Sonntag

Er hatte einen neuen Zimmergenossen. Wieder ein alter Mann, ein Mexikaner. Manuel. Aber er war nicht so lästig wie der vorige. Er war fett und gutmütig und hatte eine große, genauso fette Familie, die zur Besuchszeit sein Bett belagerte. Sie lachten und plapperten auf Spanisch, als ob es ein großer Spaß wäre, im Krankenhaus zu sein. Außerdem hatte er eine hübsche Enkelin, die noch nicht so fett wie die anderen war. Sie hatte ter Horst angelächelt, er hätte sie mit Haut und Haaren vernaschen können. Allerdings war Manuel ziemlich taub und drehte den Ton des Fernsehers sehr laut. Jetzt gerade sah er sich auf Spanisch eine idiotische Talkshow an. Der fette und ziemlich kahle Gastgeber war dabei, sich auszuziehen, um in ein Schaumbad zu steigen, wo eine vollbusige Blondine in einem gelben Bikini auf ihn wartete. Das Publikum im Studio lachte sich halb tot, und Manuel ging es genauso. Er bekam einen Hustenanfall und wurde ganz rot im Gesicht. Ter Horst fing schon an, sich Sorgen zu machen.

«Hey, Manuel, alles in Ordnung?»

Er nickte und wedelte mit der Hand. Er konnte vor lauter Lachen noch keinen Ton herausbringen.

«Manuel? Kannst du den Ton vielleicht ein wenig leiser stellen?»

«Oh, . Sorry.»

Mit einem Auge verfolgte er das Spiel Green Bay gegen Tampa Bay, während er mit seinem Laptop herumspielte. Er hatte noch nicht herausgefunden, wie Google Earth funktionierte. Gern hätte er sich King Beach angesehen, aber das Programm zeigte mit nervtötender Beharrlichkeit immer wieder ein Stadtviertel von Paris. Schließlich gab er auf und schaltete stattdessen den MobileTracker ein. Ja-woll! Sie waren noch in King Beach. Sie fühlten sich wohl sicher. Und das begriff er nicht. Er hätte schwören können, dass Luke ihn gesehen hatte, als er auf der Interstate den Herzanfall bekam. Wenn sie wüssten, dass er in der Nähe war, würden sie Südkalifornien bestimmt so schnell wie möglich verlassen. Aber vielleicht lag es daran, dass Luke einfach nicht glauben konnte, dass es wirklich ter Horst gewesen war, so weit im Westen.

Er legte den Laptop weg, faltete die Hände über dem Bauch und lehnte sich zurück, um das Spiel zu schauen. Er fühlte sich noch schwach, aber es ging ihm schon besser. Er hoffte, dass er in einem oder zwei Tagen wieder fit genug war, um weiterzufahren. Alles in allem war dieser Aufenthalt im Krankenhaus gar nicht so schlimm, abgesehen von dem islamischen Arzt, der versuchte, ihn heimlich umzubringen. Das Essen war furchtbar, aber Martinez schmuggelte jede Menge guter Sachen für ihn herein – Schokoriegel, Studentenfutter, Chips und leckere Tamales mit Hühnchen, die seine Schwiegermutter gemacht hatte. Normalerweise dachte er nicht viel über sich selber nach, aber jetzt genoss er es, in aller Ruhe Erinnerungen und Tagträumen nachzuhängen. Anstatt dem Footballspiel zu folgen, begann er zu träumen. Er stellte sich vor, dass er mit beiden Händen in einem Haufen Diamanten wühlte, wie einer dieser wahnsinnigen Geizkragen in Stummfilmen. Als Kind hatte er mit der Familie auf einer Urlaubsfahrt die Diamantenmine in Murfreesboro, Arkansas, besucht. Man bezahlte Eintritt und konnte dann selbst nach Diamanten suchen, und was man fand, durfte man behalten. Er hatte sich vorgestellt, dass sie mit Spitzhacke und Schutzhelm mit Grubenlicht tief in ein dunkles Bergwerk hinabsteigen würden, aber stattdessen war es nur ein umgepflügtes Feld in der prallen Sommersonne. Nach einer Viertelstunde hatte er tatsächlich einen Diamanten gefunden. Ein schäbiges kleines gelbes Ding, aber es war ein Diamant. Seitdem war er von Diamanten besessen. Er würde Ginas Diamanten stehlen, dann würde er mit ihr schlafen und sie umbringen. Danach würde er den Dienst als Marshall quittieren und in ein warmes Land in der Dritten Welt ziehen. Wenn er ab und zu einen Diamanten verkaufte, konnte er davon leben wie ein Scheich. Vielleicht in Thailand. Tolles Essen und billige junge Muschis, so viel man wollte.

Er machte sich Gedanken über Luke. Was sollte er nur mit ihm anstellen? Nach und nach wurde ihm klar, dass es eine üble Verschwendung wäre, ihn einfach gemeinsam mit seiner Mutter umzubringen.

Dann fiel ihm etwas ein. In einer Bar am Flughafen von Miami hatte er einen faszinierenden Typen kennengelernt. Ein Argentinier, Leopoldo Forza. Ihre Flüge hatten Verspätung, und sie hatten ein paar Stunden damit verbracht, Single Malt Scotch zu trinken und zu reden. Forza hatte in Wirtschaftswissenschaften promoviert und war Professor an der staatlichen Universität in Mar del Plata; er hatte einige Bücher veröffentlicht und war als Geschäftsmann an einer verblüffenden Vielzahl von Projekten beteiligt. Er war der Meinung, die Natur kenne keine Moral, und da die Menschen ein Teil der Natur seien, gelte das auch für sie; wer etwas anderes glaubte, sei einer Wahnvorstellung aufgesessen. Forza meinte, staatliche Einrichtungen aller Art seien im Begriff, sich aufzulösen, und ihre Aufgaben würden vom Markt übernommen. Gesetze, Regeln oder Vorschriften seien nicht notwendig, denn jedes Atom dieser Erde und alle Wesen, die auf ihr leben, wären Teile eines Systems, das sich unaufhörlich um sich selbst drehe, wie ein Kreisel. Erlösung und Erfolg kann nur haben, wer sich diesem System anschließt; wer mit dem System zu einer Einheit verschmilzt. Ter Horst war nicht sicher, wie viel er von alldem verstanden hatte, aber es faszinierte ihn, auch wenn er als Christ einige Vorbehalte hatte. Professor Forza erwiderte, er solle sich den Markt ganz einfach als den Leib Christi vorstellen.

Sie waren miteinander in Verbindung geblieben und hatten das Thema weiter diskutiert; sie suchten nach einem Projekt, das sie gemeinsam angehen könnten. Und gerade jetzt war ihm eingefallen, was ihm Forza über einen südamerikanischen Pädophilenring erzählt hatte. Eine Gruppe wahnsinnig wohlhabender Tucken reichte unter sich hübsche Jungen herum, und wenn deren Reize verbraucht waren, wurden sie entsorgt. Ein süßer kleiner Nordamerikaner wäre da zweifellos Gold wert.

 

Sie hatten im Café gefrühstückt und gingen nun spazieren. Der Sonntagmorgen erbebte, als ein Flugzeug startete. Alle drei sahen ihm nach, bis es in der Ferne verschwunden war und die Stadt ihre sonnige Gelassenheit zurückgewann.

Gina stöhnte leise und legte eine Hand auf ihren Magen.

«Stimmt was nicht?», fragte Gray.

«Mein Magen. Ich muss ihn mir irgendwie verdorben haben.»

«Geschieht dir recht», sagte Luke.

«Was soll das denn heißen?»

«Gestern hast du gesagt, dir ginge es schlecht, aber das stimmte nicht. Wenn es dir heute schlechtgeht, dann geschieht dir das nur recht.»

«Danke für dein Mitgefühl. Außerdem ist Gray schuld daran, und Norman auch.»

«Warum sind wir denn schuld?»

«Weil ihr mich zu dieser wilden Feier überredet habt. Mein Körper ist das nicht gewohnt.»

«Drei Stunden Scrabble zu spielen, ist für dich eine wilde Feier?»

«Genau. Ich bin ein altmodisches Mädchen.» Und dann sagte sie zu Luke: «Lass uns umkehren. Wir gehen zurück zum Motel.»

«Warum?»

«Ich hab’s doch gerade gesagt. Es geht mir nicht gut.»

«Warum muss ich denn mitkommen? Warum kann ich nicht bei Gray bleiben?»

«Ach, Luke, müssen wir uns denn über jede Kleinigkeit streiten?»

«Er kann bei mir bleiben», sagte Gray.

Sie antwortete nicht. Sah Gray an. Dachte nach.

«Ihm passiert schon nichts, Gina. Mach dir keine Sorgen.»

«Mir passiert nichts, Mom.»

«Na gut, aber geht nicht zu weit.»

«Machen wir nicht», sagte Gray.

«Und bleibt nicht so lange weg.»

«Machen wir nicht», sagte Luke.

Gina und ihr rumorender Magen machten sich zügig auf den Weg zum Motel, Gray und Luke bogen dagegen in eine Seitenstraße ein. Zwei- und Vierfamilienhäuser wechselten mit kleinen Gebäuden in allen Farben und Stilrichtungen ab. Die Grundstücke waren klein, meist ohne Garten, alles wirkte eng zusammengedrängt.

Ohne es zu bemerken, kamen sie an dem ehemals gelben, jetzt weiß gestrichenen Bungalow vorbei, in dem Norman und seine Frau gelebt hatten.

Überall herrschte eine gemächliche Sonntagsstimmung. Eine alte Dame führte ihren Hund aus. Eine dicke schwarze Katze döste auf einem Fensterbrett. Ein verkaterter Typ wusch seinen verbeulten Wagen, und das Wasser lief die Bordsteinkante entlang. Die Straße wand sich den Hügel hoch und führte sie schließlich zur Lagune. Luke sah den großen weißen Vogel im seichten Wasser nach Beute suchen.

Seit sie sich von Gina getrennt hatten, hatten sie kein Wort mehr gewechselt.

«Du redest nicht so viel, stimmt’s?», fragte Luke.

Gray sah ernst zu Luke hinunter und schüttelte den Kopf; dann mussten beide lachen.

«Stört dich das?»

«Nein. Mom redet die ganze Zeit. Das nervt total.»

«Deine Mom ist etwas Besonderes, das weißt du doch?»

«Glaubst du das wirklich?»

«O ja.»

«Woher willst du das denn wissen? Ihr seid euch doch gerade erst begegnet.»

«Manchmal weiß man so was eben.»

«Wie ist deine Mom denn so?»

«Sie ist schon vor langer Zeit gestorben.»

«Und dein Dad?»

«Der ist auch schon tot.»

Drei Enten glitten zusammen mit ihrem Spiegelbild über die Lagune. Am Ufer stand hier und da Gras, zwei bis drei Meter hoch. Ein Windstoß fuhr in das Gras hinein und ließ die Schatten der Halme wie Flammen tanzen. Ein Mann in lumpiger Kleidung hatte sich zwischen ihnen schlafen gelegt. Im Wind machten die Halme ein zischendes Geräusch; die beiden gingen schweigend an dem Mann vorbei.

«Mein Dad ist im Gefängnis», sagte Luke.

Gray ließ den Satz sacken. Er sah Luke an.

«Muss er lange Zeit dortbleiben?»

«Ja.»

«Fehlt er dir?»

«Manchmal. Manchmal war er toll. Er konnte Witze erzählen, und wir sind zum Bowling gegangen, und er hat Videospiele mit mir gespielt. Und ich habe immer gewonnen.»

«Aber manchmal war er nicht so toll?»

«Er war gemein zu Mom. Wenn er wütend war, hat er sie geschlagen. Aber sie hat alles nur noch schlimmer gemacht.»

«Wie denn?»

«Sie hat sich gewehrt. Sie hat ihn beschimpft und ihm ins Gesicht gespuckt. Dann ist er noch wütender geworden und hat sie wieder geschlagen. Und sie hat trotzdem immer weiter geschimpft.»

«Das tut mir leid, Luke. Muss ’ne schlimme Zeit gewesen sein.»

Anscheinend hatte Luke noch mehr auf dem Herzen, aber er sprach nicht weiter, und Gray fand es nicht richtig, ihn zu bedrängen.

«Gray?»

«Ja?»

«Diese Sache mit Dad, das soll keiner wissen. Sag Mom nicht, dass ich dir davon erzählt habe, okay?»

«Okay.»

Sie umrundeten die Lagune und gingen am Spielplatz vorbei; es war so schön im Park, dass sie sich an einen der Picknicktische setzten, um die Atmosphäre zu genießen. Auf den Schaukeln und Wippen saßen Kinder. Zwei schlaksige Typen warfen sich eine orange Frisbeescheibe zu. Ein halbes Dutzend Jungen spielte Fußball. Ein Latinopärchen lag schmusend auf einer Decke im Gras. Alles in der milden Novembersonne, unter einem endlos blauen Himmel.

Dann kamen Quex und Stitch.

In ihren Springerstiefeln gingen sie über den Rasen. Sagten etwas zu dem schmusenden Pärchen und lachten. Der Junge warf ihnen einen wütenden Blick hinterher, das Mädchen schien verängstigt. Sie hatten den Hund dabei. Den räudigen Schlittenhundmischling. Mit seinem Würgehalsband kroch er an einer langen Leine hinter ihnen her. Die beiden setzten sich in den Schatten des alleinstehenden Baumes. Sie hatten Coladosen und weiße Tragetaschen mitgebracht, aus denen sie Burger, Pommes frites und Zwiebelringe hervorholten.

Die Teenager rollten ihre Decke auf und gingen.

«Das ist dein Baum», sagte Luke.

«Er gehört mir aber nicht.»

«Aber du machst da doch dieses Qigong.»

«Meinetwegen dürfen sie da sitzen. Ausnahmsweise.»

Quex und Stitch schmierten Ketchup aus kleinen Aluminiumtütchen auf die Zwiebelringe und ihre Pommes. Während sie aßen, stand der Hund neben ihnen und schaute gebannt zu. Ihr Fastfood war für ihn im Moment das Wichtigste auf der Welt.

Quex warf ihm einen Zwiebelring zu, er schnappte ihn und schluckte ihn hinunter.

Ein paar Minuten vergingen. Mehr gab es nicht. Quex und Stitch redeten miteinander und achteten nicht auf den Hund. Der schlich sich näher und näher heran. Quex bemerkte ihn erst, als sein großer Kopf die Zwiebelringe schon fast erreicht hatte, und schrie ihn an: «Hau ab, du blöder Köter!» Er versetzte ihm einen Faustschlag direkt unter das zerfetzte Ohr. Der Hund kläffte und sprang zurück, die Skinheads lachten.

Luke warf Gray einen Blick zu, um zu sehen, ob er das mitbekommen hatte. Er hatte, aber sein Gesicht war völlig ausdruckslos. Er wandte den Blick ab und schaute sich im Park um.

«Du, Luke, mir ist gerade eingefallen, dass ich noch etwas erledigen muss. Kannst du auch allein zum Motel zurückgehen?»

«Jetzt gleich?»

«Ja.»

Er zuckte mit den Schultern. «Okay.»

«Ich komme später nach.»

Luke nickte. Dann stand er auf und ging los.

«Geh direkt zurück, Luke. Keine Umwege.»

«Mach ich.»

Er überquerte den Rasen. Ging am Baum und an den Typen mit der Frisbeescheibe vorbei. Auf der anderen Seite des Parks, bei den Toiletten, drehte er sich um. Gray saß immer noch am Picknicktisch und winkte ihm zu. Er winkte zurück und ging weiter. Als er glaubte, dass Gray ihn hinter dem Toilettenhäuschen nicht mehr sehen konnte, machte er kehrt.

Er lugte um die Ecke des Häuschens; sah, wie Gray den Picknicktisch verließ und zu den beiden hinüberging.

Er trat in den Schatten des Baums. Ging direkt auf den Hund zu, bückte sich und nahm die Leine. Quex und Stitch starrten ihn an.

«Hey du, was soll das werden?», fragte Quex.

Gray achtete nur auf den Hund. «Komm mit, Bursche», sagte er sanft.

Der Hund sah kurz zu ihm auf. Dann gingen die beiden zusammen davon.

Quex und Stitch saßen einfach nur da. Ihre Lippen waren mit Senf und Ketchup verschmiert. Mit offenem Mund sahen sie ihm nach.

«Das glaub ich nicht», sagte Stitch.

«Hey, du Arschloch!», schrie Quex. «Was soll das werden?»

Weder Mann noch Hund blieben stehen oder drehten sich um.

Quex sah Stitch an.

«Hast du so was schon mal gesehen?»

«Das gibt’s doch nicht!»

«Du Wichser!»

Sie ließen die Burger fallen, sprangen auf und rannten hinter Gray her. Quex war etwas schneller als Stitch. Ihre Stiefel trampelten über den Rasen.

Luke sah sie rennen. Er sah, wie Gray und der Hund ganz einfach weitergingen. Als ob er nicht wüsste, dass sie ihn verfolgten und beinahe schon eingeholt hatten, dass Stitch einen Totschläger aus der Tasche zog und Quex schon die Hand nach seiner Schulter ausstreckte. Doch im selben Moment, als Luke hinter dem Häuschen hervorkam, um ihn zu warnen, wirbelte Gray herum. Er griff nach Quex’ Arm und trat mit dem rechten Fuß gegen sein rechtes Knie. Das Gelenk gab nach, und mit einem Knall rissen die Sehnen. Quex schrie auf, Gray drehte seinen Arm herum und renkte ihm die Schulter aus, dann drückte er ihn nach unten und brach ihm mit dem Unterarm den Ellbogen. Sein Schrei steigerte sich zu einem unmenschlichen Kreischen, bis Gray ihm das Knie in den Mund rammte und ihn einfach auf den Boden fallen ließ.

Gray fixierte nun Stitch. Der stand mit weit aufgerissenen Augen da und keuchte, als wäre er kilometerweit gelaufen und nicht nur ein paar Schritte. Er hielt den Totschläger, als wäre es ein Stück Hundescheiße, das er durch Zufall gefunden hatte. Mit zitternder Stimme rief er: «Hey! Mach keinen Scheiß, oder ich schlag dich zu Brei!»

Gray sah teilnahmslos auf Quex hinunter, der zuckend und stöhnend im Gras lag und Blut und Zähne ausspuckte. Dann ging er zum Hund hinüber. Der Hund wirkte nervös und wich zurück.

«Alles in Ordnung», sagte er und kniete sich vor ihm nieder, um das Halsband zu lösen. Dann ging er zurück zu Quex. Er beugte sich über ihn und legte ihm das Halsband an. Zog es fest, damit die Dornen sich auch schön in den Hals bohrten.

«Oh Mann!», rief Stitch. «Wie krank ist das denn? Scheiße!»

Der Fußball und die orange Frisbeescheibe lagen unbeachtet im Gras. Frisbeewerfer und Fußballspieler hatten nur Augen für Gray. Verängstigte Mütter scheuchten ihre Kinder vom Spielplatz. Luke sah, wie Gray die Schlinge der Leine ergriff und Quex zum Baum zog.

Quex fing an zu husten und zu würgen. Mit der linken Hand packte er das Halsband. Sein gebrochener Arm und das zertrümmerte Bein schleiften über den Rasen.

Stitch folgte ihnen in sicherem Abstand. Als wäre er ein mitfühlender, aber hilfloser Zuschauer und Quex eine Art Christus, der zur Kreuzigung geführt wird.

Als sie den Baum erreicht hatten, legte Gray einen Arm um Quex und hob ihn hoch. Quex wimmerte und bettelte, als Gray die Leine über einen niedrigen Ast warf und stramm zog. Als seine Stiefel den Boden kaum noch berührten, verknotete Gray die Leine und wandte sich ab.

Der Hund hatte auf ihn gewartet; zusammen gingen sie davon. Hinter ihnen stand Quex auf den Zehenspitzen des gesunden Beins, mit einer Hand im Halsband. Stitch traute sich noch nicht näher heran, er wartete ab, ob Gray zurückkommen würde.

Gray ging zu Luke hinüber. Der war wieder hinter das Häuschen getreten und drückte seinen Rücken gegen die Wand. Als Gray und der Hund um die Ecke kamen, sahen sie ihn trotzdem sofort.

«Warum bist du nicht zurück zum Motel gegangen?»

Luke zuckte mit den Schultern. Er sah, dass Quex jetzt ausgestreckt unter dem Baum lag. Stitch beugte sich über ihn und telefonierte mit seinem Handy.

«Er ruft jemanden an», sagte Luke.

«Sieht so aus.»

«Und wenn er die Bullen ruft?»

«Ja, was dann?»

«Du hast ihren Hund mitgenommen.»

«Was geschehen soll, wird geschehen. Ich kümmere mich darum, wenn es so weit ist.» Er legte die Hand auf Lukes Schulter. «Komm, wir gehen.»

Sie gingen zurück zum Motel; der Hund zwischen ihnen, als wäre das seit Jahren schon sein Platz. Luke sah, dass er um den Hals herum eine hässliche Narbe hatte.

«Was machst du jetzt mit ihm?»

«Ich behalte ihn. Wenn du ihn nicht willst.»

«O ja, Mom ist bestimmt begeistert, wenn ich den mit nach Hause bringe.»

«Erzähl ihr nichts davon, was du gesehen hast. Okay?»

«Warum nicht?»

«Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das gut findet.»

«Na schön. Aber bestimmt will sie wissen, woher wir ihn haben.»

«Wir haben ihn im Park gefunden. Er ist da herumgelaufen. Herrenlos.»

Luke grinste. «Er ist uns gefolgt.»

Gray grinste auch. «Genau.»

Es war ein Block bis zur Alejo und dann noch ein Block bis zum Motel. Luke schloss die Tür ihres Zimmers auf und schaute hinein.

«Sie ist im Badezimmer.»

Gray nickte. Stand da. Wollte noch irgendetwas sagen.

«Wie willst du ihn nennen?», fragte Luke.

«Ich weiß nicht. Hör zu, ich wollte nicht, dass du dabei zusiehst. Es tut mir leid.»

«Ich hab schon viele Sachen gesehen.»

Er ging hinein und schloss die Tür.

Gray ging noch nicht in sein Zimmer. Zusammen mit dem Hund machte er sich auf den Weg in die Stadt. Er musste ein paar Sachen für ihn besorgen. Fressen. Eine neue Leine und ein Halsband. Und etwas, um seine Wunden zu versorgen.

 

Sie wurden am Gepäckband von einem jungen Mann mit übler Akne und einem Rüssel von Nase begrüßt. Dem Repräsentanten des Systems in Oklahoma City.

«Bestimmt seid ihr beide Mr. Smith und Mr. Jones», sagte er grinsend. Irritierenderweise leuchteten zwei blaue Augen in seinem roten Gesicht.

«Eigentlich bin ich Mr. Smith-Jones», sagte Groh. «Mein Partner heißt Mr. Jones-Smith.»

Der Mann lachte und streckte die Hand aus.

«Wollt ihr was ziemlich Komisches hören? Ich heiße wirklich Smith. DeWitt Smith.»

«Das ist komisch», sagte Groh und gab ihm widerwillig die Hand. Der Mann war so unglaublich hässlich, dass er ihn lieber nicht berührt hätte.

«Habt ihr Gepäck?»

«Ja.»

DeWitt musterte die Gepäckstücke auf dem Laufband.

«Sagt Bescheid, wenn euer Kram vorbeikommt. Ich greif ihn mir.»

«Alles klar.»

«Wie war der Flug?»

«Ziemlich öde. Gott sei Dank.»

DeWitt lachte. «Kann mir vorstellen, dass ihr keinen Wert auf einen aufregenden Flug legt, stimmt’s?»

DeWitt kam zu dem Schluss, dass er Mr. Smith-Jones gut leiden konnte, Mr. Jones-Smith dafür weniger. Eiskalte Typen wie ihn traf man in ihrer Branche häufiger. Als Kind war DeWitt oft auf der Farm seines Großvaters gewesen. Dort stand ein alter Brunnen, der mit Brettern zugedeckt war; er hatte einmal eins dieser Bretter weggezogen und hineingeschaut; im sommerlichen Sonnenschein war ihm nasskalte Luft entgegengeweht, und ein paar Weberknechte kamen heraus. Er konnte das Wasser nicht sehen, nur Dunkelheit, und er stellte sich vor, wie grauenhaft es wäre, dort hinein zu fallen. Genau dasselbe Gefühl hatte er, wenn er Jones-Smith anschaute.

«Da kommt meiner», sagte Groh, und DeWitt packte ihn und hob ihn herunter. Kurz darauf kam auch Bulgakovs.

«Jetzt nichts wie weg.»

Schwungvoll verließ er das Terminal, die beiden Rollkoffer im Schlepptau. Groh und Bulgakov mussten sich beeilen, um Schritt zu halten. Hinter seinem Rücken schauten sie sich achselzuckend an. DeWitt war in Fahrt. Er hatte zwar keine Ahnung, was diese beiden Kerle vorhatten, aber offensichtlich handelte es sich um einen extrem wichtigen Auftrag. Er würde dafür sorgen, dass alles wie am Schnürchen lief und keine Probleme auftraten. Im System wurden gute Leistungen belohnt. Jetzt war er noch ein Niemand aus Ratliff City, Oklahoma, einem Kaff mit 131 Einwohnern, aber seine Karriere würde von nun an steil nach oben gehen.

 

Alle dachten, sie würde nichts mitbekommen, aber sie wusste fast alles. Sie wusste, dass Latreece trotz all ihrer Fröhlichkeit ganz verzweifelt war, weil man in einer ihrer enormen Brüste einen Knoten entdeckt hatte und sie das Wochenende in der Ungewissheit verbringen musste, welches Ergebnis die Biopsie haben würde. Und sie roch sie wie den Rauch eines weit entfernten Feuers: die Sorgen und Ängste ihres Sohnes, der in Pennsylvania im Gefängnis saß. Dass gerade ein Spitzenteam von Auftragsmördern losgeschickt wurde, um ihre weggelaufene Exschwiegertochter ausfindig zu machen; dass ihr Ehemann vor einer Stunde die blauen Pillen genommen hatte, die er zwischen seinen Socken und Unterhosen versteckte, und jetzt im Erdgeschoss das Dienstmädchen besuchte, das geduldig daran arbeitete, seinem krummen alten Schwanz eine Erektion zu verschaffen. Dieses Mädchen hatte es faustdick hinter den Ohren, sie war nicht das nette, einfache, immer fröhliche Kind aus Südamerika, sondern eine ebenso rücksichtslose und hartherzige Intrigantin, wie sie, Millie Cicala, es vor ihrem Schlaganfall gewesen war. Dem Schlaganfall, der für sie kein Unglück war, sondern dem sie ein neues Leben verdankte.

Es war nämlich so: Die Gehirnregionen, die für Angst, Sorgen, Trauer und Zorn zuständig waren, waren von Blut überschwemmt und zerstört worden. Verschont geblieben waren die positiveren Areale. Die Leute hielten ihr Lächeln für das Grinsen einer Idiotin. Dabei war es der Ausdruck einer Glückseligkeit, die in ihrem Schädel begann und sich bis in die entlegensten Winkel des Universums zu erstrecken schien. Was kümmerte es sie, wenn ihr Mann sie mit dem Dienstmädchen betrog oder es zumindest versuchte, wenn sie selbst sich wie ein Blatt fühlte, das in einem unglaublichen Hurrikan des Glücks herumgewirbelt wurde?

 

Seine Mutter hatte immer gesagt, verwahrloste Menschen erkennt man an ihren ungemachten Betten, und wenn er sein Bett nicht ordentlich machte, musste er damit rechnen, den Hintern versohlt zu bekommen. Seine Mutter inspizierte sein Zimmer wie ein Ausbilder bei den Marines. Diese Erziehung war erfolgreich gewesen, auch wenn er ein einsames Leben führte und außer ihm kaum jemand sein tadellos gemachtes Bett zu sehen bekam. Er hatte von seiner Mutter eine Tagesdecke bekommen, die schon seiner Großmutter gehört hatte, mit reliefartigem Webmuster und Fransen am Saum. Vor langer Zeit musste sie weiß gewesen sein, aber im Lauf der Jahrzehnte hatte sie eine ähnliche Farbe wie Elfenbein angenommen. Die Decke lag meistens zusammengefaltet in einer Schublade, aber weil Besuch gekommen war, hatte er sie herausgeholt. Sie lag glatt gezogen auf der Matratze, die Fransen rundherum im gleichen Abstand zum Teppich. Ein funkelndes Waffenarsenal lag ordentlich aufgereiht auf der Decke.

Überwiegend Handfeuerwaffen, Revolver und halbautomatische Pistolen. Ein halbes Dutzend Messer und einige Schalldämpfer.

«Das kann sich sehen lassen, DeWitt», sagte Groh, und DeWitt wusste, er hatte gute Arbeit geleistet.

Beide entschieden sich für halbautomatische Waffen, Groh nahm eine 32er, Bulgakov eine 45er. Bulgakov nahm außerdem ein Stiefelmesser von Morseth mit Zwölfzentimeterklinge. Er mochte Messer, das sah DeWitt an der Art, wie er es hielt. Er selbst konnte Messer nicht ausstehen. Als Kind hatte er einmal mit angesehen, wie sein Großvater ein Schwein schlachtete. Er hatte ihm den Magen aufgeschlitzt, als es noch lebte und quiekte. Danach hatte er einen Monat lang keinen Speck gegessen.

«Was für einen Wagen hast du besorgt?», fragte Groh.

«Einen Dodge Neon. Es hieß, ihr wollt nichts Ausgefallenes.»

Groh nickte, sah dann auf die Uhr. «Würde es Umstände machen, wenn wir ein Weilchen hierblieben?»

«Umstände, machst du Witze? Es ist toll, dass ihr da seid!»

Sie gingen ins Wohnzimmer. Groh und Bulgakov setzten sich auf die Couch. Auf dem Tisch lag ein Rinderschädel mit langen, gebogenen Hörnern.

«Der sieht ja aus wie aus einem Bild von Georgia O’Keeffe», sagte Groh.

DeWitt hatte noch nie von Georgia O’Keeffe gehört; sicherheitshalber lachte er ein wenig, falls das ein Witz sein sollte.

«Was kann ich euch anbieten? Wollt ihr was trinken? Oder habt ihr Hunger? Ich kann ganz gut kochen.»

«Für mich nichts, danke», sagte Groh.

DeWitt sah Bulgakov an, aber der ignorierte ihn. Schraubte einen Schalldämpfer auf seine Pistole.

«Hey!», rief DeWitt. «Es ist Sonntagabend! Dann ist ja alles klar.»

Groh sah ihn verständnislos an.

«Im Fernsehen läuft Football!»

Und er griff nach der Fernbedienung.

 

Gina träumte, eine Bowlingkugel wäre von der Bahn abgekommen und würde laut durch eine endlose Rinne rumpeln; dann wachte sie auf und hörte, wie gerade ein Flugzeug startete. Sie lag komplett angezogen auf dem Bett. Draußen wurde es schon dunkel. Sie sah sich um, aber Luke war nicht da. Die Badezimmertür stand offen, dort war er auch nicht. Sie bekam einen Schreck und rief: «Luke? Luke?»

Sein Kopf tauchte hinter seinem Bett auf.

«Was ist denn?», fragte er verwirrt.

«Was machst du denn da unten?»

«Lesen.»

«Auf dem Fußboden?»

«Ich lese gern auf dem Fußboden.»

Sie setzte sich auf und rieb sich Gesicht und Augen.

«Wie geht es dir?», fragte Luke.

«Ich glaube, besser.»

«Können wir dann essen gehen? Ich bin am Verhungern.»

«Ach, Luke, mir ist nicht nach Ausgehen. Mach dir ein Sandwich mit Marmelade und Erdnussbutter.»

«Das habe ich schon heute Mittag gegessen.»

«Dann isst du es eben noch mal, davon stirbt man nicht.»

«Sandwiches hängen mir zum Hals raus. Das ist doch Kindesmisshandlung. Immer muss ich Sandwiches essen.»

«Kindesmisshandlung, okay.» Sie seufzte. «Aber lass mich schnell noch duschen.»

 

Sie gingen die Alejo Avenue hinunter. Die Dämmerung ging in tiefe Dunkelheit über, ein einzelner Stern stand hinter ihnen am Himmel. Sie gingen ins Sea Horse und setzten sich ans Fenster.

«Hey, da ist Norman», sagte Luke.

Norman saß mit ein paar rauen Typen an der Bar. Er hatte eine San-Diego-Chargers-Mütze auf und sah sich mit den andern das Spiel der Eagles gegen die Cowboys an.

«Vielleicht merkt er nicht, dass wir da sind», sagte Gina.

«Magst du ihn denn nicht?»

«Doch, ich bin gerade nur nicht in der richtigen Stimmung. Er ist ziemlich anstrengend.»

January brachte ihnen die Speisekarten. Sie schauten hinein.

«Ich habe keinen Hunger», sagte Gina. «Ich nehme nur einen Teller Muschelsuppe. Willst du einen Piratenburger?»

«Ich esse kein Fleisch.»

«Stimmt, das habe ich vergessen. Der Herr Vegetarier. Was willst du dann?»

«Weiß ich nicht.»

Er brütete über der Speisekarte. Die Männer am Tresen johlten, weil die Cowboys gerade einen Touchdown geschafft hatten.

«Na los, Herr Vegetarier. Jetzt sag schon.»

«Lass mich in Ruhe.»

«Hallo ihr!»

Norman kam auf sie zu. Sein Glas brachte er gleich mit.

«Was dagegen, dass euch ein alter Kauz Gesellschaft leistet?»

«Natürlich nicht», sagte Gina.

Er setzte sich neben Luke. Sein Gesicht war gerötet, und sein Atem roch nach Alkohol.

Gina zeigte auf seine Mütze. «Bist du ein Chargers-Fan?»

«Ja! Ich komme eigentlich aus San Diego. Wir haben die Giants heute richtig fertiggemacht, das ist ein Grund zum Feiern. Magst du Sport, Luke?»

«Ich mag Skateboard. Ab und zu spiele ich Fußball. Aber Sport im Fernsehen angucken mag ich nicht besonders.»

«Sehr vernünftig. Ich habe alles in allem bestimmt ein paar Jahre damit vergeudet, mir Sport im Fernsehen anzuschauen. Eine interessante Sache, dieser Fanzirkus. Die bedeutungslosen Handlungen wildfremder Menschen versetzen einen in Verzückung oder Verzweiflung. Und diese Menschen wissen nicht einmal, dass man existiert. Eine vollkommen einseitige Beziehung. So ähnlich wie Spinozas Gottesbegriff. Er war Pantheist, sah Gott als eine unpersönliche Macht. Er hat gesagt, ihr könnt Gott lieben, aber ihr dürft nicht erwarten, dass Gott euch ebenfalls liebt. Der alte Norm Hopkins liebt die Chargers. Aber die Chargers lieben wohl kaum den alten Norm Hopkins.»

January brachte ihnen Wasser. «Wissen wir jetzt, was wir wollen?»

Gina warf Luke einen Blick zu. «Ich glaube, wir brauchen noch ein wenig.»

«Okay. Und wie geht es uns, Norman?»

«Alles bestens, January. Aber es ginge uns noch besser, wenn ich noch einen Drink hätte.»

«Alles klar.»

«Wo steckt denn euer Komplize heute Abend?», fragte er Gina.

«Gray? Keine Ahnung. Wir haben ihn seit heute Morgen nicht mehr gesehen.»

«Ich habe in seinem Zimmer angerufen, aber er hat nicht abgenommen. Vielleicht geht er mit seinem neuen Hund spazieren.»

«Woher weißt du denn von seinem Hund?»

«Na, darüber reden hier doch alle.»

Sie war erstaunt. «Wirklich? Wieso denn?»

Norman war erstaunt. «Nun ja, das muss ja ein ganz schönes Spektakel gewesen sein, wie ich gehört habe.»

«Was denn? Wovon redest du da?»

«Wie Gray an den Hund gekommen ist.»

«Luke und er haben ihn im Park gefunden. Ausgesetzt.» Sie sah Luke an. «Stimmt doch, oder?»

Luke brachte ein schwaches Nicken zustande.

«Wie merkwürdig», sagte Norman. «Da hab ich aber eine ganz andere Geschichte gehört.»

 

Gray und der Hund überquerten die Dünen und erreichten das Sea Breeze Motel. Er öffnete die Tür, und sie gingen hinein. Der Hund trat auf eine Ansichtskarte des Motels.

Er nahm ihm die Leine ab und hob die Postkarte auf. Auf der Rückseite stand:

Ich muss mit dir reden. Sofort!

Gina

Der Hund schlabberte Wasser aus einer glänzenden Silberschale.

«Ich bin gleich zurück», sagte Gray.

Er klopfte an ihre Tür, wartete und klopfte noch einmal lauter, dann hörte er sie.

«Wer ist da?»

«Gray.»

Sofort ging die Tür auf, und sie kam heraus. Bevor sie die Tür hinter sich schließen konnte, sah er Luke, der anscheinend geweint hatte.

«Was zum Teufel ist im Park passiert?», fragte sie. Ihr Gesicht war verzerrt vor Wut.

«Hört sich an, als wüsstest du es schon.»

«Warum hast du Luke gesagt, dass er lügen soll?»

«Ich wollte nicht, dass du dich aufregst.»

«Du hattest kein Recht dazu. Du hast meinen Sohn in Gefahr gebracht!»

«Er ist keinen Moment in Gefahr gewesen.»

«Alles wegen diesem blöden Hund!»

«Ein Tier wurde misshandelt, und ich habe das beendet.»

«Warum hast du nicht irgend so ’nen blöden Tierschutzverein angerufen, wenn dir das so wichtig war. Aber sich prügeln, und Luke hat alles mit angesehen!»

«Er sollte es nicht sehen, das tut mir leid.»

«Ja, das hat er mir erzählt. Du hast ihn zurückgeschickt.»

«Stimmt.»

«Er ist doch noch ein kleiner Junge. Er soll nicht allein rumlaufen. Sonst passiert noch was. Oder es kommt so ’n Perverser.»

«Im Park waren keine.»

«Woher willst du das wissen?»

«Ich habe nachgesehen.»

Sie lachte ungläubig. «Du glaubst wohl, du bist allwissend? Kannst durch Wände gucken? Und um die Ecke? Du hast doch eine scheiß Ahnung, wer da alles im Park war!»

«Ich finde, ein zehnjähriger Junge kann ruhig mal ein paar hundert Meter allein durch eine friedliche Stadt gehen, ohne dass seine Mutter gleich ausrastet.»

«Es geht dich einen Scheißdreck an, wie ich meinen Sohn erziehe. Ich entscheide, was gut für ihn ist. Heute Morgen habe ich mich getäuscht. Ich habe ihn dir anvertraut.»

«Du kannst mir vertrauen. Es war keine falsche Entscheidung.»

«Du hast dich nicht einfach nur geprügelt, wegen einer Sache, die dich überhaupt nichts anging. Du hast den Kerl beinahe umgebracht. Du hast ihn an diesem verfluchten Baum aufgehängt.»

«Ich hätte ihn umbringen können, wenn ich gewollt hätte. Der Kerl war nie in Lebensgefahr.»

Sie starrte ihn an.

«Wer bist du?», fragte sie leise.

«Das hab ich dir doch gesagt.»

«Das war nur ein Haufen Lügen.»

«Was war gelogen?»

«Du hast gesagt, du wärst Seemann gewesen. Auf einem Schiff namens Thomaston. Aber das kann nicht sein. Das Schiff wurde 1984 ausgemustert. Da warst du noch ein Kind.»

Gray schwieg.

«Und?»

Wieder Schweigen.

«Ich weiß nicht, was mit dir los ist. Vielleicht bist du einfach ein Lügner. Vielleicht bist du auch … krank. Aber ich gehe kein Risiko ein. Ich will nicht, dass du Luke noch mal siehst.»

Sie öffnete die Tür und ging hinein.

«Gina –»

Die Tür fiel ins Schloss.

 

Die Stadt lag ruhig da, über ihr ein Sternenhimmel. Sie fuhren an Busters Restaurant vorbei und an dem Platz für Gebrauchtwagen. Vorbei an dem großen «Carter ist smarter – für wenig Geld»-Plakat. Die roten, blauen, gelben und grünen Wimpel hingen schlaff in der windstillen Luft.

Groh mochte das Gefühl, an einem fremden Ort anzukommen. Ohne zu wissen, was er im nächsten Moment sehen oder was passieren würde. Er wünschte, er müsste nicht schlafen und könnte für immer dahin gleiten, so wie ein Hai, immer, immer weiter.

Darin unterschied er sich von Bulgakov. Der schnarchte mit offenem Mund. Groh hatte noch nie einen Menschen getroffen, der so wenig Neugier besaß. Nichts, was zwischen den Jobs geschah, hatte für ihn die geringste Bedeutung. Paris war nicht anders als London und Mexico City dasselbe wie Hongkong.

«Dima! Dima! Wach auf, wir sind da.»

Sie glitten durch ruhige Straßen, vorbei an bescheidenen, aber gepflegten Häusern, in denen die Einwohner von Brady schliefen. Sie ahnten nicht, dass gerade zwei Mörder in ihrer Stadt eingetroffen waren. Es sei denn, es fand Eingang in ihre Träume. Ließ sie stöhnen und murmeln, sich herumwerfen und versuchen, dem Traum zu entkommen. Groh parkte vor den Osage Creek Apartments. Schaltete Motor und Scheinwerfer aus. Für eine Weile blickten sie vom Wagen aus zum Haus hinüber. Dann zogen sie die hautfarbenen Gummihandschuhe an und stiegen aus.

Es war kalt, ihr Atem dampfte. In einem Teil des Hauses brannte Licht, und sie hörten leise Musik. Einen jaulenden Countrysong. Wahrscheinlich ein einsamer Zuhörer, mit Bierdose und Zigarette. Sonst war alles dunkel und still.

Sie fanden die Briefkästen. Verschlossene Metallfächer. Bulgakov ließ die Klappe von «Peterson» mit einem seiner Werkzeuge aufspringen. Es lag nur eine Karte darin, adressiert an «Die Anwohner»: HAPPY JACKS GRILL – DER FRÖHLICHSTE IMBISS VON BRADY!!!

Sie folgten einem Weg, der an den Gebäuden entlangführte, und stiegen dann die Treppe zum Apartment 25 hinauf. Bulgakov entfernte sorgfältig ein gelbes Polizeisiegel und machte sich dann am Schloss zu schaffen. Gegenüber auf dem Treppenabsatz war ein weiteres Apartment. Groh behielt die Tür im Auge, für den Fall, dass ein Nachbar mit leichtem Schlaf neugierig wurde und herauskam. Der würde eine Überraschung erleben.

Bulgakov öffnete die Tür, und sie gingen hinein. Groh durchquerte das Wohnzimmer und schloss die Vorhänge zur Straße. Sie schalteten kleine Taschenlampen ein. Die Lichtkegel wanderten durch den Raum. Bulgakovs Blick blieb an dem dunklen Fleck auf dem Teppich hängen, wo Carter gestorben war. Groh ließ den Lichtkegel seiner Lampe über das Bild von der Fuchsjagd gleiten.

«Ich bin einmal bei einer Fuchsjagd gewesen, Dima. Habe ich dir das erzählt?»

Bulgakov ignorierte ihn. Ging zum Schreibtisch und zog die Schublade heraus. Sie suchten nach etwas, das sie auf die Spur der geflohenen Frau bringen könnte. Telefonrechnungen, Kreditkartenbelege, Reisebroschüren. Ein Computer wäre natürlich ein echter Treffer gewesen. Nach zehn Minuten hatten sie immer noch nichts gefunden. Im Schrank lag Kleidung, im Kühlschrank waren Lebensmittel, und neben dem Bett standen flauschige Hausschuhe, es sah so aus, als hätten die beiden nichts zurückgelassen, was ihnen weiterhelfen konnte. Oder als ob die Polizei schon alles gefunden hatte.

Groh ging ins Kinderzimmer, Lukes Zimmer. Er wusste, wie Luke aussah, man hatte ihm Fotos der beiden gegeben. Ein attraktiver Junge. Ein schöner Junge. Seine Augen wirkten irgendwie katzenhaft. Seltsame, geheimnisvolle Augen. Er würde nett zu ihm sein, wenn sie seine Mutter getötet hatten. Ihn vor Bulgakovs Grobheit beschützen.

Sein Lichtkegel fand eine andere Taschenlampe. Die Harry-Potter-Taschenlampe. Er nahm sie und schaltete sie ein. Luke mochte also Harry Potter. Er würde alle Bücher kaufen, damit Luke etwas zu lesen hatte, während sie ihn zurückbrachten. Wenn er sie ihm gab, würde Luke ihn mit seinen Katzenaugen anschauen und fragen: «Woher wussten Sie, dass ich Harry Potter mag?»

Das Licht ging an.

Ein junger Polizist stand in der Tür und hielt mit beiden Händen eine Pistole auf Groh gerichtet.

«Hände hoch!»

Groh stand nur da, blinzelte in das grelle Licht.

«Weg mit der Taschenlampe! Hände hoch, wird’s bald!»

Er warf die Taschenlampe aufs Bett und hob die Hände.

«Auf den Kopf! Legen Sie die Hände auf den Kopf!»

Groh tat es. Der Polizist trug ein Namensschild, auf dem Butterfield stand. Wenn man ihn sah, konnte man meinen, dass in Brady schon Sechzehnjährige Polizist werden konnten.

«Was machen Sie da?»

Groh konnte die Angst spüren, die von Butterfield ausging. Wahrscheinlich hatte er noch nie zuvor seine Waffe auf einen Menschen gerichtet.

«Gina und ich sind alte Freunde. Ich mache mir große Sorgen um sie. Sie hat ein paar Sachen, die mir gehören, ein paar Bücher und Fotos. Ich bin gekommen, um sie mir zu holen.»

«Und warum schnüffeln Sie hier im Dunkeln herum? Und was sollen die Handschuhe?»

Butterfield war ein paar Schritte in den Raum hineingekommen. Groh warf einen Blick auf die 9-Millimeter-Pistole in seiner Hand.

«Und warum zittert Ihre Pistole so?»

«Runter auf den Boden! Auf den Bauch! Na los, wird’s bald!»

Groh stand einfach nur da. Hinter Butterfield sah er die dunkle Masse von Bulgakovs Körper. Schwarzes Sweatshirt, schwarze Jeans, schwarzer Ledermantel und braune Springerstiefel. Mit denen er sich lautlos bewegte.

«Mein Partner steht hinter Ihnen. Er hat eine Pistole. Damit wird er Sie töten. Es sei denn, Sie tun, was ich sage.»

Butterfield lachte nervös. Verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den andern. Hob abwechselnd die linke und die rechte Schulter.

«Ja. Na klar. Runter auf den Boden!»

Bulgakov drückte dem Bullen die Öffnung des Schalldämpfers in den Nacken. Er zuckte zusammen und schrie, als ob das Metall glühend heiß wäre.

«Geben Sie mir die Pistole», sagte Groh. «Mit dem Griff zuerst.»

Seine Hände zitterten jetzt so stark, dass ihm die Pistole beinahe hingefallen wäre, als er sie umdrehte und Groh überreichte.

«Auf die Knie.»

Mit abgewandtem Gesicht ging er hinunter auf die Knie. Wie ein armer Sünder, der sein Schicksal in Gottes Hände legt.

«Töten Sie mich nicht. Bitte.»

Er schwankte hin und her. Groh stand vor ihm, Bulgakov hinter ihm.

«Woher wussten Sie, dass wir hier sind?»

«Ich habe eine Frau. Ich habe ein kleines Baby. Einen Jungen!»

«Beherrschen Sie sich und hören Sie zu. Wenn Sie am Leben bleiben wollen.»

«Jawohl, Sir. Jawohl, Sir. Hab verstanden.»

«Woher wussten Sie, dass wir hier sind? Hat Sie jemand angerufen? Wenn ja, wer war es?»

«Niemand hat angerufen. Ich bin nur vorbeigefahren. Ich überprüfe die Adresse hier regelmäßig. Wegen dem, was letzte Woche passiert ist. Etwas stimmte nicht.»

«Und was war das?»

«Die Vorhänge. Die Vorhänge im Wohnzimmer. Sie waren zugezogen. Vorher waren sie offen. Bitte tun Sie mir nichts! Wir wollen doch zusammen in Urlaub fahren, nach Branson in Missouri. Nächste Woche!»

«Haben Sie Unterstützung angefordert?»

«Wie?»

«Ob Sie Unterstützung angefordert haben!»

«Nein. Nein, Sir, bestimmt nicht.»

«Noch einmal, aber jetzt die Wahrheit. Haben Sie Unterstützung angefordert?»

Groh konnte sehen, wie der Gedanke an eine List in seinen Augen aufblitzte.

«Ja, Sir. Natürlich habe ich das. Draußen stehen sechs bis acht Leute und warten auf Sie. Die machen Sie fertig, wenn Sie nicht aufgeben.»

Groh hob den Blick von Butterfield zu Bulgakov. Es war kein Nicken, sondern nur ein Blick, aber Butterfield wusste, was er bedeutete. Er fing an zu keuchen und ließ den Kopf hängen, als ob er zu schwer für seinen Hals geworden wäre. Wie bei einem Riesenbaby. Groh roch Urin und sah, dass Butterfield sich eingenässt hatte.

Bulgakov griff in seinen Stiefel. Butterfield warf einen Blick nach hinten.

«O Gott! Ach du verdammte Scheiße!»

Bulgakov hatte in einer ungewöhnlich redseligen Stimmung einmal davon erzählt, wie er in Tschetschenien Gefangene getötet hatte. Er hatte den Kopf mit dem Stiefel zu Boden gedrückt und dann die Kehle durchschnitten, bis er auf die Schlagader traf. Eine effektive Methode, aber schmutzig. Es konnte passieren, dass man über und über mit Blut bespritzt wurde. Er hatte dann einen besseren Weg gefunden, bei dem kaum Blut floss. Die bekam Groh jetzt zu sehen. Bulgakov schlug Butterfield die Mütze herunter, drückte seinen Kopf nach unten, das Kinn zur Brust. Dann stieß er ihm das Messer in den Nacken, dort, wo die Wirbelsäule im Schädel endet, und schob die Klinge hinauf ins Hirn.

Butterfield seufzte und fiel vornüber. Zuckte noch einmal und war tot.

Groh nahm seine Taschenlampe vom Bett.

«Okay, Dima. Mach schnell. Aber keine Hektik.»

Sie schlossen die Wohnungstür hinter sich und brachten das Polizeisiegel wieder an. Dann gingen sie die Treppe hinunter, beide mit der Waffe in der Hand. Am Ende des Treppenhauses standen sie plötzlich einem weiteren Polizisten direkt gegenüber, er war sehr dick und kam den Gang entlang. Wegen der Kälte trug er einen schweren Wollmantel, der nicht zu seiner blauen Uniform passte. Auch er hielt die Waffe in der Hand, war aber so überrascht, als Groh und Bulgakov sofort auf ihn schossen, dass er vergaß, sie zu benutzen. Doch er fiel nicht um. Mit leicht vorgestreckten Armen stand er da und nahm Schuss um Schuss entgegen, als wollte er einen Rekord aufstellen, wie lange man sich unter Beschuss aufrecht halten kann. Vielleicht lag das an der Kombination aus Mantel, Körperfett und der durch die Schalldämpfer reduzierten Schlagkraft ihrer Waffen. In Anbetracht dessen, was ihm gerade widerfuhr, gab er merkwürdig leise Geräusche von sich. Ah! Ah! Ah! Als stünde er vor dem Badezimmerspiegel und würde sich mit einer Pinzette die Nasenhaare entfernen. Mit einer Kugel in die Stirn war dann alles vorbei.

«Markus!»

Bulgakov zeigte zur anderen Straßenseite. Dort stand ein Mann mit seinem Hund unter der Laterne. Er starrte sie an. Dann waren Mann und Hund verschwunden.

Für einen Schuss war die Entfernung viel zu groß. Bulgakov rannte ihm nach, vorbei an den beiden Streifenwagen, die vor dem Haus standen.

Der Mann hörte Bulgakovs Schritte auf dem Pflaster. Erkannte mit Schrecken, dass einer der Mörder ihn verfolgte. Sein Hund, ein brauner, mittelgroßer Köter, lief an der Leine neben ihm her, seine langen Ohren wackelten.

«Los, Lewis, lauf!»

Sie erreichten die Straßenecke und bogen ab. Er war Apotheker, konnte nachts schlecht schlafen. Vor zwanzig Jahren war er Läufer bei den Brady Bobcats gewesen und hatte sich einigermaßen fit gehalten, er trug Turnschuhe und lief ziemlich schnell. Er drehte sich um, sah Bulgakov um die Ecke kommen, er wedelte mit den Armen und fuchtelte wütend mit seiner Pistole herum, die im Licht einer Straßenlaterne schimmerte. Der Mann begriff: Er war schneller als er und kam näher. Er schrie zu den stillen Häusern hinüber: «Hilfe! Hilfe! Ruft die Polizei! Ruft die Polizei!»

Die Luft an seinem Ohr knackte, als eine Kugel vorbeiflog. Er dachte Ich werde beschossen, dabei stolperte er und verlor die Leine, als er mit rudernden Armen versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Dann traf ihn eine Kugel in den Rücken. Er fiel hin und rollte über die Straße. Das raue Pflaster zerkratzte sein Gesicht, aber das spürte er nicht. Er stemmte sich hoch auf Hände und Knie. Sechs Meter vor ihm wartete sein Hund. Er drehte sich um und bellte, wusste nicht, was er tun sollte. «Lauf, Bursche!», wollte er rufen, aber er brachte nur ein Flüstern hervor. Dann stand Bulgakov über ihm. Die Pistole ploppte zweimal leise, und der Apotheker sackte zusammen.

Bulgakov keuchte. Kondensierter Atem strömte aus seinem Mund. Er hob die Patronenhülsen auf, die auf die Straße gefallen waren. Der Hund lief hin und her und bellte, im Umkreis schlossen sich weitere Hunde solidarisch an. In einem Haus ging Licht an. Bulgakov steckte die Patronenhülsen in die Tasche und sah den Hund an.

Hinter ihm kamen Scheinwerfer um die Ecke. Er drehte sich um und sah ihnen entgegen. Bereit zu töten. Aber es war Groh mit dem Neon.

«Los, Dima! Schnell!»

Bulgakov sprang hinein, und der Wagen fuhr mit heulendem Motor davon.

Lewis lief zurück zur Leiche des Apothekers, seine Leine zog er hinter sich her.

 

Gray konnte nicht einschlafen. Er lag im Bett und sah sich alte Filme an. Nancy Drew and the Hidden Staircase.

Der Schlittenhund saß in der Nähe der Tür auf dem Boden und kaute auf dem Nylabone-Knochen herum, den Gray ihm gekauft hatte. Jetzt stand er auf, streckte sich und kam zum Bett herüber. Er sah zu Gray empor. Sein eines Auge war vernarbt und trüb, das andere leuchtend braun.

«Komm ruhig rauf, Bursche. Na los, spring.»

Er klopfte aufs Bett, und der Hund sprang herauf. Er ging zum Fußende, drehte sich ein paarmal hin und her und ließ sich dann fallen. Den Kopf legte er auf Grays Knie. Er blinzelte, dann wurden seine Augenlider schwer. Er gab einen Seufzer von sich. Manchmal klingt ein Seufzer angestrengt, aber das war hier nicht der Fall. Es war eindeutig ein Seufzer vollständigen Wohlbefindens.

Gray wünschte sich, dass auch seine Welt so naiv und klar geordnet wäre wie die von Nancy Drew. Die Ereignisse des Vormittags liefen wieder und wieder in seinem Kopf ab. Vielleicht hatte Gina recht, und es war keine gute Idee gewesen, den Hund zu retten. Vielleicht war es nicht richtig gewesen, Luke allein zurück ins Motel zu schicken – nicht, weil es gefährlich war, sondern weil Gina ihm die Verantwortung übertragen hatte und das nicht wollte. Wenn man erst einmal die Schwelle zur Gewalt übertreten hat, kann so gut wie alles passieren. Es hätte ganz anders ausgehen können. Der Typ mit dem Tattoo hätte anstelle des Totschlägers eine Pistole haben können, dann wäre er jetzt tot.

Letztendlich fand Gray, dass alles ganz gut gelaufen war. Er wusste, dass niemand sich aussuchen kann, für wen oder was er bereit war zu sterben. Das Schicksal trifft die Wahl.