwinger, der die hilfreiche Ariadne zwar mit aufs Schiff nahm, sie dann jedoch auf Naxos zurückließ? Vielleicht hatte die kleine Silvia nicht alle Analogien durchdacht. Dennoch rührten ihn ihre Zeilen. Noch einmal las er den Brief, und während er las, sah er sie schreiben, sah sie regelrecht leuchten in ihrer jungfräulichen, engelhaften Reinheit.
Er sprang von seiner Pritsche auf, hielt sich an zwei Deckenbalken fest und zog sich mehrmals in die Höhe. Silvias Bild machte den Aufenthalt in seinem Gefängnis nicht leichter. Überhaupt wurde das Herumhocken ohne den täglichen Ausritt, ohne Fechtübungen und Laufen, ohne nächtliche Besuche bei den schönen Frauen von Tag zu Tag unerträglicher.
»Gaukler, auf die Hände!« grölte der Wärter, dessen Gesicht mit einer Höckernase und wulstigen Augenbrauen an einen Ziegenbock erinnerte.
Alessandro ließ sich fallen, nach hinten abrollen und versuchte, sich dann mit beiden Armen hochzustemmen. Der Ziegenbock war herangekommen. »Hilf mir, ich komme nicht allein hoch«, stieß Alessandro hervor, aber die Höckernase half ihm nicht, sondern griff ihm unter grölendem Lachen an seine Hoden. Blitzschnell nahm Alessandro seinen Kopf zwischen die Beine und zwang ihn zu Boden. Der ochsenäugige Wärter kam herangetölpelt, aber Alessandro war schon wieder auf den Beinen. »War nur ein Scherz«, rief er, »ich muß bei Kräften bleiben.«
Beide Wärter glotzten ihn an, und er warf ihnen einen Marchetto zu. »Besorgt mir saubere Bettwäsche.«
Das Ochsenauge glotzte noch immer, der Ziegenbock wollte ihm einen Faustschlag versetzen, aber Alessandro wich geschickt aus.
»Jetzt aber Schluß!« rief er. »Denkt an den Lohn, den euch die Madonna versprochen hat.«
»Ich habe noch keine Madonna gesehen«, war die Antwort, und: »Fick deine Madonna!«
Aber dann vertrugen sie sich wieder und boxten sich freundschaftlich auf die Brust.
Als die stickige Hitze ihren Bewegungsdrang zu lähmen begann und sich alle auf ihren Pritschen ausstreckten, hörte Alessandro den Kastellan vom Eingang des Turms her etwas brüllen. Er strich sich die Haare glatt, richtete sein verrutschtes Hemd, zog die Ärmel hoch und legte seinen Kopf in den Nacken, um eine hochmütige Miene zu proben. Er drehte den Kopf ein wenig zur Seite, hob die Augenbrauen und blickte nach unten. »Küßt mir den Ring, und auf die Knie!« stieß er hervor.
»Was?« Der eine Wärter stierte ihn wieder aus seinen blutunterlaufenen Ochsenaugen an.
Der andere stürzte plötzlich auf die Knie.
Zuerst schob sich der flache runde Kardinalshut die Treppe hoch, dann folgte ein schlanker Mann in Purpur. Der Mann atmete beschleunigt, keuchte aber nicht. Ein prüfender Blick aus tiefliegenden Augen. Eine Hand wurde Alessandro hingehalten. Alessandro ging leicht in die Knie und küßte den Ring. Er wußte, wer den Weg durch die Gänge und über die steilen Treppen gefunden hatte, um ihn, den Gefangenen Alessandro Farnese, zu besuchen.
»Eminenz, Euer gehorsamster und vor Schuld gebeugter Diener!«
»Hör mit der Schauspielerei auf, Alessandro!« Als wolle er lästige Fliegen wegscheuchen, winkte Kardinal della Rovere den Kastellan und die Wärter aus dem Raum. »Dein Onkel und deine Mutter haben mich aufgesucht, und wir haben lange über dich gesprochen. Du hast den Heiligen Vater tief gekränkt. Er gibt dir in seiner unendlichen Güte ein apostolisches Amt, und du gehst lieber auf die Jagd. Verstehst du, warum man dich einsperren muß?« Die Stimme des Kardinals ähnelte einem Knurren, aber gleichzeitig schienen sich kleine Lächelfalten an den Augen bilden zu wollen. Er setzte sich auf den Tisch und schaute sich um.
Alessandro antwortete nicht.
»Auf der Treppe begegnete ich einem weiblichen Wesen, das nach Kloake roch … Bist du schon so tief gesunken?«
»Aber, Eminenz, unser Heiland widerstand den fleischlichen Versuchungen. Ich eifere ihm nach. Das Weib ist wie eine Blume, die über der Kloake wächst, und ihre Frucht ist giftig – insbesondere für einen Mann Gottes.«
Der Kardinal lachte spöttisch über Alessandros Antwort und winkte ihm, sich zu setzen. »Man spricht über dich in Rom, mein Sohn. Ein gewisser Rufino Ruffini, der kürzlich seine Frau auf tragische Weise verloren hat, bat um eine Audienz, und deine Mutter ist sehr besorgt.«
Alessandro wischte sich über sein Gesicht und zwickte sich dann leicht in die Wange, als müsse er sich vergewissern, daß vor ihm tatsächlich Kardinal della Rovere saß und zu ihm sprach. »Eminenz, ich …« brach es aus ihm heraus, aber eine herrische Geste ließ ihn verstummen.
»Ich will nicht hören, was ich ohnehin schon weiß.«
»Aber warum?« Alessandro ließ sich nun nicht mehr unterbrechen. »Warum hat man mich eingesperrt? Ich rettete Signorina Ruffini Ehre und Leben, und die sbirren holen mich nachts aus meinem Bett und werfen mich in den Kerker. Gottes Wege sind unerforschlich, das wissen wir alle, aber ER würfelt doch nicht. ER ist gerecht. Wie natürlich auch der Heilige Vater.«
»Hör auf mit deiner juvenilen Theologie!«
Alessandro schwieg und studierte das Gesicht des Kardinals, das gerötet war und dem noch immer zwei tiefe Längsfalten zwischen den Augen einen finsteren Ausdruck gaben. Aber die Lippen hatten sich entspannt und deuteten sogar ein feines Lächeln an. Nicht nur Alessandro studierte den Kardinal, der Kardinal studierte auch ihn.
»Die Freiheit ist ebenfalls eine süße Versuchung, und man muß stark sein, ihr zu widerstehen, wenn man ein Diener Gottes sein will, nicht wahr?«
Alessandro verzog seinen Mund zu einem Lächeln. In seinem Kopf arbeitete es fieberhaft. Was wollte della Rovere von ihm? Was kümmerte den mächtigsten Mann der Stadt ein kleiner eingesperrter Skriptor? Er war sogar persönlich den Turm der Engelsburg hochgestiegen, ohne Sekretäre und Wachen, wollte also kein Aufsehen erregen. Irgend etwas mußte der Kardinal mit ihm vorhaben. Aber was?
»Wer der Mutter Kirche dienen kann, ist viel süßer belohnt, Eminenz.«
»Lassen wir das Süßholzraspeln, kommen wir zum Kern.« Kardinal della Rovere räusperte sich. »Deinen Vater hat der Herr zu sich genommen. Aber deine Mutter ist eine Caetani, ihr Bruder, einer meiner Freunde, sitzt im Konsistorium. Deine Familie erhofft sich viel von dir.«
Alessandro verneigte sich leicht.
»Wir alle möchten, daß du auf dem Pfad der Tugend bleibst. Per aspera ad astra sagt man, oder, wie Seneca in seinem Rasenden Herkules ausführt: Non est ad astra mollis e terris via. Der Weg von der Erde zu den Sternen ist nicht eben.«
Alessandro verneigte sich erneut. Es war erstaunlich, daß Kardinal della Rovere, der bekannt war für seine klaren Worte, sich zu einem unbedeutenden Skriptor in die Engelsburg begab, um mit seiner Kenntnis lateinischer Literatur zu glänzen. Für einen Augenblick kam Alessandro in den Sinn, seine durchaus noch begehrenswerte Mutter und der Kardinal könnten …
»Deine Mutter glaubt, daß du viel erreichen kannst beim apostolischen Stuhl, und ich gebe ihr recht. Aber noch sieht sie kein klares Bemühen, im Gegenteil, sie sieht, daß du den Heiligen Vater vor den Kopf stößt, daß du dich auf der Jagd herumtreibst, statt im Skriptorium zu sitzen, daß du den rasenden Herkules spielst und dich in Lebensgefahr begibst. Oder willst du dem heiligen Georg nacheifern? Er konnte zwar den Drachen besiegen und die Jungfrau befreien, starb aber einen grausamen Märtyrertod. Junger Mann, denke an deine Zukunft!«
Kardinal della Rovere war aufgestanden und hatte sich Alessandro genähert. Trotz seiner beiden tiefen Falten zwischen den Augenbrauen umfaßte er Alessandros Kopf und zog ihn zu sich heran. Ja, er drückte ihn kurz an seine Brust und wandte sich dann ab.
»Mir sind leider nur drei Töchter geblieben«, sagte er mit belegter Stimme. Dann wandte er sich wieder an Alessandro. »Hör zu, mein Junge. Du bist hier gefangen, weil der Heilige Vater befürchtet, dein Bruder Angelo, der werdende Condottiere, könnte sich noch enger an die Orsini binden und eine feindliche Politik gegen die Kurie betreiben. Außerdem fand deine Mutter … Wie dem auch sei. Du bist noch jung, aber wenn du es geschickt anstellst und wenn ich demnächst zum Papst gewählt werde und nicht etwa der Katalane, dann verspreche ich dir …« Der Kardinal näherte ihm wieder sein Gesicht und flüsterte nun: »Ich brauche ein offenes Ohr und die Gabe der Verstellung, ich brauche jemanden, der klug wie ein Fuchs ist, aber noch nicht mächtig wie ein Löwe. Mächtige läßt man nicht aus den Augen, und sie leben gefährlich … Verstehst du mich?«
Alessandro schaute ihn lange prüfend an; schließlich nickte er.
»Du kannst auf mich setzen«, fuhr der Kardinal fort. »Aber denke immer daran: Die spanische Partei kennt keine Skrupel. Und am skrupellosesten ist unser reizender Lebemann Rodrigo aus dem Hause Borgia. Laß dich nie von ihm einwickeln! Er ist falsch und gewandt wie eine Schlange.«
Der Kardinal war aufgestanden, schob ihm einen Beutel mit Münzen in die Hand und wandte sich zum Gehen. Aber dann drehte er sich noch einmal um und drückte ihn an sich. Alessandro war erschrocken über diese Geste, er war auch erschrocken über die Kraft und Festigkeit des Körpers, der ihn umarmte. Unter seinem langen Purpurgewand hatte dieser Mann den Körper eines Kriegers.
Kardinal della Rovere stieg mit schnellen Schritten die Treppe hinunter. Unten hörte Alessandro den Kastellan katzbuckeln und schmeicheln. Alessandro zog sich wieder mehrfach den Deckenbalken hoch. Er hatte seine Kraft noch nicht verloren, und wer auch immer veranlaßt hatte, ihn hier einzusperren – dieser Jemand konnte ihm nicht auf diese Art seinen Willen aufzwingen.
Alessandro wanderte unruhig auf und ab und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Obwohl nur der Zweitgeborene, würde er einmal der Berühmteste seines Geschlechts sein, der Mann, von dem ganz Rom sprach, der die Farnese endlich aus dem Schatten der Orsini und Colonna herausführte. Und aus dem Schatten der Borgia natürlich, der spanischen Eindringlinge, die sich anmaßten, in Rom den Ton angeben zu wollen, nur weil einer von ihnen, der Onkel des jetzigen Kardinals, zum Papst gewählt worden war. Alessandro war Kardinal Rodrigo Borgia mehrfach begegnet, einem Mann von beeindruckend mächtiger Statur und einer schönen Stimme, freundlich, jovial, immer gut gelaunt. Ein Liebhaber des weiblichen Geschlechts, dies war allgemein bekannt. Mehrere Kinder sollte er haben, davon drei oder vier von einer einzigen Frau, und er vergötterte sie. Der Neffe eines Papstes, der selbst die Papstwürde anstrebte, setzte sich mit großer Selbstverständlichkeit über die kanonischen Gebote hinweg, die Keuschheit und Kinderlosigkeit verlangten!
Alessandro blieb nachdenklich in seiner Zelle stehen. Alle Kardinäle und Prälaten vögelten nach Lust und Liebe, hielten sich Konkubinen oder wanderten von Kurtisane zu Kurtisane. Vögeln war wie Essen und Trinken. Jesus, der Mann aus Nazareth dagegen – vielleicht war er doch in den Armen Maria Magdalenas weich geworden. Seine Jünger beschönigten die Wahrheit ein wenig, um das Vorbild ohne Makel erscheinen zu lassen. Alessandros Lehrer an der Accademia Romana hatten ihm genügend über das antike Herrscherlob und all die Panegyriker erzählt. Man machte aus dem König einen soter, einen Retter und Heiland, schließlich einen Gott. Und den Zimmermannssohn und Wunderheiler, der im jüdischen Land umherwanderte und dem einfachen Volk predigte wie vorher schon andere Propheten, erklärten sie zum Gottessohn. Aber warum durfte man sich als sein Jünger und Diener nicht fortpflanzen? Warum sollte man nicht heiraten? Einen überzeugenden Grund dafür hatte ihm noch keiner verraten können. Christus’ höchster Jünger und erster Papst, der heilige Petrus, war verheiratet, und sein Herr hat sich nicht daran gestört. Nirgendwo in der Heiligen Schrift forderte er die Ehelosigkeit der Priester.
Das Zölibat hatten frauenfeindliche Päpste und Kardinäle im zweiten Laterankonzil durchgesetzt, Männer, die wie der Kirchenvater Tertullian in der Frau einen Tempel über einer Kloake sahen, des Teufels Pforte. Der Borgia dachte sicherlich nicht so wie der alte Eunuch aus Karthago. Er las morgens die Messe und ging anschließend zu seiner Geliebten, um gut zu essen und zum Nachtisch einen Sohn zu zeugen. Vor dem Abendessen spielte er mit seinen Kindern, und nachts trieb er sich noch bei einer der sanft singenden Kurtisanen herum. Zwischendurch dachte er darüber nach, wie er sich die fettesten Happen der Kirche unter den Nagel reißen konnte. Das war der Borgia, der Italienisch nur mit einem hart rollenden R sprach, aber schmeicheln konnte wie eine geübte Kupplerin.
Alessandro stellte sich an das winzige Fenster seiner Zelle, durch das die untergehende Sonne einen gelbglühenden Lichtstrahl schickte, und er schloß geblendet die Augen. Er faltete die Hände und flüsterte: »Herr, hilf deinem Diener! Laß ihn seinen Weg gehen! Erleuchte ihn! Und gib ihm eine nie erlahmende Kraft!«
5. KAPITEL
Silvia wachte schon beim ersten Sonnenstrahl auf und fürchtete, ihrem Vater zu begegnen. Er ließ sich jedoch nicht sehen, auch Rosella begegnete ihr nicht. Stumme Tage folgten. Rosella tauchte wieder auf, einsilbig und mißgelaunt. Der Vater, dem Silvia schließlich doch über den Weg lief, übersah sie. Dann plötzlich verkündete er ihr, ohne Erklärungen, sie werde in Zukunft im Kloster Santa Cecilia leben.
Sie senkte den Kopf, warf ihm dann aber einen Blick zu, der ihn umstimmen sollte. Sie war doch seine einzige Tochter, sein letztes ihm verbliebenes Kind! Hatten sie nicht kuschelige Abende vor dem Kamin verbracht, waren ausgeritten in die Weinberge, hatten in den Ruinen herumgestöbert, gemeinsam musiziert, sogar Apuleius’ Metamorphosen gelesen! War sie nicht um ein Haar der Schändung, womöglich dem Tod entgangen! Und nun verbannte er sie ins Kloster!
»Warum?« heulte sie los.
Er stand in der Tür wie ein Erzengel und ließ sich nicht erweichen, obwohl auch ihm die Augen feucht wurden. »Deine Mutter lebt nicht mehr, und ein junges Mädchen braucht einen geschützten Ort, an dem sie ungestört wachsen kann, bevor sie in Reinheit und Keuschheit erblüht.«
Silvia heulte immer noch, aber jetzt vor Wut. »Und was ist mit Bianca? Soll ich denn überhaupt nicht mehr reiten dürfen? Und mein kleiner Zeisig?«
»Du wirst ohne deine Tiere gehen und ohne deine Bücher. Das Kloster in Trastevere wird dir alles bieten, was deine Neugierde befriedigen kann.« Bevor er sich umdrehte und den Raum verließ, erklärte er noch in bedeutsamem Ton: »Aus den größten Sünderinnen können die größten Heiligen werden.«
Sie verstand nicht, was er sagen wollte, aber bevor sie antworten konnte, war er schon verschwunden.
Silvia ballte die Fäuste und drückte sie dann auf ihre Augen, bis rötliche Sterne durch die Dunkelheit schossen. Plötzlich hörte sie Rosella lachen, die, ohne daß Silvia es bemerkt hatte, hinzugekommen war. Mit geschwollenen Augen starrte Silvia sie an. Rosella lachte sie aus! Aber es war kein mitleidvolles oder auch spöttisches Lachen, sondern ein Lachen, das wie ein Dämon von ihrem Körper Besitz ergriff, es schüttelte sie und riß ihr die Zähne auseinander, ihr schwerer Bauch schwang hin und her wie eine riesige Schweinsblase. Plötzlich verließ der Dämon sie wieder, sie fiel zusammen und schluchzte auf, drückte Silvia an ihren Bauch und flüsterte: »Du wirst ihn noch lieben.«
Meinte sie ihren Vater? Oder Alessandro? Oder das Kind in ihrem Leib?
Silvias Augen füllten sich mit Tränen. Sie hockte sich zu Rosella in die Fensternische, und beide weinten. Die Tränen liefen die Wangen hinunter. Silvia schneuzte sich, dann auch Rosella. Sie merkte, wie mit den Tränen die Trauer weggeschwemmt wurde. Rosella wischte ihr das Gesicht trocken, und Silvia tat das gleiche mit Rosella. Beide mußten lächeln und lagen sich dann lange in den Armen.
»Du mußt ihm gehorchen«, sagte Rosella, »aber du wirst nicht ewig im Kloster bleiben, das verspreche ich dir.« Sie hob Silvias Kinn und sah ihr forschend in die Augen. »Ich weiß, was in deinem Kopf vor sich geht. Du möchtest wegrennen. Aber du wirst es nicht können. Sehr schnell wird man dich wie ein aufgeregtes Huhn einfangen. Und denke daran, was uns auf dem Weg nach Bracciano zugestoßen ist. Die Straßen Roms sind, insbesondere nachts, voll von gewalttätigen Männern. Junge Mädchen werden aufgegriffen und an die Türken oder Mauren verkauft. Und vorher …«
Silvia wollte Rosellas Versprechung Glauben schenken, aber es gelang ihr nicht. Ihr Vater wirkte so abweisend und entschlossen. Er wollte ungestört sein bei seinem Treiben mit seiner neuen Geliebten. Und auch Rosella mußte es recht sein, wenn die Tochter aus dem Haus war. Dann konnte sie erst richtig schalten und walten, wie sie wollte. Wahrscheinlich wurde ein Komplott geschmiedet. Rosella tat zwar so, als hielte sie zu Silvia, aber in Wirklichkeit betrieb sie ihre Vertreibung ins Kloster. Silvia mußte an Alessandro denken. Zuerst er … und jetzt sie … beide waren sie eingesperrt … verband sie nicht das gleiche Schicksal?
Rosella schaute aus dem Fenster und wechselte das Thema. Sie erzählte nun von Überfällen auf Pilger und geschändeten Wäscherinnen. Von jungen Adelssprößlingen, die auf Abenteuersuche gingen und allzugern miteinander rauften. »Aber dabei bleibt es nicht. Sie haben ein zu hitziges Gemüt und greifen sofort nach ihrem Degen, und am nächsten Morgen findet man dann einen Colonna oder Orsini im eigenen Blut liegen. Oder man fischt ihn aus dem Tiber.«
Während Rosella sprach, mußte Silvia an ihren ältesten Bruder denken, der häufig nachts umhergezogen war und ebenfalls sehr schnell seinen Degen gezückt hatte. Niemand hatte seinen Tod aufklären können. »Ein Raubmord«, hieß es. Tatsächlich fehlte auch seine Börse. Aber warum hatte man ihn so zugerichtet? Vielleicht war es um etwas ganz anderes gegangen: um eine Fehde. Oder um eine Frau.
Rosella wurde plötzlich sehr lebendig. »Wenn sie sich genug geprügelt haben«, fuhr sie fort, »ziehen sie anschließend von einer Kurtisane zur anderen und lassen sich verwöhnen. Und machen ihnen reiche Geschenke. Hast du die Kurtisanen während der Messe schon einmal beobachtet, wie sie auftreten, in ihren goldschweren Gewändern, mit ihren funkelnden Edelsteinen? Wie Herzoginnen! Umgeben von schwarzen Dienern und jungen Tscherkessinnen. Manche fahren sogar Kutsche! Sie können schön singen, klug plaudern, einige dichten ganz ordentlich, und in der Kunst der Liebe übertrifft sie niemand. Sie ernähren eine große famiglia und zahlen hohe Steuern, sie kennen die meisten Kardinäle und Prälaten und die Männer aus den besten Familien. Cortigiana honesta curiam sequens dürfen sich die erfolgreichsten nennen! Aber sie verdienen diesen Ehrentitel auch!«
Rosellas Gesicht hatte eine leichte Röte überzogen, und die Augen leuchteten. »Diese Frauen beherrschen die Männer. Viele von ihnen besitzen Mietshäuser und verleihen sogar Geld, wenn sie alt geworden sind.« Sie strich sich über ihren Bauch und verzog ihren Mund verächtlich nach unten. »Den Balg werfe ich in den Tiber.«
»Das darfst du nicht«, rief Silvia. »Nur Gott darf Leben geben und nehmen. Die sbirren werden dich in den Torre di Nona sperren, und später wirst du hingerichtet.«
Rosella schnaubte vor Verachtung.
In diesem Augenblick bewunderte Silvia sie. Sie selbst wurde ins Kloster abgeschoben, aber Rosella war stark, obwohl sie ein Kind unter dem Herzen trug. Rosella war als schmutzige Dienstmagd in das Haus der Ruffini gekommen und nahm schon jetzt die Stelle der Herrin ein. Und sie sang inzwischen so schön wie eine Nachtigall in den Morgenstunden.
Am nächsten Morgen wurde Silvia früh geweckt. Der Weg ins Kloster stand ihr bevor. Der Vater tauchte verschlafen auf und gab Anweisungen, Rosella war nirgendwo zu entdecken. Neben einer kleinen Truhe durfte Silvia nur eine Bibel, ihren Rosenkranz aus Ebenholz und ihr kleines Kruzifix mitnehmen. Als sie das Haus verließ, winkte ihr der Vater noch einmal zu. Sie rannte zu ihm, klammerte sich an ihn. Auch er drückte sie nun an sich.
»Lerne Gehorsam und Verschwiegenheit und zügle deine Neugier!« flüsterte er.
Als die Kutsche den Tiber überquerte, wäre sie am liebsten in den Fluß gesprungen. Aber das Trampel, das noch nie viel gesprochen hatte und auch jetzt den Mund nicht öffnete, saß drohend neben ihr und beobachtete jede ihrer Bewegungen. Draußen auf der Brücke starrten zahnlose Männer vor sich hin, Wasserträger schwitzten unter ihrer Last, und Schweine wurden in die Stadt getrieben. Hoch zu Pferd ritt ein junger schöner Edelmann vorbei, in einem langen samtschwarzen Mantel, auf einem Rappen, dessen Fell seidig glänzte. Er warf Silvia einen neugierigen Blick zu und grüßte sie. Sie erschrak und schrie auf, winkte aufgeregt und rief »Alessandro!«. Ja, der junge Mann war ihr Alessandro. Dies dachte sie wenigstens. Das Trampel drückte sie auf den Sitz zurück. Der Reiter bückte sich und schaute prüfend in die Kutsche, schaute sie an. Silvia winkte heftig. Er lächelte, winkte zurück und ritt dann weiter. Verwirrt starrte sie ihm nach. Nein, es war nicht Alessandro gewesen, aber der junge Edelmann sah ihm ähnlich. Lange schwarze Haare, dazu dunkelbraune Augen und ein weiches Kinn, auch weiche, wohlgeformte Lippen. Noch einmal reckte Silvia den Kopf aus dem Kutschenfenster und starrte ihm nach, und er schaute sich um. Nein, Alessandro war es tatsächlich nicht, aber der Reiter konnte sich an Schönheit durchaus mit ihm messen. Wieder zerrte das Trampel an ihrem Kleid, und Silvia ließ sich zurücksinken.
Warum war sie kein Mann? Als Junge könnte sie jetzt auf dem Rücken von Bianca Abenteuern nachjagen. Als Junge wäre sie frei. Kein Vater könnte sie ins Kloster sperren. Als Mädchen stieß sie dagegen überall auf Mauern.
Silvia seufzte. Das Trampel neben ihr reagierte nicht. Manche Menschen waren stumpf wie ein Holzbock.
Aber Silvia war anders. Sie wollte die Welt kennenlernen und nicht im Kloster ihre Zeit mit Beten von Rosenkränzen verbringen. Ihr Körper bebte. Sie wollte Alessandro, ihren Retter, wiedersehen. Sie wollte mit ihm auf ihrem Schimmel über die Weinberge reiten, am frühen Morgen, wenn die Lerchen sangen, in die Sonne hinein. Während sie intensiv an ihn dachte, verstärkte sich ihr Sehnen, es verstärkte sich in ihrem ganzen Körper, ganz besonders da, wo die Ehre einer Jungfrau saß. Zum ersten Mal in ihrem Leben durchglühte sie feuchte Hitze, und sie zitterte am ganzen Leib. Sie sah den Schimmel grasen, und neben ihm den Rappen. Die saftigen grünen Gräser und der Mohn schwangen im Sonnenlicht. Ihr Zeisig sprang von einem Ast zum anderen und trillerte vergnügt vor sich hin. Sie lag im Gras, und neben ihr lag Alessandro. Er nahm sie in den Arm, und sie konnte sich nichts Schöneres vorstellen.
6. KAPITEL
Alessandros Stimmung wechselte von Tag zu Tag. Als hätte ihn, wie Saulus, ein Strahl der Erleuchtung getroffen, betete er stundenlang und verscheuchte dabei alle sündigen Gedanken. Er fühlte die Kraft, jeglicher Versuchung zu widerstehen, und sah sich, wie einst der Heiland im Gelobten Land, durch Roms Straßen ziehen, das Wort Gottes predigen, in stillen Oratorien gemeinsam mit seinen Anhängern beten. Sie hingen an seinen Lippen, sie verehrten ihn, und er erteilte den Segen. Wie der heilige Franciscus suchte er die Armut und sprach mit den Vögeln. Versuchungen in weiblicher Gestalt traten an ihn heran, aber mit einem sanften Noli me tangere wies er sie zurück. Lange Zeit hatte er ihnen widerstanden, bis die eine kam und ihn hinabzog in den so angenehmen Feuerschlund der Leidenschaft.
Und nun war erneut eine Versuchung an ihn herangetreten – eine sanfte, kindliche, unbefleckte wie die Gottesmutter. Nein, eine Versuchung war sie nicht, sie verkörperte die reine, die göttliche Liebe. Er konnte ihr die Hand reichen, sie segnen und weiterschreiten – zu den Hohepriestern. Mit ihnen stritt er über den wahren Glauben, und seine Worte, gewaltig wie die der Propheten und gleichzeitig unwiderlegbar wie die der griechischen Sophisten, ließen sie verstummen. Aber dann hörte er doch die Menge Barabbas, Barabbas schreien, er spürte das Kreuz auf seinen Schultern, die Dornenkrone drang in seinen Schädel und erzeugte Schmerzen wie die stickige Luft im Kerker. Je mehr er sich in seinen Gedanken Golgatha näherte, desto stärker fühlte er sich abgelenkt. Die Flöhe bissen an diesem Tag besonders heftig, und auch die Läuse gierten nach Blut und quälten ihn mit unerträglichem Jucken.
Er schrie nach den Wärtern; das Ochsenauge brachte ihm sauberes Leinenzeug und einen frischen Strohsack. Der Gestank aus dem Eimer stach ihm in die Nase und erzeugte eine solche Übelkeit, daß er sich übergeben mußte. Der Blick auf das Kruzifix ließ ihn erschauern. Sie hatten ihn höhnisch ans Kreuz genagelt und in der brennenden Sonne verdörren lassen. Alessandro spürte die Schmerzen in den Füßen, den Händen, auf dem Kopf, und zitternd mußte er sich auf seine Pritsche legen, noch immer von Übelkeit gequält.
Am nächsten Tag dann verdorrten ihm die Gebete zwischen den Lippen, er lief durch seine Zelle, verlor jedes Schachspiel und viel Geld an den Kastellan und brüllte die Wärter an, die er dann, weil sie ihn zusammenschlagen wollten, durch einen vollen Dukaten besänftigen mußte. Er hielt es in diesem stickigen, stinkenden Turm nicht mehr aus, in dieser Burg der gefallenen Engel, in Luzifers Mauern, im Hort der Dämonen, die als Fledermäuse, Krähen und Raben ihn umschwirrten und die aus den wirren Worten des Kastellans sprachen. Stundenlang starrte er durch sein Luftloch nach draußen, bis die Sonne sank und für ein paar Atemzüge ihre glühenden Strahlen hereinschickte.
Nein, er hielt es nicht länger hier aus! Er wurde nach dem Besuch des Kardinals della Rovere besser versorgt als zuvor, aber er fühlte sich wie ein Spielball unbekannter Mächte und nicht wie der heilige Georg, der Drachenbezwinger.
Als hätte er sie herbeigezwungen, erschienen plötzlich seine Mutter, sein Bruder Angelo und seine Schwester Giulia. Das Ochsenauge glotzte mit offenem Mund, der Ziegenbock buckelte. Die Ochsenaugen wurden zu Stielaugen, als Giulia, die Nase rümpfend über den stechenden Gestank der Behausung, das Glotzen mit einem Lächeln erwiderte. Alessandros Mutter trug ihr Gesicht verschleiert, der Bruder erschien bunt gekleidet, mit Federbusch, gepolstertem Wams und zweifarbigen längsgestreiften Beinkleidern, die hauteng anlagen und in spitzen Lederschuhen endeten. An seiner Hüfte baumelte ein Schwert mit einem goldverzierten Griff, von dem die Ziegenbocknase den Blick nicht abwenden konnte. In seiner Hand hielt er ein Paket.
»Huldigt ihr, meine schwarzen Engelchen, huldigt ihr!« hörte Alessandro den Kastellan rufen.
Seine Mutter schickte ihn und die Wärter die Treppe hinab.
»Madonna, du gnadenreiche, Mutter der Engel, verzeih deinem unwürdigen Diener!« grölte noch immer der Kastellan von unten.
Die Mutter hob nun den Schleier und nahm Alessandros Behausung in Augenschein. Ihr Blick wanderte angeekelt über den verschmutzten Boden, das Durcheinander der Strohballen und die aufgehäuften Leinentücher. Angelo legte das Paket auf den Tisch, lächelte seinen Bruder unsicher und gleichzeitig entschuldigend an und verzog sich schließlich zu dem Luftloch, durch das er nach draußen zu spähen versuchte. Nur Giulia war Alessandro sofort in die Arme geflogen und ließ ihn nicht wieder los.
»Giulia, setz dich!« herrschte die Mutter sie an.
Giulia löste sich langsam aus Alessandros Armen, flüsterte ihm noch »Ich habe es nicht verhindern können« ins Ohr.
Die Mutter nahm das Paket und packte ein in Leder gebundenes und reichverziertes Missale aus, dazu zwei weitere Bücher, eine Sammlung von Texten der Kirchenväter und die Confessiones des Augustinus. »Ich habe sie dir mitgebracht, damit du dir mit ihnen die Langeweile vertreiben und dich auf deine Zukunft vorbereiten kannst.«
Alessandro reagierte nicht.
»Ich habe die Confessiones auch gelesen«, sagte Angelo.
Über die Stirn der Mutter huschte ein Stirnrunzeln.
Alessandro schaute die beiden an, ohne die Bücher in die Hand zu nehmen, ohne sich zu bedanken.
»Du weißt, weswegen du hier bist?« Die Stimme seiner Mutter war ein wenig sanfter, aber noch immer sprach sie, als hätte sie einen ihrer Schafhirten vor sich.
»Ich hörte, ich sei eine Art Geisel, damit sich mein Condottiere-Bruder nicht mit den Orsini gegen den Papst stellt. Ich wußte allerdings nicht, daß er eine derartige Gefahr für den Heiligen Stuhl darstellt, und frage mich, warum man ihn nicht an meiner Stelle einsperrt.«
Angelo wollte etwas sagen, hielt aber nach einem Blick auf seine Mutter seine Worte zurück.
»Und ich hörte«, erwiderte sie, »du hättest dich durch unangemessene Äußerungen über den geistlichen Stil des Heiligen Vaters und durch aufwieglerische Bemerkungen über die Sicherheit in Rom und auf den Straßen des Patrimoniums unbeliebt gemacht. Außerdem sollst du Gott geleugnet haben.«
»Herrgott, was sind das für dumme Gerüchte!«
»Auch dumme Gerüchte haben schon manchem den Kopf gekostet!« Sie ließ sich nun vorsichtig auf einem Schemel nieder, tupfte sich den Schweiß von der Stirn.
»Wieso? Schwebe ich hier gar in Lebensgefahr?« Alessandros Stimme war leise geworden. Giulia schaute ihre Mutter erschrocken an, und auch Angelo machte eine zweifelnde Miene.
»Ich hoffe nicht.«
Alessandro studierte ihr Gesicht, konnte aber nicht erkennen, ob sie ihn täuschen, ob sie ihm Angst einjagen oder verwirren wollte. Wahrscheinlich beabsichtigte sie nur, ihn unter Druck zu setzen. Mit aller Macht überfiel ihn nun das Absurde und Unerträgliche seiner Situation. Er war noch immer eingesperrt wie ein Verbrecher, obwohl er nichts anderes getan hatte, als ein paarmal seine Arbeit zu vernachlässigen und womöglich die eine oder andere lose Bemerkung fallen zu lassen. Aber immerhin hatte er einem Mädchen das Leben gerettet! Und seine Familie holte ihn nicht etwa sofort heraus, sondern ließ ihn schmoren. Nach Wochen erschien seine Mutter, Gott allein wußte, wer ihr die Genehmigung erteilt hatte, kein Wort des Mitleids, der Sorge – im Gegenteil! Er ertrug nicht länger diese Situation, er war ein geduldiger Sohn, aber dies war zuviel!
»Wann komme ich hier endlich raus?« schrie er.
»Ich bin ein Farnese und muß hier wie eine Ratte hausen, mit anderen Ratten zusammen – und Fledermäusen!«
Seine Mutter hielt den Kopf leicht schräg, mit hochgezogenen schmalen Brauen. »Du vergißt, daß du auch ein Caetani bist, und als Caetani sollst du Kardinal werden! Deine Sorglosigkeit muß dir ausgetrieben werden, ein für allemal.«
Alessandro hatte sich abgewandt und starrte auf die grauen Steine der Mauer. »Wenn du meinst, daß du mich auf diese Weise zu etwas zwingen kannst, dann täuschst du dich.« Seine Stimme wurde leise, und er dachte nicht daran, seine Mutter anzuschauen. Giulia legte ihm nun ihren Arm auf die Schulter.
»Sag mir, was ich für dich tun kann«, flüsterte sie ihm ins Ohr, »Angelo will dir ebenfalls helfen …« »Giulia, laß auch mich an deinen Worten teilhaben!« Die Stimme seiner Mutter war schneidend und kalt.
Alessandro ergriff die Hand seiner Schwester, drehte sich aber wieder seiner Mutter zu. »Keiner hat das Recht, mich einzusperren, auch du nicht.« Seine Mutter verzog keine Miene.
Es gab keinen Zweifel mehr daran, daß er in erster Linie seiner eigenen Mutter diese unerträgliche Lage verdankte. Und trotzdem, so widersinnig es war, er haßte sie nicht, im Gegenteil, er liebte sie sogar, wie er eigentlich seine gesamte Familie liebte und noch heute nicht den Tod des Vaters verwunden hatte. Der Vater hatte ihm das Jagen und das Reiten beigebracht, das Bogenschießen und Fechten, sein Vater hatte ihn zu den berühmten Humanisten der Accademia Romana geschickt und war stolz, als sein Lehrer Pomponeo Leto ihm berichtete, sein Sohn Alessandro schreibe schon als Vierzehnjähriger ein so elegantes Latein wie Cicero.
Sein Vater drückte zufrieden, ja stolz lächelnd die Brust heraus, als gelte das Lob ihm persönlich, und schlug seinem Sohn anerkennend auf die Schulter.
»Schickt Alessandro nach Florenz, an die Accademia Platonica«, riet ihm Leto. »In der Stadt am Arno hat Lorenzo de’ Medici, il Magnifico, das Sagen, ein Mann, der vom Geist der Alten durchdrungen ist, dort florieren die Künste, dort herrscht die Freiheit – während hier in Rom, na, Ihr wißt ja selbst! Wir wurden verfolgt, unsere Gedanken verboten, ich mußte sogar ins Gefängnis. Auch wenn die Lage sich heute gebessert hat – schickt ihn nach Florenz. Dort können sich seine großen Gaben entfalten.«
»Aber unser Alessandro steckt seine Nase nicht nur in Bücher«, antwortete der Vater, »er reitet gern, geht auf die Jagd und wirft schon jetzt ein Auge auf das weibliche Geschlecht – ohne es allerdings anzurühren!«
»Die Natur ist das weiseste Buch, sagte schon Lucretius Carus«, beschied ihn Leto, und sein Vater schaute Alessandro voll stolzer Liebe an und nickte. Aber seine Mutter hatte durchgesetzt, daß Alessandro noch im selben Jahr, anno domini 1482, eine lächerliche Schreiberstelle im Vatikan übernehmen mußte und nicht in Florenz seine Studien vervollständigen durfte.
»Ich will nur das Beste für dich«, sagte seine Mutter, nun mit sanfterer Stimme.
Alessandro antwortete nicht. Er wollte nur frei sein und weder in der Engelsburg noch im Skriptorium ersticken.
»Ich will dir etwas erzählen, mein lieber Sohn«, fuhr sie fort. »Vielleicht wirst du mich dann verstehen. O Gott, ist das hier stickig!« rief sie aus und fächelte sich Luft zu. »Kurz vor deiner Geburt quälte mich ein furchtbarer Traum: Ich sah das Nest eines Adlers mit vier Jungen. Plötzlich senkte sich ein Schatten herab, und ein Geier mit schwarzen Schwingen stürzte sich auf die Jungen. Der Kampf zwischen dem Adler, der seinen Nachwuchs verteidigte, und dem Geier tobte hin und her. Bevor er entschieden war, wachte ich auf, zitternd vor Angst. Von nun an glaubte ich, mein Kind müsse bei der Geburt sterben. Ich schlief kaum noch und magerte ab. Ich besuchte einen Astrologen. Für die Zeit deiner zu erwartenden Geburt sah er Jupiter im Aszendenten. ›Für einen Menschen, der im Zeichen der Fische geboren wird, eine seltene Konstellation. Aber laßt Euer Kind erst auf die Welt kommen, dann kann ich Euch ein genaues Horoskop erstellen.‹ – ›Und wenn er stirbt?‹ fragte ich. ›Unser aller Leben liegt in Gottes Hand‹, hörte ich. Ich besuchte täglich die Messe und gelobte dem Barmherzigen, dich Benedetto zu nennen, wenn du ein Junge würdest und überlebst. Benedetto wie dein Urahn, der Papst. Ich gelobte, dich in tiefer Frömmigkeit zu erziehen und auf ein geweihtes Leben vorzubereiten. Und dann kamst du als ein gesunder Junge zur Welt. Auch ich überlebte. Der Barmherzige hatte mich erhört. Er wollte, daß ich mein Gelübde erfülle. Aber dein Vater wollte von Benedetto nichts wissen. Er wollte dich noch nicht einmal Augusto nennen, nach dem Friedenskaiser, sondern Alessandro, nach dem griechischen Welteroberer. Nach einem jähzornigen Feldherrn, der mit dreiunddreißig Jahren starb. Ich stritt mich mit deinem Vater, so wie noch nie. Er schlug mich sogar. Kannst du dir das vorstellen? Er schlug mich, eine Caetani.«
Seine Mutter holte tief Luft und strich sich wie unabsichtlich über ihre Wange. »Wenn ich mein Gelübde breche, dann werde ich verdammt sein, und du wirst mit dreiunddreißig sterben!«
Sie holte noch einmal Luft und seufzte. Ihre Augen hatten plötzlich allen Halt verloren, und über ihr Gesicht huschten Angst und Trauer. Dann aber riß sie sich wieder zusammen und starrte ihn drohend an. »Verstehst du mich?«
»Ich verstehe dich, aber ich halte deine Ängste für Aberglauben.«
Seine Mutter versteinerte. Angelo blickte ihr ängstlich ins Gesicht, Giulia drückte sich an Alessandro.
»Gleichgültig, was aus mir wird«, fuhr er fort, und seine Stimme begann vor Wut zu beben, »ich will hier hinaus. Wenn es dir gelungen ist, mich hier hereinzubringen, dann kannst du mich auch wieder herausholen. Keinen Tag länger will ich bleiben!« Er schrie nun. Am liebsten hätte er seine Mutter gepackt und ihre von Aberglauben bestimmten Erziehungsmaßnahmen aus ihr herausgeschüttelt. Er griff nach den Confessiones und warf sie mit aller Wucht auf den Boden.
Angelo hob das Buch vom Boden auf, wischte den Staub ab und legte es wieder neben das Missale.
Seine Mutter stand auf. »Du benimmst dich wie ein Pferdeknecht!« Ihre Stimme zitterte vor mühsamer Beherrschung, ihre Mundwinkel waren verächtlich heruntergezogen. »Versprich mir, daß du dich in Zukunft deinem Amt als Skriptor gewissenhaft widmest, und …«
»Ich verspreche gar nichts, bevor ich nicht aus diesem Loch heraus bin. Und ich lasse mich auch nicht mehr von dir bevormunden.« Alessandro schrie noch immer.
»Dann bleibst du hier«, sagte sie, fast unhörbar leise. Sie bedeckte ihr Gesicht wieder mit ihrem Schleier und ging zur Treppe. »Angelo! Giulia!« Ihr schneidender Ruf ließ die beiden zusammenzucken.
Angelo lächelte, und in seinem feinen Aufzug wirkte er besonders hilflos.
Giulia gab Alessandro einen Abschiedskuß. »O Alessandro, es ist alles so schlimm«, flüsterte sie.
7. KAPITEL
Die Ankunft im Kloster Santa Cecilia war weniger schlimm, als Silvia befürchtet hatte. Sie wurde warmherzig von einer noch jungen Mutter Oberin begrüßt, deren große, fast schwarze Augen sie augenblicklich in Bann zogen. Dann wurde sie neu eingekleidet und in ihre Zelle geführt. Sie seufzte vor Erleichterung. Wenigstens hatte sie eine Zelle für sich allein! Und auch die Haare waren ihr nicht geschoren worden. Eine kleine Novizin aus den Albaner Bergen sollte das Trampel ablösen und sie bedienen. Silvia seufzte ein zweites Mal vor Erleichterung auf. Dann stellten sich ihr die zukünftigen Lehrer vor: alles graubärtige Dominikaner. Auch der Beichtvater erschien, ein düsterer Mann mit eingefallenen Wangen und tiefen Furchen im Gesicht. Die knochige Hand des Paters tastete sich über die Bibel und legte sich dann auf ihre Schulter. Unwillkürlich brach Silvia in Tränen aus.
Abends, nach dem Completorium, führte die Mutter Oberin sie persönlich in ihre Zelle, sprach beruhigend auf sie ein, betete das Credo und das Ave Maria mit ihr. Silvia fühlte sich plötzlich seltsam beschützt, schlief schnell ein und blieb traumlos bis zum Matutinum, der Frühmesse.
Doch schon nach wenigen Tagen langweilte sie sich. Die ewigen Andachten und Gebete, der trockene Unterricht, die niedergeschlagenen Augen. Das Schweigen bei den Mahlzeiten, die monotone Stimme der Vorleserin.
Die Mutter Oberin nahm sie häufig in den Arm. Ihr Taufname sei Ippolita, flüsterte sie Silvia eines Nachmittags zu, als sie nach der Vesper zu ihren Zellen schlenderten, sie entstamme der Crispo-Familie, habe mehrere Brüder. Daher habe ihr Vater keine anständige Mitgift aufbringen wollen, um sie standesgemäß zu verheiraten, und so sei sie ins Kloster gesteckt worden. »Das war billiger.«
Sie schaute Silvia forschend an, und Silvia entdeckte, daß sie ihre dunklen Augen schwarz umrahmt hatte. Ja, auch auf ihre Lippen hatte sie eine leichte Farbe gelegt. Die Mutter Oberin, deren Haare die Haube verbarg, die ihr Leben in den Mauern eines Klosters führen sollte, hatte sich geschminkt! Auch duftete sie wunderbar nach Lavendel. Wollte sie vielleicht, daß der Heiland sich in sie verliebte?
»Bekämpfe den Stachel des Fleisches, die Verlockungen der Wollust, kleine Silvia! Ich weiß, was dir widerfahren ist. Überall locken Dämonen. Der Teufel mit seinem Horn lauert an jeder Ecke, und manchmal tritt er auf als schöner Galan, als Retter in höchster Not.«
Silvia schaute die Mutter Oberin mißtrauisch an, doch diese erwiderte ihren Blick nicht, sondern fuhr fort, im verschwörerischen Flüsterton von den Verkleidungen des Teufels zu erzählen, von den satanischen Wegen, auf denen der Antichrist sich insbesondere den Jungfrauen nähere, und wie er es mit den Hexen treibe. Silvia wollte sich zurückziehen, aber die Mutter Oberin ließ sie nicht gehen. Sie zog sie in ihre eigene Zelle, schloß die Tür und zeigte ihr dann purpurne und blaue Flecken an ihrem Körper. »Wundmale, mein Kind, Wundmale.« Dann forderte sie Silvia auf, sich mit ihr gemeinsam vor ein Fresko zu knien, das ihre Zelle schmückte und das Silvia erst jetzt richtig wahrnahm. Noli me tangere! rief ein nur halbbekleideter, muskulöser Jesus einem Weibe zu. Die Mutter Oberin beugte sich vor, küßte den Boden, sprach in beschwörendem Ton das Pater noster und richtete dann ihr Gebet an den Heiland. Sie sprach so schnell, daß Silvia sie kaum verstand.
Die Hände vor dem Gesicht, spähte Silvia zu ihr hinüber. Und nun geschah etwas Seltsames. Mit verdrehten Augen richtete die Mutter Oberin sich auf, ihr Körper öffnete sich, als wolle er ein göttliches Wesen empfangen, und ihre Gesichtszüge verklärten sich, ja gerieten in Verzückung.
»Ich bin eine Braut Christi«, flüsterte sie noch, bevor sie auf den Boden sank.
Silvia rief sie an, doch sie antwortete nicht. Weil ihr immer unheimlicher zumute wurde, bekreuzigte sie sich und schlich sich aus der Zelle. In dieser Nacht betete sie lange, und als sie irgendwann einschlief, kamen auch ihre Träume zurück. Wieder sah sie ihre Mutter, aber die Mutter war jetzt die heilige Cecilia, die man enthaupten mußte, weil sie nicht sterben wollte, drei Schläge brauchte der Henker, drei Schläge mit einem scharfen Schwert. Silvia wollte schreien und zu ihr eilen, aber ihr Körper blieb starr und stumm.
Bei der Frühmesse sah sie die Mutter Oberin wieder. Sie lächelte Silvia warmherzig an wie immer. Hatte Silvia von den seltsamen Vorfällen in ihrer Zelle nur geträumt?
Die Träume hörten nicht auf, sondern wiederholten sich Nacht für Nacht. Während sie lange Zeit nur zusah, wie die männlichen Teufel sich an ihrer Mutter und an Rosella zu schaffen machten, ohne daß ein Retter auftauchte, wurde sie bald hineingezogen in die Tortur. Es ging ihr wie all den heiligen Jungfrauen, sie wurde gefesselt und geknebelt, gezwickt und gezwackt und schließlich von tausend Speeren durchbohrt. Auch verstärktes Fasten half ihr nichts, wie die Gebete, die sich durch die halbe Nacht erstreckten, gegen das Fieber, das sie schließlich ergriff, nichts halfen. Je höher das Fieber stieg, desto häufiger endeten die Qualen in einer sehnsüchtigen Ruhe. Silvia war eine Märtyrerin, eine Schwester der heiligen Barbara, der Heilige Vater betete für sie, ihr Vater, der sie eingesperrt und gequält hatte, kniete vor ihr nieder, an seiner Seite Rosella. Schließlich tauchte Alessandro auf und bereitete ihren Qualen ein Ende.
Als Silvia zu schwach war, um noch aufzustehen, flößte man ihr Ziegenmilch ein, die man mit Honig versetzt hatte, und schob ihr dicken Brei in den Mund. Die Mutter Oberin kümmerte sich persönlich um sie und wusch ihren dürren, glühenden Körper. Silvia rief nach Alessandro, damit er sie rette und entführe, aber nun erschien er nicht mehr. Die Wunden an ihrem Körper schlossen sich, kein Blut floß mehr aus ihm, und sie begann zu genesen. Sie dankte der Muttergottes und der heiligen Barbara und schwor, sich der allumfassenden Kirche zu opfern, den Schleier zu nehmen und sich nie mehr in die Welt hineinzubegeben.
Nach einer Weile verschwand das Fieber gänzlich, Silvias Körper gewann seine Kräfte zurück. Sie durfte wieder mit den anderen essen und am Unterricht teilnehmen. Sie lächelte die Mutter Oberin an und versprach ihr, wie sie ihr Leben im Kloster zu verbringen. Sie hatte der Welt entsagt. Ihr Opfer machte sie glücklich. Und seit langem schlief sie wieder traumlos und in Einklang mit Gott. Die Jungfrau Maria neigte ihr gnadenreiches Haupt, und der Gekreuzigte blickte mild auf sie herab. Der Frieden, der sie durchströmte, wurde nur gestört durch den Gedanken an ihren Retter. Er schmachtete in den Verliesen der Engelsburg. Silvia wußte nicht, wie sie ihm helfen sollte. Aber tröstlich war die Vorstellung, daß auch sie jetzt eingesperrt war. Wer das Opfer annahm, fand Frieden. Ob auch ihr Alessandro einmal Frieden finden würde?
Eines Morgens, als Silvia vom Lateinunterricht kam und die Arkaden des Kreuzgangs entlanghüpfte, sah sie zwei junge Mädchen, die, wie sie vor noch nicht sehr langer Zeit, in die Obhut der Mutter Oberin gegeben wurden. Zwei Novizinnen der heiligen Cecilia vielleicht oder auch nur Zöglinge wie sie. Silvia rannte neugierig zu ihnen. Obwohl sie die Mutter Oberin mit freundlichen Worten in die Zelle schickte, erfuhr sie doch ihre Namen: Clarissa und Giulia. Sie drückte ihnen die Hand. Schon vom ersten Blick an wußte Silvia, daß sie zusammengehörten, und strahlte vor Freude.
Ihr erster Eindruck täuschte sie nicht. Sehr schnell stellte sich heraus, daß alle drei nicht nur Latein beherrschten, die alten Römer bewunderten, für Boccaccio und Petrarca schwärmten, Laute spielen und singen konnten, sondern daß sie eine tiefe Herzensübereinkunft verband. Die Mutter Oberin gab ihnen angrenzende Zellen und ließ es zu, daß sie im Refektorium und während der Andachten nebeneinander saßen.
Silvia konnte sich an Giulias Anblick nicht satt sehen. Sogar in der eintönigen Klostertracht, die das Haar verbarg und sie alle häßlich machte, leuchtete ihr Gesicht. Selbst Rosella, die nicht mit körperlichen Reizen geizte, wirkte neben ihr bäurisch. Einmal half Silvia ihr beim Auskleiden, und dabei sah sie auch ihr blondes Haar, das weit über die Hüften fiel. Die großen, auseinanderstehenden Augen schauten Silvia undurchdringlich an. Trotz der blonden Haare waren sie dunkel, und dann das Lachen, das aus Giulia herausbrach … Sie umarmte Silvia und küßte sie, lachte und weinte zugleich, und Silvia vergaß die düsteren Stunden der Vergangenheit.
Clarissa dagegen, schon etwas älter, trug tiefschwarze Haare, und ihre grauen Augen starrten Silvia und Giulia feindselig an. Im Gegensatz zu Giulia war sie füllig. Sie naschte gern Konfekt, besonders Marzipan. Manchmal lachte sie ohne Grund und konnte dabei so anhaltend kreischen, daß die Mutter Oberin schon befürchtete, sie sei vom Teufel besessen. Silvia bekreuzigte sich, Giulia und Clarissa folgten ihr, sie beugten das Haupt und flüsterten das Pater noster.
Aber die eigentliche Fügung lag darin, daß Giulia eine Farnese war, mehr noch: Sie war Alessandros Schwester. Silvia dankte Gott für dieses Wunder, aber Clarissa meinte nur, von Wunder könne keine Rede sein, denn schließlich sei das Kloster Santa Cecilia, dessen Titularbischof Kardinal Borgia sei, unter den vornehmen Familien Roms sehr beliebt. Und Mama Farnese, eine Tochter der Caetani-Familie, wolle nur das Beste für ihr schönes Kind. Clarissas Stimme klang spöttisch und ein wenig neidisch. Dabei hatte sie keinen Grund, neidisch zu sein, denn schließlich war sie eine della Rovere, ihr Onkel Giuliano ein einflußreicher Kardinal.
Ein paar Tage später hatten die drei sich gegenseitig schon einige Geheimnisse anvertraut. Nach dem Completorium hatte Silvia, als sie bei einem flackernden Talglicht in ihrer Zelle hockten wie Verschwörerinnen, von dem Überfall erzählt, von dem Tod ihrer Mutter und all den schrecklichen Ereignissen. Giulia strich ihr tröstend über den Kopf. Silvia vergoß ein paar Tränen und hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre Mutter gar nicht vermißte.
»Und dein Retter?« fragte sie Clarissa mit einem lauernden Blick.
Silvia schaute Giulia an, die triumphierend lächelte.
»Weißt du es nicht?« fragte sie Clarissa.
Sie schüttelte den Kopf.
»Mein Bruder Alessandro«, platzte es aus Giulia heraus. »Und deswegen sitzt er in der Engelsburg gefangen.« Ihre Stimmung veränderte sich plötzlich. Mit düsterer Stimme erklärte sie: »Wir waren unzertrennlich, und ich halte immer zu ihm. Daher bin ich auch hier.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Clarissa und nahm sich ein Marzipanstückchen.
»Du hast auch keinen Bruder, der nur Jagd, Reiten, Spiele und vor allem Frauen im Kopf hat und darüber seine kirchlichen Pflichten vergißt. Außerdem«, fuhr sie nach einer Weile flüsternd fort, »hat er sich in Silvia verliebt.«
Clarissa prustete los, griff sich erneut ein Marzipanstückchen, und während sie an ihm lutschte, begannen sich ihre Augen in Silvia zu bohren.
Verärgert schüttelte Silvia den Kopf.
»Ich sage es dir, er hat sich in dich verliebt«, wiederholte Giulia und umarmte sie. »Was glaubst du, warum unsere Mutter so wütend war?«
»Woher soll ich wissen, daß deine Mutter wütend war?«
»Das möchte ich auch einmal wissen«, warf Clarissa ein. »Deine Mutter kann doch stolz sein, daß Alessandro solch eine Heldentat vollbracht hat. Er hat dem Wegelagerer seinen Spieß durch die Brust gerammt! ›Solche Männer braucht Rom‹, hat mein Vater gesagt, ›ich wäre stolz, wenn ich einen so tapferen Sohn hätte!‹«
Silvia wurde ganz unheimlich zumute, und sie verstand nichts mehr. Clarissa hatte doch behauptet, sie wüßte nichts von Alessandros Tat. Sie mußte gelogen haben. Ganz Rom sprach offensichtlich von dem Überfall, aber sie wurde ins Kloster gesperrt, Alessandro in die Engelsburg. Silvia sah ihn regelrecht in seinem feuchten Kerker, umgeben von Ratten, und sie wußte, daß er sich nach der Sonne sehnte, daß er sich nach ihr sehnte, sie beide ritten zusammen auf Bianca mit fliegender Mähne der Morgenröte entgegen …
»Sie hat Alessandro einsperren lassen.«
Clarissa kreischte vor Lachen. »Die eigene Mutter? Das glaube ich nicht.«
Silvia brauchte eine Weile, bis sie Giulias Worte verstand.
»Sie wollte, daß er an seine Laufbahn denkt«, fuhr Giulia fort. »Schließlich hat das Amt des Skriptors einiges gekostet.«
Silvia wollte nicht glauben, was Giulia erzählte. Vielleicht log auch sie.
»Unsere Mutter möchte nicht, daß Alessandro der falschen Fährte folgt.«
Clarissa grinste. »Was meinst du mit falscher Fährte?« fragte sie scheinheilig.
»Na, du weißt schon, Kurtisanen, Huren, Jungfrauen …«
Silvia liebte ihre beiden Freundinnen, aber nun schienen sie sich abgesprochen zu haben, sie zu verwirren und zu ärgern. Sie wollte ihnen diese Freude aber nicht lassen und gab sich ungerührt.
Giulia setzte eine bedauernde Miene auf. »Auf jeden Fall hat er jetzt Zeit, das Missale auswendig zu lernen und die Kirchenväter zu studieren.«
»Aber wie ist das möglich?«
»Der Kastellan und die Wachen sind bestochen. Wir durften ihn sogar besuchen.«
Silvia brach nun doch in Tränen aus. Alessandro tat ihr leid, sie haßte seine Mutter, und sie bemitleidete auch sich selbst. Wenn er sich wirklich in sie verliebt hatte … Und er durfte es nicht … Er sollte wahrscheinlich Kardinal werden oder gar Papst, wie einer seiner Vorfahren. Und was Giulia da über Kurtisanen andeutete … Silvia fühlte sich elend, weil sie nichts unternehmen konnte … und weil Giulia ihren Alessandro gesehen hatte, während sie hier hockte, eingeschlossen …
Giulia nahm sie in den Arm. Clarissa starrte aus dem kleinen Zellenfenster in die Sternennacht hinaus. »Ich seh die Venus«, rief sie, »meinen Lieblingsstern.«
»Und wie geht es ihm?« fragte Silvia.
»Er hält es nicht mehr aus in seinem Turm«, antwortete Giulia, »und er hat sich mit unserer Mutter gestritten. Sie will ihn schmoren lassen. Bis er klein beigibt.«
»Ich weiß gar nicht, wer meine Mutter ist. Sie ist auch schon tot«, warf Clarissa ein, aber niemand beachtete ihre Bemerkung.
»Er wird nie klein beigeben.«
»Ja und?«
Giulia hob die Schultern und ließ sie seufzend wieder fallen. »Und weil ich zu Alessandro hielt, hat sie mich ebenfalls ins Kloster gesteckt. ›Ein Klosteraufenthalt ist die beste Vorbereitung für eine Ehe‹, hat sie gesagt. Ich soll nämlich bald einen Orsini heiraten.«
»Aber ich sollte doch einen Orsini heiraten.«
»Wahrscheinlich einen anderen. Da gibt es viele unverheiratete Söhne.«
»Ich soll keinen Orsini heiraten!« kreischte Clarissa.
Obwohl Silvia eigentlich heulen wollte, mußte sie über Clarissa lachen, und auch Giulia ging es so. Schließlich lagen sie sich alle drei lachend in den Armen.
Als sie sich wieder beruhigt hatten, waren die Talglichter heruntergebrannt.
»Ich hätte es nicht erzählen sollen«, sagte Giulia.
Aber Silvia war plötzlich von einem verrückten Gedanken besessen. Sie wollte aus dem Kloster ausbrechen und Alessandro befreien. Sie wollte Giulia und Clarissa überreden, ihr zu helfen. Natürlich war es ein verrückter Einfall, das wußte Silvia, und sie stand neben sich, als wäre sie ihre eigene Mutter, die den Kopf schütteln mußte über die Träumereien ihrer jungen Tochter. Die gottgegebene Aufgabe der Frauen lag darin, dem Manne gegenüber gehorsam zu sein, wie es auch in der Bibel stand, und zu schweigen. ›Wir müssen keusch sein, wenn wir jung sind, während der Ehejahre Kinder gebären und großziehen und im Alter fromm sein‹ – dies hatte die Mutter einmal verkündet. Aber war dies wirklich ihre von Gott gegebene Aufgabe? Pflückte nicht Eva als erste den Apfel vom Baum der Erkenntnis? Vermochten die Töchter nicht ebenso geschickt zu reiten wie ihre Brüder, wenn man sie nur richtig auf dem Sattel sitzen ließ? Silvia selbst hatte sich nie zwingen lassen, im Damensitz zu reiten, und sie nahm es an Geschicklichkeit mit jedem Mann auf! War es wirklich Gottes Wille, daß Frauen dienten, schwiegen und Kinder in die Welt setzten? War es Gottes Wille, daß sie im Kloster eingesperrt wurden, wenn die Mitgift nicht ausreichte für eine Ehe?
Während draußen die Grillen zirpten und der Mond das Licht eines blinden Spiegels in die Zelle warf, sprachen die drei darüber, daß sie nicht immer nur eingesperrt sein wollten, zuerst im Kloster, dann in einem Haus oder, wenn sie gut verheiratet wurden, in einem großen Palast. Natürlich wollten sie Kinder haben und Gottes Geboten gehorchen, aber sie träumten von mehr. Wovon genau, konnte keine von ihnen sagen.
»Und ich möchte auch nicht im Kindbett sterben«, rief Clarissa, »wie meine Mama!«
Giulia schaute verloren auf das Kruzifix an der Wand.
»Laßt uns Alessandro befreien«, flüsterte Silvia. Die beiden schauten sie an, als hätten sich ihre Sinne verwirrt.
Natürlich hatten die beiden recht. Sie war nicht bei klarem Verstand. Wie sollten sie denn dem Kloster entfliehen? Und selbst wenn ihnen dies gelänge, wie könnten sie sich verbergen und dann auch noch in die Engelsburg eindringen?
Aber Giulia hatte eine Idee. Sie sah Clarissa auffordernd an: »Frag doch deinen Onkel Giuliano, ob er nicht etwas tun kann! Schreib ihm einen Brief!« »Und warum schreibst du nicht deinem Vater?«
kam es umgehend zurück.
»Er ist letztes Jahr gestorben, das weißt du genau.
Du bist gemein.«
Clarissa ging auf ihren Vorwurf nicht ein. »Außerdem ist Onkel Giuliano mein Vater«, betonte sie spitz.
Silvia entdeckte in Giulias Augen plötzlich etwas, was sie zuvor noch nicht wahrgenommen hatte. »Hat er dich legitimieren lassen?« fragte sie Clarissa.
»Nur Jungen werden legitimiert!« rief Clarissa und schaute Giulia böse an.
»Trotzdem könntest du deinem Vater schreiben«, sagte Silvia mit sanfter Stimme. »Er ist doch ein Freund des Heiligen Vaters und ein einflußreicher Kardinal. Wenn er ein gutes Wort für Alessandro einlegt … Bitte!«
»Und was tust du?«
»Ich schreibe an Rosella. Sie soll meinen Vater bitten …«
»Wer ist Rosella?«
»Das weißt du doch. Sie wurde mit mir überfallen und …«
»… ist jetzt die Konkubine deines Vaters.« Giulia lachte. Clarissa fiel in ihr Gelächter ein.
»Sie kriegt ein Kind«, sagte Silvia eingeschüchtert.
»Ein Kind! Von deinem Vater?« Clarissa kreischte auf.
Als sie sich beruhigt hatte, erklärte Giulia, sie wolle an den Heiligen Vater persönlich schreiben und außerdem noch an Kardinal Borgia. »Der Kardinal liebt seine Kinder, das weiß ich, und keine Frau sagt ihm, was er zu tun hat.«
»Mein Vater haßt ihn, wie alle Spanier«, warf Clarissa ein. »Der Borgia ist das Werkzeug des Antichrists sagt mein Vater immer, ›weh uns, wenn er den Stuhl Petri besteigt.‹«
»Morgen schreiben wir die Briefe«, rief Silvia. Giulia und Clarissa nickten. Die drei legten die Hände aufeinander, als wollten sie ewige Gemeinschaft schwören.
Dann holten sie die Strohsäcke aus den anderen Zellen und legten sie nebeneinander auf den Boden.
Sie kuschelten sich zusammen und schliefen tief und fest bis zur Frühmesse. Am nächsten Morgen lächelte die Mutter Oberin wissend, als hätte sie ihren Heimlichkeiten gelauscht.
8. KAPITEL
Alessandro hörte die beiden Wärter und auch den Kastellan schnarchen. Während der letzten Tage hatten sie häufig Schach gespielt, und Alessandro hatte ihn gewinnen lassen. Den sich langweilenden Wärtern drückte er immer wieder einige Münzen in die Hand, damit sie sich ein Mädchen holen konnten und ihn mit frischem Leinenzeug versorgten. Er hasse, so betonte er jeden Tag von neuem, unreinliche Betten, all das Ungeziefer im Turm bringe ihn noch um. Sie grunzten und schleppten saubere Laken heran. Die verschmutzten gab er nicht zurück, und die Wärter waren zu dumm oder nachlässig, sie einzufordern.
So konnte er die Laken in den Nachtstunden in einzelne Streifen reißen und sorgfältig verknoten. Die Aussicht auf eine baldige Freilassung hatte er inzwischen aufgegeben, seine Mutter hatte nichts mehr von sich hören lassen, auch Kardinal della Rovere nicht, und seine Wut verwandelte sich in kalte Entschlossenheit. Sich auf Menschen zu verlassen war der größte Fehler, den man begehen konnte. Früher oder später verrieten einen selbst Freunde oder Familienangehörige, und solch ein Verrat konnte tödlich enden. Es galt, sich keine Schwäche zu erlauben, keine Blöße zu geben und seine Mitmenschen wie Schachfiguren gegeneinanderzusetzen. Ungerührt opferte er den Bauern, ließ das Pferd den Läufer schlagen, blockierte mit dem Turm einen Angriff und setzte schließlich mit der Dame den König schachmatt.
Außerdem fühlte sich Alessandro zu jung und stark, das Gewebe der menschlichen Schicksale einfach nur hinzunehmen und sich auf einen Beobachterposten zurückzuziehen. Nein, er wollte sein eigenes Schicksal bestimmen, sich dagegen auflehnen, wenn es ihn niederdrückte. Er war achtzehn Jahre alt, kein Greis von achtzig, der gottergeben seine Schmerzen, seine Einsamkeit, gar sein Ende in einem Kerker hinnahm! Der Charakter bestimmte das Schicksal, wie schon Heraklit gesagt hatte, nicht blinder Zufall und auch nicht die Grille eines Papstes.
Am frühen Morgen starrte er im ersten Licht auf die grauen Mauersteine und verfolgte unbeweglich die zurückkehrenden Fledermäuse, die durch das Luftloch hereinflatterten, dann unter einen Balken krochen und sich schließlich zum Schlafen aufhängten. Irgendwann mußten sie Junge zur Welt gebracht haben, denn zur Zeit erschienen sie häufig und säugten ihre Brut. Meist sah er nichts, hörte nur ihr fast lautloses Flattern. Wie fanden sie nur ihre eigenen Jungen? Hunderte von winzigen Fledermauskindern hingen oben im Gebälk, und sie sahen alle gleich aus. Einmal hatte Alessandro sich, wie er es häufig tat, an den Balken hochgezogen, und plötzlich sah er dieses winzige Gewürm, diese nackten Wesen mit ihren großen Ohren. Die Mütter flatterten heran, hängten sich neben ihre Kleinen; diese klammerten sich an sie und begannen an den winzigen Zitzen zu saugen. Waren sie satt, ließen sich die Mütter fallen und verschwanden lautlos durch das Loch in der Wand.
Nach einem Besäufnis des Kastellans und der Wärter band Alessandro den Beutel mit den restlichen Bestechungsdukaten um den Hals, steckte einen Dolch in den Schaft seiner Lederstiefel und holte sich die beiden Taue aus Bettlaken, die er sich in den letzten Wochen zusammengeknotet hatte. Leise kletterte er ins Gebälk seiner Zelle. Ein Talglicht ließ ihn gerade noch erkennen, wohin er trat und wo er sich hochziehen konnte. Die Fledermauskinder waren inzwischen ihren Eltern gefolgt und jagten die ersten Mücken. Vorsichtig schob er mehrere Schindeln zur Seite und befestigte eines der Taue an einem Balken. Das zweite schlang er um seinen Oberkörper. Es war eine mondlose Nacht, und nur wenige Sterne drangen durch den Dunst, der über Rom lag. Ein paar Lichter spiegelten sich im Tiber, und weit unter sich hörte er das Scheppern von Brustpanzern. Wahrscheinlich die Wachen, die sich an die Wand lehnten oder auf dem Boden eingeschlafen waren. Oder gerade ihre Panzer anlegten.
Es dauerte eine Weile, bis Alessandro sich orientieren konnte. Unter ihm gähnte ein schwarzer Höllenschlund, in dem sich der helle Streifen des Leinentaus verlor. Reichte das Tau nicht auf den Boden, war er verloren. Dies wurde ihm nun in einer erschreckenden Klarheit bewußt. Er hatte, bevor er eingesperrt wurde, nie die Schutzmauern und Gebäude, die das ehemalige Grabmal des römischen Kaisers umfaßten, erkundet. Aber eins wußte er: Seilte er sich erfolgreich vom Turm ab, gab es noch einen weiteren Mauerring, von dem er sich herablassen mußte. Aus diesem Grund hatte er sich auch ein zweites Tau um die Brust gebunden.
Flach und schnell atmend, überlegte er, ob er wirklich fliehen und sein Leben riskieren sollte. Irgendwann mußten sie ihn freilassen. Sein Vergehen war gering, die Verleumdungen lächerlich, und seine Mutter würde an der Zwangsmaßnahme gegen ihn auf die Dauer keine Freude finden. Außerdem galt er gewiß unter den jungen Adligen Roms als Held. Und falls der Papst ihn wirklich als Geisel benutzen wollte: Die Auseinandersetzungen mit den Orsini würden ein Ende finden, und dann gab es keinen Vorwand mehr, ihn festzuhalten.
Ein schwacher Wind strich über seinen Hals. Alessandro spürte den Schweiß auf der Haut. Er schaute in die Tiefe, verfolgte den hellen Streifen, der sich im Unbekannten verlor. Es war wie ein Fingerzeig Gottes. Er schaute in den Himmel. Wo standen die Planeten? Beherrschte zur Zeit nicht Merkur die Zwillinge? Eine Zeit des Wandels, des Ausgleichs, der Verbindung? Und die Zwillinge: zwei menschliche Wesen, die zusammengehörten! Er sah wieder die kleine Silvia vor sich. Aber er konnte sie nicht festhalten, denn die geschändete und gemordete Mutter drängte sich vor sie und dann auch die Brust, die von seinem Speer durchbohrt worden war.
Alessandro schaute noch einmal in den Himmel: Das schwache Flimmern der Sterne wollte sich nicht aufhellen. Er prüfte ein letztes Mal die Verknotung des Leinenzeugs. Das Tau mußte halten. Aber trotzdem forderte er das Schicksal heraus. Er begab sich freiwillig in Lebensgefahr. Und wenn es so war: Er trotzte dem Schicksal! Er hielt es nicht länger in der stickigen Zelle aus, er wurde verrückt, ebenso verrückt wie der Kastellan. Um sich abzulenken, hatte er während der letzten Tage sogar die Confessiones gelesen. Groß bist du, o Herr, und hoch zu preisen, groß ist deine Kraft und unermeßlich deine Weisheit! So begann Augustinus seine Schrift, und er, Alessandro Farnese, würde Gott nicht minder preisen, wenn ER ihn jetzt rettete.
Alessandro atmete tief durch und ließ sich langsam herab. Sofort begriff er, daß er sich während der letzten Wochen zwar häufig an den Balken hochgezogen hatte und seine Armmuskeln noch kräftig waren, aber an Beweglichkeit hatte er trotz der Handstände eingebüßt. Sein Herz schlug bis in den Hals, und er spürte, wie der Allmächtige ihm zusätzliche Kraft einflößte. ›Groß ist deine Kraft und unermeßlich deine Weisheit‹, flüsterte Alessandro, während er sich langsam von Knoten zu Knoten hinabließ.
Plötzlich stank es nach menschlichen Exkrementen, und er spürte festen Boden unter den Füßen. Als er sich an der Wand entlangtastete, scheuchte er Dohlen auf und befürchtete schon, die Wachen könnten aufmerksam werden. Er lauschte, hörte aber nichts mehr außer den Geräuschen, die dumpf aus der Stadt heraufdrangen. Ein Pferd mußte über die Engelsbrücke gehen, er hörte das einsame Klacken der Hufe, dann einen Ruf, und nun meinte er sogar ein Klatschen zu vernehmen, als würde ein größerer Gegenstand in den Tiber geworfen. Dann war es wieder still.
Auf den Knien überquerte Alessandro die Terrasse des Rundbaus. Als er über die Zinnen schaute, glaubte er im Osten schon die ersten Streifen der aufgehenden Sonne heraufziehen zu sehen. Nun galt es nicht mehr zu zögern. Er band das zweite Tau fest. Seine Hände schmerzten. Sie waren feucht, wahrscheinlich von Blut. Aber er achtete nicht weiter darauf. Vorsichtig glitt er die Mauer entlang. Unter sich sah er gar nichts mehr, Schwärze umfing ihn wie im Grab. Zum Glück stieß er immer wieder auf Löcher im Mauerwerk, in die er seinen Fuß setzen konnte, um so einen Augenblick auszuruhen. Häufig scheuchte er dabei Vögel auf, die nach ihm hackten oder lärmend aufflogen. Also ließ er sich weiter ab, und je mehr das Tau zu schwanken begann, desto schneller. Es schnitt ihm tief in die Handflächen, und seine Kräfte erlahmten. Und dann hing er plötzlich in der Luft. Die Füße berührten das Tau nicht mehr. Er versuchte innezuhalten, einen Halt oder ein Loch in der Wand zu suchen, aber er glitt unaufhaltsam weiter. Der letzte Knoten im Tau! Und nun? Seine Beine hingen in der Luft. Wie viele Klafter noch bis zum Boden? Hieß es jetzt, dem Herrn, dessen Hilfe er beanspruchte, zu vertrauen und sich in die Tiefe fallen zu lassen?
In diesem Augenblick durchschoß ihn die Todesangst wie ein glühender Strahl. Seine Arme verhärteten sich, und er zog sich ein Stückchen hoch. Seine Füße suchten fieberhaft eine Öffnung in der Wand oder einen vorstehenden Mauerstein. Ohne zusätzlichen Halt würde er hinabstürzen und zerschmettert auf den Steinen liegenbleiben. Er hatte zu früh die Geduld verloren, er hatte Gott herausgefordert, und Gott entzog ihm seine Gnade. ER ließ ihn einfach fallen.
Aber nun fand sein rechter Fuß doch einen Halt. Alessandro zog sich an die Mauer, soweit dies möglich war, und versuchte, langsam und vorsichtig, auch mit dem linken Fuß einen Halt zu finden. Doch ein leichter Luftzug ließ seinen Körper sich drehen, und nun drohte er wieder abzustürzen.
Bevor er fiel, rasten Bilder an seinem Auge vorbei, von Gedankenfetzen durchbrochen, von Gefühlen unterlegt. Es war, als stürze sein gesamtes bisheriges Leben an ihm vorbei in einen tiefen Brunnen. Das Leben war mit einem Tau an ihn gebunden und würde ihn zum Schluß mitreißen. Er galoppierte mit seinem Vater durch die heimatlichen Olivenhaine, er sprach seine erste Beichte, er hörte das höhnische Lachen seines Lehrers, der sich über den christlichen Glauben lustig machte, und wie ein Feuer zog das schöne, herrschsüchtige Gesicht seiner Mutter vorbei. Aber dann umfing ihn Giulia, und neben Giulia lag Silvia, wie er sie gerettet hatte. Neben Silvia starrte ihn jedoch die durchbohrte Brust eines Mannes an wie das Auge des Polyphem.
Sein Fuß rutschte von dem Mauervorsprung. O Herr, allmächtiger Vater, der Du bist im Himmel, ich bin des Todes, wenn Du mir nicht hilfst, ich bin Dein unwürdiger Sohn, ich rufe zu Dir aus tiefster Not, verlaß mich nicht, ich verspreche Dir, ich werde Dir dienen, wenn Du mich rettest …
Endgültig verließen Alessandro die Kräfte, und er fiel. Bevor er einen Schrei ausstoßen konnte, landete er auf einem schrägen Ziegeldach, rutschte unter Getöse weiter nach unten, versuchte sich irgendwo festzuhalten, aber es gelang ihm nicht, und er fiel erneut.
Ein Wunder geschah. Er landete auf einem Haufen alter Kleider, dem eine ganze Armee von Ungeziefer entstob. Vom Dach rutschte noch eine einzige Schindel herab und zerschellte neben ihm.
Alessandro lauschte.
Scharren von Pferdehufen, Geraschel, Klirren von Ketten, ein dumpfer Schlag gegen eine Holzwand. Sonst Stille. Er mußte auf einen Pferdestall gefallen sein. Kein aufgeregtes Rufen, keine herbeieilenden Wachen, nichts, nur leises Schnauben. Und dann trat vollkommene Stille ein. Als würde die Ewige Stadt den Atem anhalten, schienen alle Geräusche verschwunden zu sein. Schließlich ein einzelner Ruf. Und wieder Stille. Als hätte sich ein schwarzes Leichentuch über die Stadt gelegt.
Vorsichtig bewegte Alessandro seine Füße und Beine. Er spürte einen leichten Schmerz im linken Knöchel. Er versuchte sich zu erheben. Es gelang ihm ohne weiteres. Der Triumph, der ihn durchfuhr, ließ ihn nicht auf den Schmerz im Steiß achten, ließ ihn die Gefahr vergessen, der er noch keineswegs entronnen war.
Er drang in den Stall ein, um sich eins der Pferde zu holen. Beruhigend sprach er auf die Tiere ein, strich ihnen über die Nüstern, tätschelte ihren Hals. Das freundlichste Pferd band er los und zog es vorsichtig am Halfter nach draußen. Es wieherte leise und folgte ihm. Er schaute nach links und rechts. Niemand war zu sehen oder zu hören. Hinter ihm die Mauer, unter ihm das Pflaster. Das einzige, was er nun hörte, war das leise Rauschen des Tibers. Er mußte das Pferd von der Engelsbrücke den Fluß hinauf zum Porto di Ripetta lenken. Auf der Brücke dösten Wachen, und gegenüber der Burg, am Torre di Nona, lungerten sie ebenfalls herum. Er mußte sich am kleinen Hafen übersetzen lassen.
Inzwischen dämmerte der Morgen, denn er sah die Pflastersteine, die vom abendlichen Regen glänzten. Langsam zog er das Pferd ein Stück weiter. Als noch immer niemand auf ihn aufmerksam geworden war, wollte er losreiten. Aber besaß er noch genügend Kraft, um sich auch ohne Steigbügel auf den Rücken des Pferdes zu schwingen? Ohne Sattel war er schon häufig geritten, in seiner Kindheit fast ausschließlich. Er nahm alle Kraft zusammen, griff in die Mähne des Pferdes und schwang sich hoch. Sein Steiß schmerzte höllisch. Nach dem dritten Versuch saß er auf dem Rücken des Tieres und lenkte es vorsichtig in den sich langsam aufhellenden Morgen.
9. KAPITEL
Silvia und ihre beiden Freundinnen steckten häufig verschwörerisch die Köpfe zusammen, während sie die Antwort auf ihre Briefe erwarteten. Im Lateinunterricht paßten sie nur wenig auf, so daß ihnen schon Carcer angedroht wurde. Die Mutter Oberin war selten zu sehen, und wenn, dann hatte sie plötzlich kaum mehr Zeit für die ihr Anvertrauten. Sie flatterte durch die Gänge wie ein verfolgtes Huhn, das ahnt, daß es dem Beil nicht entgehen wird.
Nachts lag Silvia oft wach, und während von draußen seltsame Schreie und Rufe hereindrangen, wahrscheinlich von Nachtvögeln, wartete sie auf ein Zeichen. Sie betete darum, erhört zu werden. Alessandro sollte wieder in die Freiheit zurückkehren. Ja, obwohl sie genau wußte, daß dies unmöglich war, hoffte sie darauf, daß er plötzlich vor ihr stünde. Sie flöge ihm entgegen, und beide ritten sie davon. Das Bild wurde dann unscharf, und Silvia wußte, daß sie süßen Träumen nachhing. Eines Tages würde sie den Weg gehen, den ihr Vater bestimmt hatte, sie heiratete einen Mann, den er ausgesucht hatte, dem er Mitgift zahlte, dieser Mann führte sie ins Brautgemach, und später würde sie Kinder gebären … Silvia seufzte laut auf. Der Mann würde wohl nie Alessandro Farnese heißen. Aber vielleicht erlebte sie dies alles nicht. Vielleicht starb sie vorher an der Pest oder am Wechselfieber, das viele Menschen während der Sommermonate hinwegraffte, so wie es mit ihren beiden jüngeren Brüdern geschehen war. Oder sie heiratete und starb dann im Kindbett, wie so viele Frauen. Gott hatte die Bürden, die Mann und Weib tragen mußten, ungerecht verteilt. Eva gebar nicht nur unter Schmerzen, sie starb auch, während sie Leben schuf, elendig unter Schmerzen. Die Männer dagegen sollten im Schweiße ihres Angesichts arbeiten und ihr Brot brechen. Ja, die Wasserträger und Pferdeknechte, die Maurer und Bauern mußten schwitzen, aber ihr Vater zum Beispiel oder auch der Beichtvater – keiner von ihnen quälte sich mit Dornen und Disteln und aß nur das Kraut des Ackers. Auch Alessandro ging auf die Jagd, statt Feldfrüchte zu ernten. Der Gerechtigkeit halber mußte Silvia aber zugestehen, daß die Männer ihre Ehre und die Ehre der Familie verteidigen mußten und dabei ihr Leben lassen konnten, daß sie in den Krieg zogen und Gefahr liefen, im Kampf zu fallen. Allerdings hatte es lange keinen nennenswerten Krieg gegeben.
Silvia seufzte ein zweites Mal und wälzte sich hin und her. Sie schob die dünne Decke von ihrem nackten Körper und ließ ihre Finger über Brust und Bauch wandern. Noch war sie ein Mädchen, Jahre entfernt vom heiratsfähigen Alter. Aber war sie auch zu jung, um zu lieben? Was war denn Liebe? Eine Krankheit wie die Mondsucht? Eine Verwirrung? Etwas Unfaßbares? Auf jeden Fall etwas, dem man sich nicht entziehen konnte. Und das machte sie gefährlich. Nur die Liebe zu Gott war nicht gefährlich. Silvias Hand blieb auf dem Bauch liegen. Sie wagte nicht, ihre Finger dorthin gleiten zu lassen, wo dieses unbekannte, immer stärker werdende Gefühl beheimatet war, diese verwirrende Sehnsucht, die etwas mit Liebe und Lust, aber auch mit Ehre und Scham zu tun hatte, mit der Hingabe der Frau in der Ehe und dem Kinderkriegen.
Sie bedeckte ihren Körper wieder. Und doch ließ sie erneut eine Hand hinabwandern, um dieses so verlockende Gefühl zu kosten. Sie sehnte sich danach, endlich eine Frau zu werden. Alessandro kam ihr wieder in den Sinn. Sie sah ihren Vater und Rosella vor sich. Nein, so nicht! Nicht wie die Tiere! Du sollst ihn erkennen, ihm ins Gesicht schauen. Aber wie waren die Wegelagerer über ihre Mutter hergefallen! Silvia zog ihre Hand zurück. Ihr Körper verkrampfte sich. Am liebsten hätte sie Giulia und Clarissa geweckt und sie gefragt, ob sie … was sie … Aber dann schlief sie ein.
Am nächsten Morgen machte sie das verschwörerische Gekichere ihrer Freundinnen nicht mit. Während der Frühmesse mußte sie erneut an Alessandro denken. Sie fror. Tagsüber blieben ihre Gedanken selten dort, wo sie hingehörten, und nachts mied sie zunehmend den Schlaf.
Ihre Schlaflosigkeit wurde verstärkt durch seltsame Geräusche, die regelmäßig die Nachtruhe durchbrachen. Sie hörte ein Knarren und Quietschen, ein Huschen und Flüstern. Dann schrie eine Novizin im Schlaf, oder ein Zögling schluchzte laut auf. In irgendeiner Zelle schien sich eine Schwester zu geißeln; es klatschte, und sie stöhnte und jammerte und rief schließlich den Heiland um Hilfe an. Dann wieder Grabesstille – als hielten alle weiblichen Wesen hinter den schweren Mauern des Klosters die Luft an. Vielleicht hatte Silvia eine Weile geschlafen, aber dann war sie plötzlich wieder wach und hörte erneut dieses seltsame Flüstern und Huschen.
Eines Nachts hielt sie es nicht mehr aus. Sie zog sich ein Hemd an, warf sich einen Umhang über, öffnete vorsichtig die Zellentür und lugte hinaus. Durch die Arkaden hasteten dunkle Gestalten. Als niemand mehr zu sehen war, schlüpfte sie aus der Zelle. Schwaches Mondlicht drang durch das Fenster. Sie rannte zum Treppenaufgang, und als sie noch immer niemand entdeckte, tappte sie vorsichtig zum Säulengang. An der Klosterpforte flackerte ein Licht, wie von einer Fackel. Und dann sah sie ein maskiertes Wesen unten im Hof stehen. Vom Mond beschienen, hielt es den Kopf unter einer Kapuze verborgen. Seinen Körper umhüllte ein langer schwarzer Mantel. Es war, als hätte sich der Satan selbst den Weg in das fromme Jungfrauenkloster gebahnt.
Silvia beugte sich vor. Da unten bewegte sich ein weiterer Schatten. Er sprang hinter eine Säule, war verschwunden. Sie zitterte. Plötzlich wieder die Satansgestalt! Sie hob sich kaum von der dunklen Umgebung ab, starrte sogar mit glühenden Augen hoch. Und dann winkte sie. Winkte sie etwa ihr? Silvia zuckte zurück und versteckte sich in der nächsten stockdunklen Ecke.
Ihr Herz schlug im rasenden Takt bis hoch in den Hals. Sollte sie in ihre Zelle zurückschleichen, sich einschließen und still bis zur Frühmesse warten? Oder sollte sie dem verbotenen Treiben nachgehen? Schon mehrfach hatte sie beobachtet, wie manche Schwestern und Novizinnen geheimnisvoll tuschelten und sofort abweisend verstummten, wenn sie sich ihnen näherte. Und Silvia hatte auch schon gehört, daß nicht alle Klöster so verschlossen waren, wie sie sein sollten. Es wurde von nächtlichen Besuchen gemunkelt und sündigem Treiben … Sie hatte es nicht glauben wollen, aber jetzt …
Silvia huschte den dunklen Gang zurück, bis sie auf die geöffnete Zellentür der Mutter Oberin stieß. Innen brannte eine Kerze, aber niemand war zu sehen. Nun siegte die Neugier über die Angst. Sie schlich zur Treppe und eilte nach unten, sprang von Schatten zu Schatten bis zum Eingang der Kirche. Die Tür knarrte ein wenig. Silvia hielt die Luft an und kroch auf allen vieren die Bankreihen entlang. Wieder knarrte etwas, aber diesmal war es nicht die Tür, sondern das Holz einer anderen Bank. Es war so still in diesem hallenden Raum, als hielten viele Wesen den Atem an. Obwohl Silvia nun nichts mehr hörte, spürte sie genau, daß sie nicht allein war. Aber vielleicht huschten ja nur Mäuse und Ratten umher. Aber da kicherte doch jemand! Und ein anderer flüsterte. Ja, ein tiefes Flüstern, fast ein Brummen. Ein Mann!
Als sie an einem Beichtstuhl vorbeikroch, meinte sie eine Bewegung zu spüren. Und nun ganz deutlich ein Atmen, mehr noch, ein leichtes Stöhnen, wie im Schlaf. Silvia kroch weiter bis zum Chorraum. Sie mußte den einfallenden Lichtschein des Mondes vermeiden. Die Tür zur Sakristei! Sie konnte nicht widerstehen, sie vorsichtig zu öffnen und sich in den Gang zu schieben. Aus der Sakristei selbst drang Licht. Sie spähte durch den Spalt der angelehnten Tür. Vor Schrecken hielt sie den Atem an. Ein Priester in einem schwarzen Talar, ein schwergewichtiger Mann, saß auf einem Stuhl, ein Glas voll dunkelroten Weins in der Hand. Silvia konnte, weil er von ihr abgewandt saß, sein Gesicht nicht erkennen. Vor ihm – ja, vor ihm bewegte sich Ippolita, die Mutter Oberin, in einem langsamen Tanz! Sie war im Hemd, ihre Haare offen und ungekämmt, und ließ ein durchsichtiges Seidentuch um sich wehen. Ihre Bewegungen blieben so ungeschickt, daß Silvia beinahe losprusten mußte. Ippolitas Augen waren aufgerissen, aus Angst, vielleicht aber auch aus Begeisterung. Der Priester setzte nun sein Glas ab und winkte sie zu sich. Als sie heranschwebte, griff er mit einer erstaunlich schnellen Bewegung nach ihr und zog sie auf seinen Schoß. Erschrocken quiekte sie, wagte aber nicht, sich seiner gierigen Finger zu erwehren.
Nun war Silvia klar, was sich während der Nächte im Kloster abspielte. Worüber die Schwestern ihre Geheimnisse austauschten. Es verlockte sie, zuzuschauen, was der Priester mit Ippolita treiben wollte – er würde das tun, was auch der Vater mit Rosella tat. Silvia war ins Kloster gesperrt worden, damit sie ihn nicht wieder beobachten konnte, und stieß hier auf die gleiche Sünde. Sie fühlte eine ohnmächtige Wut in sich hochsteigen, und als sie sah, wie der Priester Ippolita zu entkleiden begann, spürte sie gleichzeitig einen würgenden Ekel. Aber auch etwas anderes, das noch stärker als dieser Ekel war.
Vorsichtig zog sie sich zurück. Als sie die Tür zum Chorraum öffnen wollte, erstarrte sie. Durch die Kirche huschten ganz deutlich mehrere Wesen, und irgendwo versuchte ein Mädchen vergeblich, das Kichern zu unterdrücken.
Um nicht entdeckt zu werden, schlich Silvia den Gang zur Sakristei zurück. Die Tür war nun verschlossen, aber sie vernahm deutlich Stöhnen und Hecheln. Und dann einen unterdrückten Schrei. Eindeutig einen Schmerzensschrei. Mehrere klatschende Schläge folgten, wieder ein Schrei und dann eine bittende Stimme. »Erlöst mich«, meinte sie zu verstehen. Es mußte Ippolita sein, die Mutter Oberin. Sie wurde bestraft – oder gequält … Silvia hielt ihr Ohr an die Tür. Ein gieriger Laut, ein Aufstöhnen, ein erneuter Schrei, der in Wimmern überging und schließlich in eine alles verschluckende Stille.
Weil sie befürchtete, jeden Augenblick könnte der Priester die Tür öffnen und sie hineinziehen, mit ihr das anstellen, was er mit Ippolita getan hatte, eilte Silvia zum Chorraum zurück, riß die Tür auf und rannte am Altar vorbei, dann durch den Mittelgang zum Ausgang der Kirche. Es war, als scheuchte sie die Hölle auf. Erschrockene Schreie, aufspringende nackte Körper, verwischende Schatten, Rufe. Eine Hand griff nach ihr und wollte sie zwischen eine Bankreihe zerren. Sie schlug und trat, lief weiter. Sie wollte nur noch ihre Zelle erreichen. Im Kreuzgang stand plötzlich wieder die Satansmaske vor ihr. Ja, es war der Satan, und er lachte, ein tiefes, männliches, höhnisches Lachen. Er stellte sich ihr in den Weg, aber blitzschnell wich sie ihm aus, duckte sich unter seinen Händen hinweg und sprang die Treppe hoch. Schon war sie in ihrer Zelle und verriegelte die Tür. Atemlos kniete sie vor ihrem Kruzifix nieder und stammelte ein Ave Maria. Es folgten das Vater noster und das Credo. Langsam wurde sie ruhiger. Als sie merkte, daß sie vor Kälte schlotterte, legte sie sich auf ihre Pritsche und deckte sich zu.
Bis zum Morgen schloß sie nicht mehr die Augen. Sie hörte noch leises Flüstern und Huschen auf den Gängen.
Als nicht zur Frühmesse geläutet wurde, weckte sie Giulia und Clarissa. Die beiden Freundinnen hatten fest geschlafen und nichts bemerkt. Silvia begann ihnen die Erlebnisse der Nacht zu erzählen. Mit brennender Neugierde hörten sie zu, stießen Laute der Empörung aus und forderten Silvia auf, ganz genau zu berichten, was sie gesehen hatte.
Die Sonne ging auf, und noch immer läutete keine Glocke. Aber in die Zelle drangen aufgeregte, schrille Rufe. Die drei Freundinnen schauten sich an, Silvia öffnete vorsichtig die Tür.
Eine vorbeihastende Schwester schrie ihr zu: »Die Mutter Oberin ist fort!«
10. KAPITEL
Alessandro konnte noch gar nicht fassen, daß ihm die Flucht aus dem sichersten Kerker der Stadt gelungen war. Aber sie war ihm gelungen! Er hatte alles auf eine Karte gesetzt – und gewonnen! Er hatte sich fallengelassen, und der barmherzige Vater hatte ihn aufgefangen. ER liebte ihn, ER verstand ihn und half ihm. Endlich frei! Keine stickige Hitze mehr, kein Gestank und auch kein betrunkener Herr mehr über Fledermäuse, Ochsenaugen und Ziegenböcke. Nie wieder würde er sich einsperren lassen, nie wieder!
Und doch konnte er seine Freiheit noch nicht genießen. Erneut hockte er in einem Raum, eingeschlossen von dicken Wänden, und durfte nicht hinaus auf die Straßen, unter die Menschen, unter Gottes weitspannenden Himmelsbogen. Er rannte im Zimmer auf und ab und warf sich schließlich auf das weiche Bett. Über ihm ein samtroter Baldachin. Frisch gebadet, neu eingekleidet, geschützt vor den Zugriffen der sbirren konnte er die Nacht verdämmern und von seiner Zukunft träumen.
Er war nach seiner Flucht zum Porto di Ripetta geritten und hatte sich bei Tagesanbruch über den Tiber setzen lassen. Dann trabte er möglichst unauffällig durch die langsam erwachenden Straßen der Stadt. Die ersten Bettler streckten ihm trotz seines verdreckten Aufzugs die Hand entgegen, auch die kleinen Straßenhuren traten schon aus den Hauseingängen und winkten ihm. Er ließ an einem Brunnen sein Pferd trinken, und als ein Trupp Stadtwachen auftauchte, bog er unauffällig in eine Seitengasse ab. Aber die Bewaffneten folgten ihm nicht.
Sein Ziel war der Palazzo von Kardinal della Rovere. Nach Hause, zum Stadtpalast der Farnese, hätte er sich unmöglich wagen können. Dort würden ihn die sbirren zuerst suchen. Aber wer vermutete ihn schon bei einem mächtigen Kardinal – und wenn, dann würde niemand wagen, ihn dort herauszuholen. Bei della Rovere war er vorerst in Sicherheit.
Tatsächlich empfing ihn der Kardinal sofort. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, die Lippen waren zusammengekniffen, aber sein Blick wirkte nicht feindlich. Nachdem Alessandro von seiner Flucht berichtet hatte, stieß er »Du Teufelskerl!« aus. Sein Blick wurde noch milder, regelrecht väterlich. Dann lachte er auf und rieb sich die Hände. »Der Cibò wird schäumen. Und deine Mutter wird auch nicht begeistert sein. Aber der Herr scheint dich zu lieben, sonst hätte er dich nicht so weich fallenlassen. Alessandro Farnese, der Held der Lumpen!« Er lachte noch einmal auf, trommelte dann mit seinen Fingern auf die Lehne des Stuhls, als müsse er beschleunigt nachdenken.
»Nur mein Steiß schmerzt noch ein wenig«, sagte Alessandro.
»Einen Tritt in den Hintern hast du durchaus verdient.« Der Kardinal lachte wieder. »Sit venia verbo.« Dann winkte er Alessandro herbei, stieß ein zweites Mal »Teufelskerl« aus, griff in seine Haare und zog den Kopf an seine Brust, tätschelte dabei seine Wange. Er drückte ihn sogar noch enger an sich. Alessandro hielt zuerst die Luft an, atmete dann tief durch. Der Kardinal mußte ein Bad genommen haben, denn er roch nach frischem Mandelöl. »Gott, warum konnte ich nicht …«, flüsterte er in seinen Bart, dann stieß er Alessandro von sich, sprang auf und stellte sich ans Fenster.
»Was willst du jetzt tun?« fragte der Kardinal nach kurzer Pause, fuhr, ohne eine Antwort abzuwarten, fort: »In Rom kannst du nicht bleiben. Und daß dich deine Mutter längere Zeit in Capodimonte versteckt, kann ich mir nicht vorstellen. Im übrigen wärst du bald freigekommen. Ganz Rom spricht von dir, niemand kann verstehen, warum man dich in die Engelsburg gesteckt hat. Man murrt über die päpstliche Willkür, und cunctator Cibò zuckt zurück. Jetzt wird man noch mehr von dir sprechen.«
»Ich will nach Florenz«, erklärte Alessandro aufgeregt. »Dort kann ich meine Studien vervollständigen. Ihr müßt mir dabei helfen, Eminenz.«
Della Rovere fuhr herum. »Und was ist mit unserer Abmachung? Ich wollte dich wieder in den Dienst der Kurie schleusen, und du solltest den Borgia beobachten. Du bist der Fuchs, der dem Stier unauffällig auf der Fährte bleibt.«
Della Rovere war erneut so nahe an Alessandro herangetreten, daß dieser unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Aber der Kardinal hielt ihn fest, und sein starrer Blick bohrte sich in Alessandros Augen. »Der Borgia hat einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Das macht ihn so gefährlich. Er giert nach dem Stuhle Petri ebenso, wie er nach Weibern giert. Er hurt herum und soll sogar sein Beichtkind in den Sumpf seiner schmutzigen Gelüste gezogen haben. Die Oberin seines Klosters Santa Cecilia! Aber der Herr wird ihn strafen. Irgendwann. Er wird ihn vernichten. Auslöschen. Dann kommt meine Stunde!
Verstehst du?«
Alessandro nickte und versuchte sich zu befreien. Della Rovere stieß ihn weg und wanderte so unruhig im Raum auf und ab, daß die Kerzen flackerten.
»Weißt du eigentlich, daß deine Mutter nicht davon abzubringen war, deine Schwester Giulia in Borgias Kloster zu stecken?«
Alessandro schüttelte entsetzt den Kopf. »Warum denn das?«
»Warum steckt man junge Mädchen ins Kloster?
Damit sie aufs Leben vorbereitet werden. Damit sie dort alles Nötige lernen.« Der Kardinal lachte mit grimmigem Hohn. »Ich riet deiner Mutter davon ab, aber sie wußte es besser. Deine Schwester wurde ihr wohl zu selbständig. Und da hat sie sich von Borgias gewinnendem Wesen überzeugen lassen. Ha! Sie wird es noch bereuen!«
Della Rovere eilte zur Tür und rief nach einem Glas Wein. Dann stellte er sich vor Alessandro, tippte ihm mit dem Finger auf die Brust und lachte erneut höhnisch. »Als deine Mutter nicht umzustimmen war, habe ich meine Tochter Clarissa gleich mitgeschickt. Man muß taktisch denken, verstehst du. Clarissa soll ihre Augen offen halten – aber Weiber sind normalerweise zu dumm dazu. Sie verschlafen das Wichtigste. Und vermasseln das meiste durch ihr Geschwätz. Aber es könnte sein, daß der Borgia jetzt denkt, ich hätte meine Vorbehalte gegen ihn ein wenig abgebaut. Und das ist gut so.«
Der Kardinal lächelte und schlug Alessandro auf die Schulter.
Alessandro war bleich geworden. Nun war er zwar frei, aber dafür mußte Giulia büßen, daß sie zu ihrem Bruder hielt. Die Mutter hatte auch sie weggeschlossen.
Della Rovere ließ ihm aber keine Zeit, nachzudenken. »Wahrscheinlich weißt du auch nicht«, fuhr er fort, »daß die von dir gerettete Silvia Ruffini sich ebenfalls in Santa Cecilia auf die Aufgaben vorbereitet, die das Leben einer Frau von Stand stellen wird. Aber wie sollst du es auch wissen. Ein hübsches Mädchen soll sie im übrigen sein.« Er wandte sich ab, blieb kurz vor seinem Lehnstuhl stehen und stellte sich ans Fenster. »Tragisch ihr Schicksal … Die Mutter tot, der Ehevertrag geplatzt … Der Vater hat all seine Söhne verloren – wie ich. Da kann man verzweifeln. Der Katalane dagegen hat einen Stall voller Jungen, und alle leben sie. Ist das gerecht?«
Alessandro warf sich auf dem Bett hin und her. Er hatte den halben Tag geschlafen und lag jetzt, obwohl Nacht war, wach. Immer wieder ging ihm das Gespräch mit della Rovere durch den Kopf. Ihm winkte die Erfüllung seines Wunsches, er hoffte bald endgültig in Freiheit zu sein, in Florenz mit gelehrten Köpfen zu disputieren, aber nun war seine Schwester in eine Zelle gesperrt, und auch die kleine Silvia mußte hinter Klostermauern darben. Sie hatte davon geträumt, ihn zu befreien … Wenn er an ihren Brief dachte – sprach nicht aus jeder ihrer Zeilen ein sehnsüchtiges Verlangen nach ihm?
Und er?
Alessandro sprang aus dem Bett und stellte sich ans Fenster, sog die frische Nachtluft ein. Er machte einen Handstand, wankte durch den Raum und ließ sich wieder aufs Bett fallen. Es war verrückt, aber auch er sehnte sich nach ihr. Am liebsten wäre er sofort auf den Rücken eines Pferdes gesprungen und zum Kloster galoppiert. Er hätte sich den Weg zu ihr gebahnt und sie in den Arm genommen. Schützend.
Befreiend. Wie damals nach der Rettung. Er sah sie vor sich, fühlte sogar noch ihren warmen, kindlichen Körper. Aber was zog ihn so zu diesem jungen Mädchen? Ihre unberührte Unschuld, ihre unzerstörbare Reinheit in einer gewalttätigen, schmutzigen Welt?
Er kannte sie kaum, aber ihm schwebte das Bild eines unbekümmerten, unverstellten Wesens vor, und dieses Bild faszinierte ihn. Er sah sie lachen, verliebt lächeln und ihren Kopf an seiner Brust bergen. Er strich ihr über die Haare, hob dann ihr Gesicht. Würde er sie küssen? Noch war Silvia erst eine knospende Rose, aber er konnte schon die geheimnisvoll sich öffnende Blüte erahnen.
Della Rovere hatte eine Weile über Borgias schamlose Fruchtbarkeit geschimpft und dann ein zweites Mal nach einem Glas Wein gerufen.
Schließlich setzte er sich und wandte sich wieder an Alessandro. »Zuerst einmal wirst du hier im Hause bleiben, bis die Wogen sich geglättet haben und ich dich aus Rom hinausschmuggeln kann. Dann schaust du bei deiner Mutter in Capodimonte vorbei. Ich habe es ihr versprochen. Du mußt dich mit ihr aussöhnen. Sonst nimmt dieser Ärger mit euch und dem Papst überhaupt kein Ende. Deine Mutter treibt der Ehrgeiz, und der Cibò rächt sich an kleinen Skriptoren.« Ein Ausdruck tiefster Verachtung überzog sein Gesicht. »Wenn das erledigt ist, gehst du nach Florenz. Ich gebe dir ein Schreiben an Lorenzo de’ Medici mit. Es wird dir die Türen öff nen.«
Als noch immer kein Diener mit dem Glas Wein erschien, rannte della Rovere zur Tür, packte einen gerade vorbei wandelnden Diakon an seinem Rock und brüllte: »Wein! Wann kommt endlich mein Wein, ihr faulen Hunde? Ich lasse euch auspeitschen!« Der Priester zuckte zusammen und begann zu rennen. Della Roveres Gesicht war rot angelaufen, die Adern traten hervor.
Alessandro beobachtete amüsiert seinen Ausbruch. Ganz Rom nannte ihn, wie sich jetzt wieder zeigte, nicht zu Unrecht il terribile.
»Soll ich den Wein holen?« fragte er, nicht ohne Ironie in der Stimme.
Della Rovere schaute ihn erstaunt an, nun wieder beherrscht – auch seine Röte verlor sich schnell –, und mußte lachen. »Bist du ein Lakai?« rief er und schüttelte über soviel angebliche Dienstfertigkeit den Kopf. »Manchmal muß man den Kerlen Feuer unterm Arsch machen, verstehst du? Nein, nein, du sollst mir keinen Wein holen, sondern etwas Wichtigeres.« Wieder tippte er ihn an die Brust. »Du bist ein Farnese – und ein Caetani. Wer eine Mutter wie du hat, hat Feuer im Blut und will hoch hinaus.« Er ließ seinen Blick über ihn gleiten. »Und du willst hoch hinaus, das weiß ich. Wer sein Leben riskiert …
Solche Männer brauche ich.«
Alessandro lächelte.
Della Rovere kniff die Augen zusammen. »Du bist ein Fuchs.« Er machte eine abschließende Handbewegung. »Du gehst nach Florenz und vertiefst deine Studien. Anschließend bringe ich dich wieder im Vatikan unter und setze dich auf den Borgia an. Aber bedenke immer: Augen und Ohren auf, Mund zu! Kein Wort zu irgendeinem über unsere Abmachung. Es wäre doch gelacht, wenn ich den Katalanen nicht eines Tages zu Fall brächte. Und jetzt schlaf dich erst einmal aus!«
Der Kardinal befahl dem Diener, der ihm endlich eine Karaffe wein gebracht hatte, Alessandro in sein Zimmer zu geleiten.
Alessandro verbeugte sich und küßte ihm den Ring. Aber bevor er dem Diener folgte, mußte er noch seinen Wunsch äußern. Seitdem della Rovere davon gesprochen hatte, daß Silvia im Kloster eingesperrt war, ließ ihn dieser Wunsch nicht los.
»Eminenz …«
»Was ist?«
»Bevor ich nach Florenz gehe, würde ich gerne noch einmal Silvia Ruffini sehen. Glaubt Ihr, daß dies möglich ist?« Er senkte seinen Kopf und wagte nicht, dem Kardinal ins Gesicht zu schauen. »Gott, was ist an den Weibern nur dran?« brummte della Rovere leise, deutete dann aber ein Lächeln an. »Ich gebe dir einen Ratschlag auf den Weg, mein Sohn: Ein Mann darf sich nie von einer Frau beherr schen lassen!«
Alessandro verzog keine Miene. »Dies habe ich nicht vor. Aber …«
Mit einer heftigen Geste schnitt ihm della Rovere das Wort ab. »Sie ist in Santa Cecilia hinter Verschluß.« Er bewegte abwägend den Kopf. »Aber wie lange noch. Wenn Vater Ruffini erfährt, was sich im Kloster des Katalanen so alles abspielt, dann wird er seine Tochter schnell wieder herausholen. Vielleicht könnte man sogar ein wenig nachhelfen.« Ein höhnisches Lächeln umspielte seine schmalen Lippen. »Jetzt bleibe erst einmal einige Zeit im Haus, dann sehen wir weiter.«
Alessandro starrte an den Baldachin seines Bettes.
Die Worte des Kardinals klangen in ihm nach. Auch die unklaren Andeutungen über das Kloster, das dem Spanier unterstand. Seine Gedanken drehten sich um Silvia. Würde es Kardinal della Rovere einrichten können, daß er sie noch einmal sah, bevor er nach Florenz aufbrach? Durfte er ihm trauen?
Nachdem ihn seine eigene Mutter in den Kerker hatte werfen lassen, traute er niemandem mehr.
Auch nicht della Rovere, der sich um ihn kümmerte, weil er glaubte, ihn einmal einsetzen zu können wie einen Bauer in einem Schachspiel. Ja, darum ging es doch: Um ein Spiel, das die beiden mächtigsten Kardinäle von Rom um den Stuhl Petri führten. Dazu brauchten sie Hilfstruppen, Spione – Bauern, die man vorschob, um den Gegner aus der Defensive herauszulocken und ihn dann zu schlagen. Einen Bauern opferte man schnell, wenn man sich einen Vorteil davon versprach. Er, Alessandro Farnese, wollte jedoch kein Opfer sein, sondern ein Spieler. Er wollte selbst das Spiel seines Lebens bestimmen.
11. KAPITEL
Die Mutter Oberin war verschwunden. Niemand wußte, wo sie sich aufhielt und ob sie überhaupt noch am Leben war. Alle behaupteten, sie hätten sie abends während des Completoriums gesehen und dann nicht mehr. Die nächtlichen Vorgänge, die Silvia beobachtet hatte, schienen nicht stattgefunden zu haben.
Und doch kehrte keine Ruhe ins Kloster ein. Während der Mahlzeiten wurde plötzlich geplaudert, und niemand unterband es mit einem freundlichen, aber bestimmten Blick. Die Worte der Vorleserin gingen im zunehmenden Lärm unter. Die Andachten wurden nur noch teilweise besucht. Manche konnte gar nicht mehr zu Ende geführt werden. Insbesondere die Frühmesse fand vor leeren Bänken statt.
Die Versuche der Beichtväter, ihre Schützlinge auszuhorchen, mißlangen. Ja, sie wurden sogar ausgelacht. Auch Silvia erzählte ihrem Beichtvater nicht die Wahrheit, sondern berichtete nur von wirren sündigen Träumen, und sichtbar unzufrieden verließ der hagere Mann das Kloster. Auch die Lehrer wußten nicht, was sie mit den Zöglingen und Novizinnen anfangen sollten – viel zu aufgeregt wurde geschnattert –, und verdonnerten sie zu Tagen mit Wasser und Brot. Aber da die Mutter Oberin fehlte, tat jede, was ihr beliebte. Manche Novizinnen begannen plötzlich zu tanzen und zu singen. Clarissa klatschte und kreischte vor Vergnügen. Giulia umarmte Silvia. Beide verstanden sie nicht, was vor sich ging. Aber sie begriffen, daß sich die Klosterordnung aufzulösen begann.
Vor der Pforte strichen immer häufiger junge Männer vorbei. Die Mädchen hingen tagsüber an den Fenstern und riefen ihnen etwas zu, kicherten und lachten, winkten sogar.
Es tauchten Musikinstrumente auf, Tamburin und Zimbel, Flöten und Lauten, es wurde gespielt und gesungen. Immer häufiger wurde getanzt, gelegentlich stundenlang. Silvia spürte, wie sich der Geist der Unbotmäßigkeit ausbreitete und auch ihr das schlechte Gewissen nahm. Mit Bosheiten fielen manche Schwestern übereinanderher, und einige ließen sich sogar zu gotteslästerlichen Reden verleiten. Vermehrt tauchten nächtliche Besucher auf. Silvia schloß sich ein, meist mit ihren beiden Freundinnen. Manche Novizinnen flüchteten, andere versteckten sich oder schlossen sich ebenfalls in ihren Zellen ein.
An einem Abend brach eine Gruppe von Schwestern wie auf Befehl in einen sich steigernden Tanz aus, der schließlich darin endete, daß sie sich ihre Klostertracht vom Leibe rissen. Als einer der Beichtväter auftauchte, fielen sie über ihn her und kratzten sein glutäugiges Gesicht blutig. Er konnte gerade noch fliehen, bevor Schlimmeres geschah.
Ippolita Crispo, die Mutter Oberin, tauchte nicht wieder auf.
Das Kloster wurde zum Tollhaus.
Nur einmal kehrte für kurze Zeit Ruhe ein, weil der Titularbischof von Santa Cecilia, Kardinal Borgia, persönlich erschien, in Begleitung seiner Diakone, und neben dem Altar jede einzelne der Nonnen, Novizinnen und Zöglinge vor sich knien ließ. Sie mußten ihr Confiteor sprechen, er sprach von Fegefeuer und Höllenqualen, verteilte Strafen und donnerte schließlich sein Ego te absolvo auf sie herab. Seine Diakone schrieben die Namen der Geständigen und Erlösten auf.
Als Silvia an der Reihe war, Kardinal Borgia den Ring zu küssen, erschrak sie, weil sie meinte, ihm schon einmal begegnet zu sein. Aber sie wußte nicht wo, und so glaubte sie an eine Verwechslung. Der Kardinal, inzwischen ermüdet, lächelte und sprach mild ein paar ermahnende Worte.
Clarissa, die Silvia folgte, griff Borgias dicke Finger, überhäufte sie mit Küssen und gelobte unter Tränen, sie wolle den Schleier nehmen und nie wieder eine Sünde begehen. »Bitte sagt es nicht meinem Vater, bitte!« flehte sie.
»Ach, die Tochter unseres verehrten Kollegen«, flötete Borgia mit weicher Stimme und wies dann den Diakon barsch an: »Aufschreiben!« Es folgte die Absolution.
Ganz zum Schluß kniete Giulia vor ihm. Der Kardinal zuckte regelrecht zusammen, als er ihr ins Gesicht sah. Giulia flüsterte ihren Namen. »O Gott, das Kind ist schön«, entfuhr es ihm, und er strich ihr mit seinen Fingerspitzen über Stirn, Wangen und Haare.
Ein paar Tage schien die Klosterzucht zurückkehren zu wollen. Aber dann brach sie endgültig zusammen. Es dauerte nicht lange, da erschienen mehrere Diakone des Kardinals della Rovere, marschierten an der unbesetzten Pforte vorbei, suchten unter den aufkreischenden und sie umtanzenden Mädchen und Frauen Clarissa und nahmen sie mit, ohne ein Wort zu verlieren. Auch Giulia verschwand, noch bevor sie sich richtig von Silvia verabschieden konnte. »Ich werde nach Capodimonte zu meiner Mutter gebracht«, rief sie ihr zu. »Du mußt mich besuchen!«
»Grüße Alessandro, wenn du kannst!« antwortete Silvia, aber Giulia war schon in der Kutsche verschwunden, und Silvias Stimme erstarb. Sehnsüchtig schaute sie der Freundin nach. Nun war sie wieder allein.
An der Klosterpforte, die einladend offenstand, wurde Silvia von einem jungen Stutzer angesprochen, dessen Beinkleider hauteng der Form seiner Pobacken folgten. Sein Wams endete kurz unter dem Gürtel, und seine Schamkapsel mußte er mit irgend etwas ausgestopft haben, denn sie schien aufplatzen zu wollen. Silvia antwortete nicht und zog sich ins Innere des Klosters zurück. Als der Stutzer ihr nachsetzte und sie sogar festzuhalten versuchte, versetzte sie ihm einen Schlag und trat ihm mit aller Macht auf den Fuß. Er schrie auf und tanzte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einem Bein.
Noch am selben Tag erschien Silvias Vater. Er hatte Bianca, ihr Pferd, im Schlepptau. Silvia sprang ihnen mit einem Aufschrei der Freude entgegen. Bianca wieherte freudig und schnaubte, knabberte dann an ihrer Hand. Der Vater dagegen umarmte sie nicht; er küßte sie auch nicht, erkundigte sich nicht, was geschehen war, sondern erteilte ihr nur ein paar knappe Befehle und sprach sonst kein Wort. Auf keine ihrer Fragen ging er ein. Er wirkte tieftraurig, verkrampft und schien eine schwere Last zu tragen. Silvia legte ihren Kopf an den Hals ihres geliebten Pferdes und sog gierig den ihr vertrauten Geruch ein. Diese Kameradin hatte sie noch nicht verloren! Endlich war der Alptraum des Klosterlebens vorbei – die Langeweile des Anfangs und das zuchtlose Durcheinander der Schlußtage.
Der Vater brachte sie umgehend auf das Landgut der Familie Ruffini in Frascati. Es ging so schnell, daß sie noch nicht einmal ihren Zeisig mitnehmen konnte. Auch in Frascati konnte Silvia dem Vater nicht erzählen, was sie erlebt, wie sie gelitten hatte. Er wollte nichts hören von Giulia und Clarissa, auch nichts von Ippolita, der Mutter Oberin. Von dem nächtlichen Treiben sprach Silvia von sich aus nicht.
Als er wieder nach Rom aufbrach, blieb er noch immer schweigsam. Er schaute Silvia lange an. Sie rätselte über die Botschaft in seinen Augen. Sie war das einzige ihm verbliebene Kind. Zwar nur ein Mädchen, aber sein Mädchen. Sie beide gehörten zusammen, nach dem Tod der Mutter mehr denn je! Aber sie erreichte ihn nicht.
Schließlich sagte ihr Vater doch noch: »Wenn es so weitergeht, werde ich nie einen Mann für dich finden. Dann bleibt nur ein Kloster in den Bergen – mit strengster Zucht.« Er wandte sich abrupt ab und bestieg sein Pferd. Ohne ihr einen letzten Abschiedsgruß zuzurufen, gab er seinem Pferd die Sporen.
»Und was ist mit Rosella?« rief ihm Silvia noch nach. Aber er hörte sie schon nicht mehr.
Sie sah ihm lange nach.
Tagelang, nur begleitet von drei bewaffneten Reitknechten, ritt Silvia über Hügel und Weinberge. Die Männer hatten strikten Befehl, sie nicht aus den Augen zu lassen. Auch sollte sie mit keinem Fremden sprechen. Abends war Silvia von der frischen Luft müde und schlief schnell ein. Manchmal mußte sie weinen. Hätte doch wenigstens ihr Vater ein Wort gesprochen! Sie ausgeschimpft und dann in den Arm genommen! Ich werde nie einen Mann für dich finden! Wahrscheinlich hatte er längst schon ein Auge auf eine neue Frau geworfen und wollte seine Tochter loswerden. Dann bleibt nur noch das Kloster in den Bergen.
Nein, auf keinen Fall! Das Kloster bedeutete Langeweile und Ödnis, Versuchung und Verzicht – das war kein Leben, und Silvia wollte leben! Ja, sie wollte ausreiten, auf Feste gehen, schönen Schmuck tragen und Kinder in die Welt setzen. Sie wollte singen, dichten, lesen und mit klugen Menschen über die Schriften der Römer und Griechen diskutieren. Ihre Brüder waren tot, sie lebte! Aber ihr Vater steckte sie in ein Kloster, damit er seine Kammerfrau ungestört vögeln konnte. Er schob seine Tochter aufs Land ab, damit er sein schlechtes Gewissen loswurde. Früher hatte sie Rosella geliebt … Aber jetzt? Rosella trug das Kind ihres Vaters und spielte die Herrin im Hause. Eine Magd, die aus der Gosse kam!
Trotzdem könnte Rosella sie wenigstens besuchen!
Statt dessen suchte ihre Mutter sie heim, jede Nacht, und alles Beten nützte nichts. Die Mutter wandelte stumm an ihr vorbei, in schwarze Tücher gehüllt, mit einer Kette roter Perlen um den Hals. Am nächsten Morgen fühlte Silvia sich wie eine unerlösbare Sünderin, die unbedingt das Leben einer Heiligen führen, das Leiden einer Märtyrerin erdulden wollte.
Um sich von diesen Wünschen und Vorstellungen zu befreien, stürmte Silvia ins Freie, rannte zu ihrer Schimmelstute und warf ihr eigenhändig den Sattel auf den Rücken. Barbone, der graubärtige Pferdeknecht, kam herangeschlurft, lachte und half ihr. Die Schutztruppe zerrte dösig und brummig ihre Pferde aus dem Stall. Silvia wartete nicht auf sie, und die Männer mußten sich fluchend beeilen. Silvia ritt hinaus in eine Landschaft, die im jungfräulichen Licht noch verschlafen dahingebettet lag, mit ihren von Dunstschleiern belegten Grünflächen, mit aufragenden Zypressen, die wie Mahnmale in den Himmel ragten. Schirmpinien standen in Dreiergruppen beieinander, als müßten sie zu einem Schwatz die Köpfe zusammenstecken.
Mit fliegendem Mantel galoppierte Silvia unter ihnen durch. Sie versuchte zu vergessen, was während der letzten Monate geschehen war. Der Überfall, die Klosterzeit, das abweisende Verhalten ihres Vaters. Für eine Weile gelang es ihr, und sie sah sich umfangen vom milden Morgenlicht.
Und dann ergriff Silvia ein seltsames Gefühl. Es war, als hätte jemand zu ihr gesprochen. Als hätte ein Geist sie angeweht. Sie hielt Bianca an und lauschte. Ein leiser Wind rauschte durch die Piniennadeln, ein Flirren gegen die Sonne. Sie spürte genau, daß jemand in der Nähe war, obwohl nur ihre drei Wächter hinter ihr lauthals verschnauften und ausspuckten. Sie entdeckte keinen Bauern und keinen Schäfer, keinen Eseltreiber und keine Schweinehirten. Und trotzdem spürte sie die Nähe eines Wesens.
Mit einem Aufschrei ließ sie Bianca los galoppieren. Sie setzten über Steinwälle und Baumstämme, jagten an kläffenden Hunden und Ziegenställen vorbei, an davonstiebenden Hühnern – Silvia fühlte sich stark und unverwundbar. Sie entfloh dem Geist, der sie angeweht hatte, sie entfloh seiner Nähe. Auf dem Rücken ihres Schimmels hätte sie davonfliegen können, über den Himmel ziehen, wie die Rosse des Helios – da stand plötzlich vor ihr, zwischen zwei mächtigen Pinienstämmen, im Gegenlicht, so daß sie ihn nicht erkennen konnte, ein Mann. Hoch zu Roß, wie ein griechischer Gott, wie Apollo oder Merkur oder gar Jupiter, unter einem roten, schwarz eingefaßten Mantel. Zuerst traute sie ihren Augen nicht, glaubte an eine Erscheinung, dann überfiel sie die Angst, wieder in eine Falle geraten zu sein. Doch dieser griechische Gott ähnelte überhaupt nicht den verkommenen Wegelagerern, die über sie hergefallen waren. Natürlich konnte sie auch ein Edelmann auf seine Burg entführen, um dort sein Geschlecht noch größer und stolzer zu machen. Alle Mädchen kannten Livius’ Erzählung vom Raub der Sabinerinnen …
Einen Wimpernschlag lang hoffte Silvia sogar, von diesem Mann im Gegenlicht entführt zu werden, heraus aus der Langeweile von Frascati, die sie nur durch ihre Ausritte mindern konnte. Sie sah nun einen Königssohn vor sich und mit ihm einen glanzvollen Palast, Geschmeide und Feste und eine ganze Armee von Dienern. Aber schon waren die Wachen neben ihr und zückten drohend ihre Schwerter. Der rotschwarze Mann hob beschwichtigend seine Arme – und nun endlich erkannte sie ihn. Es war ihr Alessandro. Er hatte dem Kerker entfliehen können oder war freigelassen worden. Vielleicht sogar auf Grund ihres Briefes. Und nun wollte er ihr danken. Er ließ sie nicht allein. Er suchte und fand sie, wo immer sie war. Und kein Hindernis konnte ihn aufhalten.
Alessandro sprang vom Pferd und lief auf sie zu. Silvia flog ihm, ohne zu zögern, in die Arme. Schnell entzog sie sich ihm wieder und verbeugte sich errötend, wie es sich für ein Mädchen von Stand geziemte. Alessandro lachte und verbeugte sich ebenfalls formvollendet.
Silvia erfuhr, daß er der Engelsburg entflohen sei, sich in Rom habe verstecken müssen, vor den Häschern des Papstes, auch vor seiner Mutter, die ihn um jeden Preis auf den Pfad der apostolischen Tugend habe zwingen wollen.
»Wo hast du dich versteckt?« unterbrach sie ihn.
Er warf einen Blick auf ihre Begleiter, die sie mißtrauisch beäugten und nicht recht wußten, was sie tun sollten. Er winkte ihnen herrisch zu, sich zurückzuziehen. Sie lehnten sich mit gezücktem Schwert drohend und maulend an die nächsten Baumstämme.
Alessandro senkte seine Stimme und sprach nun lateinisch.
»Es gibt noch gute Freunde in Rom.« Mit einem kurzen Augenschlag wies er warnend auf die Männer.
»Und deine Schwester Giulia? Ach, sie ist ja so schön! Wir lieben uns! Wo ist sie? Hast du sie gesehen?« Silvia sprach ebenfalls lateinisch, obwohl es ihr nicht so flüssig von der Zunge ging.
Ein leicht spöttisches Lächeln zog sich um seinen Mund.
»Giulia hat einen neuen Beichtvater, der sie von all ihren Sünden der letzten Wochen freigesprochen hat, ihr aber zuvor auf Wunsch unserer Mutter ganz heftig den Kopf waschen mußte – Kardinal Rodrigo Borgia.«
»Der Spanier?«
Sie wußte, von wem Alessandro sprach. Sie hatte noch gut in Erinnerung, wie er Giulia über den Kopf gestrichen hatte. Und natürlich wußte sie, daß er das Haupt der spanischen Kardinalspartei war, von seinen Widersachern nur abfällig der Katalane genannt. Er hatte einen schlechten Ruf. Aber Silvia war bekannt, daß das Volk von Rom auf den Straßen unablässig über ihre Herrn schwätzte und gern über die Kardinäle und Prälaten, sogar über den Heiligen Vater herzog. Lästermäuler gab es überall, auch in ihrer famiglia, und manche logen so schamlos, daß die Engel im Himmel erröteten.
»Wenn das Volk frech wird, dann besticht man es mit Geld und Wohltaten, mit Karneval, Umzügen und ein paar Hinrichtungen.« Das hatte Clarissa gesagt, und Giulia hatte genickt. »Wer dann immer noch den Mund aufreißt, dem schneidet man die Zunge heraus.«
Ihr Lateinlehrer erzählte ähnliche Geschichten und kommentierte sie mit dem Ausruf: O tempora, o mores!
»Borgia ist der kommende Mann«, sagte Alessandro mit ruhiger, kalter Stimme. »Daran glaubt wenigstens unsere Mutter, und sie schmeichelt sich bei ihm ein.«
Silvia war bekannt, daß Kardinal Borgia, den sein Onkel, Papst Calixtus III., schon in jungen Jahren zum Kardinal ernannt hatte, nicht nur Titularbischof von Santa Cecilia, sondern auch Vizekanzler der Kurie war und daher sehr reich und mächtig. Rosella hatte seine zahlreichen illegitimen Kinder erwähnt, und sie konnte sogar einige ihrer Namen nennen: Cesare, Juan, Lucrezia, Jofrè. Er sei ein bescheidener Esser, aber unersättlich, was seinen Appetit auf Frauen betreffe; raffgierig, aber gleichzeitig auch freigebig.
Silvia warf sich noch einmal an Alessandros Brust. Es war ihr gleichgültig, was ihre Bewacher dachten und ihrem Vater erzählen würden. Sie hatte ihren Helden und Befreier wiedergetroffen! Sie wollte nichts weiter über einen Kardinal hören, der sie gar nicht interessierte. Sie wollte etwas von Alessandros Flucht erfahren, und vielleicht erwartete sie auch ein kleines Geständnis: Er habe sie vermißt. Könnte er ihr nicht sogar noch etwas anderes gestehen?
Alessandro drückte sie an sich. O Gott, diese Arme sollten sie nie mehr loslassen! Ein Wort von ihm, und sie folgte ihm auf ihrem Schimmel, sie flogen davon, keiner der Wachen könnte ihnen noch folgen und sie einfangen.
»Ach, Alessandro, ich langweile mich hier«, flüsterte sie. »Zuerst hat mich mein Vater ins Kloster gesteckt …«
»Da muß ja so einiges vorgefallen sein«, sagte er onkelhaft.
Sie sah ihm ins Gesicht. Mit leicht vorgerecktem Kopf erwiderte er ihren Blick. Seine Augen schauten noch immer liebevoll, gütig, aber auch mit einem spöttischen Blitzen, das sie verwirrte.
Sie flüsterte: »Ich habe dich so vermißt!« Sie merkte, wie eine glühende Röte ihr Gesicht überzog, und sie versteckte erneut ihr Gesicht an seiner Brust.
Alessandro antwortete nicht. Aber er schob sie auch nicht weg. Nach einer Weile nahm er ihren Kopf in seine Hände und sah ihr forschend in die Augen. Er öffnete seine Lippen, als wolle er etwas sagen, unterließ es aber dann und drückte ihr statt dessen einen Kuß auf die Stirn.
O Gott, auch er liebte sie!
»Ich kann hier nicht länger bleiben«, flüsterte er. »Wenn man mich erwischt … Ganz Rom spricht über meine Flucht. Der Heilige Vater ist wütend, er will mich in den tiefsten Verliesen schmoren lassen.« Und nun endlich berichtete er ihr von seiner waghalsigen Flucht aus seinem Kerker. Noch nachträglich wurde ihr heiß und kalt vor Angst. Sie bewunderte seinen Mut. Er war wahrhaftig ein furchtloser Held.
»Ich gehe nach Florenz; dort bin ich in Sicherheit und kann meine Studien erweitern. Mein Lehrer Leto hat mich an Lorenzo de’ Medici und seine Accademia Platonica empfohlen.«
Sie schauten sich in die Augen. Kaum war er gekommen, verließ er sie schon wieder. Er bewies ihr seine Liebe, durfte sie aber nicht leben.
»Darf ich nicht mitkommen?«
»Ach, kleine Silvia …« Er umarmte sie noch einmal kurz, ein wehmütiger Blick – dann schwang er sich aufs Pferd. »Ich werde dir schreiben, meine Silvia. Wir sehen uns wieder, ich weiß es, die Sterne lügen nicht.«
Er winkte ihr, drehte sein Pferd, und mit Tränen in den Augen sah Silvia den rotschwarzen Mantel davonwehen. »Ich werde auf dich warten«, wollte sie ihm noch nachrufen, aber ein Aufschluchzen erstickte ihre Stimme. Alessandro tauchte in einen Hohlweg, schaute sich noch einmal um und winkte. Sie konnte ihre Augen nicht von ihm lassen. Auch als er schon lange verschwunden war, starrte sie noch in den Hohlweg, durch den sein rotschwarzer Mantel zu schweben schien.
Langsam ritt sie zurück nach Frascati. Tränen rannen ihre Wangen hinunter. Leise vor sich hin fluchend folgten ihr die Bewacher.
Während der nächsten Wochen träumte sie nachts von Alessandro, und auch tagsüber konnte sie ihre Gedanken kaum von ihm lösen. Die täglichen Ausritte zu den zwei Pinien, zwischen denen sie sich begegnet waren, zu dem Hohlweg, durch den er sie verlassen hatte, verstärkten den Aufruhr in ihrem Innern. Als stünde er vor ihr, führte sie mit lauter Stimme Gespräche mit ihm; sie sah sich mit ihm durch die Straßen von Florenz lustwandeln und lauschen, wenn er mit den Humanisten der Stadt disputierte. Weil sie sich noch für zu unwissend hielt, bestellte sie ihrem Vater, er solle ihr endlich wieder einen fähigen Lehrer besorgen. Sie wünschte sich Gedankenaustausch mit einem unvoreingenommenen Humanisten, nicht immer nur mit Dominikanermönchen, die O-tempora-o-mores-Seufzer ausstießen und glaubten, Rosenkranzbeterei, Sticken und Lautespielen reiche für die Bildung von Mädchen. Noch lieber hätte sie die Accademia Romana besucht, von der sie wußte, daß auch Alessandro dort die Grundlagen seiner Bildung erhalten hatte.
Der Vater schickte ihr keinen Lehrer. Statt dessen erreichte sie die Nachricht, Rosella habe einem gesunden Jungen das Leben geschenkt, auch sie selbst sei wohlauf. Nun hielt Silvia es noch schlechter in Frascati aus. Sie schrieb ihrem Vater, die Verbannung sei ihr sicherer Tod, und wenn sie nicht wieder nach Rom zurückkehren dürfe, würde sie sich allein durchschlagen. Nein, sie verbesserte sich sofort: Sie würde nach Florenz fliehen und sich dem Schutz des großen Lorenzo de’ Medici anvertrauen.
Der Brief zeigte Wirkung. Sie durfte bald darauf mitsamt ihrer Bewachertruppe Frascati verlassen, und in stolzer Haltung zog sie auf ihrer Schimmelstute über die Via Appia in ihre laute, stinkende, aber lebendige Stadt ein.
Zu Hause angekommen, begrüßte sie ihr Vater so herzlich, wie er es nach dem Überfall und dem Tod der Mutter nicht mehr getan hatte. Er stürzte Silvia schon im Eingang entgegen, drückte sie an sich, küßte sie, ja, er verdrückte sogar einige Tränen. Er war wieder ihr alter Vater, der oft an ihrem Bett gesessen und ihr immer tröstend zur Seite gestanden hatte, wenn die Mutter sie schalt. Aber trotz seines freudigen Lächelns lagen seine fiebrig glänzenden Augen ausdruckslos in dunklen Höhlen, und insgesamt war er abgemagert.
»Warum …«
Er verschloß ihren Mund sofort mit seiner Hand und drückte sie noch einmal an sich.
Dann führte er sie durch das Haus. Es roch anders, es sah alles heller aus, sie kannte kaum noch ihre famiglia wieder. Rosella lag in dampfendem Rosenwasser, ließ sich ihre Fingernägel pflegen und die langen Haare kämmen. Kaum entdeckte sie Silvia, stand sie auf. Daß sie nackt war, scherte sie nicht. Voller war sie geworden, aber gleichzeitig schöner. Eine Kammerfrau legte ein Leinentuch auf den Boden und wickelte sie dann in ein zweites, vorgewärmtes ein. Rosella fuhr mit der Hand unter ihr blondes Haar und schüttelte es, und es fiel bis auf die Hüften. Lächelnd strich sie Silvia dann über die Wangen.
»Komm«, sagte sie nur und führte sie in das angrenzende Zimmer, in dem eine Wiege stand. In der Wiege schlief ein kleines Kind.
»Mein Sandro!« Der Stolz in ihrer Stimme war unüberhörbar. »Unser Sandro!«
Silvia betrachtete das schlafende Gesichtchen. Die Lippen des Kleinen zuckten und zogen sich dann zu einer Art Lächeln breit. Auch ihr Vater beugte sich vor, wollte ihn sogar herausnehmen, aber Rosella hielt ihn zurück.
»Laß ihn schlafen!« fuhr sie ihn an. »Er träumt gerade so schön.«
Der Vater strich vorsichtig über die Wange des Kindes und berührte dann mit dem Finger seine Hand. Sofort schlossen sich die Fingerchen des Kindes und ließen ihn nicht mehr los.
»Siehst du. Er ist mein Sohn«, sagte er mit sanfter Stimme. »Ich habe wieder einen Sohn!« Freudiger Stolz schwang mit.
»Er ist dein Bastard!«
Silvia hielt erschrocken die Luft an. Ihr Vater schwieg. Als Rosella hörbar einatmete und den Mund öffnete, warf er schnell ein: »Ich werde ihn legitimieren.« Vorsichtig befreite er sich von dem Klammergriff des Kindes, wiederholte leise »Ich werde ihn legitimieren lassen, vom Heiligen Vater persönlich« und verließ den Raum.
Noch immer war Silvia wie vor den Kopf geschlagen und starrte erneut auf das schlafende Kind, als müsse es sich nun in eine kleine höhnische Satansfratze verwandeln. Aber nichts dergleichen geschah. Es verzog wieder sein Mündchen zu einem Lächeln.
Sie hörte Rosella lachen und drehte ihr den Kopf zu. Sie sah sie wie durch einen Schleier. Rosella tappte in den Baderaum zurück, ließ das Tuch, mit dem sie sich abgetrocknet hatte, von ihren Schultern und Hüften gleiten und legte sich auf einen Diwan. Eine der Mägde tröpfelte Öl auf ihren Rücken und begann es gleichmäßig zu verteilen und einzumassieren.
Der Teufel ist im Haus, dachte Silvia.
Der kleine Sandro schlief noch immer, als wäre er das Jesuskind.
Ihr Vater war nirgendwo mehr zu sehen.
Rosella stöhnte wohlig. Die Magd massierte nun ihr Hinterteil und die Oberschenkel.
»Komm her!« rief Rosella, und wie unter einer fremden Macht bewegte Silvia sich zu ihr. »Setz dich hierher!«
Silvia ließ sich neben ihr nieder. Rosellas Kopf lag auf der Seite, die Augen waren geschlossen. Sie ertastete Silvias Hand.
»Der Bastard ist mein Engel«, sagte Rosella wie im Schlaf. »Er wird über mich wachen.« Und sie stöhnte wieder auf, als die Kammerfrau die Innenseite ihrer Schenkel rieb. »Du sagst ja gar nichts, mein Hühnchen. Sonst stand doch dein Mund nicht still.«
Silvia sprach nun aus, was sie schon eine Weile beschäftigte: »Warum hast du den Kleinen nach Alessandro benannt?«
Die Augen noch immer geschlossen, drehte Rosella sich herum und legte sich auf den Rücken. Das Öl lief über ihren Leib, in den geröteten Bauchnabel und weiter in die dunkle Haarpracht ihrer Scham. Die Hände der Magd schoben es zwischen die hochwölbenden Brüste, und unwillkürlich zuckten Rosellas Beine. Sie zog das rechte Bein ein Stück an und drehte das Becken leicht zur Seite. Silvia konnte ihren Blick nicht vom süßlich duftenden Öl wenden, nicht von den Händen der Magd, von Rosellas glänzender Haut.
»Gott hat ihn mir geschickt, ich bin gebenedeit unter den Frauen.« Sie sprach noch immer wie im Traum, und auch Silvia selbst glaubte sich in ein anderes Reich versetzt. Vielleicht machte sie auch nur der starke Duft, der vom Öl ausging, benommen. Ein Bann aus gesalbtem Fleisch umfing sie. Nun wurden auch noch Räucherstäbchen angezündet und verstärkten den Zustand der Benommenheit. Trotzdem fragte sie noch einmal nach: »Warum hast du deinen Sohn nach Alessandro benannt?«
Rosella öffnete ihre Schenkel und faßte mit beiden Händen in ihren Schoß. »Hier wurde er empfangen, in der Zuflucht der Sünder, in der Trösterin der Betrübten, und hier verließ er das vortreffliche Gefäß, die Pforte des Himmels.« Laut aufstöhnend rief sie: »Sei mein goldenes Haus, du geheimnisvolle Rose.«
12. KAPITEL
Als Alessandro die heimatliche Burg Capodimonte am Lago Bolsena erreichte, wurde er von seiner Mutter kühl empfangen. Sie trug, als käme er als Abgesandter der Kurie, ihr vornehmstes Brokatkleid. Ihre Haare hielt ein goldbesticktes Netz zusammen. Sie schickte Giulia, die Alessandro um den Hals gefallen war und nicht aufhören wollte, ihn abzuküssen, auf ihr Zimmer, streichelte ihre Jagdhunde, ging mit keinem Wort auf seine Flucht aus der Engelsburg ein, sondern warf ihm Haltlosigkeit, Unvorsichtigkeit, verantwortungsloses Treiben und noch einiges andere vor, was er sofort wieder vergaß.
»Ja, ja, liebe Mutter«, sagte er. »Und wie geht es deinen Schafen?«
Die Schafzucht war, abgesehen von dem Ehrgeiz um das Ansehen und das Fortkommen der Familie, ihre einzige wirkliche Leidenschaft, obwohl sie allgemein als eine zutiefst unadlige Beschäftigung angesehen wurde. Aber seine Mutter ertrug sogar den Spott ihrer Freunde und ließ sich, hielt sie sich in Capodimonte auf, nicht davon abhalten, täglich über ihre Ländereien zu reiten, um zu überprüfen, wohin die Schafsherden getrieben wurden und ob sie auch ausreichend vor streunenden Hunden und Wölfen geschützt seien. Nach der Schur begutachtete sie eigenhändig die Qualität der Wolle und feilschte dann mit mehreren renommierten Florentiner Handelshäusern hartnäckig um einen günstigen Preis. Die Farnese-Caetani-Wolle galt als besonders warm und weich und war dementsprechend begehrt.
Sie überhörte den Spott in Alessandros Stimme und ging bereitwillig auf das neue Thema ein. Mit Begeisterung berichtete sie von ihren letztjährigen Erfolgen, der geringen Ausfallquote unter den Schafen, ihrer Fruchtbarkeit und den beachtlichen Einnahmen. »Meine Schafe machen mir auf jeden Fall mehr Freude als meine Kinder«, erklärte sie. Dann sah sie ihn mit einem langen Blick an. »Morgen stehe ich zur Frühmesse auf, daher muß ich jetzt zu Bett gehen.« Sie winkte einer Kammerfrau. In der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Kardinal wirst du jetzt nicht mehr werden, mein Zweitgeborener.« Sie schüttelte voll Unverständnis und Bedauern den Kopf. »Das Caetani-Blut, das in dir fließt, war nicht stark genug. Und was das Blut deines Vaters betrifft: Die Farnese sind keine Familie, aus der wirklich erfolgreiche Männer hervorgehen, immer nur mittelmäßige Condottieri, die auch noch auf dem Schlachtfeld fallen.«
»Mein Vater starb nicht auf dem Schlachtfeld«, erwiderte Alessandro.
»Richtig, er starb sogar im Bett viel zu früh!« Sie schnaubte verächtlich und verließ den Raum.
Alessandro starrte lange auf die Tür, die hinter ihr zugefallen war. Ihn lähmte ein blindes Nebelgefühl. Nach einer Weile setzte er sich vor den Kamin, der angezündet worden war, weil seine Mutter abends leicht fror und der erste Herbstwind schon kühle Nächte brachte. Bevor die Wärme ihn wohlig umfaßte, fröstelte er erst einmal. In seiner Kindheit hatte er lange Winterabende vor dem Feuer verbracht, zusammen mit den Jagdhunden, und vor sich hin geträumt. Tagsüber konnte er kaum stillsitzen, mußte rennen und mit dem Ball spielen, klettern, Bogen schießen und mit Angelo ringen, aber abends überfiel ihn häufig der Wunsch nach Wärme und Ruhe. Sein Vater strich ihm lächelnd über den Kopf, seine Mutter runzelte die Stirn. Oft gesellten sich Giulia und Angelo zu ihm. Dann lagen sie zu dritt vor dem Kamin. Die Hunde gähnten und schlossen die Augen, aber sie strahlten noch eine zusätzliche Wärme aus. Manchmal erfanden die Geschwister Geschichten, in denen sie Königskinder spielten und sich schworen, einander nie zu verlassen.
Angelo hatte als erster die Ilias und die Odyssee gelesen, und er berichtete mit Schaudern von den Kämpfen und den Toten, von den verschleppten Frauen, die zum Beutegut der Männer gehörten, von Odysseus unendlichem Leiden und seiner unstillbaren Sehnsucht, Alessandro las die beiden Epen bald darauf, kam aber nicht recht voran, weil er Giulia jede Zeile vortragen mußte. Eine Weile fühlte sie sich als Helena, aber Paris war ihr zuwider, trotz seiner Schönheit. Als Hektor um die Mauern geschleift wurde, vergoß sie Tränen. Und sie haßte nun die schöne Frau, wegen der all das Morden geschah. Sie litt mit Andromache und später mit Penelope, die alle falschen Freier von sich wies und treu auf ihren Gatten wartete.
Alessandro seufzte. Es waren wunderbare Abende gewesen. Seine Kindheit lag lange zurück, eine friedliche, im Frühling bunte, im Sommer glasige, im Herbst angenehm frische Welt. Und in der dunklen und feuchten Jahreszeit lag der Schimmer der Kaminfeuer über ihr und erwärmte sie. Aber fast noch schöner als die gemeinsamen Abende am Feuer waren die warmen Tage auf der Isola Bisentina, einer der beiden Inseln im Lago di Bolsena, die der Farnese-Familie gehörten. Hier erzählte ihnen der Vater nicht nur von Amalaswintha, der Gotenkönigin, die auf der Nachbarinsel Martana von ihrem eigenen Ehemann ermordet worden war, er zeigte ihnen auch all die abenteuerlichen Orte der Insel, die dunkle Brunnengrotte, aus der nachts die Geister stiegen, die dichten Gehölze, in denen grausame Fabeltiere hausten, und er führte sie zu den Uferfelsen, auf denen man sitzen, in der Sonne liegen und träumen konnte. Und natürlich schwamm er mit ihnen. Das hieß, in erster Linie mit ihm, dem Zweitgeborenen. Angelo, sein Bruder, war wasserscheu und wollte nicht recht das Schwimmen lernen, im Gegensatz zu Giulia, die sich, sooft sie konnte, ins Wasser stürzte.
In den düsteren, staubigen Skriptorien des Vatikans war die Kindheit in Vergessenheit geraten. An diesem Abend glänzte sie jedoch wieder auf. Rubino, ein ergrauter Jagdhund, der Liebling seines Vaters und einer seiner treuen Begleiter, gesellte sich zu ihm, und Alessandro legte den Kopf auf sein Fell.
Überhaupt schien er erst jetzt, vor diesem Kindheitskamin in der heimischen Burg, das Geschehen der letzten Monate zu begreifen. Es war, als hätte er dauernd von einer Haut in die andere schlüpfen müssen. Er kannte sich schließlich nicht mehr selber. Gnothi sauton, dies stand am Apollontempel zu Delphi. Erkenne dich selbst! Sein Lehrer Pomponeo Leto hat diese Aufforderung immer mit hoher Stimme und erhobenem Zeigefinger verkündet und meist noch Pindars Botschaft angefügt: Werde, der du bist.
Aber wer war er? Gerade jetzt wußte er weniger denn je, wer er war, zu wem er werden sollte. Er fühlte sich verführbar und gleichzeitig in ein so feines Netz gesponnen, daß er seine Fesseln gar nicht sah. Ein Netz, wie Hephaistos es gesponnen hatte, als er seine Gemahlin Aphrodite und den Kriegsgott Mars überführen wollte. Da lagen sie, nackt, in geschlechtlicher Vereinigung, und alle Götter umringten sie und stimmten ihr Gelächter an. Es schüttelte Alessandro bei dem Gedanken, er könnte in einer solchen Situation erwischt werden. Mit Silvia zum Beispiel. Aber Silvia dachte noch nicht daran, sich einem Mann hinzugeben.
Oder mit Rosella.
Alessandro streichelte den Hund, der seine Hand leckte und wohlig knurrte. Während der letzten Monate hatte Alessandro, ohne sich zu besinnen und nachdenken zu können, eine Veränderung ohnegleichen erlebt. Vielleicht hatte die erste Begegnung mit Rosella alles ausgelöst. Sie hatte ihn zum Mann gemacht. Im Gegensatz zu seinen gleichaltrigen Freunden, die mit ihm ritten und fochten, in der Accademia lernten oder im Skriptorium litten, war er nicht regelmäßig zu Kurtisanen gegangen. So geschickt sie ihn umschmeichelten, so gut sie dufteten, so verlockend sie ihn um den Bart gingen, sie hatten ihm immer Angst eingeflößt. Er war lieber auf die Jagd gegangen. Bis dann sein Pferd in der Nähe des ehemaligen Pantheon Rosella umstieß. Vielleicht war sie ihm sogar absichtlich in den Weg gelaufen. Zuerst tat sie verletzt und ließ sich von ihm stützen, klammerte sich an ihn, humpelte, wollte sogar getragen werden. Immer wieder strich ihr heißer Atem an seinem Ohr entlang, und sie flüsterte: »Danke, mein Herr, Ihr seid so gut, mein Herr!« Dann ließ sie sich zu einer Kate bringen, die in der Nähe des Ruffini-Hauses stand. Er mußte sie hineinschleppen. Sie streifte ihre Sandalen von den Füßen, ließ ihn ihre Knöchel untersuchen, schob dabei das Kleid übers Knie. Erst als sie die Tür verriegelte, begriff er, was geschehen sollte. Ihr Kleid rutschte noch höher – und dann war kein Halten mehr. Es dauerte Stunden, bis er, erschöpft und ausgelaugt, von ihr abließ.
Von nun an zog er jede Nacht mit den Skriptoren los, von einer Kurtisane zur anderen. Mit jedem Mal wurde er anspruchsvoller, die Frauen wurden schöner, klüger und teurer. Er bettelte seine Mutter um Geld an und machte Schulden, die er nie zurückzahlte. Rosella vergaß er zwar nicht, schließlich war sie die erste Frau, die in ihm den Rausch der Liebe erweckt hatte, aber er suchte sie nicht mehr auf. Irgend etwas hielt ihn davon ab. Das vage Gefühl vielleicht, sie könne ihm gefährlich werden. Und außerdem war er auf der Suche nach neuen Formen der Liebe. Jede Frau liebte anders, und gerade die Unterschiede reizten ihn.
Als er Silvia dann, nicht lange danach, vor den Wegelageren rettete und ein zweites Mal auf Rosella stieß, drängte sich ihm der Gedanke an eine göttliche Fügung auf. Dies wiederholte Treffen konnte kein Zufall sein! Oder war es eine menschliche Fügung? Nein, Rosella konnte nicht wissen, an welchem Tag er an welchem Ort zur Jagd ging, und selbst wenn sie es hätte in Erfahrung bringen können, so wäre sie kaum in der Lage gewesen, den Zeitraum der Abreise von Signora Ruffini zu bestimmen. Nein, der Allmächtige und Allwissende mußte eingegriffen haben. Aber warum hatte ER ihn dann in Rom nicht auf Silvia stoßen lassen, sondern auf ihre Kammerfrau, die in Wirklichkeit eine Hure war?
Rosella hatte in ihm auf jeden Fall etwas ausgelöst, was ihn in eine heftige Unruhe versetzte. Wie von Dämonen getrieben, zog er abends los, und erst in den frühen Morgenstunden fand er nach Hause. Nach einem kurzen und flüchtigen Schlaf ging er häufig auf die Jagd, weil er nur so die Unruhe in seinen Gliedern loswerden konnte. Saß er schließlich doch einmal im Skriptorium und schrieb gähnend ein besonders gottesfürchtig klingendes breve ab, dachte er daran, daß in der Hauptstadt des Glaubens, im Zentrum des priesterlichen Zölibats, im caput mundi nicht das Kreuz die Menschen beherrschte, sondern der Schwanz. Cauda mundi – so nannten die Spötter die Ewige Stadt, und sie hatten recht. Rom war ein großer, von Mönchskutten und Prälatengewändern, von Kardinalspurpur und Bischofsweiß umhüllter Schwanz. Und um den Schwanz tanzten die Dukaten. Wer Dukaten klingeln ließ, konnte sich schöne Kurtisanen kaufen, konnte in Palästen wohnen, wurde Bischof und Kardinal. Und wer Bischof und Kardinal wurde, konnte sich Paläste und Kurtisanen kaufen und erhielt noch mehr Dukaten. Aber kein Jesus von Nazareth kam und trieb mit der Peitsche die Geldwechsler und falschen Priester aus der Stadt Gottes. Warum sollte er auch? Er war ja am Kreuz gestorben. Oder hatte nur als armseliger Wanderprediger gelebt, wie viele andere auch. Solche ketzerischen Gedanken stammten von Alessandros Lehrer. Leto hatte über die Sakramente gelacht, am meisten über das Heilige Abendmahl. Dies ist sein Leib. Und der Wein ist sein Blut. Leto und die anderen bärtigen Lehrer schlugen sich auf die Schenkel, prosteten sich zu, tranken ihren Wein, und je mehr sie tranken, desto mehr mußten sie sich die Bäuche halten vor Lachen. Alessandro seufzte. Nein, seine Laufbahn als werdender Priester und zukünftiger Kardinal, der Traum seiner Mutter, war vorbei. Der Zweitgeborene wurde diesmal kein Mann der Kirche, sondern – ja, was? Vielleicht ein Philosoph? Oder ein Humanist, der alte Bücher sammelte? Seine Mutter züchtete Schafe, er hockte über griechischen Manuskripten. Noch hatte er allerdings keine Ahnung vom Griechischen. Außerdem: Wollte er sein Leben lang Papierstaub einatmen, dann hätte er gleich Skriptor bleiben können. Aber all die Ämter und Tätigkeiten im Vatikan, Notar, Thesaurar, Datarius oder Abbreviator, langweilten ihn. Wenn schon ein kuriales Amt, dann kam nur ein Kardinalat in Frage oder zumindest eine Gesandtschaft. In Venedig zum Beispiel. Oder am französischen Hof. Als Gesandter kam man in der Welt herum, und als Kardinal besaß man Macht und erhielt einträgliche Pfründe.
Aber warum sollte er nicht gleich Papst werden? Oberhaupt der katholischen Kirche? Man mußte zur rechten Zeit am rechten Ort sein, Freunde im Kardinalskollegium haben und, wenn möglich, einen Papst in der Familie. Mehr war nicht erforderlich. Das sah er an den jetzigen papabiles Borgia und della Rovere. Papst Innozenz VIII. Cibò dagegen war nur gewählt worden, weil man ihn für schwach und ungefährlich hielt. Wie so viele Schwächlinge zeichnete er sich durch Falschheit und Ränkeschmiederei aus, und außerdem verfolgte ihn die Angst vor Hexen und ihren Taten. Daher seine Bulle Summis desiderantes, die Alessandro noch Jahre nach ihrem Erlaß mehrfach hatte kopieren müssen. Innozenz Bischof, ein Knecht der Knechte Gottes. So begann sie. Da konnte man nur lachen. Der Papst war kein Knecht, sondern ein Herrscher: über die Ewige Stadt, über das Italien südlich der Toskana und nördlich von Neapel und gleichzeitig über viele, viele Seelen. Vor ihm knieten Könige, und sogar der Kaiser wurde von ihm gekrönt.
Alessandro setzte sich auf, fachte dann das Feuer wieder an, warf ein paar Scheite in die Glut und ließ sich ein Glas Rotwein bringen. Das Feuer loderte auf, und sein Blick folgte den Flammen. Er hatte sich auf wolkigen Träumen hinweg treiben und in den Himmel der Hoffnungen tragen lassen. Dabei mußte er Rom verlassen und ins Exil gehen. Durfte er je wieder zurückkehren? Vielleicht blieb ihm sogar sein heimatliches Schloß in Zukunft versperrt, und er mußte wie ein ärmlicher Scholar durch die europäischen Länder ziehen. Oder der Papst exkommunizierte ihn! Was tat seine Mutter, die wahrscheinlich alles angezettelt hatte, dann?
Die Hitze der Flammen ließ Alessandros Haut erglühen, aber er wich nicht zurück. Das Wort Exil setzte sich in seinem Kopf fest. Er war ein Verbannter! Schon jetzt saß er hier in der Burg seiner eigenen Familie allein vor dem Kamin. Wo war Giulia? Was tat sie? Und Angelo? Der einzige Bruder, der ihm geblieben war. All die anderen Geschwister waren schon in jungen Jahren gestorben. Auch der Vater tot. Ein loderndes Feuer, aber kalte Wände. Nur Rubino, der humpelnde Jagdhund, der neben ihm schlief, vermittelte ihm etwas von der Wärme der Kindheit. Alessandro trank noch einen Schluck Wein und schüttete den Rest aus dem Glas in das aufzischende Feuer. Silvia stand wieder neben ihm, wie noch kürzlich in Frascati. Oder vor den erschlagenen Wegelagerern. Ein kleines zitterndes Mädchen. Er mußte sie beschützen, ebenso, wie er seine Schwester Giulia beschützen mußte. Aber gleichzeitig sah er in Silvia eine engelhafte Erlöserin. Die beiden Seiten einer Medaille – oder, wie Plato es sah, die beiden Teile eines einzigen Wesens, das auseinandergerissen worden war und das nun danach strebte, sich wieder zu vereinigen. Falls sie sich allerdings gefunden hatten, dann waren sie von neuem auseinandergerissen worden.
Alessandro warf den Weinkrug ins Feuer, das noch einmal laut aufzischte. Heller Rauch schoß in den Kamin. Der Jagdhund wachte auf und schaute ihn fragend an. Alessandro strich dem treuen Tier übers Fell.
13. KAPITEL
Die Tage zu Hause waren, wie Silvia enttäuscht feststellte, nicht leichter zu ertragen als die Tage in Frascati. Auf dem Land konnte sie ausreiten und Zwiesprache mit der Natur halten, in Rom durfte sie das Haus nur verlassen, um zur Messe zu gehen, und dies nie allein. Ihr Vater begleitete sie zuweilen nach Santa Maria sopra Minerva, und wenn er nicht gar zu niedergedrückt war, zogen sie anschließend durch das bunte und laute Menschengewühl zum Grab der Mutter in Santa Maria ad Martyres, zum altrömischen Pantheon. Der Vater kniete vor der Grabnische der Familie und betete, obwohl um sie lautes Treiben herrschte und die Kurtisanen mit großem Gefolge hofhielten. Silvia sah Tränen in seinen Augen; er bewegte stumm seine Lippen. Sie selbst versuchte dann auch, die Jungfrau Maria und die Märtyrer um Verzeihung zu bitten für all die Sünden, die ihr noch nicht erlassen waren, weil sie ihre Verfehlungen bisher nie gestanden hatte. Es hallte unter der großen Kuppel, und durch die runde Öffnung in der Mitte schickte die Sonne einen blendenden Strahl auf die Menschen.
Während der Vater sich noch tiefer bückte und nun seine gefalteten Hände gegen seine Stirn schlug, beobachtete Silvia die elliptische Form des Sonnenlichts, das sich auf sie zu zubewegen schien. Für einen Augenblick überfiel sie die Angst, sie müßte geblendet niederstürzen wie Saulus, der aber zum Paulus bekehrt worden war, während sie ewig in sündiger Dunkelheit verharren mußte. Aber als das Licht sie schließlich traf, schloß sie einfach die Augen – und nichts geschah! Gott hatte sie übersehen! Hatte sie nicht auserwählt!
Während der nächsten Wochen betete sie viel. Sie trug nur weiße Kleider, die täglich gewaschen werden mußten. Sooft es ging, holte sie sich den kleinen Sandro und trug ihn durch die Räume des Hauses, wiegte ihn auf ihren Armen, strich ihm die Härchen aus der Stirn und sang ihm ein Schlaflied. Gelegentlich tröpfelte sie ihm auch Ziegenmilch auf die Lippen. Am liebsten wäre es ihr gewesen, die Wiege hätte in ihrem Zimmer stehen können, aber die Amme reagierte mit heftiger Eifersucht. Und natürlich konnte sie dem Kleinen keine Brust geben, obwohl ihr schon deutlich Rundungen wuchsen.
Rosella begutachtete sie einmal, als Silvia mit ihr zusammen in Rosenwasser badete, und nickte anerkennend. »Noch klein, aber wohlgeformt.« Sie sah Silvia prüfend an. »Steh mal auf!«
Silvia gehorchte. Das Wasser tröpfelte an ihrem Körper ab, und eine Gänsehaut überlief sie.
»Du wirst einmal sehr schön, Piccolina … Contessina!«
Silvia ließ sich verschämt wieder ins Wasser gleiten.
»Manche Männer lieben schlanke, jungfräuliche Körper mit engen Öffnungen … andere dagegen mögen mütterliche Brüste.« Rosella fuhr mit ihren Händen über ihren Oberkörper und hob ihre beiden Brüste. »Sie sind wie Kinder … wenn sie nicht gerade ihren gewaltsamen Fickrausch austoben müssen.«
Silvia erschrak über die Wortwahl, die sie bei den Wäscherinnen vermutete, die aber in ihrer Gegenwart vermieden wurde.
»Vivamus, mea Silvia, atque amemus, laßt uns leben, laß uns lieben«, rief Rosella lachend, erhob sich schwungvoll und ließ sich ein weites Leinentuch reichen. »Vita brevis, das Leben ist kurz … Komm, laß uns ein wenig singen!«
Als Rosella abgetrocknet war, zog sie sich ein leichtes Tunika-Kleid an, ließ sie sich die Laute bringen und begann zu ihrem Spiel ein weiteres Gedicht, das Silvia nicht kannte, zu rezitieren, und als sie Silvias fragenden Blick sah, warf sie kurz ein: »Ovids Ars amatoria. Unser Evangelium!«
Silvia mußte wieder daran denken, daß Rosella vor dem Tod der Mutter ihre Kammerfrau war, daß man ihren Vater vor dem eigenen Haus ermordet hatte, ihre Mutter eine Kupplerin, ihre Schwester eine Straßenhure war und der Bruder überhaupt keinen Beruf hatte. Und jetzt badete sie in Rosenwasser, trug die Gewänder der Familie Ruffini und legte sich zu ihrem Vater ins Bett. Die Vorstellung schüttelte Silvia vor Ekel und trieb ihr gleichzeitig Hitzewellen durch den Körper. Aber sie bewunderte Rosella auch. Rosella hatte in kurzer Zeit Latein gelernt, ihre Finger hüpften, ohne sich zu vergreifen, über die Saiten der Laute, und wenn sie sang, glaubte man die reine, sanfte Stimme der Engel zu hören.
Doch liebte Rosella ihren Sandro genug? Nur selten nahm sie ihn in den Arm, um ihn zu küssen und zu liebkosen, sie nannte ihn häufig »du Bastard, du kleiner«, und sobald er zu weinen begann, übergab sie ihn mit einem unwilligen Ausdruck der Amme. Silvia fragte sich auch, ob ihr Vater und sie sich wirklich liebten, oder ob sie ihn nicht nur durch schwarze Magie umfangen hatte? Immer wieder sah Silvia ihn hinter ihr her schleichen, und in Augenblicken, in denen er sich unbeobachtet glaubte, griff er nach ihr, küßte ihren Hals, versuchte, seine Hand in ihren Ausschnitt oder auch zwischen ihre Schenkel zu schieben. Sie verdrehte die Augen, seufzte, stöhnte und zog ihn ins Schlafzimmer, und falls sie sich am anderen Ende des Hauses aufhielten, zog sie ihn in eine dunkle Ecke. Er schien ihr blind zu folgen, während ihre Augen die Umgebung absuchten. Einmal entdeckte sie Silvia und bedeutete ihr mit dem Kopf, zu verschwinden. Silvia verzog sich hinter den nächsten Schrank und lauschte. Vielleicht hatte Rosella auch sie verhext, denn obwohl Silvia wußte, daß ihr Vater sie schon einmal ins Kloster verbannt hatte, nachdem sie ihre Neugier nicht hatte zügeln können, trieb sie etwas Machtvolles, das Treiben der beiden zu belauschen.
»Warum heiratest du mich nicht?« fragte Rosella.
Der Vater keuchte und stieß »Komm jetzt, komm!« hervor.
»O ja, das ist gut«, rief sie mit unterdrückter, aber falsch klingender Stimme.
Ein langgezogenes Stöhnen folgte.
»Ich will nicht länger deine Konkubine sein, das mußt du doch verstehen!«
»Jaaa!«
Sie stieß ein paar spitze Schreie aus. Das Stöhnen ebbte ab.
»Ich habe dein Kind auf die Welt gebracht, endlich wieder einen Jungen. Warum heiratest du mich nicht!?«
Der Vater stöhnte noch einmal. »Das Trauerjahr muß erst vorbei sein, das weißt du genau.«
»Du hast sie doch nie geliebt; sie war kalt wie ein Fisch.«
Für kurze Zeit war Rosellas Stimme böse und scharf, dann versuchte sie ihm wieder zu schmeicheln. »Ich will dich glücklich machen, aber auch du solltest mir etwas geben. Noch ist dein Sohn Sandro der Bastard einer Magd!«
Obwohl Silvia es nicht sehen konnte, merkte sie, wie ihr Vater sich abwandte. Seine Stimme wurde unwillig. »Wer weiß, ob Sandro überhaupt von mir ist.«
»Ich habe dir schon oft gesagt, daß sie mich nicht angerührt haben. Ich verkroch mich ins Gebüsch.«
Schweigen. Geräusche von Kleidern, die gerichtet wurden. Silvia überlegte, ob sie schnell in ihr Zimmer rennen sollte. Der Vater konnte sie jeden Augenblick entdecken.
»Gab es nicht andere Männer in deinem Leben? Den Farnese zum Beispiel.«
Rosella antwortete nicht.
Silvia wollte nicht glauben, was sie gehört hatte. Sie glaubte, den Namen falsch verstanden zu haben. Oder der Vater sprach von einem anderen Farnese, einem Vetter von Alessandro. Es gab wahrscheinlich viele Farnese in Rom. Aber warum hatte Rosella den Kleinen dann Sandro genannt?
»So etwas spricht sich herum. Für einen Dukaten verrät selbst deine Mutter dich.«
»Du liebst mich nicht.« Rosella schluchzte theatralisch auf. »Ihr Männer seid alle gleich!« Sie rief es voller Wut, schien sich dann aber zu besinnen und begann wieder zu schluchzen. »Du liebst mich nicht, nein.«
»Dummes Huhn!« Die Stimme des Vaters klang nicht wirklich ärgerlich, auch nicht eifersüchtig.
»Ich nehme Sandro und gehe in den Tiber.« Plötzlich hatte sie geschrien, und der Vater schien sie zu packen und ihr den Mund zuzuhalten. Ein Stöhnen war die Folge. Aber dann schien Rosella sich von seinem Griff loszureißen und rannte in ihr Zimmer.
Damit Silvia von ihrem Vater nicht entdeckt wurde, verzog sie sich schleunigst. Aber was sie gehört hatte, nagte in ihr. Es gab ein Geheimnis … und es gab Dämonen im Haus. Rosella war ihr Werkzeug. Ihre früher so geliebte Rosella. Die Brüder starben, die Mutter wurde ermordet. Der Vater machte sie zur Geliebten. Oder hatte sie den Vater zu ihrem Geliebten gemacht? Sie zog ihre Fäden um die FarneseFamilie, und am Ende würde sie, Silvia, ihr letztes Opfer sein.
Silvia starrte auf den Boden und mußte lachen. Vielleicht war sie nur eifersüchtig. Trotzdem stellte sie Rosella noch am selben Abend zur Rede. Rosella lag in einem Badezuber und wirkte schlechtgelaunt, drückte langsam Wasser aus einem Schwamm und ließ es über ihre Schultern laufen.
»Seit wann kennst du Alessandro Farnese?« fragte Silvia.
Rosella schloß Augen und Mund und ließ den Kopf unter die Wasseroberfläche sinken. Aber er tauchte schnell wieder auf. »Man braucht Steine, die einen hinabziehen.«
»Ich habe dich etwas gefragt!« Silvia versuchte, die Herrin herauszukehren, aber Rosella reagierte nicht. Blitzschnell drückte Silvia ihren Kopf unter Wasser. Heftig ruderten Rosellas Beine und ließen soviel Wasser überschwappen, daß Silvia ganz naß wurde. Silvia ließ sie wieder los, und prustend tauchte Rosella auf, schnappte nach Luft, starrte sie mit aufgerissenen Augen an.
»Mach das nicht noch einmal!«
Silvia lachte sie aus. »Man braucht keine Steine!«
»Du weißt nicht, zu was ich fähig bin!« schrie Rosella.
Silvia lachte noch immer, und Rosella wollte nach ihr schlagen, aber Silvia wich geschickt aus und riß ihren Fuß in die Höhe, so daß sie wieder untertauchte. Aber diesmal hielt sie sich an dem Zuberrand fest, und ihr Kopf erschien sofort wieder über dem Wasser. »Das wirst du mir büßen, Piccolina!«
Rosella klang wirklich drohend; ihr Gesicht war vor Wut verzerrt. Die Haare hingen in Strähnen über den Augen, sie zog die Oberlippe hoch, so daß sie die Zähne wie zum Beißen entblößte. Aber blitzschnell fing sie sich wieder und lachte. Sie lachte lange, und zum Schluß quetschte sie nur noch bellende und stoßende Laute aus sich heraus, mit verzerrter Miene. Dann wurde sie ernst.
»Den Farnese kenne ich seit dem Überfall, wie du.« Rosella erhob sich aus dem Wasser, ließ sich ein großes Leinentuch reichen.
Silvia gab es ihr. Während Rosella ihren schweren, vollbrüstigen Körper bedeckte, drängte sich ihr wieder das Bild auf, wie sich ihr Vater so hündisch mit diesem Körper gepaart hatte.
»Mein Vater müßte dich auspeitschen lassen, du verlogene Hure!« Silvia hatte plötzlich eine nicht zu unterdrückende Wut ergriffen. Ruhig verknotete Rosella das Tuch unter ihrer Schulter. Dann hob sie den Kopf und schaute Silvia lange von oben herab an. »Du wirst noch viel lernen müssen, Piccolina, sonst wirst du dein Leben lang eine Gefangene bleiben – deines Vaters, deines Mannes, der Kirche. Du wirst eingesperrt bleiben im Haus und wirst einmal eine fette, dumme, langweilige Matrone, die bei der Geburt irgendeines ihrer Kinder von Schmerzen zerrissen wird und dann krepiert.«
Rosella stand vor ihr, hochaufgerichtet, mit funkelnden Augen, mit verzerrten Lippen und bleckenden Zähnen, und hob den Arm. Silvia bückte sich unwillkürlich.
Sie wußte nun, Rosella war nicht nur eine dämonische Hure, sondern auch eine Hexe. Sie hatte den Vater verhext, und nun wollte sie auch die Tochter verhexen. Von einem plötzlichen Heulkrampf erfaßt, eilte Silvia aus dem Zimmer, rannte zu dem kleinen Sandro, den sie seiner Amme aus den Armen riß. Er lächelte sie an, ihre Tränen versiegten, und sie trug ihn auf die Dachterrasse, wohin ihr die Amme nicht folgte, weil sie glaubte, dort oben könnten Geier herniederstoßen und das Kind rauben. Abergläubische Vorstellungen ungebildeter Weiber! Der kleine Sandro ruderte mit seinen Ärmchen und brabbelte fröhlich vor sich hin. Silvia schaute ihn an und sah plötzlich Alessandros Augen vor sich. Ja, es gab keinen Zweifel, das Kind mußte von Alessandro stammen, nicht von ihrem Vater. Rosella lockte mit magischen Kräften die Männer an, und um Macht über sie zu gewinnen, benutzte sie deren Gier auf einen bereitwilligen Körper.
Silvia überlegte, ob sie ihren Vater aufklären und sich mit ihm gegen Rosella verbünden sollte. Aber wenn Rosella ihn tatsächlich verhext hatte, würde er seine einzige Tochter wieder ins Kloster stecken … Die Mädchen wurden von einem Gefängnis zum anderen verschoben, in diesem Punkt hatte Rosella recht. Auch jetzt mußte sie wieder ein elendes Leben führen, ein langweiliges Leben. Nur der kleine Sandro stellte einen Lichtblick dar, obwohl er sie mit seinen Augen anschaute … Oder weil sie Alessandros Augen wiederfand?
Silvia verzog sich in ihr Zimmer. Sie setzte sich an ihr kleines Schreibpult, holte zwei Kerzen und Papier, ließ lange ihren Blick auf dem Marmorrelief ruhen, auf der Frau, die dem Mann das Kind reichte, auf der umgedrehten Fackel, und schrieb Alessandro schließlich einen langen Brief. Sie schüttete ihm ihr Herz aus und erzählte von ihrer Liebe, von der Langeweile, von der Hexe Rosella und auch davon, daß der kleine Sandro seine Augen habe.
14. KAPITEL
Giulia hatte die Tür verschlossen, öffnete aber schnell, als sie hörte, wer klopfte. Sie trug ein langes weißes Hemd. Ihre Haare waren schon aufgelöst und fielen ihr bis über die Hüften. Alessandro schlüpfte in ihr Zimmer und küßte sie zur Begrüßung auf die Wange.
»Was hast du gerade getan?« fragte er. »Du zitterst ja.«
»Ich habe gebetet.«
Er schaute sie fragend an und drückte sie dann an sich.
»Und du? Hast du dich mit Mutter gestritten?«
Er zog verächtlich die Augenbraue hoch. »Sie ist längst im Bett. Ich habe vor dem Kamin ein wenig alten Zeiten nachgeträumt.«
»Sie ist zur Zeit wirklich unerträglich. Seitdem ich aus dem Kloster zurück bin, höre ich von ihr nur Vorwürfe. Sogar an Angelo nörgelt sie herum.« Giulia preßte sich noch fester an ihn. »Wenn ich dich nicht hätte, Alessandro! Ich habe dich so vermißt, als du im Kerker warst, und jetzt mußt du auch noch nach Florenz fliehen.«
Sie umarmten sich, und er erzählte ihr von seiner Flucht aus der Engelsburg. Weil sie so warm in seinen Armen lag, wurde ihm erneut bewußt, wie sehr sie tatsächlich zusammengehörten, wie eng sie seit ihrer Kindheit miteinander verbunden waren. Dieselbe Amme hatte sie gestillt und dann großgezogen, und als sie an der Pest starb, hatten sie beide lange geweint. Wenn Alessandro etwas ausgefressen hatte, nahm ihn Giulia in Schutz, und schenkte ihr der Vater Konfekt, dann gab sie ihm etwas ab, obwohl er sich nicht viel aus Süßigkeiten machte. Und immer wenn ihre Mutter sich an einem anderen Ort aufhielt, dann schliefen sie in einem Bett und jagten gemeinsam die Flöhe, die von einem zum anderen sprangen. Inzwischen war Giulia so herangewachsen, daß sie nicht mehr in einem Bett schlafen durften. Als er Skriptor wurde, hatte er gedacht, daß er als unverheirateter Mann Gottes ihr immer die Treue halten würde, und wenn er jetzt die Anmut ihrer Bewegungen, den Liebreiz ihrer Gesichtszüge, die langfließende Fülle ihrer Haare betrachtete, dann wußte er, daß eine Frau, die er einmal lieben würde, nicht viel anders aussehen durfte als seine kleine Schwester.
»Ich hasse unsere Mutter …«, stieß sie hervor. Und dann erzählte sie Alessandro von ihrer Zeit im Kloster, von den stumpfsinnigen Tagen, die schließlich in Unzucht und Unordnung ihr Ende gefunden hätten. »Und all das habe ich unserer Mutter zu verdanken. Ich hasse sie!«
»Ich hasse sie nicht«, antwortete Alessandro. »Eines Tages wird sie stolz auf uns sein.«
»Das wird sie nie!«
Alessandro löste sich von Giulia, ging gedankenverloren zu ihrem Pult und blätterte in der aufgeschlagenen Bibel. An der Stelle der Korinther-Briefe stieß er auf ein in Perlmutt gefaßtes Medaillon mit einem Männerporträt, das offensichtlich als Lesezeichen diente.
Als Giulia sah, was er gefunden hatte, wurde sie tiefrot und zog schnell ein Seidentuch um Kopf und Gesicht. »Wenn Mutter nicht an mir herumnörgelt, spricht sie davon, daß ich möglichst bald Orso Orsini heiraten soll. Dabei bin ich doch erst fünfzehn.« Alessandro studierte das Porträt genauer. »Das ist Orso, nicht wahr?«
Sie nickte.
»Ich glaube, ich kenne ihn.«
»Und?« Giulias Stimme zitterte vor Neugierde. »Hast du ihn noch nie getroffen?«
»Ich soll ihm demnächst vorgestellt werden. Ach, es ist alles so aufregend!«
»Soviel ich weiß, ist er ein harmloser Bursche. Du könntest es schlimmer treffen. Aber schön ist er nicht.« Er versuchte, sich genauer zu erinnern. »Nein, wahrhaftig nicht.«
Ihre Augen hefteten sich an ihn. Sie hatte sie schwarz umrandet, und daher wirkten sie noch größer als gewöhnlich.
»Weißt du, wie es ist …« Sie mußte schlucken und unterbrach sich selbst.
»Was meinst du?«
»Na, du weißt schon.« Sie wandte sich ab und drehte sich um die eigene Achse, als wolle sie tanzen. Sie hüpfte zum Fenster und hüpfte wieder zurück. »Kannst du deinen Handstand noch?« Alessandro nickte.
»Mach ihn mir vor!«
Er schwang seine Beine hoch und balancierte, auf den Händen stehend, seinen Körper aus.
Giulia trat einen Schritt zurück und applaudierte. Dann kniete sie sich nieder, beugte sich zu seinem Gesicht herunter und gab ihm einen Kuß auf das Kinn, dann auf die Nase und schließlich auf die Lippen.
»Zufrieden?« preßte er hervor.
»Du mußt so bleiben und mir sagen, wie es ist, wenn man zum ersten Mal … Tut es weh? Die Mägde lachen immer so unanständig und ziehen mich auf.«
»Mir hat es nicht weh getan«, sagte er.
Giulia stieß ihn mit einer mutwilligen Bewegung an, so daß er beinahe auf den Rücken gefallen wäre. Er bekam wieder sicheren Halt und setzte sich dann neben sie auf den Boden.
»Eigentlich freue ich mich auf die Ehe.« Sie seufzte und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Dann werde ich mich um ein Haus und eine große famiglia kümmern können. Und unsere Mutter hat mir nichts mehr zu sagen. Ich werde Kinder in die Welt setzen und großziehen.« Sie seufzte erneut. »Im Grunde habe ich auch keine Angst vor dem ersten Mal, aber ich habe Angst vor den Geburten. Die Mägde malen die Schmerzen in allen Farben aus, und auch unsere Mutter betont immer wieder, wie sehr sie unter unserer Geburt gelitten hat … und so viele Frauen sterben dabei …«
Alessandro küßte Giulia auf den Kopf, und sie schlang die Arme um ihn. »Du wirst nicht sterben. Ich werde dich immer beschützen!«
»Du?« Ihre Stimme klang liebevoll spöttisch. Dann füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Du mußt dich erst einmal selbst beschützen.«
Eine Weile saßen sie stumm nebeneinander. Schließlich schlug Giulia vor, nach Angelo zu schauen, und so gingen sie Arm in Arm zu ihrem älteren Bruder. Sie trafen ihn bei trübem Öllicht über ein Buch gebeugt an. Er schaute nicht auf, als sie sich neben ihn stellten.
»Angelo, Bruder, willst du uns nicht begrüßen?« fragte Alessandro. »Du wirst mich lange Zeit nicht mehr sehen.«
»Ich habe dich ja auch früher nicht oft gesehen«, antwortete Angelo mit dumpfer Stimme.
Alessandro und Giulia schauten sich fragend an.
»Was liest du?« fragte Giulia nach einer Pause.
Angelo ruckte unsicher auf seinem Hocker hin und her, schaute aber nicht auf und antwortete nicht.
Alessandro nahm das Buch in die Hand und las laut den Titel: »Confessiones.« Er mußte auflachen. »Der zukünftige Bannerträger der vatikanischen Truppen liest die Bekenntnisse eines Kirchenvaters. Glaubst du, mit Augustinus’ Seelenbeschau Schlachten gewinnen zu können?«
Angelo zuckte mit den Achseln.
Giulia strich ihm über den Kopf, und weil er noch immer nicht reagierte, beugte sie sich zu ihm herunter und hielt ihre Wange an seine Wange. »Du weinst ja!« rief sie erschrocken.
Auch Alessandro sah, wie Tränen auf das Papier tropften. Er wollte erneut lachen, aber sein Hals schnürte sich zusammen.
»Angelo, was bedrückt dich?« Giulia und Alessandro fragten gleichzeitig.
Angelo hob sein tränennasses Gesicht. »Ich kann es nicht.«
»Was kannst du nicht?« fragte Alessandro.
»In wenigen Monaten soll ich mich dem venezianischen Heer anschließen, das gegen die Türken zieht. Ich soll sogar einen Trupp Fußsoldaten anführen. Ich kann es nicht.«
Alessandro richtete sich abrupt auf und trat einen Schritt zurück. »Du bist der Erstgeborene«, sagte er mit einer Kälte in der Stimme, über die er selbst erschrak. »Du erbst unser Lehen, du bist von uns beiden der Soldat.«
Giulia kniete sich neben Angelo, nahm seine Hand und versuchte, ihm in die Augen zu schauen. »Du wirst es schaffen, und wenn du zurückkommst, werden wir alle stolz auf dich sein. Und aus Venedig wirst du eine Prinzessin mitbringen.«
»In Venedig gibt es keine Prinzessinnen.«
»Dann heiratest du eben eine Sforza aus Mailand oder eine Este aus Ferrara.« Giulia gab ihm einen ermutigenden Klaps.
»Ich werde nie heiraten«, schluchzte Angelo auf. »Ich werde vorher sterben.«
Während Giulia Angelo tröstend über den Rücken strich, spürte Alessandro einen aufkeimenden Widerwillen gegen seinen Bruder. Angelo ließ sich gehen und jammerte wie ein Waschweib. Aber wer hatte im Kerker gesessen? Wer hatte sich vier Jahre lang in dunklen Skriptorien herumdrücken müssen, während Angelo frei war, seinen Neigungen nachgehen, ausreiten und jagen durfte?
»Der Papst will mich in den Tod schicken«, flüsterte Angelo und wischte sich anschließend die Tränen aus den Augen. »Die Türken sollen mich aufspießen.«
»Das bildest du dir alles ein«, rief Alessandro. »Du sollst dich bewähren.«
»Der Papst glaubt, ich würde zusammen mit den Orsini und den Sforza planen, ihn zu stürzen.« Angelo schneuzte sich, schaute aber noch immer nicht auf, sondern hockte mit krummem Rücken vor den Confessiones. »Daher schickt er mich weg. Was habe ich mit den Venezianern zu schaffen! Ich würde am liebsten in ein Kloster gehen, zu den Franziskanern.«
»Hast du das schon unserer Mutter mitgeteilt?« fragte Alessandro.
Angelo schüttelte den Kopf.
»Dann können wir ja tauschen«, fuhr Alessandro fort. »Du wirst Skriptor, und ich führe dein Trüpplein Söldner. Aber dann erbe ich auch Titel und Lehen und werde heiraten.«
Angelo schwieg.
»Nun sag doch was, Angelo!« rief Giulia und schüttelte ihn. »Alessandro hat recht.«
Angelo erhob sich, stellte sich in die Fensternische und schaute mit eingezogenen Schultern schweigend in die Nacht hinaus. »Ich kann nicht«, wiederholte er nach einer Weile.
Alessandro verlor plötzlich die Fassung. Er hätte schreien und toben können. Er hätte seinen Bruder packen und auf die Knie zwingen mögen. Dieser Feigling war der Liebling seiner Mutter. Die Lenden dieses Schwächlings sollten das Geschlecht der Farnese fortpflanzen, und er, Alessandro, der zufällig als zweiter geboren worden war, sollte unfruchtbar wie ein Eunuch bleiben. Und nicht nur das. Er mußte seine Heimat verlassen. Und damit auch Silvia. Und Giulia. Mit Begeisterung und unter Einsatz seines Lebens würde er gegen die Türken kämpfen und auf diese Weise etwas für den katholischen Glauben tun. Und dann im Triumph zurückkehren und als Held gefeiert werden. Gebete herunterleiern, Messen lesen und Sünden vergeben war das Langweiligste, was er sich vorstellen konnte. Er hatte schon immer während der Messen gähnen müssen. Oder er hatte zu den Mädchen hinübergespäht. Es ging ihm dabei so wie den meisten Priestern und Prälaten. Während sie ihre frommen Sprüche von sich gaben, dachten sie an etwas ganz anderes. Und sie dachten nicht nur etwas anderes, sie verstießen auch tagtäglich gegen Gottes Gebote. Ein Sündenpfuhl war aus der heiligen römischen Kirche geworden, die Prediger, die über die Straßen des Landes zogen und gelegentlich auch auf Roms Plätzen zum Volke sprachen, führten zu Recht Klage. Alessandro hatte doch tagtäglich im Vatikan erleben müssen, was den Männern in ihren schwarzen oder purpurroten Gewändern, in ihren weißen oder braunen Kutten durch den Kopf ging. Sie dachten an Geld und Pfründe, an Weiber und Wein.
Alessandros Wut hatte noch nicht nachgelassen. Sein Bruder stand wie ein elender Büßer in der Fensternische. Er rührte sich nicht, er verteidigte sich nicht, er riß sich nicht zusammen. Alessandro ergriff seine Schultern und drehte ihn herum. Er zwang ihn, ihm, dem Jüngeren, dem benachteiligten Bruder, in die Augen zu sehen.
Angelo schaute ihn an. Sein Blick gottergeben, ohne Stolz, ohne Kraft. Alessandro ertrug es einfach nicht, er schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht, einmal, zweimal, dreimal.
»Alessandro!« schrie Giulia und fiel ihm in die Arme. »Tu das nicht!«
Nach dem dritten Schlag wandte sich Alessandro ab. Aber plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter, und als er sich umdrehte, um seinem Bruder die ganze Verachtung, die er für ihn empfand, zu zeigen, blickte er in Augen voller Angst und spürte gleichzeitig einen heftigen Faustschlag im Gesicht. Er stürzte zu Boden. Giulia schrie ein zweites Mal auf.
Alessandro wollte nicht glauben, was geschehen war. Vorsichtig befühlte er die höllisch schmerzende Nase. Blut rann ihm über die Lippen. Langsam erhob er sich, den Kopf noch gesenkt, den Arm unter die blutende Nase haltend. Angelo stand wie ein dunkler Schatten vor dem Fenster. Und Alessandro sprang ihn an wie ein Raubtier. Er stieß den Kopf seines Bruders an die Wand und warf ihn nieder. Angelo wehrte sich. Er boxte und trat nach ihm. Auch er blutete nun, und beide wälzten sich ringend auf dem Boden, die Gesichter verschmiert. Alessandro holte mit seiner Faust aus, um den Widerstand seines Bruders endgültig zu brechen, aber bevor er sein Gesicht traf, riß ihn Giulia nach hinten und warf sich zwischen sie. Wie auf Befehl ließen die Brüder schweratmend voneinander ab. Angelo kniete, ohne seine Augen vom Boden zu heben. Alessandro befühlte seine Nase, stand auf und zog seinen Bruder auf die Beine.
Der Blick, der ihn traf, zeugte nun nicht mehr von Angst, sondern von hilfloser, aber stolzer Verachtung. »Ich bin der erstgeborene Sohn, und du bist der zweitgeborene!« sagte Angelo mit bebender Stimme. »Ich werde gegen die Türken kämpfen, heiraten und Kinder in die Welt setzen – und du, du wirst als Kirchendiener immer einsam bleiben.«
15. KAPITEL
Die Wintertage waren ruhig. Über Rom spannte sich ein blauer, kalter Himmel, aber das Feuer in den Kaminen flackerte über einer kräftigen Glut und wärmte die Räume. Silvia schlief viel, träumte vor sich hin, ging regelmäßig zur Messe. Sie sang zur Laute und begann eigene Verse zu dichten. Petrarca sehnte sich nach seiner Laura, und sie sehnte sich nach ihrem Alessandro.
»Ein neues Lied der Liebe möchte ich singen, Bestürmen, Liebster, dich mit wilder Kraft, Des kalten Herzens Zögern zauberhaft Zu neuer Wünsche Sternenflug beschwingen.«
Während Silvia in das Feuer starrte, stand Rosella plötzlich neben ihr. Silvia erschrak und beendete sofort ihr Spiel. Rosella strich ihr wie eine Mutter über den Kopf.
»Schön!« sagte sie. »Sing weiter!«
Silvia schüttelte schüchtern den Kopf.
»Seit wann schämst du dich vor mir?«
Rosella setzte sich neben sie, nahm ihr die Laute aus der Hand und versuchte nachzusingen, was sie gerade gehört hatte. Zuerst klang es noch ein wenig falsch, aber schon bald sang sie mit leidenschaftlicher Intensität.
Silvia schämte sich tatsächlich, aber sie schämte sich nicht über die Verse, die ihr eingefallen waren, auch nicht darüber, daß Rosella schöner sang als sie, sondern darüber, daß sie so schlecht über Rosella gedacht hatte. Daß sie Rosella unterstellt hatte, ihren Vater verhext zu haben. Und nicht nur ihren Vater, sondern auch Alessandro. Rosella kam aus der Gosse, und nun war sie die Geliebte ihres Vaters – fast ihre Mutter. Dafür bewunderte Silvia sie. Und Silvia liebte sie, weil Rosella sie als Kind gewaschen und angekleidet hatte, und wenn das Fieber sie schüttelte, saß Rosella immer an ihrem Bett und kühlte ihre Stirn. Silvia liebte sie, trotz des Hasses, den sie gelegentlich empfand, weil Rosella so grob und wild sein konnte.
»Und wie geht es weiter?« fragte Rosella. »Ich weiß nicht«, sagte Silvia stockend.
»Natürlich weißt du es, ich sehe es dir doch an.« Sie reichte ihr wieder die Laute, und Silvia sang mit leiser, schüchterner Stimme:
»Wie Frühlingsjauchzen soll mein Ruf erklingen, Bis Tränenströme, Liebster, aus der Haft Der dunklen Augen brechend, Rechenschaft Der späten Reue der Beglückten bringen.«
»Ach, wenn ich so dichten könnte«, rief Rosella, »und dabei bist du noch fast ein Kind.«
»Du kannst viel schöner singen als ich«, widersprach Silvia, »und außerdem bin ich kein Kind mehr.«
Rosella umarmte sie, und Silvia sah tatsächlich Tränen in ihren Augen glänzen. »Ich könnte so glücklich sein«, flüsterte sie, »mit deinem Vater und dir und meinem kleinen Sandro …«
Silvia fühlte einen Stich des Neids in ihrem Herzen. Rosella besaß das süße Kind, und sie mußte noch warten, bis sie die Bestimmung der Frau erfüllen durfte. Ihr Vater hatte Rosella aus ihrer dunklen Herkunft erlöst, sie durften zusammenleben, und Silvias Geliebter, ihr Held, hielt sich in der Ferne auf, irgendwo in einem der Häuser oder Burgen der Farnese oder sogar schon in Florenz. Ach, am liebs ten wäre sie ihm nachgezogen. Leise sang sie: »Dann blühen rote Rosen auf dem Schnee Der Wangen; rote Lippen öffnen sich, Zu künden meines Herzens süßes Weh.«
Und das süße Weh der Worte überschwemmte derart Silvias Herz, daß ihr die Tränen nur so aus den Augen kullerten. Sie beide weinten und lagen sich in den Armen. Aber dann lachte Rosella, sie lachte über ihr tränenersticktes Getue. Es dauerte lange, bis die beiden sich beruhigt hatten.
Die Sonne war untergegangen, so daß es fast dunkel im Raum war, nur noch das Feuer glühte vor sich hin. Draußen auf der Straße herrschte, wie im Haus, eine ungewöhnliche Stille. Silvia wußte gar nicht, wo ihr Vater sich aufhielt. Vielleicht studierte er in seinem Studiolo wieder seine Sternkarten, berechnete Konjunktionen und Oppositionen und versuchte, in die Zukunft zu schauen. Oder er war, wie so häufig in der letzten Zeit, ausgegangen. Niemand wußte, wohin.
Silvia griff noch einmal in die Saiten und sang die letzte Strophe ihres Sonetts:
»Und weinend, lachend fühl ich innerlich: Mein kurzes Leben hab ich nicht vertan. Ja, glorreich seh ich meine Stunde nahn!« Rosella war wieder ernst geworden. »Glaubst du auch, was du singst?« fragte sie nach einer Weile. Silvia nickte.
Rosella seufzte und schwieg.
Silvia träumte weiter vor sich hin, sah Alessandro aus dem Licht auftauchen, wie damals in Frascati, der starke Sankt Georg stand vor ihr, der Retter der Jungfrauen, der Eroberer, dem man sich hingeben mußte, sie sah sich und ihn vor den Traualtar treten, und der Heilige Vater sprach den Segen.
»Es ist schwer, sein kurzes Leben nicht zu vertun«, sagte Rosella unerwartet, »aber ich will es nicht, ich will es nicht …« Sie ballte die Faust. »Dein Vater ist selten zu Hause«, fuhr sie fort, »irgend etwas braut sich zusammen.«
Obwohl Silvia sie nur schemenhaft sehen konnte, merkte sie doch, wie sich Rosellas Körper spannte und ihre Stimme sich veränderte. Rosella riß ihr förmlich die Laute aus der Hand, griff einen dissonanten Akkord, lachte laut und höhnisch auf und sang:
»Und weinend, leidend fühl ich innerlich: Mein kurzes Leben hab ich wohl vertan. Ja, düster seh ich meine letzte Stunde nahn!« Dann sprang sie auf, stieß einen gotteslästerlichen Fluch aus, warf ihr die Laute in den Schoß und rannte aus dem Raum. Silvia versuchte, Rosella zu folgen, fand sie aber nicht, und niemand von den Bediensteten konnte sagen, wohin sie verschwunden war.
Auch den Vater fand Silvia nicht in seinem Studiolo.
So schlich sie in ihr Zimmer, zündete einige Öllichter an, spielte eine Weile mit ihrem Zeisig und schrieb anschließend noch einmal ihr Sonett sorgfältig auf schönes Papier, das ihr der Vater geschenkt hatte. Es beruhigte sie, mit der Feder die Bogen und Brücken, die Rundungen und Pfeile übers Papier zu ziehen. Und als das Gedicht wie ein kleines Kunstwerk vor ihr stand, schrieb sie als Titel Rote Rosen auf dem Schnee darüber und dann, etwas kleiner: Für Alessandro. Und unter das Gedicht malte sie, wie sie es von Gemälden her kannte, Silvia Ruffini fecit MCCCCLXXXVI.
Anschließend schlich sie zu dem kleinen Sandro, sang ihm ein Liedchen vor und nahm ihn aus der Wiege. Er blickte sie mit großen, unsicheren Augen an, dann lächelte er. Die Amme schaute ihr mißtrauisch zu und sagte: »Er wird bald Hunger kriegen.«
Silvia pustete über seine Löckchen und wiegte ihn in ihren Armen. Es war ein aufregendes Gefühl, das Kind zu halten. Als die Amme den Raum verließ, um eine saubere Windel zu holen, legte sie den kleinen Sandro an ihre Brust. Es kitzelte, als er nach ihrer Brustwarze suchte, und dann nuckelte er, natürlich ohne Erfolg. Er schrie vor Enttäuschung, sie küßte ihn, um ihn zu beruhigen, sang wieder ihr Liedchen und steckte schnell ihre kleine Brust in den Ausschnitt des Hauskleids. Sanft schaukelte sie ihn, bis sie ihn der Amme zurückreichen mußte.
Die Amme holte ihre überquellende Brust heraus. »Da wird meine Kleine auch noch satt«, sagte sie stolz, als sie Silvias Blick wahrnahm.
»Bestimmt«, sagte Silvia.
Während der folgenden Nacht konnte sie kaum schlafen. Mehrfach schlich sie durch das Haus, lauschte an der Schlafzimmertür des Vaters, hörte jedoch weder Liebesgeräusche noch Schnarchen. Sie öffnete vorsichtig die Tür. Das Bett war leer. Auch Rosella fand sie nicht in ihrem Zimmer.
Am nächsten Tag schlüpfte Rosella zur Messezeit ins Haus. Silvia paßte sie auf der Treppe ab. Rosellas Haare fielen ihr ungekämmt ins Gesicht, ihr Kleid war verdreckt, und sie roch nach schmutzigen Gassen, nach den Löchern, aus denen Menschen quollen, um ihren Vater anzubetteln.
Als Silvia ihr in den Weg trat, um sie aufzuhalten, stieß Rosella sie so heftig beiseite, daß sie fast die Treppe hinuntergefallen wäre.
»Aber, Rosella, was ist mit dir?« rief sie.
Der Gestank, den sie ausströmte, verlor sich auch dann nicht, als sie das erste Stockwerk erreicht hatte.
Enttäuscht rief Silvia ihr nach: »Ich dachte, wir sind Freundinnen.«
Ein höhnisches Auflachen war die Antwort. Silvia stand eine Weile auf der Treppe, noch immer umgeben von diesem zäh sich haltenden Geruch nach Unrat und Feuchtigkeit, und verstand nicht, was geschehen sein konnte. Es war, als würde der Boden unter ihren Füßen weggezogen.
Der Vater tauchte erst kurz vor Sonnenuntergang auf. Silvia sah ihn in Begleitung zweier Männer die Straße entlangkommen. Sie sprachen heftig auf ihn ein, und er antwortete ihnen ebenso heftig, wild mit seinen Armen gestikulierend. Kurz vor dem Haus packte ihn einer der Männer unter dem Kragen seines Mantels, der andere riß ihm seine pelzverbrämte Mütze vom Kopf. Silvia wollte um Hilfe schreien und die Knechte auf die Straße schicken, um die Männer niederknüppeln zu lassen. Aber da zog der Vater schon seinen Degen. Die beiden wichen zurück, drohten ihm noch einmal mit der Faust und waren plötzlich in einer Seitengasse verschwunden. Die Haare ihres Vaters standen nach allen Seiten in die Luft. Sein roter Schopf leuchtete im Schein der tiefliegenden Sonne wie ein aufflammendes Feuer. Silvia rannte auf die Straße, auf der ihr Vater noch immer wie versteinert stand. Er sah sie gar nicht, schaute nur den verschwundenen Männern nach, fuhr sich dann mit einer unwillkürlichen Bewegung über den Kopf und steckte den Degen wieder ein.
Als er sie entdeckte, nahm er sie in den Arm und küßte sie. »Wenn ich dich nicht hätte …«, flüsterte er.
Am nächsten Morgen legte der Vater seinen Mantel um und bedeckte seinen Kopf erneut mit seiner pelzverbrämten Mütze. Er rief den Hausverwalter und Silvia zu sich und erklärte: »Ich gehe jetzt zum Haus der Crispo im Campo Marzo und anschließend zu Agostino Chigi. Falls ich bis morgen mittag nicht wieder zu Hause bin, wißt ihr, wo ihr mich suchen könnt.«
Silvia klammerte sich mit fragenden Augen an ihn.
Er küßte sie flüchtig auf die Stirn, prüfte den Sitz seines Degens. Sie wollte ihm noch etwas nachrufen, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Um ihre Unruhe zu bekämpfen, trug sie den kleinen Sandro durch das Haus und auf die Dachterrasse. Die Stadt verbarg sich unter dichtem Nebel. Feuchte Kälte kroch durch ihr Kleid, und sie preßte Sandro an ihre Brust.
Am Abend kehrte der Vater zurück. Seine Stimmung hatte sich aufgehellt, er lächelte Silvia an.
»Der alte Crispo ist ein wahrer Freund. Jetzt bin ich wenigstens meine Spielschulden los«, rief er. Als hätte er sich bei einem ungewollten Geständnis ertappt, ließ er Silvia stehen und eilte die Treppen in sein Studiolo hinauf. Sie folgte ihm. Er saß schon wieder an seinem großen Tisch mit den astrologischen Karten und einer Skizze, in die er die Häuser des Himmelskreises eingezeichnet hatte, und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf eine Stelle mit einer Häufung ihr unbekannter Symbole. »Am besten vergißt du, was ich gerade gesagt habe«, sagte er, ohne ihr seinen Kopf zuzuwenden.
Seine Stimmung schien sich wieder verdüstert zu haben, und er fuhr fort: »Die frühere Mutter Oberin von Santa Cecilia, die du ja auch kennst, ist wieder aufgetaucht.« Er schlug ein Buch mit astrologischen Berechnungen auf und schrieb irgendwelche Zahlen an den Seitenrand. Daneben ein Zeichen, das aussah wie eine umgefallene Sechs, die auf einer umgefallenen Neun lag.
»Ippolita?« rief Silvia voller Freude. »Und wo war sie? Wo ist sie jetzt?«
Er schaute sie kurz an. »Wo sie war, hat ihr Vater nicht erzählt. Eine Weile hielt sie sich zu Hause auf.
Aber jetzt hat sie Kardinal Borgia zu sich genommen.«
»Was heißt das?«
Der Vater zuckte mit den Schultern und studierte weiterhin seine zwölf Häuser.
Silvia glaubte nicht, daß er die ganze Wahrheit sagte. Sonst hätte er ihr in die Augen geschaut. Er verheimlichte ihr etwas.
»Was heißt zu sich genommen?« Ihre Stimme war laut und drängend geworden.
»Laß mich allein!« sagte er.
Wütend drehte Silvia sich um und ging. Aber als sie das Zimmer verlassen hatte, rief er sie noch einmal zurück. Sie stellte sich stocksteif vor ihn. Er faßte ihre Hände und legte sie wie zum Gebet zusammen. Eine Weile brauchte er, bis er seinen ersten Satz herausbrachte. Ohne sie anzuschauen, sagte er: »Als deine Mutter noch lebte, war vieles einfacher.« Dann fiel er wieder in Schweigen, hielt aber noch immer ihre Hände. Seine eigenen Hände fühlten sich eiskalt an. »Rosella …« Wieder entstand eine Pause. »Ich weiß … aber … du kannst das alles noch nicht verstehen. Rosella …« Er ließ ihre Hände fallen und preßte seine Fäuste gegen die Augen.
»Ohne Crispo wäre ich am Ende. Er hat meine Spielschulden bei Chigi gezahlt. Aber dafür habe ich ihm unser Gut in Frascati verpfänden müssen.«
Nun nahm er seine Fäuste wieder herunter und starrte ins Leere. »Hätte ich euch damals zu den Orsini begleitet, wäre wahrscheinlich alles nicht passiert. Aber die Sterne … die Sterne … der Astrologe behielt recht …« Der Ton seiner Stimme wurde wehleidig. »Ich wollte der Zigeunerin glauben, die ein Licht aufgehen sah über der Familie Ruffini, aber der Astrologe warnte mich … Ich hätte euch begleiten müssen. Dann wäre deine Mutter noch am Leben. Ich hätte euch verteidigt …« Der Vater versank in düsteres Nachdenken. Dann schien ihm wieder einzufallen, daß Silvia noch neben ihm stand. Er nahm ihre Hand und schaute ihr in die Augen. Seine Stimme zitterte. »Crispo hat auch einen Sohn … Du bist zwar erst zwölf … aber ich kann kaum eine or dentliche Mitgift zahlen. Verstehst du?«
Silvia trat einen Schritt zurück. »Du willst mich doch nicht wieder ins Kloster stecken?« schrie sie.
»Nie wieder gehe ich in dieses Gefängnis!« Er machte eine abwehrende Geste. »Du verstehst mich nicht … Es wäre auch nur für kurze Zeit …
aber ich denke nicht daran … die Crispo sind eine alte römische Familie, in der Kurie angesehen …« Er wirkte verwirrt, aber auch Silvia schien nichts mehr zu verstehen. Ihr tat plötzlich der Vater leid. Nun schaute er sie lange von oben bis unten an.
»Wahrscheinlich verehrst du deinen stolzen Lebensretter. Aber er wird sich sicher irgendwann die Tonsur scheren lassen – trotz seiner Flucht aus Rom. Du mußt ihn dir also aus dem Kopf schlagen. Je früher, desto besser.« Er machte eine Pause, dann fuhr er fort: »Du wirst einmal hübsch, bist klug. Crispos Sohn sieht ebenfalls gut aus, macht einen freundlichen Eindruck. Aber der Preis, der Preis ist zu hoch.« Er wandte seinen Blick ab. »Wenn ich doch einmal diese Bande um Chigi richtig ausziehen könnte!« stieß er aus. Seine Schultern begannen zu zucken, und er bedeckte mit einer Hand sein Gesicht.
»Geh jetzt, bitte!« stieß er schluchzend hervor. »Laß deinen Vater allein!«
16. KAPITEL
Nach seinem Kampf mit Angelo hatte Alessandro sofort nach Florenz abreisen wollen, aber Giulia bat ihn inständig, doch noch auf die Mitreisenden zu warten, die Kardinal della Rovere ihnen angekündigt hatte. Giovanni Battista Crispo war unter ihnen – Alessandro kannte ihn flüchtig aus der Accademia Romana, wo er ihm nur durch mäßige Leistungen in Latein und schwärmerische Äußerungen über die Maler Perugino und Pinturicchio aufgefallen war. Crispo galt als römischer Alkibiades, als ein schöner junger Mann, dem die grauhaarigen Lehrer wie einst der alte Sokrates zugetan waren. Lange schwarze Haare, volle Lippen, weiches Kinn – Crispo war tatsächlich ein Schönling, dies wollte Alessandro nicht abstreiten, aber welche Eigenschaften zeichneten ihn sonst noch aus? Alessandro fielen keine ein. Warum della Rovere so darauf drängte, daß sie jetzt zusammen die Accademia Platonica besuchen sollten, verstand Alessandro ebenfalls nicht. Della Rovere hatte eine Schwäche für schöne junge Männer, dies hörte man in Rom häufig, aber war dies ein Grund, Crispo ihm als eine Art Begleiter aufzudrängen?
Außerdem sollten sich ihnen noch zwei Provençalen anschließen und ein Kaufmannstrupp, und dann hatte Angelo angedeutet, ebenfalls in den nächsten Tagen nach Venedig aufzubrechen – und zwar über die Stadt am Arno! Alessandro mußte also im Pulk nach Florenz reiten – was er überhaupt nicht mochte –, aber alle, insbesondere Giulia, wiesen auf die Gefahren hin, die auf den Straßen durch die Wegelagerer drohe. Das wisse er ja selber. In der Gruppe reise man immer am sichersten.
Alessandros Stimmung wurde auch durch seine Mutter nicht verbessert, die nun nicht mehr an ihren Kindern herumnörgelte, dafür jeden Morgen berichtete, sie habe von Gorgonenhäuptern geträumt, und die ununterbrochen auf böse Vorzeichen stieß, wie schwarze Katzen, gerissene Lämmer und vom alten Burgfried herabfallende Mauersteine. Als schließlich ein Schwarm lärmender Rabenvögel unaufhörlich diesen baufälligen Burgfried umrundete und sich in seinen Höhlen und Nischen niederließ, war sie sicher, daß bald ein Toter zu beklagen sei.
Während der Mahlzeiten sprach sie ununterbrochen über die Heimsuchung, die sie zu ertragen habe. »Als wäre nicht erst letztes Jahr mein geliebter Pierluigi, euer Vater, abberufen worden.«
Alessandro runzelte die Stirn.
»Ach, Mama!« rief Giulia begütigend.
»Die Träume sagen die Wahrheit«, beharrte sie.
»Ebenso wie die Sterne.«
»Die Sterne sicher, die Träume vielleicht«, warf Alessandro ein, »aber ein zusammenbrechender Turm sagt nur darüber etwas aus, daß ihn niemand mehr benötigt und er daher nicht instandgesetzt worden ist. Und will man sein Zusammenbrechen unbedingt als omen nehmen, dann sollte man vom Zusammenbruch der alten Zeiten sprechen – der Caetani-Zeiten.«
»Davon spreche ich ja«, antwortete die Mutter, »vom Zusammenbruch des Lebens, von der auseinanderbrechenden Familie.«
Alessandro blickte seine Mutter herausfordernd an. »Wer seinen eigenen Sohn einsperren läßt, darf sich nicht wundern.«
Sie schaute an ihm vorbei. »Ich habe dich nicht einsperren lassen«, sagte sie ungerührt, »ich gab dem Papst nur einen Hinweis, wie man dich zum Nachdenken bringen kann. Als deine Mutter weiß ich, daß du die Freiheit über alles liebst. Außerdem ist mir bekannt, daß jugendliche Heldentaten nicht gerade förderlich sind für ein langes und gesundes Leben. Und eine Mutter möchte ihre Kinder möglichst nicht vor sich sterben sehen.«
Als Alessandro nicht antwortete, fügte sie noch an:
»In Rom bist du jetzt ein kleiner Held. Aber der Held darf nicht in der Stadt bleiben, und bald wird man ihn vergessen haben. Deine kirchliche Laufbahn ist beendet. Meine Hoffnungen sind begraben.
Die Geier haben gesiegt.«
»Ich sehe draußen aber nur Raben«, erwiderte Alessandro höhnisch.
»Nun hört endlich mit eurem Streit auf«, rief Giulia, die den Tränen nahe war.
In die anschließende Stille hinein drang das Krächzen der Raben, und man sah die schwarzen Gefieder durch die Luft wirbeln. Wütend ging die Mutter ans Fenster, schrie und fuchtelte mit den Armen, um sie zu verscheuchen. Aber die Vögel schwangen sich nur hoch, umkreisten anschließend ungerührt den Turm und krächzten weiter.
Die Mutter setzte sich wieder an den Tisch, und wortlos beendeten sie die Mahlzeit. Nach dem Dankgebet, das jeder stumm vor sich hin sprach, holte sich Alessandro einen Langbogen und dann auch noch eine Armbrust, um den einen oder anderen Raben zu erledigen. Als schließlich der erste tot zu Boden gestürzt war, weigerte sich Rubino, der alte Jagdhund, ihn zu holen. Die Mutter hatte vom Fenster ihres Zimmers zugeschaut. Verärgert über den Ungehorsam des Tiers, beauftragte sie einen Knecht, den Hund zu töten. Bevor Alessandro von ihrem Befehl etwas erfuhr, erschlug der Mann den letzten Jagdhund des Vaters mit einem Knüppel und warf ihn über die Mauer. Rubino blieb in den Ästen eines kahlen Baums hängen, und sofort stürzten sich die Raben auf den Kadaver.
Alessandro erstarrte, als er erkannte, was geschehen war, und Tränen traten ihm in die Augen. Die Raben zerrissen den letzten Spielgefährten seiner Kindheit. Auch die Pfeile, die er in das wild flatternde Knäuel schoß und die einige der Vögel töteten, machten den Jagdhund nicht wieder lebendig. Wütend rannte Alessandro zu seiner Mutter. Am liebsten hätte er sie gepackt und geschüttelt, aber er beherrschte sich und schrie sie nur an: »Warum hast du Rubino erschlagen lassen? Er war Vaters Liebling – und meiner auch.«
»Ein unnützer Fresser«, antwortete sie ungerührt und mischte sich Wein in das Wasser.
»Ehrst du so das Andenken unseres Vaters?« Die Mutter schwieg und wandte sich ab. Wie zu sich selbst sagte sie schließlich doch noch mit leiser Stimme: »Dein Vater hat mich, hat uns alle allein gelassen. Seitdem habe ich kaum noch eine ruhige Nacht.«
Alessandro wollte etwas antworten, unterließ es aber dann. Er konnte auch nicht mit Giulia sprechen, die ihn mit tränenfeuchten Augen ansah, statt dessen verließ er die Burg und holte sich im Hafen ein kleines Boot, in dem er zur Isola Bisentina ruderte. Als erstes wanderte er zum Grab seines Vaters, das jetzt, im Winter, verlassen und vom Efeu überwuchert dalag. Während er ein Gebet sprach, schloß er die Augen. Sein Vater trat aus dem Dunkel und blieb vor ihm stehen, lächelte ihn liebevoll und stolz an. Alessandro fühlte sich schuldig, weil er so selten an ihn dachte, obwohl er ihn doch geliebt hatte – nur hier, in Capodimonte, kamen die Erinnerungen. Seine Augen wurden feucht. Und als er an Rubino denken mußte, als er das Geflatter der Raben vor sich sah, füllten sich die Augen mit Tränen. Sein Vater und er wären jetzt zusammen auf die Jagd gegangen, ohne viel miteinander zu sprechen. Nie hätte der Vater ihn gezwungen, in dem ungeliebten Skriptorenamt zu bleiben, und schon gar nicht hätte er ihn in den Kerker werfen lassen. Den eigenen Sohn! Nur seine Mutter trieb der Ehrgeiz – der falsche Ehrgeiz! Die Mutter wollte das Leben ihrer Kinder bestimmen, der Vater dagegen vertraute ihnen. Er vertraute darauf, daß sie würden, was sie waren. Er kannte den Pindarspruch. Sein Vater hätte ihn auch nach Florenz auf die Accademia Platonica geschickt!
Ruhiger geworden, wanderte Alessandro nun über die feuchten Pfade am Rande des Sees. Manche Uferstellen hatten sich seit seiner Kindheit nicht verändert – hier war er mit Angelo geschwommen, dort am Sirenenfelsen hatte er in der Sonne gelegen, zusammen mit Giulia. In dem bewaldeten Teil der Insel hatten sie Vögeln nachgestellt, Leimruten ausgelegt, Wild beobachtet. Rubino war dabeigewesen.
Und sein Vater hatte ihm beigebracht, wie man mit dem Bogen umging, wie man den Tieren nachstellte, wie man ritt!
Alessandro hockte sich ans Ufer und starrte über die glattpolierte Fläche des Sees. Kein Wind rührte sich. Ein paar Seevögel schwangen sich über das Wasser. In der Ferne ein Fischer in seinem Boot.
Und dort ruderte ein Fährmann seine Familie zum anderen Ufer des Sees. An der Stelle, an der sich das Boot gerade befand, waren Angelo und er im heftigen Tramontana-Sturm beinahe gekentert und ertrunken. Keiner von ihnen würde es je vergessen, noch heute stand die Erinnerung zwischen ihnen. Das Wasser kräuselte sich an einer Stelle, nicht weit vom Ufer entfernt, und dann liefen kleine Wellen hinaus auf den See, bis sie sich in der Ferne verloren. Nach einer Weile lag das Wasser wieder wie eine polierte Silberscheibe vor ihm.
Nein, die Kindheit war nicht mehr zurückzuholen.
Mit Rubino war die letzte Verbindung abgeschnitten worden. Nun galt es, in ein neues Leben einzutreten.
Im letzten Tageslicht ruderte Alessandro nach Capodimonte zurück und traf auf der Brücke der Burg einen Boten, der ihm einen Brief von Silvia Ruffini überreichte. Er merkte, wie er sich über das Schreiben freute, und eilte in sein Zimmer. Dort zündete er sorgfältig mehrere Kerzen an und brach das Siegel. Während er zu lesen begann, mußte er lächeln. Ja, die kleine Silvia, die fast noch ein Kind war, liebte ihn. Ihre Gefühle troffen aus jedem Satz. Aber wer sagte denn, daß nicht alles reiner Überschwang war, die Schwärmerei eines eingesperrten Mädchens? Verliebt zu sein war das eine, verheiratet zu werden das andere. Beides hatte in aller Regel kaum etwas miteinander zu tun.
Und was fühlte er? Liebte er sie ebenfalls? Konnte er sich gar vorstellen, sie einmal zu heiraten? Das hätte bedeutet, daß er für immer den Gedanken verabschieden mußte, erneut in den kirchlichen Dienst einzutreten. Immerhin war er Silvia bis Frascati nachgeritten, und er sah in ihr die Unschuld, die Reinheit, die unbekümmerte Jungfräulichkeit. Aber sie war noch zu jung, als daß er sie wie eine richtige Frau lieben konnte. Und doch zog ihn etwas zu ihr hin, was er nur sehr allgemein umschreiben konnte.
Vielleicht war es der Blick, mit dem sie ihn faszinierte, ja fesselte. Dieser dunkle, geheimnisvolle Tierblick – der etwas versprach, was dieses junge Wesen noch gar nicht halten konnte. Oder war es ihr Lächeln, das man einfach lieben mußte, ihr plötzlich herausbrechendes Lachen, das sofort wieder in einen traurigen Ernst übergehen konnte?
Doch er spürte noch etwas: eine Erwartung, die zu einer Verpflichtung werden konnte. Und eine Verpflichtung schränkte seine Freiheit ein. Gerade jetzt, beim Übergang in ein neues Leben, mußte die Vergangenheit von ihm abfallen. Und gehörte nicht auch Silvia zu seiner Vergangenheit?
Alessandro las weiter. Er las von Rosella, die in Ruffinis Haus lebte und die nun einen Sohn auf die Welt gebracht hatte. Für ihn war sie die große Hure, aus deren Fängen ein Mann sich nur mit Gewalt befreien konnte. Die man meiden mußte, weil sie einen aussaugte. Und dies nicht nur, was die unersättlichen Wünsche nach Geld und Gold betraf. Aber was er jetzt las, ließ ihm den Atem stocken. Silvia teilte ihm mit, Rosellas Kind schaue sie mit seinen Augen an. Täglich sehe sie ihn vor sich, täglich erneuere sich ihre Liebe.
Er las den Satz ein zweites Mal. Täglich erneuert sich meine Liebe, Der Bastard hieß Sandro, das war die Verkleinerungsform von Alessandro. Rosella hatte ihren Balg nach ihm benannt. Was für eine üble Geschmacklosigkeit!
Und trotzdem durchfuhr ihn ein seltsames Gefühl von Stolz. Sollte er tatsächlich Vater eines Sohnes sein? Sollte ihm, der schon die niederen Weihen empfangen hatte, ein Kind geboren sein, in dem er weiterleben durfte?
Gleichzeitig packte ihn aber die Wut – darüber, daß er in eine Falle getappt war. Oder erneut gefangen werden sollte. Daß eine Frau ihn hereingelegt hatte. Er hatte Rosella nie wiedersehen wollen – aber sollte das eine Mal genügt haben, sich von ihm ein Unterpfand zu verschaffen? Jetzt schwärzte sie ihn womöglich bei Silvia an. Und Silvia? Reagierte sie mit Eifersucht? Nein, im Gegenteil. Sie tat so, als sei der kleine Sandro ihr eigenes Kind, ihr gemeinsames Kind. Zwei Frauen taten sich zusammen und hielten ihm triumphierend einen Bastard entgegen, der nach ihm benannt worden war! O Gott, auf was hatte er sich da eingelassen!
Alessandro wanderte in seinem Zimmer auf und ab. Die Kerzen flackerten. Er riß das Fenster auf und sog, heftig atmend, die feuchte Luft des Winters ein.
Der Mond war verschwunden, hinter Wolken verborgen oder schon untergegangen. Die Nacht war undurchdringlich, ein Unterweltreich, durch das ein seltsames Fiepen, Unken und Sirren drang. Plötzlich war eine Schattenbewegung direkt vor ihm, ein Windhauch, ein Flügelschlag, noch schwärzer als das Dunkel der Nacht. Wie unter einer fremden Macht stehend, beugte er sich weit vor, um hinunterschauen zu können. In die gleiche Schwärze hatte er geschaut, als er sich aus der Burg der Engel ins Ungewisse abseilen wollte. Und jetzt? Wohin geriet er jetzt?
17. KAPITEL
HURE stand eines Morgens in großen Lettern am Portal.
Der Vater hatte das Wort entdeckt, als er in der Morgendämmerung nach Hause kam. Er ließ die Schmiererei sofort entfernen, erwähnte sie Rosella gegenüber mit einem unterdrückten Grollen in der Stimme. Er achtete nicht darauf, daß Silvia dabeistand, strich ihr nur, bevor er sich zum Schlafen niederlegte, achtlos über den Kopf.
Kaum war er verschwunden, warf sich Rosella einen Kapuzenmantel um, in dem sie bei flüchtigem Hinsehen wie ein Mönch aussah, und verließ das Haus.
Silvia war wieder allein, schaute sehnsüchtig von dem kleinen Balkon über dem Portal auf die Straße, auf die Menschen, die sich dort geschäftig herumtrieben. Dann zupfte sie an den Saiten ihrer Laute, dichtete ein Sonett, strich durch das große Haus. Seit die Mutter gestorben war, hatte sich die famiglia deutlich verkleinert. Manche der Bediensteten schienen tagsüber einer Tätigkeit außer Haus nachzugehen; Silvia sah sie abends zurückkehren. Auch ihre Lehrer erschienen nur noch unregelmäßig, und einem Gespräch zwischen ihnen entnahm sie, daß sie seit langem keine Entlohnung mehr erhalten hatten.
Wenigstens Sandro und die Amme fand Silvia immer, wenn sie die beiden suchte. Der Kleine war inzwischen gewachsen und lag zufrieden an ihrer stolzen Brust. Wenn er satt war, ließ die Amme Silvia ihn wickeln und herumtragen, während sie ihre eigene kleine Tochter stillte.
An einem Nachmittag streichelte und kitzelte Silvia den Kleinen. Er juchzte auf vor Vergnügen, aber dann verzog er plötzlich sein Gesicht, als wollte er losbrüllen, und lief rot an. Schnell nahm Silvia ihn hoch, legte ihn über ihre Schulter, und nach kurzer Zeit war alles wieder gut.
»Du sehnst dich schon danach, Mutter zu sein, nicht wahr?«
Silvia nickte und ging mit dem kleinen Sandro zum Fenster, um ihm die vielen Menschen auf der Straße zu zeigen.
»Ich war noch nie unten am Porto di Ripa Grande«, sagte sie, »und auch noch nicht auf dem Monte Gianicolo. Ich möchte auch einmal von oben auf Rom schauen.«
»Geh auf die Dachterrasse!«
»Ist es gefährlich für ein junges Mädchen, tagsüber durch die Stadt zu spazieren?« Als Silvia den skeptischen Blick der Amme sah, korrigierte sie sich sofort: »Ich meine natürlich, allein zur Messe zu gehen.«
Die Amme lächelte verständnisvoll. »Uns alle treibt es in jungen Jahren hinaus.« Dann fügte sie noch an: »Nimm lieber eine Begleitung mit.«
Silvia schlich sich aber allein aus dem Haus. Da es Winter war, trug sie einen langen weiten Mantel, der im Kragen hochgeschlossen war, und verbarg ihre Haare unter einem mehrfach geschlungenen Kopftuch. Auf der Straße schlüpfte sie wie ein Zigeunermädchen an Eseln und Ochsenkarren, an Wasserträgern und Bettelmönchen vorbei. Eine Weile folgte sie einer Magd, die auf ihrem Kopf einen Gemüsekorb trug. An ihrer Brust, in ein buntes Tuch eingeschlagen, hing ein schlafendes Kind. Silvia bewunderte sie, weil sie trotz der Last leichtfüßig ging, hoch aufgerichtet, wie eine stolze Mohrin, und noch nicht einmal den Korb halten mußte. Sie schwebte regelrecht durch die Menge, und jeder schien ihr auszuweichen. Silvia überholte sie, um ihr ins Gesicht zu sehen.
Die Magd sah sie und lächelte. »Na, meine Kleine, bist du ausgerissen?«
Sie verlangsamte ihre Schritte nicht. Weiche, volle Wangen, leicht gerötet, und eine dunkle Haarsträhne fiel ihr über die Stirn bis übers Auge.
»Wohin gehst du?« fragte sie, nachdem Silvia ihr nicht geantwortet hatte.
»Nach Santa Maria ad Martyres«, antwortete Silvia schüchtern, »dort liegt meine Mutter begraben.«
»Du bist ein Edelfräulein, nicht wahr?«
»Ist der Kleine dein Kind?«
»Mein Mädchen.« Die Magd strich dem Kind über den Kopf und versteckte es dann wieder unter dem Tuch.
Gemeinsam gingen sie bis zum Platz vor der Kirche, wo die Magd sich niederließ, um das Gemüse zu verkaufen. Sie lächelte Silvia zum Abschied noch einmal zu, und Silvia ging zum Grab ihrer Mutter und betete. Immer wieder schaute sie ängstlich in die Öffnung der Kuppel, ob nicht wieder der Sonnenfleck sie treffen könnte. Aber die Sonne stand zu niedrig, und ihre Strahlen berührten nicht den Boden.
Auf dem Rückweg ließ sie sich durch die Gassen treiben, ohne auf die Richtung zu achten. Sie genoß das Untertauchen in dem Gewühl der Menschen und Tiere. Ein Mann vom Land bot Kapaune an, die an den Füßen zusammengebunden waren und dabei zeterten. Auf Ochsenkarren wurden Steine zu einem Palast transportiert, und eine Pilgergruppe eilte zur nächsten Kirche. Plötzlich stand Silvia vor dem Tiber. Das Wasser dampfte leicht, und der Geruch, der hochdrang, war faulig. An seinem Ufer hockten Wäscherinnen und scherzten mit jungen Männern, die gerade einen Lastkahn entladen hatten. Niemand schien Silvia zu beachten, und sie vergaß die Zeit vor lauter Schauen. Ihr erschien Rom bunt und abenteuerlich, und sie hatte alle Warnungen vergessen.
Als die Sonne unterzugehen begann, fragte sie eine alte Frau, die vor einem Hauseingang hockte, nach Santa Maria ad Martyres. Die Frau schickte sie in die falsche Richtung. Plötzlich fand sie sich von langbärtigen Männern in schwarzen Kaftans umgeben. Sie sprachen eine fremde Sprache. Silvia wagte sie nicht zu fragen. Sie folgte einer Schafherde, die zu einem Platz getrieben wurde. Hier schien sie schon einmal gewesen zu sein, aber nun wurde es langsam dunkel, und plötzlich erfaßte sie Angst. Silvia fragte ein Schankmädchen erneut nach der Kirche. Das Mädchen wandte sich an einen Knecht, der ein nervös tänzelndes Pferd am Zügel führte und sie unwirsch abwies. Silvia begann zu rennen, weil die Straßen immer leerer wurden, und verlor sich in von Unrat übersäten, stinkenden Gassen. Mehrere Glocken schlugen zur Vesper. Sie versuchte auszumachen, woher der Klang kam, und rannte dann in diese Richtung. Und tatsächlich stand sie auch bald darauf an der Rückseite des mächtigen Kuppelbaus.
Als Silvia stehenblieb, um die Gasse zu suchen, die nach Hause führte, berührte sie ein schlechtrasierter Mann am Arm. »Na, Mädchen, willst du nicht mitkommen? Ich zeig’ dir was Schönes.« Er lächelte. Unter seinem Auge zog sich eine tiefe Narbe hin. Sie wollte sich losreißen, aber nun packte er sie fester.
In diesem Augenblick ritt ein Edelmann heran, und der Mann ließ ihren Arm frei. Ohne sich umzudrehen, auch ohne zu danken, lief sie davon.
Silvia glaubte, in der Gasse zu sein, die zu ihrem Haus führen mußte. Sie bog um einen kleinen, entsetzlich stinkenden Fischladen und prallte zurück. Im Eingang eines Hofes stand Rosella. Neben ihr stand der Edelmann, dem Silvia vor ein paar Augenblicken begegnet war, und sprach auf sie ein. Im Halbschatten des Hofes lehnte lässig ein anderer Mann, der ihr ähnelte. Er kaute an einem Zahnstocher und schien gleichzeitig einen Floh zu beobachten, der über seine Handfläche kroch. Der Edelmann drückte Rosella eine Münze in die Hand, schwang sich auf sein Pferd und trabte an Silvia vorbei, ohne auf sie zu achten. Der Wartende knackte nun seinen Floh und spuckte aus.
»Ich muß gehen«, hörte Silvia Rosella sagen.
»Rück den Dukaten raus, Schwesterchen! Du sollst deinen Rotschopf nicht reicher, sondern ärmer machen.«
Widerwillig reichte Rosella ihrem Bruder die Münze.
»Wann sollen wir zuschlagen?« Der Mann biß kurz auf den Dukaten und ließ ihn dann mit einer blitzschnellen Bewegung in eine Tasche gleiten. »Ruffini ist am Ende. Laß ihm den Bankert oder gib ihn unserer Mutter!«
»Nein!« Rosella sprach schnell und mit einer heftigen Bewegung. »Laßt mich in Ruhe. Ich weiß, was ich zu tun habe.«
Wieder spuckte ihr Bruder aus und trat nach einem Hund, der sich ihm schnuppernd genähert hatte. »Du hast noch Schulden.«
»Ich habe bei niemandem Schulden.«
»Keine Geldschulden, das ist richtig. Aber es gibt Leute, die etwas für dich getan haben.«
»Jeder erhält, was ihm zusteht! Und manche Leute verdienen den Galgen.«
»Oho!« Ihr Bruder packte Rosella an ihrem Kleid, aber sie riß sich los und stieß ihn zurück.
»Faß mich nicht an! Diese Zeiten sind vorbei!«
Der Bruder wich zurück, machte eine aufgesetzt kriecherische Bewegung. Aus dem Hof schrie eine alte Frau etwas Unverständliches. »Dann sing noch schön, Nachtigall!« sagte er und zog sich mit einer Verbeugung zurück. »Bis dich der Teufel zu Tode fickt.«
Rosella warf ihm eine unanständige Geste nach und wandte sich zum Gehen.
Silvia folgte ihr, und nach kurzer Zeit standen sie vor ihrem Haus. Rosella verschwand im Seiteneingang, während Silvia überlegte, wie sie unbemerkt hineinschlüpfen konnte. Als es fast dunkel war, trat Barbone, ihr alter Knecht, vor das Portal und steckte zwei Fackeln in die Halter neben den Eingang. Die Gicht plagte ihn, er konnte kaum noch arbeiten, aber der Vater mochte ihn nicht davonjagen, weil er ihm bisher so treu gedient hatte. Auch Silvia mochte ihn, weil er ihr immer wilde Abenteuergeschichten aus seiner Jugend erzählt hatte. So trat sie vor ihm ins Haus, als sei es selbstverständlich, und als er sie erstaunt anrief, tat sie so, als habe sie ihn nicht gehört.
»Piccolina!« rief er ein zweites Mal. »Wo kommst du her?«
Sie antwortete nicht, kehrte aber um und drückte ihm ein Küßchen auf seinen Bart. Sprachlos starrte er sie an, und sie rannte die große Treppe hoch und verschwand in ihr Zimmer.
Schon bald fand sich erneut die Aufschrift HURE am Portal der Ruffini.
In der darauffolgenden Nacht hörte Silvia, wie ihr Vater und Rosella miteinander stritten. Sie verstand ihre Worte nicht; sie vergrub ihren Kopf unter dem Kissen und weinte sich in den Schlaf.
Morgens wachte sie auf, weil sich der Vater und Rosella schon wieder stritten. »Es gibt andere Männer«, hörte sie Rosella kreischen. »Ich nehme meinen Sandro und verlasse das Haus! Ich bin es satt! Dies ist kein Leben!«
Silvia sprang aus dem Bett und rannte in das Schlafzimmer des Vaters. Er stand vor dem großen Bett, halbnackt, mit wirren Haaren. Neben ihm Rosella in einem Kleid von Silvias Mutter. Beide waren so erregt, daß sie Silvia nicht wahrnahmen.
»Du kannst das Haus jederzeit verlassen, Hure, aber Sandro bleibt hier. Ich werde ihn aufziehen!«
»Bevor du ihn in die Finger kriegst, werfe ich ihn in den Tiber. Dies ist keine leere Drohung, das verspreche ich dir.«
»Du wirst noch auf dem Scheiterhaufen enden!« Die Stimme des Vaters zitterte, aber äußerlich blieb er ruhig, und er sprach auch nicht laut. »Ich habe für uns alle ein Horoskop gelegt …«Er brach seinen Satz ab.
»Du Hurenbock«, schrie Rosella. »Ich werde dich vergiften, ich verfluche dich!«
Sie warf sich mit ihrem schweren Körper auf den Vater, aber er wich ihr aus und riß sie an ihren Haaren zurück. Plötzlich blitzte in ihren Händen ein Dolch auf. Rosella war so außer sich, daß sie zustieß. Er wich geschickt aus und schlug nach ihrem Handgelenk, die Klinge fiel zu Boden. Blitzschnell hob Silvia das Messer auf. Rosella schrie: »Ach, du bist auch hier, du Schlange! Gib mir das Messer!« und wollte sich auf Silvia stürzen. Aber schon hatte der Vater sie gepackt, stieß sie gegen die Wand und preßte sein Knie auf ihren Bauch. Sie versuchte zu kratzen und zu beißen.
»Schluß jetzt!« zischte er ihr zu.
Doch Rosella ließ sich nicht bändigen.
»Das Messer!« Er streckte Silvia die geöffnete Hand entgegen, während er mit der anderen Rosella in Schach zu halten versuchte.
Silvia war wie gelähmt.
Aber schon hatte der Vater den Dolch an sich gerissen und preßte die Klinge mit der flachen Seite auf Rosellas Wange. »Eine Bewegung, und ich schneide dir dein Gesicht auf!«
Rosella erstarrte. Ihre Augen aufgerissen, stieß sie »nicht mein Gesicht« hervor.
Er lockerte seinen Griff.
»Kein Wort mehr!« Vorsichtig ließ er sie los und trat einen Schritt zurück, den Dolch aber noch immer gegen sie gerichtet. Auf ihrer Gesichtshaut sah man den Abdruck der Klinge.
Eine Weile standen sich die beiden regungslos gegenüber.
»Wenn du zustichst«, flüsterte sie schließlich, »wird man dir den Kopf abhacken.«
Er lachte höhnisch auf.
Vorsichtig tastete sie ihre Wange ab. »Und wenn du dich freikaufst, dann wird mich mein Bruder rächen.«
Für einen Augenblick schien der Vater unsicher geworden zu sein, und er hielt ihr den Dolch wieder direkt vor das Gesicht. Dann fauchte er: »Du beschmutzt die Kleider einer Ruffini nicht mehr.«
Rosella schien nun alle Angst verloren zu haben. Mit einer ruhigen Bewegung schob sie die Hand des Vaters zur Seite, trat einen Schritt vor, faßte sich in den Ausschnitt, riß sich das Kleid, das sie trug, mit einem Griff von ihrem Körper. Hochgereckt und stolz stand sie nun im Hemd da.
Ebenfalls ruhiger geworden, steckte der Vater den Dolch weg, nahm das zerrissene Kleid und bedeckte mit ihm seinen Oberkörper.
»Vielleicht ist es gut so, wenn du unser Haus verläßt.« Seine Stimme war leise und klang sogar ein wenig traurig.
Nun war es Rosella, die für einen Augenblick alle Kraft zu verlieren schien. Sie setzte sich auf das Bett und schlug die Arme um ihre Schultern, als friere sie. Ihr Blick fiel auf Silvia, und sie flüsterte, so leise, daß wohl nur Silvia sie verstand: »Ich liebe dieses Hühnchen, wir gehören zusammen.«
Silvia legte die Hand auf ihren Arm.
»Schluß jetzt!« schrie ihr Vater mit einer gequetschten, hohen Stimme. »Du verläßt unser Haus, und mein Sohn bleibt hier.«
Als wären wieder die Dämonen in sie gefahren, sprang Rosella auf und schrie voller Hohn zurück: »Dein Sohn?«
»Die Sterne sagen die Wahrheit«, erwiderte der Vater. Seine Stimme erstarb bei dem Wort Wahrheit. Er wandte sich ab. »Ich will dich nicht mehr sehen«, erklärte er und verließ, plötzlich gebückt, das Zimmer.
Er schleifte das Kleid der toten Mutter hinter sich her.
Rosella ließ sich, als hätte sie der Schlag getroffen, auf das Bett fallen. Ihre weit geöffneten Augen starrten an die Decke. Sie bewegte ihre Lider nicht, so daß sie einer Toten ähnelte. Silvia versuchte sie anzusprechen, stieß sie an, aber Rosella reagierte nicht.
Schließlich eilte Silvia zu Sandro und nahm ihn aus der Wiege. Er lächelte. Sie drückte ihn an sich und lief mit ihm auf die Dachterrasse. Nun schrie er, und sie rannte wieder zurück. Die Amme, die ihr entgegeneilte, hätte sie fast umgestoßen. Der kleine Sandro schrie noch lauter. Silvia hielt ihn von sich weg und sah in sein verzerrtes Gesicht. Und dann geschah etwas Schreckliches: Sein Gesicht schien zu wachsen, immer größer zu werden, eine Dämonenfratze drohte Silvia plötzlich zu verschlingen, und hätte die Amme Sandro nicht ergriffen, so hätte sie ihn fallengelassen.
Silvia wurde das Bild dieser Teufelserscheinung nicht mehr los, sosehr sie auch durch das Haus rannte, kaum bekleidet, wieder auf das Dach hinauf, in die Kälte, und dann zurück durch alle Zimmer.
Von Rosella und ihrem Vater sah und hörte sie nichts mehr.
Als es dunkelte, hatte sich die teuflische Verwirrung aufgelöst, und Silvia schlich zu Sandro, um ihn zu trösten. Aber die Amme ließ sie nicht an sein Bettchen. Der Kleine hatte sich längst wieder beruhigt und spielte mit einem Holzklötzchen und einem bunten Tuchfetzen.
Abends, als die Amme zum Abtritt mußte, gelang es Silvia endlich, ihn hochzunehmen. Er lächelte wieder, aber sein Lächeln schien sich verändert zu haben. Kaum hielt sie ihn in ihren Armen, tauchte wieder dieses teuflische Grinsen auf. Ja, der kleine Sandro grinste sie mit Alessandros Augen an, als wolle er sie verhöhnen, als wolle er sich an sie krallen und hinabziehen in die Hölle, ins ewige Feuer stürzen und sie quälen und martern bis zum Jüngsten Gericht. Ihr wurde alles klar. Ein Abgesandter der Unterwelt grinste sie unverhohlen an. Nicht nur ihr Vater, auch der Teufel hatte Rosella beigewohnt; er hatte von hinten sein Horn in sie hineingestoßen und ihr den Balg eingepflanzt, er wollte sie alle vernichten, und Rosella war sein Werkzeug. Sandro hatte er Alessandros Augen angehext, an die Türe hatte er HURE schreiben lassen, in den Gemütern ließ er Mißtrauen, Haß, Wut und Streitsucht wachsen. Das Haus war von Dämonen besetzt und verseucht, und dieser kleine Teufel in ihren Armen war ihr Werkzeug. Der Vater wurde zu einem gewalttätigen Ungeheuer … Silvia mußte ihn retten! Ihre Mutter hatte sie nicht retten können, aber ihren Vater mußte sie den Fängen des Bösen entreißen! Sie, Silvia, war das Werkzeug des Allmächtigen. Sie mußte das Böse zerschmettern! Der kleine Sandro mußte vernichtet werden!
Von Ferne hörte Silvia einen spitzen, grellen Schrei. Als würden von allen Seiten Flammen auf sie zustoßen, als tanzten tausend nackte Ungeheuer um sie herum, als tobte ein Konzert aus sich vermehrenden Kinderstimmen, die sie alle nur zerreißen wollten. Sie selbst spürte einen Druck von innen, ihr Bauch schwoll an und drohte zu platzen, und zwischen ihren Schenkeln wuchs eine blutigrote, stachlige Rose aus einem Kelch und blühte auf.
Silvia trank das Blut. Sie aß das Blatt. Eine Stimme, vielleicht ihre eigene, sang beata viscera virginis et beata ubera. Selig der Schoß der Jungfrau und selig die Brust. Und viele Stimmen sangen im Chor. Rosa mystica, dei genitrix, benedicta in mulieribus, et benedictus fructus ventris tui. Geheimnisvolle Rose, Gottesgebärerin, gebenedeit bist du unter den Weibern und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes.
Und dann ging alles in ihrem eigenen schwarzen Schrei unter, bis sich ihr Vater über sie beugte.
Er hob sie auf und trug sie in ihr Bett und bedeckte ihren zitternden Leib.
Er flößte ihr warme Milch ein.
Ein schwarzgekleideter Priester kniete neben ihr und rief den Allmächtigen, seinen eingeborenen Sohn und die gnadenreiche Jungfrau an.
Die roten Haare des Vaters standen wirr nach allen Seiten.
Ein Mann tauchte auf, zog ihren Arm vom Leib weg, setzte ein Messer an, schnitt ihr in die Armbeuge, und ihr Blut sprudelte lustig wie ein kleiner Springbrunnen.
Wie eine rote Rose auf dem Schnee der Haut, hörte sie eine weiche, ferne Stimme. Und die Stimme sang. Sie sang ihre eigenen Worte. Rosella sang.
Mein kurzes Leben hab ich nicht vertan!