Donnerstag
Stimmt etwas nicht, Mr. Pat?»
Er stand am Küchentresen und schenkte sich einen Becher Kaffee ein.
«Gar nichts stimmt, verdammt noch mal.»
Sie ging zu ihm und legte ihm die Hand auf die Brust. Sah ihn mit diesen übernatürlich großen dunklen Augen an. Sie wusste, dass sie ganz einfach hinreißend aussah.
«Erzählen Sie es mir. Sagen Sie es Eliana.»
«Ach, mach dir keine Sorgen. Ich kriege das schon hin.»
Er ging mit seinem Kaffee hinüber zum Eichentisch. Von dort sah man hinaus auf die Terrasse und den Garten. Er pustete in seinen Kaffee und nippte daran, dabei dachte er über den Anruf nach, den er gerade erhalten hatte. Mr. Li hatte ihn über das gestrige Debakel informiert.
Er konnte einfach nicht glauben, dass Gina schon wieder entwischt war und jetzt wahrscheinlich irgendeinen Highway entlangfuhr und sich kaputtlachte, die Fotze. Und Luke war bei ihr; außerdem noch dieser geheimnisvolle Beschützer, der Mr. Lis beste Leute, die Russen, vorgeführt hatte wie ein paar Schuljungen.
Es war ein kalter, stürmischer Tag auf Todt Hill. Immer wieder hatte es Regenschauer gegeben. Im Garten lagen modrige Blätter zu Füßen der Bronzestatuen. Durch den Einfluss der Elemente wurden die Statuen von Patina überzogen, wurden dunkel und stumpf. Engel und Heilige und die Jungfrau Maria, die um ihren toten Sohn weinte. Dabei war das Ganze im Grunde eine Farce. Er war nicht wirklich tot, denn schließlich war Er Gottes Sohn und würde drei Tage später wiederauftauchen. Worin bestand dann zum Teufel überhaupt der große Verlust? Wenn Pat the Cat starb, wäre er nach drei Tagen nicht wieder da, er wäre ein Stück Abfall, das in der Erde verfaulte. Wer würde um ihn schon weinen? Seine armselige Frau mit ihrem halben Hirn? Die kleine Latinotusse, die so tat, als würde sie ihn lieben, aber nur darauf aus war, ihm eines Tages noch den letzten Nickel abzuluchsen? Sein Wichser von einem Sohn in Lewisburg? Bobby Quasimodo?
Luke. Luke würde um ihn weinen. Er war sensibel, vielleicht ein wenig zu sensibel für einen Jungen. Einmal hatte er geweint, weil ein toter Vogel in der Vogeltränke gelegen hatte. Er liebte seinen Opa und würde bestimmt eines Tages um ihn weinen.
«Ich mache Ihnen Frühstück», sagte Eliana. «Arepas. Die mögen Sie doch. Mit Perico.»
«Ich habe keinen Hunger. Mein Magen tut weh. Ich habe bestimmt Magenkrebs, wie mein Vater.»
«Oh nein, Sie kein Krebs, Mr. Pat. Wie dumm. Sie dummer Junge.» Sie streckte den Arm aus und wuschelte ihm durch die wenigen Haare, die er noch hatte. Pat musste lächeln.
«Eliana?»
«¿Sí?»
«Liebst du mich?»
«Aber ja, Mr. Pat, viel Liebe.»
Sie wollte sich gerade vorbeugen und ihn küssen, als sie Latreece kommen hörten. Eliana fiel sofort in die Rolle eines eifrigen Dienstmädchens zurück.
Latreece sang leise ein Lied von Bob Marley, «Three Little Birds». Sie war fröhlich, denn ihre Biopsie war negativ ausgefallen. Der Tod hatte wie ein böser Gnom auf ihrer Schulter gesessen, ihr in den Nacken gekniffen und an ihren Haaren gezerrt, und dann, puff!, war er weg. Sie schenkte Cicala und dem Mädchen ein abwesendes Lächeln; ein Teil von ihr wusste, dass da etwas lief, der andere Teil wollte nichts davon wissen. Sie hantierte in der Küche und machte Frühstück für sich und Millie Cicala.
In der Hängelampe über dem Tisch, an dem Cicala saß, war ein elektrisches Gerät versteckt. Obwohl er auf paranoide Weise vorsichtig war, wurde er seit mehr als einem Jahr erfolgreich abgehört. Irgendwo in der Stadt saß ein Mann in einem kleinen Zimmer, mit Kopfhörern auf dem Kopf und einem leeren Blick in den Augen, und hörte Latreece singen: «Every little thing gonna be all right!»
Am einen Ende der Wüste ging die Sonne auf, als Gray am anderen Ende die Schlange beerdigte. Breite braune Streifen wechselten sich mit schmalen cremefarbenen ab. Er nahm an, dass sie bei der Jagd auf Beute in den Pool gefallen und eingegangen war, weil sie nicht wieder hinauskonnte.
Der Schlittenhund sah zu, wie er die Schaufel in den harten Boden rammte; es klang, als stieße sie auf Metall. Dann hörte er die krächzenden Schreie der Krähen. Sie zogen ein Stück weit entfernt ihre Kreise, ganz dunkel im Gegenlicht. Er hatte Krähen immer geliebt. Sie waren frech, klug und tapfer, und sie schienen das Leben zu lieben. Sie würden noch immer herumflattern und herumstolzieren, als würde ihnen die ganze Welt gehören, wenn der letzte Mensch schon längst zu Staub zerfallen war.
Luke kam auf sie zu. Schwanzwedelnd lief ihm der Hund entgegen.
«Morgen», sagte Gray.
«Morgen.» Luke gähnte und streichelte den Hund. Er sah das Loch und die Schlange daneben. «Was machst du da?»
«Die Schlange beerdigen.»
«Warum?»
«Ich wollte sie nicht im Pool liegen lassen. Ich glaube, deine Mutter fand das eklig.»
«Aber warum beerdigst du sie?»
«Keine Ahnung. Was würdest du denn tun?»
«In den Müll werfen, oder?»
«Sie ist aber doch kein Müll.»
«Es ist nur eine tote Schlange.»
«Ich finde, jedes Leben sollte respektvoll behandelt werden.»
«Und wie war das mit dem Kerl gestern? Auf dem Parkplatz?»
«Was soll mit ihm sein?»
«Den hast du nicht respektvoll behandelt.»
Gray hörte auf zu graben, lehnte sich auf den Stiel der Schaufel und dachte nach.
«Ich habe getan, was ich tun musste, um dich, deine Mutter und mich zu verteidigen.»
Er fand, dass das Loch jetzt tief genug war. Nahm die Schlange und legte sie hinein. Luke rümpfte die Nase.
«Wie kannst du das nur anfassen?»
Gray zuckte mit den Schultern und fing an, Erde auf die Schlange zu schaufeln.
«Was ist das für eine?», fragte Luke. «Eine Klapperschlange?»
«Nein, eine Königsnatter. Die fressen Klapperschlangen.»
«Wow, und sie sterben nicht an dem Gift?»
«Sie sind immun dagegen.»
Gray trat auf das Schlangengrab und trampelte die Erde fest. Einen Moment lang schien der untere Rand der Sonne direkt auf dem Horizont zu liegen. Es wirkte fast, als wäre sie nicht etwa Millionen von Meilen entfernt, sondern einfach nur ein großes, leuchtendes Etwas da draußen in der Wüste. Etwas, zu dem man hingehen konnte, um es sich anzuschauen und zu bestaunen.
Sie gingen zurück zum Haus. Die schmalen Schatten des Mannes, des Jungen und des Hundes lagen lang gestreckt vor ihnen.
«Ist deine Mom schon aufgestanden?»
«Nein. Ich glaube, sie schläft noch.»
«Sie muss ganz schön müde sein. Gestern war ein langer Tag.»
«Ja.»
«Hungrig?»
«Ja!»
«Ich auch. Magst du Haferflocken?»
«Na ja, geht so.»
«Ich habe mein eigenes Rezept, das schmeckt dir bestimmt. Soll ich dir zeigen, wie es geht?»
«Okay, aber …»
«Aber?»
«Wäschst du dir vorher die Hände?»
Gray lachte. «Klar doch.»
Eine braune Rauchwolke hing über dem Land. Aschebröckchen flogen durch die Luft, wie grauer Schnee aus der Hölle. Es war neun Uhr morgens und schon über 30 Grad.
Mit der Sonne im Rücken gingen Groh und Bulgakov die Alejo Avenue entlang. Groh trank Gatorade. Bulgakov trug eine Baseballmütze, die den größten Teil seines Verbands bedeckte.
«Alles klar?», fragte Groh.
«Frag mich nicht alle verdammten fünf Minuten.»
«Na gut, aber wie geht’s dir denn nun?»
«Als hätte mir einer in den Kopf geschossen.»
Eine Frau kam auf sie zu, sie führte ihren kleinen Hund aus. Mit einem freundlichen Lächeln sprach Groh sie an.
«Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie belästige, aber wir suchen ein paar Freunde.»
«Ja?», sagte sie, ebenfalls mit einem Lächeln. Eine üppige Rothaarige in den Fünfzigern. Ihr Hund begann, die Männer anzubellen. «Pogo! Sei still!»
Groh gab ihr die Fotos von Gina und Luke und eins der drei Steckbrieffotos von Gina und Gray. Ter Horst und die Lingos hatten die anderen beiden.
«Wir wollten uns mit ihnen treffen», sagte Groh, «aber es hat wohl ein Missverständnis gegeben. Ihre Telefonnummern haben wir leider verloren. Kennen Sie sie oder sind ihnen schon mal begegnet?»
«Hm», sagte sie und runzelte die Stirn. «Ich fürchte, sie kommen mir nicht bekannt vor.» Sie gab die Fotos zurück. «Tut mir leid.»
«Ach, das macht nichts. Wahrscheinlich laufen sie uns hinter der nächsten Ecke schon über den Weg.»
Ein Windstoß riss die Mütze von Bulgakovs Kopf. Er lief hinterher, um sie aufzuheben. Die Frau sah den Verband.
«Oh, was ist denn mit Ihrem armen Kopf passiert?»
«Ein leichter Verkehrsunfall», sagte Groh.
Pogo wurde plötzlich wieder ganz aufgeregt.
«Pogo!», sagte die Frau. «Böser Hund! Still!»
Groh sah ihn sich an. «Was für ein Hund ist er denn?»
«Eine Kreuzung aus Pudel und Zwergspitz. Stimmt’s, Pogo?»
«Nun, haben Sie vielen Dank. Noch einen schönen Spaziergang.»
«Ich hoffe, Sie finden Ihre Freunde.»
«Wir finden sie. Da bin ich sicher.»
Groh und Bulgakov sahen der Frau nach, wie sie mit ihrem Hund davonging. Sie machte große Schritte, und der Hund trippelte angestrengt, um mitzukommen.
«Was für ein netter Hund», sagte Groh.
Bulgakov grunzte.
«Magst du keine Hunde, Dima?»
«Schon okay. Aber das Fett muss man abschneiden, das schmeckt bitter.»
Sie fuhren die halb ausgestorbene Hauptstraße von Tejada Springs hinunter und gingen in den Lebensmittelladen an der Tankstelle, um Milch, Käse, Brot, Eier, Obst, Gemüse und Honey Nut Cheerios zu kaufen, diese Sorte mochte Luke am liebsten.
Der Verkäufer trug ein oranges T-Shirt mit der Aufschrift HAPPY CAMPER 1980; seine Haut und das Weiße im Auge waren gelb, die Leber war wohl nicht in Ordnung. Er schaute an Gray vorbei durch das schmierige Schaufenster nach draußen.
«Ist das nicht Norm Hopkins’ Auto?»
«Ja», sagte Gray beim Geldabzählen.
«Wo ist Norm denn?»
«In L.A.»
Die gelben Augen des Mannes musterten Gina, Luke und den Hund.
«Sind Sie Freunde von Norm?»
«Ja.»
«Toller Typ, Norm.»
«Das ist er, auf jeden Fall.»
Der Mann öffnete die Registrierkasse und gab Gray das Wechselgeld.
«Zu Besuch hier? Oder nur auf der Durchreise?»
«Zu Besuch.»
«Draußen in Normans Haus?»
«Genau.»
«Wissen Sie, das war früher mal der Country Club. Filmstars haben da Golf gespielt. Bing Crosby soll mal da gewesen sein. Und angeblich hat Marilyn Monroe um Mitternacht nackt im Pool gebadet.»
Sie gingen zurück zum Wagen.
«Warum hast du dem neugierigen Arschloch erzählt, wo wir wohnen?», fragte Gina.
«Das ist eine kleine Stadt», sagte Gray. «Da weiß sowieso jeder, dass wir da draußen sind. Zu lügen hätte uns nur verdächtig gemacht.»
«Genau, Mom», sagte Luke. «Gray hat alles unter Kontrolle.»
«Was bin ich doch nur für ein Dummchen», sagte Gina. «Hab ganz vergessen, dass Gray so ein Genie ist. In Zukunft sage ich lieber gar nichts mehr.»
«Richtig, Mom. Au! Hör auf!»
Sie hatte sich sein Ohr geschnappt und zog daran. Gray lachte. Dann sah er die Vögel, draußen über der Wüste. Zu Dutzenden ließen sie sich langsam im Kreis treiben. Ein harmloser Luftwirbel. Überrascht merkte Gray, dass es Möwen waren. Dass sie hier waren, so weit vom Meer entfernt, ergab keinen Sinn.
DeWitt saß mit geschlossenen Augen auf der Kommode. Er stellte sich vor, er hätte Sex mit Dee auf der antiken Tagesdecke. Dann kam er mit einem Stöhnen, und die schönen Bilder verblassten. Er öffnete die Augen.
Er stand auf, ging zum Becken und wusch sich die Hände. Im Spiegel sah er sein Gesicht. In letzter Zeit war es besser geworden, aber seit gestern sah seine Haut wieder schlimm aus. Kein Wunder, die Akne reagierte auf seine Stimmung. Wenn er erregt war, wurde sie schlimmer. Und Dee erregte ihn.
Die Akne hatte ihm die Teenagerjahre verdorben, aber er hatte gehofft, mit zwanzig würde sie verschwinden, wie bei allen anderen auch. Jetzt war er dreißig, und sie war so schlimm wie eh und je. Die besten Hautärzte von Oklahoma waren ratlos und gaben sich geschlagen. Er hatte es mit Kräutern versucht, mit Akupunktur, Homöopathie und Hypnose, und er war sogar zu einem Wunderheiler gegangen, der es hinbekam, dass verkrüppelte alte Männer aus ihren Rollstühlen hüpften und Jig tanzten. Aber nichts hatte geholfen. Und deshalb würde er nie ein Mädchen wie Dee haben können, außer in seinen armseligen feuchten Träumen.
Sein Handy klingelte. Es war Groh.
«Wie geht’s ihr? Gibt’s Probleme?»
«Es geht ihr gut», sagte DeWitt. «Gar keine Probleme.»
«Gut. Ihr Vater will ein Lebenszeichen. Ruf ihn bitte an. Auf ihrem Handy. Mach es kurz.»
DeWitt setzte die Skimaske wieder auf und ging ins Wohnzimmer. Sie war am Sofa festgebunden. Sein neuer großer HD-Fernseher hatte es ihr angetan, mit seinen unzähligen Kanälen. Jetzt gerade hatte sie einen Shoppingkanal eingeschaltet. Ein alterndes Supermodel versuchte, eine Hautpflegeserie unter die Leute zu bringen, mit geheimem Tri-Peptid-Komplex.
«Davon bestelle ich was», sagte Dee.
Er nahm den Block und schrieb: sei nich blöt. daine haut is zaat wien kinderpopo.
«Wie lieb von dir. Du bist zwar ein Lügner, aber lieb.»
Sie flirtete mit ihm, aber er ließ sich nicht reinlegen. Sie war seine Gefangene, ihr Leben und ihr Schicksal hingen von ihm ab, deshalb war sie natürlich nett zu ihm. Vielleicht hoffte sie, dass er nicht mehr richtig aufpasste und sie abhauen könnte, aber dazu würde es niemals kommen. Er war stolz darauf, jeden Auftrag exakt auszuführen, egal, was es war. Tu, was man dir sagt. Das war das Schöne am System. Sie brauchten Leute von jeder Sorte. Kaltblütige Auftragsmörder wie Smith-Jones und Jones-Smith und unkomplizierte Typen wie ihn als Mädchen für alles.
Er löste ihr die Fesseln an den Hand- und Fußgelenken. Wenn er im Raum war, ließ er ihr etwas mehr Freiheit. Das war sicher in Ordnung, solange er ihr nicht den Rücken zudrehte.
«Puh», sie seufzte und rieb sich die Handgelenke, «danke!»
Er schrieb auf den Block: ich ruhfe dain dädi an. pass auf, wassu saaks.
«Klar, ich pass auf, keine Angst.»
Er tippte die Nummer und hörte ter Horst: «Kleines? Bist du das? Dee? Hallo!»
Er gab Dee das Telefon.
«Daddy?»
«Dee! Mein Schatz! Geht es dir gut?»
«Mir geht’s gut, Daddy», sagte sie, und dann musste sie weinen.
«Warum weinst du denn?»
«Weiß ich selber nicht, Daddy. Du fehlst mir.»
«Du fehlst mir auch, Kleines. Bald kannst du wieder nach Hause, glaub mir.»
«Okay.»
«Wie behandeln sie dich? Sie tun dir doch nicht mehr weh, oder?»
«Keiner tut mir was. Sie sind nett zu mir.»
«Weißt du, wo du jetzt bist? Wie viele sind bei dir?»
Dee sah hinüber zu dem Mann mit der Maske. Seine blauen Augen fixierten sie. Manchmal glaubte sie, dass er niemals blinzelte.
«Dee?»
«Das kann ich nicht sagen.»
DeWitt streckte die Hand nach dem Telefon aus.
«Ich muss Schluss machen.»
«Dee – warte –»
«Tschüs, Daddy.»
«Dee!»
Die Verbindung war tot.
«Mist», sagte ter Horst.
Er lag auf dem ungemachten Bett in der klimatisierten Schachtel von einem Motelzimmer in Mar Vista. Zu schwach, um mit den andern nach King Beach zu gehen. Sein Herz schlug wie eine Pauke.
Der Fernseher lief. Er ließ ihn die ganze Zeit laufen. Es war wie ein Kamin, in dem immer ein Feuer brannte. Die Brände hatten sich seit gestern ausgebreitet und an Macht zugenommen. Egal, welchen Sender er einschaltete, dem Feuer zuzuschauen war wie eine Art Hypnose. Es kam ihm vor, als würde auch er verbrennen.
Er stand auf, ging zum Fenster und schob die Vorhänge zur Seite. Sah zu, wie der Wind den Washington Boulevard entlangfegte.
Heute wurde McGrath beerdigt, wahrscheinlich genau jetzt. Er hatte im Büro angerufen und mit Linda, der Sekretärin ihrer Abteilung, gesprochen. Er hatte gesagt, er könne nicht kommen, weil er mit Schweinegrippe im Bett liege. Das sollte aber keiner wissen. Das Gute an Handys war, dass niemand sehen konnte, von wo man anrief.
Er erinnerte sich, wie niedergeschlagen Doug gewesen war, als Alison krank wurde. Er hatte sich betrunken und geweint, und er hatte ihn vorher noch niemals weinen sehen. Krebs. Eine fürchterliche Geschichte. Alison war immer so schön gewesen wie eine zarte Blume, und jetzt begann sie zu welken.
Leben.
Tod.
Manchmal schien es so kompliziert zu sein, dabei war es ganz einfach. Gott schuf Adam und Eva mit perfekten Körpern und einem makellosen Immunsystem. Kein Krebs, keine Herzkrankheiten, Diabetes, Wundstarrkrampf. Sie hätten ganz einfach im Paradies im Schatten liegen und bis in alle Ewigkeit ihre perfekten Körper ficken können. Doch Eva hörte auf die Schlange, anstatt auf Gott. Und jetzt werden wir krank und sterben wie erbärmliche Tiere, werden überfahren oder ermordet oder vom Blitz erschlagen. Das alles war Evas verdammte Schuld.
Er hatte Ziele aufgestellt: drei Pappkartons, auf die er konzentrische Kreise gemalt hatte. Er war eingerostet; die Tatsache, dass er den Kerl an der Hügelstraße nicht getötet hatte, war der Beweis.
Er wusste von fünf Männern, die sie verfolgten. Der Typ im Hawaiihemd war jetzt keine Bedrohung mehr. Frank ter Horst. Ein Polizeibeamter mit wahrscheinlich zumindest gewissen Fähigkeiten. Dann der Trampel mit dem massigen Körper und den kurzen Beinen, der in seine Windschutzscheibe geschossen hatte. Da er ihn verfehlt hatte, war er wohl eher ein Feld-, Wald- und Wiesen-Gauner als ein wirkliches Talent. Und der blonde Typ, den er im Rückspiegel gesehen hatte, als er den Kriminellen niederschlug, der auf sie geschossen hatte. Sie sollten also nicht einfach umgebracht werden, sondern mindestens einer von ihnen, mit ziemlicher Sicherheit Luke, sollte lebend gefangen werden. Er wusste nicht, wie ernstzunehmend der Blonde war, aber es würde ihn nicht wundern, wenn er genauso viel draufhatte wie der Kerl mit dem Bürstenhaarschnitt, der nicht nur deshalb noch am Leben war, weil Gray eingerostet war, sondern weil er mit einer verblüffenden Geschwindigkeit reagiert hatte.
Es waren also vier übrig, über die er Bescheid wusste, und vielleicht gab es noch andere. Vielleicht viele andere. Vielleicht würden sie über ihn herfallen wie damals am Präsidentenpalast von Kangari. Eine ganze Horde war auf dem üppigen, perfekten Rasen auf ihn zugekommen, so verrückt von Palmwein und Kokain, dass sie glaubten, seine Kugeln könnten ihnen nichts anhaben. Die blauen und gelben Echsen waren vor ihnen davongelaufen.
Er hatte die Ziele in einer tiefen Schlucht aufgestellt, nördlich von Normans Golfplatz und südlich von ein paar verwitterten Hügeln. Er schoss nicht einfach in aufrechter Haltung, sondern im Liegen und Hocken. Er schoss, während er auf die Ziele zulief. Stellte sich mit dem Rücken zu ihnen, wirbelte dann herum und schoss. Sprang zur einen Seite und schoss, sprang zur anderen und schoss, machte fünfundzwanzig schnelle Liegestütze und richtete sich auf und schoss, machte einen Salto und schoss, schoss mit geschlossenen Augen, spritzte sich Wasser in die Augen und schoss, zog die Waffe wie Wyatt Earp und schoss und lud nach und drehte sich im Kreis herum wie ein Kind, bis ihm schwindlig wurde, und schoss.
Eine Sache hatte der Major ihm eingetrichtert. In einem Kampfeinsatz tut man nichts, was man vorher nicht schon mal probiert hat. Zumindest nicht erfolgreich.
Luke spitzte die Ohren. Das ferne Ploppen der Glock war kaum hörbar.
«Warum darf ich nicht zuschauen?», fragte er.
«Darum», sagte Gina.
Sie saß an der runden Bar, nippte am Wein und blätterte in einer zwei Jahre alten Ausgabe von Vanity Fair. Las die Anzeigen. Sah sich die überirdisch schönen männlichen und weiblichen Models an.
Luke kam von der Glaswand herüber zu ihr an die Bar, der Hund folgte ihm.
«Wie lange bleiben wir noch hier?», fragte er.
«Weiß ich nicht.»
«Ich weiß nicht, was ich tun soll.»
«Lies, schau fern. Oder soll ich dir Unterricht geben? Wie viel ist acht mal acht?»
Luke antwortete nicht. Sah zu, wie seine Mutter Wein trank.
«Wirst du jetzt Alkoholikerin?»
«Nein.»
«Kann ich ein bisschen Wein haben?»
«Natürlich nicht. Spinnst du?»
«Jeffs Eltern erlauben ihm, am Passah-Fest Wein zu trinken.»
«Jetzt ist kein Passah-Fest. Wir sind keine Juden. Du bist nicht Jeff.»
Luke ging mit dem Hund in sein Schlafzimmer. Er warf sich aufs Bett, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und sah zur glänzenden Decke hinauf.
Er fuhr mit dem Skateboard. Der Hund lief neben ihm her. Sie erklommen einen Hügel. Unter sich sahen sie Gray.
Er hatte Ärger, war umgeben von Schurken. Er kämpfte tapfer, aber die Munition ging ihm aus.
«Komm schon, Bursche!», sagte Luke.
Er sauste den Hügel hinunter, schneller als jemals zuvor in seinem Leben. Der Hund lief neben ihm. Die Räder des Skateboards donnerten über die Straße. Der Hund bellte. Luke zog die Pistole und schoss drauflos.
Gray sah den Hügel hinauf und grinste.
«Luke!», rief er.
Die Gangster schossen auf Luke. Er hörte die Kugeln vorbeizischen. Er ging in die Hocke und schoss weiter. Ein Gangster schrie auf und fiel zu Boden, dann noch einer.
Gray hatte keine Patronen mehr und setzte jetzt seine Qigong-Techniken gegen sie ein.
Der Hund stürzte sich auf einen der Kriminellen und schlug die Zähne in seine Kehle.
Luke sauste mit dem Skateboard zwischen den Gangstern hindurch. Zwei feuerten auf ihn, aber er duckte sich, und sie erschossen sich gegenseitig!
Die überlebenden Gangster liefen fort.
«Das war knapp, Luke!», sagte Gray. «Danke, dass du mich gerettet hast!»
«Schon okay!», sagte Luke.
Der Hund bellte, Luke und Gray lachten –
Bei Hitze und Wind, Rauch und Asche waren sie unterwegs. Nur Fehlanzeigen, wenn sie den Leuten die Fotos zeigten. Jeder, den sie ansprachen, wollte am liebsten sofort weglaufen, als wären sie Gevatter Tod und sein Gehilfe.
Ronnie hinkte ein wenig. Dort, wo ihn der Honda erwischt hatte, war sein linkes Bein verletzt und geschwollen.
«Dad, ich habe Durst.»
«Hier», sagte Mac Lingo und warf ihm eine große Plastikflasche Dr. Pepper zu.
«Nicht so was. Ich will ein Bier.»
Sie gingen in den Harbor Room. Auf einem Schild stand: Die kleinste Kneipe in Los Angeles. Sie setzten sich an den Tresen und bestellten Bier vom Fass. Die Kneipe war wirklich ziemlich klein. Fast ein Viertel des Raums ging schon für Ronnie drauf.
«Du hast einen Schnurrbart», sagte Ronnie.
Lingo grinste und fuhr sich langsam mit der Zunge über die Oberlippe.
«Schau dir die mal an, Chef», sagte er zum Barkeeper. «Kommen dir die bekannt vor?»
Der Barkeeper runzelte die Stirn. Zuckte mit dem Kopf, als er Gina ansah.
«Ich weiß nicht. Sie vielleicht.»
«Echt?», sagte Lingo. «Schon mal gesehen? Ist sie hier drin gewesen?»
«Nein, hier drin bestimmt nicht. Vielleicht bin ich ihr auf der Straße begegnet. Bin mir nicht sicher, vielleicht wünsche ich mir auch nur, sie gesehen zu haben. Ist ja wirklich scharf.»
Lingo musterte das Foto voller Zuneigung, als wäre er Ginas liebender Vater.
«Ja, das ist sie. Was für ein hübsches Mädel! Stimmt’s?»
«Haben Sie sie gesehen oder nicht?», fragte Ronnie. «Jetzt mal ’ne klare Antwort!»
«Ich glaube nicht, dass ich sie kenne», sagte der Barkeeper und sah sich die Lingos genauer an. «Warum wollt ihr das eigentlich wissen?»
«Wir sind Privatdetektive», sagte Lingo. «Hat mit ’nem Fall zu tun.»
«Verstehe», sagte der Barkeeper und beschloss, sich um den einzigen anderen Gast in seinem Lokal zu kümmern.
«Dad?»
«Ja?»
«Glaubst du, dass Steve jetzt im Himmel ist?»
«Daran gibt’s ja wohl keinen Zweifel, oder?»
«Was er da oben wohl macht?»
«Keine Ahnung.»
«Meinst du, man kann da fischen und jagen?»
«Weiß ich nicht.»
«Dann hoffen wir’s. Steve ist so gern fischen und jagen gegangen.»
Sie tranken ihr Bier aus, und Lingo zahlte, gab dem Baarkeeper ein gutes Trinkgeld. Als sie aufstanden, kam Norman herein. Er trat zur Seite, um sie vorbeizulassen, aber auf dem engen Raum stießen sie mit ihm zusammen, und er konnte ihre säuerlichen Ausdünstungen riechen. Ronnie starrte ihn an.
«Nen paar üble Burschen», sagte der Barkeeper, als sie am Fenster vorbeigingen.
«Ja?», sagte Norman und setzte sich an den Tresen. «Von denen gibt’s ne Menge in King Beach.»
«Was soll’s denn sein, Norman?»
«Dewar’s, auf Eis.»
Groh schaute sich eins der Harry-Potter-Bücher an. Fand es nicht besonders spannend, aber er war ja auch kein zehnjähriger Junge.
Als sie an der Lagune vorbeigingen, war Bulgakov plötzlich ganz blass geworden und hatte angefangen zu taumeln, sodass er sich ins Gras setzen musste. Groh wollte Dr. Pol Lim anrufen, aber Bulgakov weigerte sich. Als eine Art Kompromiss waren sie ins Motel zurückgegangen, um sich ein wenig auszuruhen. Sie überließen die Suche den rachsüchtigen Lingos. Die richteten wahrscheinlich mehr Schaden an, als etwas zu nützen, aber dagegen ließ sich im Moment nichts machen.
Das Bild verfolgte ihn: Luke mit seiner weißen Baseballmütze, wie er sich durch den Verkehr schlängelt, in wilder Flucht den Lincoln Boulevard hinunter. Er war vor ihm davongelaufen. Wenn er doch nur wüsste, dass Groh ihn beschützen wollte, um ihn sicher zu seinem Großvater zu bringen.
Diesem dreckigen alten Gangster von einem Großvater.
Eigentlich machte er sich wenig Gedanken über das Schicksal von Menschen, mit denen er durch seine Arbeit in Berührung kam, die aber keine Zielpersonen waren. Bei Luke war das anders. Was für ein schönes Kind! Er verdiente es, an einem schönen Ort aufzuwachsen, wo ihm die Bosheit, der Schmutz und die Traurigkeit des Lebens nichts anhaben konnten.
Er spielte mit einem Gedanken.
In seiner Branche wurde man nicht alt. Eines Tages gab es Komplikationen, und man starb, entweder durch die Kugel eines ebenbürtigen Kollegen oder durch einen Trottel, der Glück gehabt hatte.
Vielleicht kam dieser Moment schon bald. Vielleicht war er schon gekommen. Dieser furchtbare Traum, den er im Flugzeug gehabt hatte, das verrückte kleine Mädchen, das auf dem Schoß des widerwärtigen alten Mannes saß. Und dann diese Worte: Wer ohne Mitleid ist, der wird kein Mitleid erfahren! Das war nun wirklich eine klare Warnung.
Er war nicht so wie Dima. Dima genoss den Akt selbst. Groh ging es eher um die Jagd, nicht um das Töten. Diesen Kick konnte er sich bestimmt auch anders verschaffen.
Zum Beispiel, indem er Luke rettete. Ihn einfach vor Cicala und dem System verschwinden ließ.
Es gäbe einen Ort, eine Insel im Südpazifik, abseits der gängigen Routen. Sie gehörte einem australischen Milliardär, den er kannte. Er hatte sie weitgehend unberührt gelassen, ein wahres Paradies. Es gab nur eine kleine Stadt, um die wenigen Touristen zu versorgen, denen er einen Besuch erlaubte, die meisten davon Freunde. Groh hatte oft davon geträumt, sich dorthin zurückzuziehen. Er könnte eine Kneipe aufmachen, das Happy Jack’s. Ein Hawaiihemd tragen und mit den Touristinnen flirten. Luke und er würden dort so glücklich sein. Geld spielte keine Rolle, er hatte einen ganzen Batzen auf geheimen Konten auf den Cayman-Inseln in Sicherheit gebracht.
Dem System würde sein Verschwinden nicht gefallen, ein solcher Rückzug aus dem aktiven Dienst. Eines Tages würde man ihn finden, so wie er schon viele andere gefunden hatte. Oder auch nicht. Vielleicht waren Luke und er für dieses riesige System so unbedeutend, dass sie ihnen entwischen könnten und in Ruhe und Frieden auf ihrer paradiesischen Insel leben würden.
Er saß mit dem Buch im Sessel, die Finger blätterten durch die Seiten. Er lächelte ein wenig. Waren das nur Luftschlösser oder der Beginn großer Veränderungen? Das ließ sich noch nicht sagen.
Es klopfte an der Tür. Er legte das Buch aus der Hand, griff nach der Pistole. Es war nur Bulgakov, der wieder besser aussah.
«Nu davai», sagte er. «Davai naydiom etich yobarei.»
Komm schon, schnappen wir uns die Mistkerle.
Norman hatte viele Bücher. Gray stöberte durch seine Sammlung. Zog dann eins mit einem interessanten Titel heraus. Wanderer.
Geschrieben hatte es der Schauspieler Sterling Hayden. Gray kannte ihn nur in zwei Rollen: als General Jack D. Ripper in Dr. Seltsam und als korrupter Polizeicaptain in Der Pate.
Er nahm das Buch und ein Glas Limonade und ging hinaus auf die Terrasse. Setzte sich in einen Sessel im Schatten.
Das Buch war zum Teil autobiographisch und berichtete von einer Reise, die Hayden 1959 auf seinem Zweimaster Wanderer im Pazifik unternommen hatte.
Erzähl mir nichts von Selbstfindung. Hoffnung gibt es nur, wenn du dich verirrst.
Er las zwanzig Minuten darin. Das Buch gefiel ihm, er wurde aber trotzdem müde.
Er nahm einen Schluck Limonade.
Im Augenwinkel registrierte er eine Bewegung. Zwei Mäuse mit weißen Pfoten rannten an einem Kaktus vorbei.
Es war so still, dass leise Geräusche plötzlich laut wirkten. Die sirrenden Flügel eines Kolibris, der über einige Blüten schwebte. Das Schwanken der Palmwedel im Wind. Das Summen eines Insekts.
Im blauen Himmel trieben einzelne Wolkenfetzen dahin. Es wurde immer heißer. Ein Sperber ließ sich mit der Thermik gleiten.
Passt auf, ihr Mäuse.
Er sah zu, wie der Sperber seine Kreise zog. Das erinnerte ihn an die Möwen, die er am Morgen gesehen hatte. Sehr merkwürdig. Vielleicht waren es gar keine Möwen gewesen, vielleicht war alles nur Einbildung.
Die Augen fielen ihm zu. Er wanderte. Ließ sich treiben. Zog Kreise. Zusammen mit dem Sperber und den Möwen.
Er hörte ein Geräusch und öffnete die Augen.
Gina kam auf die Terrasse. Sie nahm sich einen Sessel und zog ihn ratternd über die Steinplatten, stellte ihn neben Grays Sessel. Sie setzte sich hin und sah ihn an.
«Also dann», sagte sie, «schieß los.»
Einen Monat nachdem er die Highschool beendet hatte, war er zur Armee gegangen. Es gefiel ihm sofort. Er war ein Vorzeigesoldat. 1994 wurde er als Teil der Operation Uphold Democracy nach Haiti geschickt. Sein Auftrag: die bösen Jungs rausschmeißen und durch gute ersetzen. Es passierte nicht viel. Die Demokratie zu verteidigen war langweilig. Seine Einheit und er verließen nur selten das Lager. Sie flüchteten vor der Hitze in den Schatten, rauchten und spielten Karten, und sie beobachteten die verlotterten Haitianer auf der anderen Seite des Zauns.
Er begann, sich nachts alleine fortzuschleichen, wenn die anderen schliefen. Ging, nur mit einer Pistole bewaffnet, in die üblen Slums von Port-au-Prince. Nicht dass er die Waffe gebraucht hätte, denn alle schienen ihn zu lieben. Sie lachten ihn an und umringten ihn, zogen ihn am Ärmel und gaben ihm etwas zu essen und zu trinken. Als ob sein Auftauchen zwischen ihnen ein gutes Omen wäre, für Überfluss und ruhige Zeiten. Dafür, dass ihre Lehmhütten bald nicht mehr durch Schlammlawinen bedroht wurden, dass ihre Kinder nicht mehr an Durchfall starben und nachts keine Männer mit Macheten zu ihnen kommen würden.
Alles war möglich, und so ging er durch die heißen Schwaden der Dunkelheit, die nur hier und da von Lampen oder Feuer beleuchtet wurde. Es hätte eine Welt von vor tausend Jahren sein können. Eines Nachts hörte er in der Nähe des Strands einen Schrei, danach Stimmen und Gelächter. Er ging den Geräuschen nach und bog um eine Ecke. Hinter einem Lagerschuppen vergewaltigten drei haitianische Soldaten im orangen Licht einer Petroleumlampe ein junges Mädchen. Sie war vielleicht zwölf oder dreizehn. Sie war nackt. Ihr schmutziges grünes Kleid lag neben ihr. Die Soldaten tranken Presidente-Bier aus Literflaschen. Ihre Waffen hatten sie gegen den Lagerschuppen gelehnt.
Er zog seine M9 Beretta. Sie bemerkten ihn erst, als er in den Schein der Lampe trat.
«Lasst sie gehen», sagte er.
Vielleicht waren es seine Augen. Vielleicht erkannten sie darin etwas, das ihnen sagte, es würde nicht genügen, sie einfach gehen zu lassen. Deshalb versuchten sie, an ihre Waffen zu kommen.
Er schoss jedem von ihnen zwei Salven Munition in ihren Rumpf.
Das Mädchen stand auf. Blut lief ihr die Beine hinunter. Sie nahm ihr Kleid, sah zu den Soldaten und dann zu ihm. Er versuchte, beruhigend zu lächeln. Streckte die Hände nach ihr aus.
«Alles ist gut.»
Aber sie rannte an ihm vorbei. Presste das Kleid gegen ihre Brust.
Er rief «Warte!», aber sie verschwand im Dunkeln. Ihre dunklen, schlanken Umrisse schienen mit der Nacht zu verschmelzen.
Er ging zu den Soldaten.
Zwei von ihnen lagen mit dem Gesicht nach unten und schienen tot zu sein. Der dritte sah ihn direkt an, er saß aufrecht gegen die Wand des Schuppens gelehnt, murmelte ein paar Worte auf Kreolisch. Dann hustete er, sein Kinn sackte auf die Brust, und er starb.
Alles war so schnell gegangen. Aus einer Flasche Presidente, die umgefallen war, sprudelte noch immer Bier auf den Boden.
Es tat ihm nicht leid, sie getötet zu haben. Er wünschte, sie würden wieder zum Leben erwachen, damit er sie noch einmal töten konnte.
Er ging zurück ins Lager. Erzählte niemandem, was geschehen war.
Nach fünf Monaten verließ seine Einheit Haiti und kehrte zurück in die Staaten. Er war schon seit drei Jahren bei der Truppe und hatte vor zu verlängern, aber eines Nachts geriet er mit einem anderen Soldaten aneinander. Er schlug ihn so heftig zusammen, dass man ihm mit einer Klage drohte, wenn er nicht freiwillig aus der Armee ausschied.
Er ließ sich treiben. Trank. Rauchte Gras. Geriet in Schlägereien. Landete in Seattle, wo er auf dem Bau arbeitete. Aber dann entdeckte er eine Kleinanzeige in einer Zeitschrift. Wir bieten Ihnen Arbeit in feindlicher Umgebung. So gelangte er nach Miami ins Hauptquartier der Argus Defense Group.
Es handelte sich um eine private Sicherheitsfirma, die für westliche Firmen in «Entwicklungsländern» arbeitete. Diese Firmen verdienten hauptsächlich damit ihr Geld, Bodenschätze abzubauen. Öl, Kupfer, Gold und Diamanten. Argus kümmerte sich um den Schutz vor Banditen, Guerillakämpfern, Terroristen, Radikalen und anderen Verbrechern. Sie bildeten auch vor Ort Sicherheitskräfte aus. Ein weiterer Service von Argus waren die PSKs, Private Sicherheitskommandos. Das waren Personenschutzeinheiten für Reiche und Mächtige.
Argus wurde von einem pensionierten Major des britischen Special Air Service geleitet. Ein wortkarger, drahtiger Kerl und ein geborener Anführer. Auf herbe Art attraktiv, obwohl ihm die Hälfte des rechten Ohrs fehlte. Keiner wusste, was damit passiert war, und niemand traute sich zu fragen.
«Wir sind keine Bande von Söldnern, die mit irrem Blick rumrennen und Menschen abknallen», sagte der Major bei Grays Vorstellungsgespräch. «Wir sind professionell und diszipliniert. Wir sind die ADG. Weltweit die Besten in unserem Geschäft. Irgendwelche Fragen?»
«Ja, Sir. Was ist mit Ihrem Ohr passiert?»
Major Hobbes starrte ihn mit seinen eisblauen Augen endlos lange an.
«Geht Sie verdammt noch mal nichts an», sagte er schließlich. «In Ordnung. Dann also los.»
«Bin ich dabei?»
«Ja. Raus mit Ihnen, ich habe zu tun.»
So arbeitete er gut zwölf Jahre lang für Argus. In Afrika, Asien, Lateinamerika und im Pazifik. Sprang hier in den Regenwald und ließ sich dort vom Hubschrauber auf der Spitze eines Berges absetzen. Gray erregte die Aufmerksamkeit des Majors, was sich darin niederschlug, dass er noch härter mit ihm umging als mit den anderen. Eines Tages sprach er den Major darauf an.
«Wem viel gegeben ist», sagte der Major, «von dem wird viel erwartet.»
Das verblüffte ihn. Er sah sich nicht als jemanden, dem viel gegeben war. Der über besondere Fähigkeiten verfügte. Eigentlich hatte er genau den umgekehrten Eindruck von sich. Um das Vertrauen des Majors nicht zu enttäuschen, arbeitete er an sich, als wäre er ein Bildhauer, der versucht, aus einem Steinblock die perfekte Form zu erschaffen. Trägheit, Furcht und Dummheit schlug er ab. Er musste nicht nur körperlich die beste Leistung erbringen, sondern auch der beste Schütze sein, der beste Einzelkämpfer. Den höchsten Druck aushalten und die größte Bereitschaft entwickeln, sofort sein Leben zu opfern, wenn ein Auftrag das verlangte.
Er tötete Menschen. Zwei in Peru, Guerillakämpfer des Leuchtenden Pfads, die eine Silbermine in den Anden angegriffen hatten. Einen in Malaysia, einen Arbeiter einer Palmölplantage, der verrückt geworden war und bei einem Amoklauf andere Arbeiter mit seiner Machete aufschlitzte. Fünf auf einer Ölplattform vor der Küste von Nigeria. Bewaffnete hatten die Bohrinsel besetzt und mehrere westliche Arbeiter als Geiseln genommen, um ein riesiges Lösegeld zu erpressen. Einer der Arbeiter wurde krank. Die Geiselnehmer erlaubten nach zähen Verhandlungen, dass ein Arzt an Bord kam. Allerdings war es nicht wirklich ein Arzt. Gray zog eine tschechische Skorpion-Maschinenpistole aus seiner Arzttasche, und das war das Ende der Erpresser. Zwei in Medellín, Sicarios auf Motorrädern, die einen Zeitungsverleger ermorden wollten, den er beschützte. Der Verleger wurde nicht verletzt, aber Gray wurde schlimm zusammengeschossen und musste ein paar Wochen im Krankenhaus verbringen. Und einen im Kongo, in Kinshasa, in einer Bar namens Chez Ntemba. Ein betrunkener südafrikanischer Söldner beschuldigte ihn, seiner unattraktiven Nuttenfreundin schöne Augen zu machen, und ging mit einem Messer auf ihn los. Damit wollte er ihm seine flegelhaften Augen ausstechen. Er stach dem Südafrikaner in den Hals, der verblutete. Obwohl es offensichtlich Notwehr war, wurde er von der Polizei verhaftet, des Mordes angeklagt und in ein schreckliches Gefängnis geworfen. Argus musste einigen Beamten 30000 Dollar zahlen, als Matabiches, um ihn herauszuholen. Major Hobbes war wütend, weil er sich in eine Kneipenschlägerei hatte verwickeln lassen, und zog ihm die Summe vom nächsten Gehalt ab.
Elf. Elf Menschen hatte er getötet. Jeden einzelnen mit derselben kalten Befriedigung, die er empfunden hatte, als er die Soldaten in Port-au-Prince erledigte.
Sein Job bei der Argus Defense Group endete in Kangari.
Nur ein kleiner Fleck in Westafrika. Internationale Firmen begannen, sich für das Land zu interessieren, als Anfang der neunziger Jahre Öl- und Gasfelder vor der Küste entdeckt wurden. ADG hatte dort zwei Aufträge zu erfüllen: einerseits die Ölfelder und andererseits Albert Bangura zu beschützen, den neusten Präsidenten des Landes.
Er war bereits der dritte in den letzten fünf Jahren. Ein Vorgänger war getötet worden, als sein Hubschrauber auf mysteriöse Weise in der Luft explodierte, der andere war nach einem Staatsstreich von einem Erschießungskommando hingerichtet worden. Auf Befehl seines früheren Gesundheitsministers Albert Bangura.
Dr. Bangura war Kinderarzt, bevor er ins Kabinett eintrat. Er war dreiundvierzig, hatte drei Ehefrauen und zehn Kinder. Sein Land war vom Bürgerkrieg zerrissen. Die Revolutionäre Gottesarmee wütete in einer Orgie aus Blut und Flammen, beging furchtbare Gräueltaten. Die Regierungstruppen waren allerdings auch nicht viel besser. Es ging in diesem Krieg weder um ideologische noch ethnische Differenzen, sondern ausschließlich darum, die Kontrolle über Kangaris neuen Reichtum zu bekommen. Grausamkeit und Gier gegen Gier und Grausamkeit.
Der Major hatte Gray mit der Leitung von Banguras PSK beauftragt. Der Präsident wurde bereits von einer Einheit klangarischer Soldaten beschützt, aber er vertraute ihnen nicht und ließ deshalb keine Munition an sie austeilen. Mit ihren ungeladenen Waffen lungerten sie am Präsidentenpalast herum, rauchten Gbana und hofften darauf, einen Blick auf die jüngste Frau des Präsidenten erhaschen zu können. Mit ihren langen eleganten Gliedmaßen und ihrem scheuen Lächeln war sie sehr attraktiv.
Gray mochte Bangura vom ersten Augenblick an. Er war klein, energisch und charmant, lächelte fast immer und lachte viel. Ein röhrendes Lachen, das man bei einem so kleinen Mann nicht erwartet hätte. Er wirkte nicht wie jemand, der durch einen blutigen Putsch an die Macht gekommen ist. Aber ab und zu, wenn er sich unbeobachtet glaubte, konnte man einen anderen Bangura beobachten. Seine Gesichtszüge wurden hart und kalt und seine Augen vorsichtig und berechnend.
Und es gab Geschichten über ihn. Nachdem der vorige Präsident hingerichtet worden war, hätte er ihm das Herz herausschneiden lassen und es gegessen. Er unternähme nichts, ohne eine ganze Kompanie von Wahrsagern und Astrologen zu befragen. Er verfüge über Zauberkräfte, das erkläre seinen unglaublichen Aufstieg vom Kinderarzt zum Präsidenten. Es gebe einen heimlichen Ort in seinem Palast, wo unter wildem Getrommel alte Juju-Riten abgehalten würden. Tiere würden geopfert. Und seine politischen Feinde auch. Kleine Kinder. Dämonen hätten dort Sex mit Menschen. Auch mit Natalie, Banguras jüngster Ehefrau. In anderen Versionen war Natalie selbst ein Dämon.
Aber falls Bangura mit den Mächten der Finsternis zusammenarbeitete, dann war es um deren Kräfte schlecht bestellt, denn der Bürgerkrieg nahm keinen guten Verlauf. Sulima fiel, dann Dalao und Zorzor. Einer seiner besten Generäle lief zur RGA über, zusammen mit zwanzig Panzern des Typs 59 aus chinesischer Produktion. Eintausend Soldaten wurden gefangen genommen und abgeschlachtet, ihre Leichen den Krokodilen im Lubutu vorgeworfen. Und der Rebellenführer Malamba verkündete im Radio, Bangura würde eines schrecklichen Todes sterben, wenn er Kangari nicht unverzüglich verließ.
Im Präsidentenpalast reinigten die Argus-Männer ihre Waffen und warteten. Das Satellitentelefon klingelte, es war Major Hobbes.
«Ihr rückt ab», sagte er. «Noch heute Nacht.»
«Warum?», fragte Gray.
«Die Situation ist zu gefährlich geworden.»
«Ich habe nie angenommen, dass es in diesem Job darum geht, sich ein schönes Leben zu machen.»
«Ihr seid Sicherheitskräfte und keine verfickten dreihundert Spartaner. Außerdem ist der Einsatz zu Ende. Der Vertrag wurde aufgelöst.»
«Das macht doch keinen Sinn, Sir. Warum sollte Bangura denn gerade jetzt den Vertrag kündigen?»
«Bangura war nicht der Vertragspartner.»
«Wer dann?»
«Kann ich Ihnen nicht sagen. Die da oben haben entschieden, dass Malamba doch kein so schlechter Kerl ist. Sie würden ganz gut mit ihm klarkommen.»
Die da oben. Wahrscheinlich der CIA oder das MI 6.
«Und Bangura?», fragte Gray.
«Das muss er selbst entscheiden. Er kann sich an der französischen Riviera ein schönes Leben machen, zusammen mit all den anderen pensionierten Diktatoren. Sie versuchen, ihn dazu zu bringen. Aber er hält sich für den Mann des Schicksals, so ein Schwachsinn.»
Gray ging zu Bangura. Der begrüßte ihn mit einem traurigen Lächeln.
«Sie verlassen mich also?», sagte er. «So schnell? Wir waren doch gerade dabei, uns kennenzulernen.»
«Sie sollten auch abreisen, Sir. Die Situation ist kritisch.»
«Umso wichtiger ist es, dass ich bleibe. Ich kann mein Land in der Stunde der Gefahr doch nicht verlassen.»
«Ich verstehe. Aber es sieht so aus, als wäre längst alles verloren.»
«Gar nichts ist verloren. Schenken Sie den Übertreibungen meiner Feinde nicht zu viel Glauben. Ich kenne die Informationen des Geheimdiensts. Das Blatt wendet sich zu unseren Gunsten. Bald haben wir die Terroristen in die Flucht geschlagen!»
«Das hoffe ich. Aber für den Fall der Fälle – wäre es nicht besser, Ihre Familie in Sicherheit zu bringen? Dann müssten Sie sich zumindest darum keine Sorgen machen.»
Widerstrebend stimmte Bangura dem Vorschlag zu. Das Flugzeug, das die Argus-Männer nachts aus dem Land brachte, nahm auch Banguras zwei ältere Ehefrauen und seine zehn Kinder an Bord. Natalie, die keine Kinder hatte, bat darum, bei ihrem Mann bleiben zu dürfen, und er willigte ein. Auch Gray blieb im Land.
Als er sah, wie das Flugzeug sich in den schwarzen Himmel erhob, rief er den Major an. Der wurde cholerisch.
«Zum Teufel noch mal!», rief er. «Haben Sie den Verstand verloren?»
«Es wäre nicht richtig, ihn zurückzulassen, Sir.»
«Wenn er zu blöd ist, zu verschwinden, solange es noch möglich ist, dann ist das seine Sache. Sie fliegen mit der nächsten Maschine! Das ist ein Befehl.»
«Das kann ich nicht, Sir.»
«Was bietet er Ihnen? Muss ja ein wahres Vermögen sein.»
«Er hat mir gar nichts geboten.»
«Er ist das nicht wert, verdammt. Er ist nicht Nelson Mandela, sondern nur ein billiger Gauner. Klaut seinem eigenen Volk den letzten Pfennig.»
«Sie haben mir gesagt, im Personenschutz geht es darum, den Chef zu beschützen, und zwar unter allen Umständen. Genau das tue ich.»
«Hören Sie zu, Sie borniertes Arschloch. Bangura ist ein toter Mann, wenn er nicht abhaut, und Sie auch. Sie sind in Afrika. Wenn Sie einfach nur getötet werden, haben Sie Glück gehabt. Die ziehen Ihnen bei lebendigem Leib die Haut über die Ohren und tragen sie als schicken Mantel.»
«Es tut mir leid, Sir. Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, ich hab Ihnen alles zu verdanken. Ich muss jetzt Schluss machen.»
Er legte das Satellitentelefon weg. Stieg zu Bangura in die Limousine und fuhr zurück zum Palast.
«Bist du ihretwegen geblieben?»
Er sah Gina an.
«Wegen Natalie?», fragte sie.
Er nahm einen Schluck Limonade. Das Eis im Glas war geschmolzen.
«Lustig. Das hat mich Bangura auch gefragt.»
Bangura lachte. Gray spürte, wie der Sitz wackelte, so laut lachte Bangura.
«Verzeihen Sie mir», sagte er. «Ich habe bisher noch nie erlebt, dass Sie sich erschrocken haben. Sie sahen wirklich vollkommen überrascht aus.»
«Mit ihr hat das nichts zu tun.»
Bangura beugte sich vor und tätschelte sein Knie.
«Keine Sorge. Ich hege keinen Verdacht gegen Sie. Sie sind eine wirklich komische Figur in dieser modernen Welt. Ein Ehrenmann! Aber eben auch ein Mann. Und Natalie ist so schön. So lieb und süß. Ihretwegen kann einem jungen Mann schon mal das Herz stehenbleiben. Einen Courvoisier?»
«Gern.»
Bangura schenkte ihnen zwei Cognac ein. Aus einer Kristallkaraffe. Gray nippte daran und schaute durch die getönten Scheiben der silbernen Mercedeslimousine nach draußen. Sie waren Teil einer Wagenkolonne. Scheinwerfer blitzten auf, Hupen ertönten, Sirenen schrillten. Macht Platz für den Präsidenten! Trotzdem kamen sie nur langsam voran. Die Straßen der Hauptstadt waren schlecht asphaltiert, voller Schlaglöcher und ständig überfüllt. Jetzt kamen auch noch Flüchtlinge vom Land in die Stadt, Tausende und Abertausende. Auf der Flucht vor den Kämpfen, obwohl das eigentlich nicht so ganz stimmte. Rebellen und Soldaten zogen es vor, hilflose Menschen abzuschlachten, statt gegeneinander zu kämpfen.
Er sah, wie ein Denker langsam die Straße entlangging. Eine abgerissene Gestalt mit Gummisandalen aus Autoreifen. Den Kopf gesenkt, als sei er in tiefe Überlegungen versunken. Deswegen nannte man sie Denker. Sie liefen alle so, mit gesenkten Köpfen. Man sah sie überall. Wenn man einen bestimmten Muskel im Nacken durchtrennte, fiel der Kopf nach vorn zur Brust. Man konnte ihn nicht mehr anheben. Die Rebellen wandten diese Methode bevorzugt an, statt die Leute einfach nur umzubringen. Es hatte den gleichen Effekt, als würden sie die Menschen mit einem Plakat losschicken, auf dem stand: DIE REVOLUTIONÄRE GOTTESARMEE IST NAH!
Am nächsten Morgen hatte Bangura eine Besprechung mit seinen Generälen. Er saß unter einem großen, in Öl gemalten Porträt seiner selbst.
«Was macht der hier?», fragte General Garba, mit Blick auf Gray. Gray saß mit seiner Oakley-Sonnenbrille und einem M4A1-Gewehr im Schoß an der Seite des Raums.
«Er beschützt mich», sagte Bangura.
«Vor wem? Etwa vor uns?»
«Natürlich nicht. Vor den Terroristen.»
Garbas Uniform war mit Orden und Bändern übersät. Seine blutunterlaufenen Augen schienen aus den Höhlen zu treten. Er schwitzte und war offensichtlich betrunken.
«Das sollen unsere eigenen Leute erledigen. Oder glauben Sie, er kann das besser, weil er weiß ist?»
«Natürlich nicht.»
«Woher wollen Sie wissen, dass er nicht spioniert?» Garba schlug mit seiner fetten Faust auf den Tisch. «Für die RGA?»
«Das ist lächerlich. Lassen Sie uns fortfahren.»
Nach dem Treffen wirkte Bangura erleichtert. «Was habe ich Ihnen gesagt?», fragte er Gray. «Das Blatt hat sich gewendet.»
«Darf ich offen sprechen?»
«Bitte.»
«Die spucken nur große Töne.»
Banguras Gesichtsausdruck wurde ernst. «Fahren Sie fort.»
«Diese Typen denken nicht im Traum daran zu kämpfen. Garba zum Beispiel. Der ist gar kein echter Soldat. Er ist im Holzgeschäft. Schickt Harthölzer im Wert von vielen Millionen Dollar nach Europa. Er würde jeden Baum in Kangari fällen, wenn man ihn ließe.»
«Woher wissen Sie das?»
«Das weiß hier jeder.»
Bangura ging zur großen Fensterfront hinüber. Blieb stehen und schaute hinaus.
«Es ist schön, Präsident zu sein», sagte er. «Selbst in einem kleinen, unwichtigen Land wie Kangari. Ich bin noch nicht bereit, das aufzugeben.»
Gray wich Bangura nicht mehr von der Seite. Ging mit ihm durch die langen, hallenden Korridore. Saß neben ihm, wenn er sein Mittagsschläfchen hielt. Und stand so verbissen wie ein Wachsoldat des Buckinghampalasts vor der Badezimmertür, wenn Bangura drinnen die goldenen Armaturen bediente.
An diesem Abend aß er zusammen mit Bangura und seiner Ehefrau. Nur sie drei bei Kerzenschein an einem endlos langen Tisch.
Sie aßen Hummer Thermidor. Bangura kicherte.
«Was ist denn?», fragte Natalie.
«Angeblich bin ich Kannibale. Dabei esse ich überhaupt kein Fleisch.» Er zwinkerte Gray zu. «Schlecht für mein Cholesterin.» Dann sagte er: «Trotz dieser trostlosen Lage haben meine Frau und ich erfreuliche Nachrichten.»
«Was gibt es?», fragte Gray.
«Natalie ist schwanger.»
«Meinen Glückwunsch», sagte Gray, und sie stießen auf Natalie und das Kind an.
Nach dem Essen gingen sie mit ihren Weingläsern hinaus auf den Balkon. In der Luft lag ein süßlicher Verwesungsgeruch. Es war Regenzeit. In der Ferne sahen sie Blitze und hörten Donner grollen.
«So viel Regen», seufzte Bangura, «warum kann ich nicht der Präsident eines trockenen Wüstenstaats sein?»
Dann hörten sie leise Detonationen. Das war nicht mehr der Donner, sondern der Krieg. Er kam näher.
Wieder seufzte Bangura. Ging hinein, um Wein zu holen.
Gray und Natalie sahen sich an, beide ein wenig schüchtern. Überlegten, worüber sie reden könnten.
«Was für gute Nachrichten», sagte Gray, «das mit dem Kind.»
Sie legte die Hand auf ihren Bauch. Dachte nach.
«Meinen Sie wirklich?»
«Warum denn nicht?»
«Die Welt ist so voll von … Leid. Ist es richtig, ein Kind all dem auszusetzen?»
«Vielleicht wird Ihr Kind einmal ein bedeutender Mann, der dieses Leid bekämpft.»
«Ja», sagte sie, «vielleicht tut sie das.»
Sie lachten beide, gerade als Bangura wieder zu ihnen kam. Er machte ein erfreutes Gesicht.
«Ach, Lachen», sagte er. «Klingt das nicht viel schöner als Explosionen?»
Ein paar Nächte später träumte er von ihr. Er ging mit ihr durch ein Weizenfeld in Amerika. Das Feld war riesig, ein Ende war nicht zu sehen. Es wogte im Wind wie die Wellen des Meeres.
«Ich bin so müde», sagte Natalie. «Wann sind wir endlich da?»
Er wachte auf, es war Morgen. Eine der blau-gelben Echsen, die in Kangari überall herumliefen, schien in einem Fleckchen Sonne auf der Fensterbank Liegestütze zu machen.
Er stand auf und zog sich schnell an. Er fühlte sich, als ob er verschlafen hätte. Als wäre etwas Wichtiges geschehen und er hätte es verpasst.
Bangura war in seinem Büro, mit einigen seiner nutzlosen und besorgt schauenden Ratgeber. Er schickte sie fort.
«Was ist los?», fragte Gray.
«Schauen Sie aus dem Fenster.»
Gray sah im östlichen Teil der Stadt schwarze Rauchsäulen aufsteigen.
«Die Terroristen», sagte Bangura. «Sie sind da.»
Seit Tagen kamen furchtbare Meldungen. Die Aufständischen der RGA hatten in einer Nachbarstadt hundert Schulkinder bei lebendigem Leib verbrannt. General Garba war nach Marokko geflogen, in einem Transportflugzeug der Kangari Air Force, vollgepackt mit Beute und billigen Mädchen. Eines Morgens waren Panzer vom Typ 59 am Stadtrand gesehen worden, und was das Schlimmste war, der Flughafen war der RGA in die Hände gefallen.
Es gab noch einen Militärflughafen in dreizehn Kilometern Entfernung. In einer Stunde sollte ein Hubschrauber kommen und Bangura und sein Gefolge dorthin bringen, damit sie in ein Flugzeug steigen und der Katastrophe um ein Haar entkommen konnten.
Gray meinte, vielleicht sei jetzt der Moment, um Munition an die reguläre Palastwache auszugeben. Bangura stimmte ihm zu, allerdings seien die Soldaten in der letzten Nacht allesamt desertiert.
Gray schwieg; ihm wurde allmählich bewusst, dass die Verteidigungslinie zwischen Bangura und der Revolutionären Gottesarmee nur noch aus einer einzigen Person bestand, ihm selbst.
«Für den Fall, dass es das Schicksal heute nicht gut mit uns meint», sagte Bangura, «ich darf den Terroristen nicht lebend in die Hände fallen. Genauso wenig meine Frau. Jemand muss sich darum kümmern, verstehen Sie?»
Gray nickte. Er würde auch für sich selbst eine Patrone aufbewahren.
Gray, Natalie und Bangura und drei seiner Ratgeber mit ihren Familien hatten sich beim Landeplatz in der weitläufigen Grünanlage des Präsidentenpalasts eingefunden. Alles in allem fünfzehn Personen und ein Papagei in einem Käfig. Sie standen da mit ihrem Gepäck und lauschten angestrengt auf das Geräusch des Hubschraubers, aber alles, was sie hörten, waren die Explosionen und Schüsse der Straßenkämpfe. Plötzlich verfinsterte sich der Himmel. Schwarze Wolken zogen auf, der Wind nahm an Stärke zu, und ein paar dicke Regentropfen fielen herab. Dann übertönte das Prasseln des Regens die Kampfgeräusche. Die blaugelben Echsen rannten in Deckung. Die Palmen beugten sich unter dem Sturm, und der Papagei kreischte. Die Leute befürchteten schon, dass der Hubschrauber bei dieser Windstärke nicht landen könnte, dass sie hier auf dem Landeplatz festsaßen und in den Regenfluten abgeschlachtet werden würden, aber da war er schon! Er schwebte über die Mauern des Palasts. Die Leute lachten und riefen. Sie würden leben und nicht sterben, vor ihnen lag die Zukunft und nicht das Nichts. Gray sah hinüber zu Banguras Frau, und sie erwiderte seinen Blick und lächelte. In ihrem dunklen Gesicht und dem dunklen Regen wirkten ihre Zähne noch weißer, dann krachte es, und ein greller Blitz schien auf.
Eine Panzerfaust hatte den hinteren Rotor des Hubschraubers getroffen. Er wirbelte unkontrolliert herum und schien geradewegs auf sie runterzustürzen. Alle rannten zur Seite, dann krachte der Hubschrauber auf das Gepäck und den schreienden Papagei. Man sah nur noch einen orangen Feuerball.
Gray entdeckte den Rebellen, der die Panzerfaust abgefeuert hatte. Er stand mit zwei anderen neben einem großen Springbrunnen, der sein Wasser überflüssigerweise in den Regen hineinspritzte. Sie waren gebannt vom Anblick des brennenden Hubschraubers. Gray erschoss sie, seine M4A1 auf Vollautomatik eingestellt. Sie wurden von Unmengen an Kugeln getroffen, zwei fielen zu Boden und einer in den Springbrunnen. Dann wurde aus einer anderen Richtung mit Gewehren auf sie geschossen. Die Schädeldecke des Umweltministers wurde abgerissen. Seine Gattin, eine sehr dicke Frau, nahm seinen Kopf in beide Hände und kreischte, dann trafen die Kugeln auch sie, und sie brach neben ihm zusammen. Gray drückte Bangura und seine Frau zu Boden. Er hörte den schrillen Pfiff, und dann kam die SBU angerannt – die Small Boys Unit.
Beide Bürgerkriegsparteien setzten Kindersoldaten ein. Die Ausbildung war kein Problem, ein Kind lernt in dreißig Minuten, mit einer Kalaschnikow zu töten. Man gab ihnen Alkohol und Drogen und schickte sie los, sie waren genauso tapfer wie Erwachsene und wahrscheinlich noch grausamer. Sie quälten Gefangene mit teuflischen Foltermethoden und kicherten dabei, als würden sie ein Spiel spielen. Sie starben wie die Fliegen, aber das war nicht weiter schlimm, in Kangari schien es unerschöpfliche Vorräte an Kindern zu geben.
Die SBU bestand aus sieben Jungs im Alter von neun bis vierzehn Jahren. Sie schossen mit Sturmgewehren, während sie über den Rasen rannten. Angeführt wurden sie von einem Erwachsenen mit rotem Barett, rotem Halstuch und einer silbernen Pfeife. Gray erschoss ihn zuerst, aber die Kinder liefen trotzdem weiter, er erschoss zwei von ihnen, dann ging ihm die Munition aus. Die Kinder liefen stolpernd durch den Regen und feuerten, und einige von Banguras Leuten wurden getroffen. Dann hatte Gray das Magazin gewechselt und erschoss die anderen fünf Kinder. Sie fielen hin, aber zwei von ihnen bewegten sich noch. Er schoss weiter, bis alles ruhig war –
«Mein Gott», sagte Gina.
Er sah sie an. Ihr Gesicht war verzerrt und blass.
«Warum hast du auf sie geschossen? Auf die Verwundeten?»
«Sie hatten Waffen. Sie waren noch immer eine Bedrohung.»
«Ich glaube, ich will nichts mehr davon hören.»
«Okay.»
Aber dann: «Nein, erzähl weiter.»
Schwarzer Rauch stieg von dem brennenden Hubschrauber auf; die Überlebenden liefen in alle Richtungen davon.
Gray war klar, dass ihre einzige Hoffnung darin bestand, zum Militärflughafen zu fahren. Sie liefen zu einem weißen Landrover, Bangura und seine Frau legten sich vor den Rücksitzen auf den Boden. Gray fuhr los. Es waren keine Rebellen in Sicht, als sie durch das weit offen stehende Eisentor des Präsidentenpalasts in die Stadt fuhren.
Normalerweise hätte er ihre Chance, die Stadt lebend zu verlassen, auf höchstens eins zu hundert geschätzt, aber er hoffte, das Gewitter war auf ihrer Seite. Vergewaltigen, plündern und Menschen aufschlitzen macht nun einmal bei Sonnenschein mehr Spaß als im strömenden Regen. Er nahm an, dass sich die meisten Rebellen irgendwo unterstellen würden. Durch den Regen wurden die Fensterscheiben fast undurchsichtig, sodass die Passanten nicht sehen konnten, wer im Wagen saß. Der Wagen selbst würde keine besondere Aufmerksamkeit erregen. Weiße Landrover sah man überall, sie waren in Kangari quasi Standard für alle, die es sich leisten konnten. Mit etwas Glück schafften sie es, die Stadt zu verlassen, bevor das Gewitter weiterzog, und konnten den Highway zum Flughafen hinunterrasen.
Trotz des Regens waren die Straßen überfüllt mit Menschen, die vor den Rebellen flüchteten. In Autos, Bussen, Eselskarren, auf Motorrädern, Fahrrädern und zu Fuß. Es ging nur langsam voran. Grays Pistole lag griffbereit auf seinen Knien. Die Scheibenwischer schafften es kaum, für klare Sicht zu sorgen.
«Was ist los?», fragte Bangura vom Rücksitz. Er richtete sich auf. «Können Sie etwas erkennen?»
«Unten bleiben!», zischte Gray. Plötzlich waren überall Rebellen mit roten Baretts. Das Gewitter hatte sie nicht vertrieben. Sie schienen diesen verdammten, beschissenen Regen richtig toll zu finden, stolzierten herum und soffen Red Heart Rum direkt aus der Flasche. Zerrten die Leute aus ihren Autos und raubten sie aus. Plünderten Geschäfte und verluden die Beute in Pick-ups. Er war mitten in sie hineingefahren, wie ein langsamer, schwerfälliger Käfer, der in einen Ameisenhügel stolpert.
Zwei Rebellen kamen auf den Landrover zu, absurderweise mit dem freundlichsten Lächeln der Welt. Wie freundliche Bullen auf ihrem Rundgang.
«Keine Bewegung», flüsterte Gray.
Einer der Männer beugte sich vor und versuchte, noch immer lächelnd, Gray durch das regennasse Fenster hindurch anzusehen. Gestikulierte, dass er das Fenster herablassen sollte. Gray drückte den Knopf, und während die Scheibe hinunterfuhr, griff er nach der Pistole. Der Mann konnte gerade noch verblüfft gucken, bevor die Kugel sein Gesicht traf. Als er zu Boden fiel, schoss Gray dem Mann hinter ihm zweimal in die Brust.
Vor sich sah er so etwas wie einen Durchgang zwischen zwei Gebäuden. Er riss das Steuer herum, schoss vorwärts und rammte den Wagen vor ihm. Setzte zurück, wirbelte herum und fuhr in die Durchfahrt, während der Wagen von Automatikwaffen durchlöchert wurde, die Scheiben zerbarsten, Bangura fluchte und Natalie kreischte.
Allerdings war die Durchfahrt keine Durchfahrt. Sie war nicht mehr als ein Hof zwischen zwei Häusern, der in einer Schweinekuhle vor einer Lehmwand endete. Er fuhr, so schnell es ging, hinein und sagte sich, das ist es also. Er hatte oft darüber nachgedacht, wie er wohl aussehen würde, der Ort, an dem er sterben wird.
Der Wagen war noch immer unter Beschuss, die Hinterreifen platzten. Er betrachtete die Schweine, es waren acht. Dünn, schwarz und voller Schlamm.
«Was machen wir jetzt?», rief Bangura.
«Kommen Sie raus!», rief Gray. «Köpfe unten halten.»
Sie sprangen alle drei aus dem Wagen und gingen dahinter in Deckung. Gray schoss ein paarmal in Richtung Straße. Die Rebellen gingen wie immer nach dem Streuprinzip vor: Von vielen Kugeln wird schon eine treffen. Sie hielten ihre Waffen um die Häuserecke und schossen wild drauflos. Einer von ihnen, ungefähr achtzehn Jahre alt, hatte wohl zu viele amerikanische Actionfilme gesehen. Er lief in die Durchfahrt, stand mit weit gespreizten Beinen im Regen und feuerte, dabei schrie er aus vollem Hals, mit verzerrtem Gesicht. Patronenhülsen prasselten zu Boden. Gray durchlöcherte seinen Brustkorb mit einem engen Muster von Schüssen und beendete den Unsinn. Er fluchte innerlich darüber, dass ihn ausgerechnet eine Bande dermaßen mieser Soldaten töten würde. Was heißt hier Soldaten. Feiglinge. Schlächter.
Hinter ihm liefen die Schweine im Schlamm hin und her und quiekten.
Er hörte, wie sein Name gerufen wurde, und sah hinab zu Bangura.
«Jetzt!», rief Bangura. «Tun Sie es jetzt!»
Gray sah Natalie an. Sie blickte zu ihm hoch. Ihre Augen blinzelten gegen den strömenden Regen. Vielleicht weinte sie, es war schwer zu sagen.
Er nickte. Nahm die Pistole.
Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Bangura kniff die Augen zusammen.
Er richtete die Pistole auf Natalies Kopf. Sein Herz klopfte so stark, dass er meinte, sein ganzer Körper würde erzittern. Er sah, wie Regen von seiner Pistole hinuntertropfte. Dann hörte er plötzlich ein dumpfes Platsch hinter sich.
Er drehte sich um. Im Schlamm lag eine Handgranate. Jemand hatte sie von der anderen Seite der Lehmwand geworfen, oder vielleicht war auch ein besonders geschickter Rebell auf eines der Dächer gestiegen. Er wollte sie aufheben und über die Wand werfen, aber er hatte sich noch nicht mal den Bruchteil eines Zentimeters bewegt, als sie detonierte.
Eine Staubwolke senkte sich langsam in einen riesigen schwarzen Canyon hinab. Er selbst war der Canyon und auch der Staub. Noch nie hatte er so tiefen Frieden empfunden. Dann war ein Klingeln im Canyon zu hören. Es wurde lauter und lauter. Schließlich war die Staubwolke verschwunden, auch der Canyon war verschwunden, nur das Klingeln hielt an –
Er lag auf dem Rücken im Schlamm, es regnete noch immer.
Einer der Rebellen stand über ihm, aber er beachtete ihn nicht. Er stützte sich auf dem Ellbogen auf.
Die Rebellen feierten. Sie kletterten auf dem Landrover herum, lachten und schossen in die Luft. Sie hatten Bangura und seine Frau offenbar erkannt. Beide waren durch die Granate verwundet worden, aber noch am Leben. Die Rebellen schleppten sie fort. Bangura biss die Zähne zusammen, aber seine Augen waren weit aufgerissen, er schaute wild umher. Natalie weinte und schrie, aber er hörte sie nicht. Er hörte nichts und niemanden. Durch die Explosion der Granate war Gray taub geworden. Da war nur noch dieses laute Klingeln in seinen Ohren.
Einer der Rebellen merkte, dass Gray noch am Leben war, und stieß ihm den Gewehrkolben gegen die Schläfe. Wieder war er bewusstlos. Das Nächste, was er mitbekam, war, dass man ihn die Straße hinunterschleifte. Er sah weder Bangura noch seine Frau. Der Regen hatte aufgehört. Er hatte einige Verletzungen von den Splittern der Granate, aber nichts Ernstes. Der Schlamm hatte die Wucht der Explosion gedämpft und ihm mit einiger Sicherheit das Leben gerettet. Aber ob seine Verletzungen tödlich waren, war im Moment unwichtig.
Sie brachten ihn in eine Kirche. Dort waren schon viele andere Menschen, Männer, Frauen und Kinder. Einige waren schon ermordet worden, andere wurden gerade ermordet, und der Rest würde bald ermordet werden. Er konnte noch immer nichts hören und schloss die Augen, um ein weiteres Wahrnehmungsorgan auszuschalten. Er beschloss, sie nicht wieder zu öffnen.
Sie zogen ihn aus, banden seine Handgelenke zusammen und hängten ihn auf, sodass er in der Luft pendelte. Sie schlugen mit Peitschen und Gürteln auf ihn ein und schlitzten ihm den Rücken auf. In die Schlitze stopften sie Schießpulver und zündeten es an. Es war merkwürdig, dass er seine eigenen Schreie nicht hören konnte. Er ließ die Augen geschlossen und hoffte, das Bewusstsein zu verlieren, aber das passierte nicht.
Dann war die Folter zu Ende. In Ruhe und Dunkelheit hing er da, wie lange, konnte er nicht sagen. Dann roch er den Rauch.
Er öffnete die Augen.
Die Kirche brannte. Die Rebellen waren abgezogen. Ihre Opfer hatten sie zurückgelassen, die meisten tot, aber einige waren noch am Leben. Gefesselt und hilflos wie Gray.
Die Flammen züngelten die Wände empor, in den Dachstuhl hinauf. Er sah, wie eine Taube panisch umherflatterte, auch sie war gefangen. Hinter dem Altar stand eine Bronzestatue des gekreuzigten Jesus. Hinter der Statue war ein Mensch lebendig gekreuzigt worden, ein Priester. Man hatte seine Hände und Füße an die Wand genagelt. Er hatte die Augen geschlossen, sein Kopf pendelte hin und her, und seine Lippen murmelten ein Gebet.
Gray musste husten, immer mehr Rauch füllte das Kirchenschiff. Er hoffte, er würde am Rauch ersticken, bevor das Feuer ihn erreichte.
Plötzlich kamen drei der Rebellen zurück in die Kirche gelaufen, Tücher vor dem Mund wegen des Rauchs. Sie kamen direkt zu Gray, schnitten ihn los und trugen ihn hinaus. Die Rebellen waren unterschiedlicher Meinung: Die einen wollten Gray töten, die anderen meinten, ein weißer amerikanischer Söldner würde ein gutes Lösegeld einbringen. Die zweite Gruppe bekam recht, als wenige Tage später Major Hobbes in einem gecharterten Flugzeug eintraf, eine Aktentasche voller Geld übergab und zusammen mit Gray sofort wieder verschwand.
Er brachte Gray in ein Krankenhaus, erst in London, wenige Tage später dann in Miami. Seine Verletzungen verheilten, aber man befürchtete, er habe einen Gehirnschaden erlitten. Er sprach nicht und reagierte nicht darauf, wenn andere ihn ansprachen. Der Major besuchte ihn jeden Tag, aber er schien ihn nicht zu erkennen. Er konnte essen und trinken und auch gehen, wenn man ihn herumführte, wie ein gehorsamer Zombie, sonst waren jedoch keine mentalen Reaktionen festzustellen. Aber die Untersuchungen des Gehirns führten zu keinem Ergebnis, und in der Tat war sich ein Teil von ihm der Realität vollkommen bewusst. Registrierte, wenn eine Krankenschwester ein neues Parfüm benutzte. Sah, wie Major Hobbes eines Tages bei seinem Anblick am Krankenbett zusammenbrach, mit Tränen in den eisblauen Augen. Aber der Rest von ihm war nicht anwesend. Es war, als wäre er in einen blubbernden Vulkan gefallen, einen Vulkan der Schande, der Schuld und des Schreckens. Unablässig erinnerte ihn sein Gedächtnis daran, dass er Kinder getötet hatte. Dass er den Präsidenten nicht beschützt hatte und auch nicht seine Ehefrau. Immerzu sah er den Innenraum der Kirche. Den Priester an der Wand. Das stumme Abschlachten unschuldiger Menschen.
Eines Tages schlug er dann das Laken zur Seite, stand auf und verließ das Krankenzimmer. In seinem dünnen Nachthemd ging er die Flure hinunter, und alle starrten ihn an, als sei er ein Gespenst. Schließlich fand er, wonach er gesucht hatte, eine Tür ins Freie.
Er ging hinaus auf die Veranda. Einige Krankenhausangestellte saßen dort und rauchten, aber niemand beachtete den vernarbten Mann im Krankenhausnachthemd, der barfuß zum Geländer ging und hinausschaute.
Es war paradiesisch. Überall Palmen und Blumen, und ein Blütenduft lag in der warmen Luft. Es kam ihm vor, als kehre er in seinen Körper zurück. Es war überwältigend, dass er es geschafft hatte, von der brennenden Kirche, in der er an den Handgelenken gefesselt war, bis hierher zu gelangen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er das überleben würde, hatte bei eins zu einer Million gelegen. Und deshalb hatte es bestimmt einen Sinn, dass er am Leben geblieben war.
Er liebte den Major, aber ihm war klar, dass er nie wieder für ihn arbeiten konnte oder für jemand anders in dieser Branche.
Nachdem er das Krankenhaus verlassen hatte und sich stark genug fühlte, kehrte er nach Afrika zurück. Nicht nach Kangari, sondern in ein friedliches Land. Er war schon einmal dort gewesen.
Man hatte ihm von einem Berg erzählt, den die Menschen für einen heiligen Ort hielten. Sie glaubten, Gott sei auf diesem Berg. Wenn man ein Gebet auf einen Zettel schrieb, den Berg bestieg und den Zettel unter einen Stein legte, dann würde Gott dieses Gebet erhören. Genau das hatte Gray getan. Auf das Blatt Papier hatte er geschrieben: Sag mir, was ich tun soll.
Sein Mund war trocken. Er trank den Rest Limonade. Sah zu, wie die eine Maus mit weißen Pfoten die andere um den Pool jagte.
«Wie auch immer; das ist jetzt schon zwei Jahre her.»
«Und?»
«Und was?»
«Hat Er es dir gesagt? Was du tun sollst?»
«Nein. Ich warte noch.»
Gina dachte nach.
«Was ist aus Bangura geworden?», fragte sie. «Und Natalie?»
«Sie wurden Malamba vorgeführt, dem Chef der Rebellen. Jetzt ist er Präsident Malamba. Er ließ sie töten. Ich glaube, die Einzelheiten willst du nicht wissen.»
Sie seufzte. «Das arme Mädchen.»
Dann sah sie ihn an.
«Du warst also in der Armee. Nicht bei der Marine.»
Er nickte.
«Warum hast du dann gesagt, dass du Seemann bist?»
«Weißt du was? Ich glaube, ich habe für heute genug geredet.»
Er stand auf und reckte sich.
«Warum schauen wir uns nicht etwas um? Lass uns mit dem Wagen einen Ausflug machen.»
Es klingelte an der Tür. Es war der Typ vom chinesischen Lieferservice. Er sprach kaum ein Wort Englisch. DeWitt gab ihm reichlich Trinkgeld, er mochte ihn, weil er immer freundlich war und lächelte. Auch jetzt lächelte er und verbeugte sich und sagte fünfmal danke.
Er schob den Kuhschädel zur Seite und stellte das Essen auf den Couchtisch. Sie schaute gern fern beim Essen. Er holte Teller und Besteck aus der Küche und auch Papierservietten, auf denen Bilder von Hunden und Katzen waren, die Baseball spielten. Nur einen Teller, denn die Skimaske hatte keine Öffnung für den Mund, er würde später essen. Er holte eine Platzdecke, überprüfte noch einmal alles und merkte, dass sie auch etwas zu trinken brauchte. Also holte er noch eine Flasche Corona aus der Küche. Dann zog er die Skimaske über und ging ins Schlafzimmer.
Sie lag gefesselt und geknebelt auf dem Bett. Sah ihn vorwurfsvoll an. Sie hatte versprochen, dass sie ruhig bleiben und keine Dummheiten machen würde, wenn das Essen gebracht wurde, aber Tuht mir leit, siecher iss siecher hatte er geschrieben und ihr die Hände gefesselt. Sie hatte ihn dabei wüst beschimpft, und auch jetzt, als er ihr den Knebel herausnahm, war ihr erstes Wort: «Arschloch!»
Ihre Laune besserte sich schnell, als sie mit dem chinesischen Essen vorm Fernseher saß. Shrimps süß-sauer, Rindfleisch mit Broccoli, Hühnchen mit Ananas, gebratene Wontons und gedämpfter Reis.
«Ich habe noch nie so gut chinesisch gegessen», sagte sie.
Er nickte.
«Wie heißt das Restaurant?»
Er gab keine Antwort.
«Willst du mir den Namen nicht sagen?»
Er schüttelte den Kopf.
«Oh, verstehe. Du meinst, es könnte ein Hinweis sein. Wo wir hier sind.»
Sie sah die Fältchen um seine Augen. Das hieß, dass er lächelte.
«Würdest wohl gern mal wieder ’ne Nummer schieben, oder?» Sie nahm einen Schluck Bier und sagte: «Haben dir meine Flügel gefallen?»
Heute hatte er ihr erlaubt zu duschen. Er war im Badezimmer geblieben, hatte ihr den Rücken zugedreht. Er traute ihr nicht wegen des Milchglasfensters. Sie konnte zwar nicht hindurchklettern, aber sie könnte es öffnen und um Hilfe rufen. Nach dem Duschen hatte sie ihn um ein Handtuch gebeten, und als er es ihr gab, hatte er sie gesehen. Ihre Flügel. Zwei Tattoos auf den Schulterblättern.
Er nickte.
«Mein Dad hasst sie. Er findet Tattoos billig.»
Eigentlich fand er das auch, aber ihre Flügel hatten ihm gefallen. Warum wohl ausgerechnet Flügel, hatte er sich gefragt. Er dachte an den Moment, in dem sie das Wasser abgestellt und die Tür der Duschkabine geöffnet hatte. Sie hatte gewollt, dass er etwas zu sehen bekam. Sie wusste genau, dass sie ihn verrückt machte. Frauen merken so was.
«Was soll das Ganze eigentlich? Was wollen die von meinem Dad?»
Er schrieb auf den Spiralblock und hielt ihn ihr hin.
waiss nich. ährlich.
«Du lügst mich nicht an, oder? Ich seh’s an deinen Augen.»
Sie legte die Gabel hin und sah ihn an. Kaute auf dem Chinaessen herum.
«Du hast wirklich schöne Augen. Hat dir das schon mal einer gesagt?»
Klar. Seine Mutter. Die ganze Zeit. DeWitt hat so schöne Augen.
Er wusste, dass sie nicht nein sagen würde, aber unter diesen Umständen wäre es auch dann eine Vergewaltigung, wenn sie so tat, als ob sie einverstanden wäre; so was kam für ihn nicht in Frage.
«Was wohl in meinem Glückskeks steht?»
Das Zellophan knirschte, als sie den Keks auswickelte, und ihm fuhr ein eisiger Gedanke durch den Kopf: Was, wenn sein Handy nun klingeln und Smith-Jones ihm sagen würde, dass die Sache vorbei ist und er Dee schleunigst loswerden sollte; am besten mit ihr in den Wald fahren und –?
«Tu es jetzt!», las Dee. «Heute ist morgen schon gestern! Puh. Da ist was Wahres dran, oder? Die Zeit vergeht so schnell. Stell dir vor, in fünf Jahren bin ich dreißig. Dreißig!»
Sie gab ihm den anderen Glückskeks.
«Was steht denn in deinem?»
Er packte ihn aus, zerbrach den Keks, nahm den Zettel heraus und las.
«Was steht drauf?»
Er gab ihn ihr.
«Schließen Sie jetzt neue Freundschaften. Das ist ja nett! So, dann müssen wir die Kekse nur noch essen, damit die Prophezeiung auch eintritt.»
Sie warf sich ihren Keks in den Mund. Er drehte sich zur Seite, schob die Maske nach oben, steckte sich den Keks in den Mund und zog die Maske wieder nach unten.
Sie sahen sich an. Aßen knirschend die Kekse.
«Wie siehst du unter der Maske eigentlich aus?»
Er nahm den Spiralblock und schrieb:
hässlich.
Sie lachte. «Ja, klar.»
Sie fuhren in Normans großem roten Chrysler die Tejada Springs Road hinunter. Das Dach zurückgeklappt. Hinten saßen Luke und der Hund, der in den Fahrtwind grinste.
Sie hielten am Tejada Springs Café. Die Kellnerin hatte nichts dagegen, dass sie den Hund mit hineinbrachten. Sie setzten sich in die Ecke und tranken Schokoladenshakes. Hinter dem Tresen war ein großartiges Wandgemälde, schlaue Füchse in verrückter Kleidung, die den Menschen Streiche spielten: einen Apfelkuchen vom Fensterbrett stibitzten, beim Kartenspiel betrogen, einem dicken, schlafenden Mann im Schaukelstuhl ein Streichholz unter den Fuß hielten. In einer Ecke stand der Name der Künstlerin, die das Bild gemalt hatte: Ananda.
«Wer ist Ananda?», fragte Gina.
«Sie war ein kleines Hippiemädchen», sagte die Frau, deren ergrautes Haar von einem Strassband zusammengehalten wurde. «Ist in den Sechzigern mal hier vorbeigekommen. Mit einem klapprigen gelben VW, den sie Gertrude nannte. Sie hatte dem Inhaber angeboten, die Wand zu bemalen, wenn sie dafür umsonst zu essen bekam.»
«Wie lange hat sie dafür gebraucht?», fragte Gray.
«Ungefähr fünf bis sechs Wochen. Sie hat draußen in der Wüste gezeltet. Alle sagten, sie sei die ganze Zeit über high von LSD gewesen. Und nachts soll sie sich als Indianerin bemalt und nackt um das Feuer getanzt haben.»
«Cool», sagte Luke.
«Und was ist aus ihr geworden?», fragte Gina.
«Als sie fertig war», erzählte die Frau, «ist sie mit Gertrude weitergefahren. Vielleicht war das ihr Leben. Durchs Land fahren und Füchse malen.»
«Vielleicht macht sie das ja noch immer», sagte Gina. Sie wünschte sich, dass sie so ein Leben führen könnte.
Sie ließen sich von der Kellnerin den Weg beschreiben und fuhren dorthin, wo einmal das alte Hotel gestanden hatte, das in den Fünfzigern abgebrannt war. Wo die Filmstars ihr Geld beim Glücksspiel verpulvert hatten. Es lag am Ende einer verfallenen Asphaltstraße nicht weit vom Trailerpark Glückliches Hufeisen. Vom Hauptgebäude standen nur noch das Betonfundament und die Reste eines gemauerten Kamins, der wie ein Heiligtum aus der Steinzeit in die Höhe ragte. Der Swimmingpool, in dem die Halbgötter der Filmwelt ihre goldenen Körper gebadet hatten, war zugeschüttet. Jetzt lebten dort Schlangen und Echsen.
Sie sahen die langen Ohren eines Hasen. Er stand da und schaute sie sich sehr genau an. Dann rannte der Hund bellend auf ihn zu, und er verschwand. Schlug Haken und rannte mit seinen langen Hinterbeinen doppelt so schnell wie der Hund.
Gray legte seine Hände um seinen Mund und schrie: «Gib’s auf, Bursche! Den fängst du nie!»
Der Hund gab die Jagd auf. Kam mit hängender Zunge zu ihnen zurückgetrottet.
Auf der Rückseite des ehemaligen Hotels standen die Ruinen von zehn oder zwölf Bungalows aus Lehmziegeln. Leere Öffnungen, wo Türen und Fenster gewesen waren. Die Dächer durchlöchert, wenn überhaupt noch vorhanden. Gray, Luke und der Hund gingen los, um einen zu erkunden. Gina blieb in der leeren Türöffnung stehen. Dadrinnen sah es stark nach Schlangen und Ratten aus. Der Boden war mit Flaschen, Dosen und Kartons übersät. Darauf verzichtete sie lieber.
Sie blieb allein zurück. Am Fuß der Berge, am Rand der Wüste. Nur ein kleiner Punkt im Universum. Die Stille war überwältigend. Jedes Geräusch, das man hörte – ein Windhauch, ein Vogelzwitschern –, schien die Stille noch zu vergrößern. Sie sah nach Osten. Es war schon Nachmittag, die Wüste wurde vom enormen Schatten der Berge verschlungen. Entweder war dies hier ein Traum, oder die Welt, die sie verlassen hatten, mit ihren Städten, Menschen, dem Lärm und den Autos, war ein Traum gewesen. Diese zwei Welten waren viel zu verschieden, als dass beide hätten real sein können.
Hinter ihr hustete jemand.
Sie wirbelte herum.
Dort stand ein Mann. Aufgedunsen, bärtig, ungefähr fünfundfünfzig oder sechzig Jahre alt. Seine Haut war von der Sonne rotbraun gebrannt. Er trug nichts weiter als limettengrüne Shorts, Flip-Flops und einen Strohhut. Und einen Waffengürtel mit einem Revolver darin.
«Wissen Sie, wer hier gewohnt hat?», fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
«Der Zauberer von Oz!»
«Wirklich?», sagte sie und kam zu dem Schluss, dass der Mann verrückt war. Dann rief sie: «Gray? Luke?»
Der Hund kam als Erster heraus und fing an, den Mann anzubellen. Dann kamen Gray und Luke.
«Sei still, Bursche!», sagte Gray, mit einem Blick auf den Revolver.
«Ich habe gerade Ihrer Frau gesagt, dass Frank Morgan hier gewohnt hat. Sie kennen ihn doch, er hat den Zauberer von Oz gespielt. Hier in diesem Bungalow!»
«Was Sie nicht sagen», sagte Gray.
«Ich heiße Swanson», sagte der Mann. «Die Leute nennen mich Swannie. Ich wohne drüben im Trailerpark.» Swannie zog an seinem Bart. «Dann müsst ihr wohl die Leute sein, die draußen beim alten Country Club wohnen.»
«Das stimmt», sagte Gray.
«Nur zu Besuch? Oder neu zugezogen?»
«Zu Besuch», sagte Gray.
«Wie schade. Etwas frisches Blut würde dem Ort hier guttun. Ich wohne schon mein ganzes Leben hier. Hier lebten noch die Alten Menschen, als ich ein Kind war.»
«Wer sind denn die Alten Menschen?», fragte Luke.
«Die Indianer. So nannten sie sich selbst. Uns nannten sie die Neuen Menschen. Jetzt sind wahrscheinlich wir die Alten Menschen. Und uns ergeht’s wie den Indianern, wenn wir kein frisches Blut bekommen.»
«Was soll der Revolver?», fragte Gray.
«Schutz.»
«Wovor?»
«Was auch immer. Werden Sie deshalb nicht nervös, ich bin der harmloseste Mensch auf der Welt», und dann sagte er zu Luke: «Hast du es schon gesehen? Das weiße Pferd?»
Luke schüttelte den Kopf.
«Ich auch nicht. Ich hoffe, dass es mir in den nächsten Tagen begegnet. Oder Nächten. Man kann es nur bei Nacht sehen.»
«Was ist denn so besonders daran?», fragte Luke.
«Nun ja, es ist kein normales Pferd, denn man kann direkt durch es hindurchsehen. Es ist ein Geisterpferd. Die Alten Menschen haben mir davon erzählt. Sie haben erzählt, wenn es dich mag, darfst du auf seinen Rücken steigen. Es trägt dich dann, wohin du willst. Bis zur anderen Seite des Universums. Wenn du dahin willst.» Er fing an zu lachen. «Na, ich gehe mal besser zurück. Es ist gleich Essenszeit. Und wenn ich zu spät komme, gibt’s was mit dem Nudelholz. Viel Spaß in Tejada Springs!»
Sie sahen zu, wie Swannie kehrtmachte und davonging. Vorbei an großen, dürren Ocotillobäumen. Gina legte Luke die Hand auf die Schulter. Ihr erster Eindruck war vollkommen richtig gewesen: Der Mann war verrückt.
Er stand auf der Terrasse und trank einen Scotch, obwohl sein Magen rebellierte. Starrte die Statue an, ohne sie wirklich zu sehen.
Es war kalt. Zu kalt für Smitty, der ihn vor zehn Minuten verlassen hatte. Die Luft war sehr feucht, aber es regnete nicht. Es war eher, als würden sich Nebelschwaden wie ein feuchter dünner Stoff um den Körper wickeln.
Jemand hatte ihm gesagt, Todt sei ein anderes Wort für Tod. Todeshügel. Er lebte auf dem Todeshügel.
Er war sich noch nie so isoliert vorgekommen. Allein bis auf die Knochen.
Er war oben bei Millie gewesen. Sie und ihr dummes, sinnloses Lächeln. Sein Leben war so kompliziert geworden und könnte durchaus aus den Fugen geraten, deshalb sehnte er sich danach, mit ihr über alles zu sprechen. Sie würde den ganzen Mist durchschauen und ihm dabei helfen, das Offensichtliche zu erkennen. Zu tun, was getan werden musste. Manchmal stellte er sich vor, sie würde wieder genauso sein wie vor vierzig Jahren, wenn er durch die Tür in ihr Zimmer kam, und er auch. Eine magische Tür. Wie in einer alten, wehmütigen Schwarzweiß-Folge von Twilight Zone.
Hinter ihm öffnete sich die Tür, und er hörte Eliana: «Mr. Pat? Teléfono für Sie! Ihr Sohn!»
«Bring mir das Telefon.»
«Nein, Mr. Pat. Kommen Sie doch herein. Es regnet. Sie erkälten sich noch!»
Er drehte sich um und starrte sie an.
«Bring mir das verdammte Telefon!»
«No!», sagte sie, es hätte nur noch gefehlt, dass sie trotzig mit dem Fuß aufgestampft hätte.
Er ging zu ihr. «Mein Gott, Eliana. Vergiss nicht, dass ich dein Boss bin.»
Sie kam heraus in den Nebel und presste sich gegen ihn.
«Nein, Mr. Pat. Das ist mein Boss.» Und sie rieb mit der Hand über die Vorderseite seiner Hose.
Er gab einen Laut von sich, irgendetwas zwischen einem Knurren und einem Lachen, dann küsste er sie und ging in die Küche.
«Wo ist das verfluchte Telefon?»
«Auf dem Tisch, Mr. Pat.»
Er setzte sich an den Eichentisch. Stellte das Whiskeyglas ab und nahm den Hörer.
«Joey, wie geht’s dir?»
«Was zum Teufel ist bei euch los, Dad? Warum hast du nicht angerufen?»
«Das wollte ich ja, du bist mir nur zuvorgekommen. Ich habe den neuen Wagen immer noch nicht gekauft.»
«Verdammt noch mal! Willst du sagen, das Flittchen ist noch am Leben?! Und wo ist mein Sohn?!!»
Cicala war entsetzt. Alle Telefongespräche ins Gefängnis werden aufgenommen oder mitgehört.
«Joey – ich verstehe nicht, was soll denn –»
«Entspann dich, Dad. Ich habe ein Handy.»
«Wo hast du das denn her?»
«Hab’s gekauft, von einem Wachmann. Weißt du, was der Mistkerl dafür haben will?»
«Trotzdem musst du aufpassen, Joey. Schrei nicht so, verdammt noch mal. Vielleicht hört dich jemand.»
«Nun mach schon, Dad, sag mir einfach, was los ist.»
Cicala saß unter dem verwanzten Kronleuchter, trank Scotch und erzählte seinem Sohn alles.
«Mom weint», sagte Luke. Der Hund stand hinter ihm, als wollte er diese Nachricht bestätigen.
«Warum?», fragte Gray.
«Ich weiß nicht. Sie will es mir nicht sagen.»
«Wo ist sie jetzt?»
«Sie ist rausgelaufen.»
Gray hatte auf dem Bett gelegen und in Wanderer gelesen. Er stand auf und folgte Luke und dem Hund.
Am Himmel verschwand der letzte schwache Lichtschein, und die Sterne kamen heraus. Sie stand am Pool. Mit bloßen Armen, die sie um ihren Körper geschlungen hatte, als sei ihr kalt, und vielleicht war es das auch, denn die Luft wurde kühler. Als sie sich zu ihm umdrehte, sah er, dass sie tatsächlich weinte. Sie wischte sich schnell mit dem Handrücken die Nase ab.
«Was ist denn los?», fragte er.
«Ich war an Normans Computer –»
«Und?»
«Ich wollte wissen, wie es in Oklahoma weitergegangen ist. Gray, es hat noch mehr Morde gegeben. Am Samstagabend!»
«Was ist denn passiert?»
«Ein Bulle ist in meiner Wohnung umgebracht worden. Erstochen. Ein anderer Polizist wurde vor dem Haus getötet. Er wurde erschossen. Und dann ist noch jemand erschossen worden, ein Stück die Straße hinunter. Er ist mit seinem Hund Gassi gegangen.»
«Wissen sie schon, wer es war?»
«Nein. Aber wir wissen es!»
Der blonde und der dunkle Kerl, nahm er an. Der Polizist hatte sie in Ginas Wohnung ertappt. Der zweite Polizist war seine Verstärkung. Und der Mann mit dem Hund – falscher Ort zur falschen Zeit.
Trotzdem war es merkwürdig. Warum suchten die beiden in Oklahoma nach Gina, wenn ter Horst ihr schon nach Kalifornien gefolgt war? Es sah so aus, als hätten sie damals noch nicht zusammengearbeitet. Aber jetzt.
«Den einen, der in meiner Wohnung getötet wurde, kannte ich», sagte Gina. «Er hieß Duane. Manchmal kam er in das Restaurant, in dem ich gearbeitet habe. Er war noch nicht lange bei der Polizei. Er war fast noch ein Kind. Irgendwie schüchtern, und so nett! Er sagte immer Ma’am zu mir, bis ich es ihm verboten habe. Er war verheiratet, seine Frau hat gerade ein Kind bekommen. Er hat so gerne Apfelkuchen nach Art des Hauses gegessen. Und jetzt ist er tot. Meinetwegen.»
«Du kannst nichts dafür, die Mörder sind allein schuld daran. Aber – vielleicht ist es jetzt so weit.»
«Was meinst du damit?»
«Zeit, zur Polizei zu gehen. Zum FBI. Zu wem auch immer.»
«Ich hab’s dir doch gesagt, ich kann denen nicht trauen.»
«Die meisten sind ordentliche Jungs, Gina. Nicht wie Frank.»
«Einer reicht, ein einziger Mistkerl.»
Sie sah in den Pool hinunter, der bis oben hin voll war mit Dunkelheit.
«Luke hat mir gesagt, dass du sie rausgeholt hast. Die Schlange. Danke!»
Er nickte. Sie hatte die Arme noch immer um ihren Körper geschlungen. Er legte ihr die Hand auf die Schulter.
«Du zitterst ja. Komm, lass uns reingehen.»
Sie machten kehrt. An der Glasfront des Clubraums standen Luke und der Hund und beobachteten sie.
«Sag Luke nichts davon», sagte sie, «was in Oklahoma passiert ist.»
«Mach ich nicht», sagte Gray.
Im Fernsehen kam ein Werbespot für Jack LaLannes Energiedrink. Jack LaLanne sah in seinem blauen Overall alt und heruntergekommen aus.
«Meine Güte», sagte ter Horst, «Jack LaLanne lebt noch?»
Sie waren in seinem Motelzimmer, aßen Macho Nachos mit Fritten und tranken Coors aus großen gelben Dosen. Draußen war immer noch der Rauch der Brände in der Luft, aber er hatte nachgelassen. Die Teufelswinde hatten ausgeweht.
«Was deine Kumpels heute Abend wohl anstellen», sagte Lingo. «Jack und Jill.»
«Keine Ahnung», sagte ter Horst. «Sie vertrauen mir nicht.»
«Lass sie uns umnieten», sagte Ronnie.
«Ronnie, ich habe dir doch schon erklärt, dass wir sie nicht umnieten können. Dann stirbt meine Tochter.»
«Deine dicke Tochter», sagte Ronnie und steckte sich eine Ladung Fritten in den Mund, der schon vor Fett glänzte. Sein schiefer Zahn guckte heraus. Ter Horst hatte Mühe, seinen Anblick zu ertragen.
«Jetzt hör mal zu», sagte ter Horst, «wenn du keinen Mist gebaut hättest, wären wir längst unterwegs nach Hause. Und meine Tochter wäre frei.»
«Wovon redest du da?»
«Gestern auf dem Parkplatz hattest du freies Schussfeld. Du hast danebengeschossen.»
«Das war nicht einfach! Das Auto hat sich bewegt.»
«Scheiße, Ronnie, du bist nun mal kein guter Schütze. Du zielst wie ein Blinder mit Krückstock.»
Ter Horst und Lingo lachten. Ronnie kriegte einen roten Kopf, stand auf und schleuderte seine Schachtel Fritten gegen die Wand.
«Du Arschloch!»
«Ronnie», sagte Lingo streng, «lern gefälligst, einen Witz einzustecken. Jetzt heb die Fritten wieder auf.»
Widerwillig ging Ronnie los und sammelte die verstreuten Fritten wieder ein.
«Das hier ist kein Spiel, Junge. Werd endlich trocken hinter den Ohren, wir haben jemand umzubringen.»
Ronnie nickte und warf die Fritten in den Papierkorb.
«Tut mir leid, Dad.»
«Schon in Ordnung.»
«Ich gehe ins Bett.»
«Okay.»
Ronnie ging das kurze Stück zu seinem Zimmer. Rauchte auf der Bettkante eine Camel und dachte an Steve. Ganz allein dort draußen in der Wüste unter dem schrägen Baum. Er hoffte, dass die Kojoten ihn nicht ausgruben.
Als er zu Ende geraucht hatte, stand er auf und holte seine Plastikmuschi aus der Reisetasche. Ging zum Bett und machte es sich gemütlich. Dabei stellte er sich vor, was er mit Gina anstellen würde, wenn sie sie geschnappt hätten.
Sie zog das schmutzige Zeug aus, das sie die letzten beiden Tage angehabt hatte, und nahm eine lange heiße Dusche. Sie trocknete sich ab, ging nackt ins Schlafzimmer und öffnete den Schrank. Dort hingen Frauensachen, sie nahm an, dass sie Normans Frau gehört hatten. Sie suchte ein wenig herum und nahm ein blassgelbes Kleid heraus.
Sie schlüpfte hinein und stellte sich vor den Spiegel. Drehte sich hin und her. Es passte einigermaßen. Sie war nicht der Kleidertyp, aber dieses gefiel ihr. Es wirkte frisch und hübsch.
Sie bekam Lust auf etwas Süßes. Heute Abend hatten sie leckeres Erdbeereis zum Nachtisch gegessen.
Sie ging durch den Flur in die Küche und spürte die kühlen Kacheln unter ihren nackten Füßen.
Er wollte so was nicht mehr machen.
Er wollte in friedlichen Parks um Bäume laufen und mit dem Hund den Strand hinunterjoggen. Er wollte nicht mehr töten und ganz bestimmt nicht getötet werden. Vor zwei Jahren hatte er Glück gehabt, lebend aus Kangari herauszukommen, aber jetzt schien die ganze Welt Kangari geworden zu sein. Gestern in Santa Monica hatte ihn ein Adrenalinstoß mitgerissen. Aber was würde morgen sein, übermorgen? Gina und Luke verließen sich darauf, dass er sie beschützte. Das hatten Bangura und seine Frau auch, und was hatte es ihnen genützt?
«Gray?»
Er öffnete die Augen und blickte auf.
Gina stand im Halbdunkel vor ihm. Im gelben Kleid. Sie hielt eine Schale mit Eis in der Hand.
«Ist mit dir alles okay?», fragte sie.
Er nickte. Er saß im Clubraum in einem Lehnstuhl gegenüber vom Kamin, in Jeans und ohne Hemd. Er hatte die Beine angezogen und hielt sie mit den Armen umklammert. Der Hund saß neben ihm.
«Bist du wieder im Schlaf herumgelaufen?»
«Nein.»
Sie stellte die Schale mit dem Eis auf den Couchtisch.
«Steh auf», sagte sie und streckte die Hand nach ihm aus.
Langsam gingen sie zur Tür. Sie hielt seine Hand und sah ihm ins Gesicht. Sie sah dort etwas, das vorher nicht da gewesen war. Nicht einmal in der Nacht, als sie ihn auf dem Parkplatz des Sea Breeze Motels gefunden hatte. Eine Spur von Trostlosigkeit, wie ein Winter ohne Wärme und Licht.
«Hab keine Angst», sagte sie. «Alles wird gut.»
Der Hund sah zu, wie sie gingen. Er war hin- und hergerissen, ob er ihnen folgen oder lieber bleiben sollte. Hier beim Eis. Er entschied sich für das Eis.
Sie gingen in Grays Zimmer.
«Leg dich einfach hin», sagte sie. «Schlaf dich aus.»
Er legte sich hin und sah zu ihr hoch.
«Ich bin am Ende des Flurs, wenn du mich brauchst.»
«Das Kleid gefällt mir», sagte er, griff nach oben und zog sie und ihr Kleid zu sich herab. Sie sahen sich an, ihre Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, dann küssten sie sich. Er berührte ihr Haar und strich dann mit den Händen an ihrem Kleid entlang. Er spürte, dass sie darunter nackt war.
«Ich liebe dich», sagte sie.
Er verließ das Motel und ging spazieren. Es war halb zwölf Uhr nachts, es herrschte nur wenig Verkehr. Hier gab es genauso wenig Nachtleben wie in dieser kleinen Stadt in Oklahoma.
Palmwedel raschelten trocken im warmen Wind. Sterne waren nicht zu sehen. Er roch den Rauch.
Je länger er darüber nachdachte, desto mehr nahm die Idee Gestalt an. Luke und er auf diesem Juwel von einer Insel. Beinah so abgelegen wie Pitcairn Island, wo die meuternden Seemänner der Bounty sich versteckt hatten.
Es wäre das Beste, was dem Jungen passieren konnte. Mutter tot. Vater im Gefängnis. Zurück blieb ein Waisenkind. Sie würden über weiße Strände laufen und im türkisfarbenen Meer schwimmen.
Er hoffte, dass er Dima nicht töten musste. Er war zwar nur ein Stück Vieh, aber er mochte ihn. Es hing davon ab, was für Luke das Beste war.
Zuerst dachte er, es sei ein Hund, der zügig den Washington Boulevard entlangtrabte. Dann sah er, dass es ein Kojote war. Er war in eins der Feuer geraten. Sein braunweißes Fell war voller Brandwunden. Er sah ihn kurz an, als sie aneinander vorbeikamen. Seine Augen waren verängstigt und wirr.
Groh blieb stehen, drehte sich um und sah ihm nach, wie er immer weiter in die riesige Stadt hineinlief. Armes Tier, dachte er. Ob er wohl wusste, wohin dieser Weg führte?
Sie lag in Grays Armen und dachte an gar nichts. Spürte nur seinen Herzschlag. Das Heben und Senken seines Brustkorbs beim Atmen.
«Schläfst du?», flüsterte er.
«Nein.»
Er küsste ihr Haar, und sie kuschelte sich an ihn. Als könnte sie ihm noch näher kommen. Es wäre so schön, für immer so liegen zu bleiben. Sie und er wie Insekten im Bernstein, für immer zusammen.
Aber dann ging es wieder los. Das Bellen, Jaulen, Kläffen und Heulen. Wie letzte Nacht.
«Gott», sagte sie. «Ich hasse das.»
«Was?»
«Die Kojoten.»
«Warum?»
«Das ist verdammt noch mal ein furchtbarer Lärm.»
«Nicht für die Kojoten.»
Luke ging zum Fenster und hoffte, er bekäme einen der Kojoten zu sehen. Aber draußen war nur die flache, stille Wüste. Die schwarzen Erhöhungen der Berge. Der Himmel und die vielen Sterne.
Er dachte an seine Freunde damals in Massapequa Park. Dylan und Jeff und Frank und Aaron. Er hatte sie immer um ihr ruhiges Leben beneidet, aber jetzt wünschte er sich, dass sie ihn sehen könnten. Hier draußen, mitten in der Wüste. Ein Rudel wilder Kojoten heulte vor seinem Fenster. Er hatte Sachen getan und gesehen, die sie nur aus dem Fernsehen kannten und aus dem Kino. Eines Tages würde er zurückkehren und ihnen davon erzählen.
Er ging zurück ins Bett. Zu seiner Pistole.
Am Nachmittag, als seine Mutter und Gray auf der Veranda so lange geredet hatten, hatte er das Haus erkundet. Die Pistole hatte er in Normans Büro in einer Schreibtischschublade gefunden. Einen 32er Revolver mit kurzem Lauf, außerdem eine Schachtel Munition, obwohl die Waffe bereits geladen war.
Er setzte sich im Schneidersitz aufs Bett, nahm die Pistole, drückte die Trommel heraus und schüttelte die Patronen auf die Bettdecke. Dann steckte er sie wieder hinein. Das machte Spaß.
Er hatte schon einmal mit einer Pistole geschossen. Sein Dad war mit ihm in einen Wald gegangen, dort hatten sie auf Konservendosen gezielt. Sein Vater hatte auch auf ein paar Vögel geballert, aber keinen getroffen. Er wusste also, dass es nicht schwer war. Nur zielen und abdrücken.
Jetzt würde er Gray helfen können. Falls es nötig sein sollte.
Sie träumten in dieser Nacht.
Gina träumte, sie wäre wieder auf der Highschool. Sie kam zu spät zum Unterricht und konnte ihren Spind nicht finden, die endlosen Flure waren voller Spinde, und sie wusste nicht, welcher ihrer war. Markus Groh träumte fröhlichere Dinge, er saß in einem lauten Biergarten, und eine Gruppe von Akrobaten führte verblüffende Kunststücke vor. Bulgakov dagegen hatte einen düsteren Traum, er war Soldat und patrouillierte durch das zerstörte Grosny. Norman bekam Besuch von seiner toten Frau, wie fast in jeder Nacht, und Latreece träumte von der Farm ihrer Großeltern auf Jamaika. Sie war dort aufgewachsen und damals sehr glücklich gewesen, deshalb war sie auch jetzt in ihrem Traum sehr glücklich. Mac Lingo träumte, er würde mit einem Trecker über einen staubigen, zerfurchten, toten Acker fahren, ein großer Schwarm von Krähen flog vorbei und verdunkelte die Sonne. Ronnie träumte, dass er einen großen weißen Kuchen aß, und Eliana träumte, sie wäre Sängerin in einem verrufenen Nachtclub an einem stinkenden Fluss im Dschungel. Die Gäste starrten sie an und hörten gebannt zu, aber sie klatschten nie. DeWitt träumte von Dee und Dee von DeWitt. Bobby Quasimodo träumte, Cicala würde ihn anschreien, und zu seiner eigenen Überraschung brach er zusammen und fing an zu weinen, was er sehr peinlich fand. Der Hund knurrte im Schlaf und träumte von einem großen Pitbull namens King. Er kämpfte mit King, und King biss ihm das Ohr ab. Gray war in seinem Traum wieder im Riesenrad auf dem Santa Monica Pier. Aber nicht mit Gina und Luke, sondern mit dem buddhistischen Mönch mit der riesigen Sonnenbrille. Der Mönch sagte kein Wort und sah Gray mit einem vergnügten Lächeln an. Joey Cicala träumte, er wäre in einem Stripschuppen und bekäme von einer der Tänzerinnen einen Blowjob. Die Frau von Duane Butterfield träumte, sie ginge mit dem Baby im Arm durch einen gruseligen Erlebnispark in Branson, Missouri, und suchte vergeblich nach Duane. Ter Horst träumte, dass rätselhafte Lichter am Nachthimmel auftauchten, außerirdische Raumschiffe, die Todesstrahlen aussandten, und er rannte und rannte mit klopfendem Herzen und bekam keine Luft mehr, während die Menschen links und rechts von ihm in Flammen aufgingen. Jamie träumte, die Enten lebten mit ihm zusammen in der Zelle, sie saßen alle in einer Reihe auf dem unteren Bett. Quex war noch im Krankenhaus in L.A. und träumte, dass er in einem runden, unterirdischen Verlies gefangen gehalten und von Verrückten mit leeren Augenhöhlen gefoltert wurde. Pat the Cat hatte einen seiner banalen, aber anstrengenden ‹Wo-gibt’s-ein-sauberes-Klo-damit-ich-endlich-pissen-kann?›-Träume. Ein Stück weiter träumte Millie, dass sie mehr und mehr schrumpfte, bis sie so klein war, dass sie durch die Moleküle, aus denen ihre Matratze bestand, hindurchfiel. Diese Moleküle glänzten dabei um sie herum wie Sterne. Mr. Li nickte in seinem Sessel auf dem Schiff kurz vor der Morgendämmerung ein und träumte, er würde von einem Flugzeug hinab aufs Meer blicken. Luke dagegen träumte vom weißen Pferd. Es kam auf ihn zu, scharrte mit den Hufen und schnaubte. Es wollte, dass Luke auf seinen Rücken kletterte. Luke kletterte hinauf, und sie ritten davon.