16. Kapitel

Die Zutaten für das Labskaus standen fertig geputzt und geschnippelt im Kühlschrank. Wie immer fand Tante Miene auch diesmal bei den Vorbereitungen zu der Hamburger Delikatesse die notwendige Muße, um sich die ganzen Vorkommnisse der vergangenen Tage noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen und einen ersten Schlachtplan zu entwerfen. Gleich nachdem sie alles in Schüsselchen gefüllt und luftdicht verschlossen weggeräumt hatte, rief sie ihren Freund Ottokar an und bat ihn sie nach Füssen zu fahren. Es dauerte keine zehn Minuten da sah sie Ottokar schon über den Kiesweg zur Privatterrasse derer von Kronbergs eilen.

"Was ist es denn diesmal?", erkundigte er sich voller Tatendrang. Die Aussicht auf ein neues Abenteuer beflügelte ihn. "Ein Mord? Diebstahl, Betrug?"

"Mhmm, ich weiß es noch nicht so recht, mein Lieber", wich Miene aus. Sie hakte sich bei Ottokar ein. Gemeinsam gingen sie zu seinem uraltem Ford Taunus, der auf dem Parkplatz wartete. "Zuerst muss ich mal was herausfinden."

"Aha." Ottokar übte sich in Geduld, weil er wusste, dass es keinen Sinn hatte, weiter zu fragen. Miene würde erst mit ihren Neuigkeiten herausrücken, wenn sie Fakten parat hatte. "Und wohin in Füssen möchtest du, meine Liebe?"

"In die Stadtbibliothek."

Bereitwillig kutschierte Ottokar sie zu ihrem Ziel. Brav wartete er in einer Eisdiele, aber seine Geduld wurde auf keine allzu harte Probe gestellt. Schon eine halbe Stunde später kam Tante Miene über den Markplatz marschiert. Ihre Miene und Haltung verrieten, dass ihre Recherche erfolgreich verlaufen war.

"So, mein Guter, wir fahren gleich zum Schloss zurück." Sie nahm Ottokar einfach den Löffel aus der Hand und zerrte an ihm herum, bis er aufstand.

"Darf ich jetzt erfahren, hinter was oder wem du her bist?", wagte es Ottokar doch nachzuforschen, während er hastig einen Geldschein unter den halb aufgegessenen Eisbecher legte.

"Hinter was ich her bin, weiß ich noch nicht. Aber hinter wem, das weiß ich jetzt. Hinter jemandem, der nicht der ist für den er sich ausgibt."

"Aha." Das war keine sehr erschöpfende Antwort. Ottokar blieb gerade noch Zeit für einen letzten, verzichtenden Blick auf sein Eis, dann zerrte ihn Tante Miene unnachgiebig hinter sich her zum Parkplatz.


***

Conny war von den Erlebnissen des Tages (besonders dem mit der japanischen Reisegruppe) so ausgefüllt, dass ihr die Abwesenheit ihrer Schwester zunächst gar nicht auffiel. Erst, als sie gegen neun Uhr an Jennys Zimmertür klopfte und ihr niemand antwortete, begann ihr aufzugehen, dass sie Jenny schon beim Abendessen vermisst hatte. Sorgen bereitete ihr diese Tatsache allerdings nicht. Jennys sprunghaftes Wesen ließ alle möglichen Schlüsse zu. Wer weiß, wen sie auf ihrer Shoppingtour kennen gelernt hatte, mit dem sie nun in irgendeiner Diskothek tanzte. Gut gelaunt ging Conny in ihr eigenes Zimmer hinüber, um sich für das Treffen mit Simon umzuziehen. Sie wollten den Abend auf der Terrasse des Schlosshotels verbringen, wo ein buntes Unterhaltungsprogramm angekündigt war. Ein DJ aus München legte Musik für Jung und Alt auf, ein Zauberkünstler sollte das Publikum in Staunen versetzen und ein Flamencopaar würde der bayrischen Nacht einen Hauch spanisches Ambiente verleihen.

Im Foyer traf sie auf Graf von Auerbach-Steinfeldt. Conny grüßte ihn freundlich und wollte schon weitergehen, aber sie blieb doch kurz stehen.

"Oh, Herr Graf, haben Sie zufällig meine Schwester gesehen?"

Klaus-Peter schüttelte bedauernd den Kopf. "Nein, tut mir Leid, wir sind uns nicht begegnet."

"Sie wollte nach Füssen..." Nachdenklich zog Conny die Unterlippe zwischen die Zähne.

"Ich habe den ganzen Vormittag im Wellnessbereich zugebracht und heute Nachmittag habe ich endlich das Schloss Neuschwanstein besichtigt. Ich komme gerade erst zurück."

"Ach, so!" Conny winkte ab. "Dann vergessen Sie meine Frage."

Tante Miene runzelte grüblerisch die Stirn. Sie stand an der Rezeption, ein Tellerchen Labskaus in der Hand, das sie Sonja Tewes übergeben wollte. Die Gute hatte einmal aus reiner Höflichkeit behauptet, dass ihr das Zeug gut schmecken würde, seitdem bedachte Miene sie jedes Mal mit einer Kostprobe. Sonja war die Einzige, alle anderen hatten rundweg erklärt, dass es das Scheußlichste war, das sie jemals zu sich genommen hatten. An ihnen gingen alle späteren Muster vorüber, was beweist, dass gute Erziehung manchmal äußerst hinderlich sein kann.

"Frau Pahlke?" Sonja stand schon eine ganze Weile hinter ihrem Empfangstresen und wartete darauf, dass sich Tante Mienes Interesse wieder ihr zuwandte. "Kann ich etwas für Sie tun?"

"Äh - ?" Die Angesprochene fuhr herum. Der Ausdruck ihrer grauen Augen zeigte Verständnislosigkeit, so als wüsste die alte Dame gar nicht, was sie hier unten in der Lounge suchte. Dann fiel ihr Blick auf den Teller. "Ah, so, ja." Sie stellte ihn vor Sonja ab. "Hier, meine Liebe, echter Hamburger Labskaus, den mögen Sie doch so."

Hastig schluckte Sonja ihren Mageninhalt zurück, der sich beim Anblick des Gemischs auf den Weg ans Tageslicht begeben wollte. "Danke", würgte sie heraus, lächelnd, was ihr hoch anzurechnen war. "Ich werde – es nachher – essen."

"Guten Appetit." Tante Mienes Aufmerksamkeit war schon wieder abgelenkt. Tief in Gedanken spazierte sie davon, während Sonja den Teller mitsamt Labskaus in einer der Schubladen verschwinden ließ.