Acht Pioniere
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Max Planck (1858–1947)
Physiker, Philosoph, Politiker, Prediger
Max Planck gehört zu den Menschen, vor denen man sich verneigen oder zumindest den Hut ziehen sollte. Er war ein aufrechter Mann, dem man nur mit Respekt begegnen kann. Als Physiker war Planck groß, sein Name ist durch das Planck’sche Quantum der Wirkung, das inzwischen als viel zitierter Quantensprung Eingang in die Populärkultur gefunden hat, unsterblich geworden. Sein untadeliger Ruf als vorbildlicher Wissenschaftspolitiker führte dazu, dass 1948 eine Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft nach ihm benannt wurde, die weltweite Anerkennung genießt. Und auch als Philosoph konnte Planck überzeugen, wobei sein Name hier für das stete Bemühen um ein einheitliches wissenschaftliches Weltbild steht, dessen Grenzen ihm so selbstverständlich waren wie die Qualität seiner Wissenschaft von der Natur und ihre Wirklichkeit. In einer Rede als Rektor der Berliner Universität erklärte Planck im Jahre 1913: »Auch für die Physik gilt der Satz, dass man nicht selig wird ohne Glauben, zum mindesten den Glauben an eine gewisse Realität außer uns.«
Lebensstufen
Plancks Leben lässt sich auf mannigfaltige Weise einteilen. Es findet zur einen Hälfte im 19. und zur anderen Hälfte im 20. Jahrhundert statt. Der am 23. April 1858 in Kiel geborene und in München aufgewachsene Planck ist zunächst vor allem mit dem Studium der Physik beschäftigt, obwohl ihm einer seiner Lehrer 1874 den immer wieder zitierten Rat gegeben hat, das Fach zu vermeiden, da »grundsätzlich Neues darin kaum mehr zu leisten sein wird«. Wir wollen an dieser Stelle nicht darüber spekulieren, warum der damals 16-jährige Planck den Rat eines 60-jährigen Professors ausschlägt, doch bemerkenswert ist, dass die Zunft der Wissenschaftstheoretiker an dieser Stelle feige kneift, nach Gründen zu suchen, weil sie ohnehin nicht an der psychischen Beschaffenheit ihrer Helden interessiert ist. Es darf angenommen werden, dass ihm andere (tiefere) Quellen als das rationale Abwägen geholfen haben, sich trotz der Warnung für die Physik zu entscheiden – so jedenfalls deute ich den Mut, den der junge, fast noch knabenhafte Planck zum Beginn seines Studiums zeigt.
Planck schließt seine Studien zügig ab. Im Alter von 21 Jahren promoviert er mit einer Arbeit über die Frage, was neben der Energie noch bestimmt, auf welche Weise physikalische Prozesse ablaufen und welche Richtung sie dabei einschlagen. Zwar beklagt sich Planck, dass niemand seine Doktorarbeit gelesen hat, aber ein Rebell wird er nicht. Schon 1885 übernimmt er eine Professur für Physik in Kiel, bevor die Universität Berlin ihn 1889 in die Hauptstadt ruft. Hier in Berlin wird er lange bleiben und Karriere machen, erst als Physiker und dann als Organisator der Wissenschaft. Berühmt werden seine Vorlesungen zur Thermodynamik, die 1897 erscheinen und viele Aufl agen erleben.
Berühmt wird auch Plancks Einführung in die Theoretische Physik, die zwischen 1916 und 1930 in fünf Bänden herauskommt und das Ende seiner wissenschaftlichen Tätigkeit im engeren Sinne andeutet, für die er vielfach ausgezeichnet worden ist. 1918 erhält Planck den Nobelpreis für Physik, und zehn Jahre später – zu seinem 70. Geburtstag – stiftet die deutsche Wissenschaft die Max-Planck-Medaille, die er selbst als Erster entgegennehmen darf – und zwar aus den Händen von Albert Einstein, der dann als Zweiter durch den Namensgeber selbst ausgezeichnet wird.
In den folgenden Jahren publiziert Planck mehr philosophisch orientierte Texte wie die Wege zur physikalischen Erkenntnis und engagiert sich immer stärker als Wissenschaftspolitiker. Seit 1912 schon fungierte er als ständiger Sekretär der Preußischen Akademie der Wissenschaften, und 1930 wird er im eigentlich schon hohen Alter von 72 Jahren Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die 1948 – ein Jahr nach Plancks Tod am 10. April 1947 in Göttingen – einen neuen Namen bekommen wird, nämlich seinen.
Tiefe Überzeugung und tiefes Leid
Planck verstand Physik als »Suche nach dem Absoluten«, und er glaubte fest und voller Vertrauen, diese Wissenschaft bringe Gesetze hervor, die unabhängig vom Menschen absolute Gültigkeit besitzen. Als Student nahm er unter dieser Vorgabe das Prinzip von der Erhaltung der Energie »wie eine Heilsbotschaft« in sich auf. Das Bemühen um solche Zusammenhänge erschien ihm als »die schönste wissenschaftliche Aufgabe«, wobei er es als selbstverständlich erachtete, dass man dabei nie an ein Ende kommen würde, war es doch die Sehnsucht nach dem Suchen der natürlichen Ordnung, »die das schönste Glück des denkenden Menschen bedeutete« und ihm das Bewusstsein verlieh, »das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren«.
Mit diesen Worten zitierte Planck Goethe, dem er sich sowohl gedanklich wie stilistisch verbunden fühlte. Plancks Aufsätze, die sich mit Themen wie Wissenschaft und Glaube oder Kausalität und Willensfreiheit befassten, machen bis in die Wortwahl hinein das klassische humanistische Erbe deutlich, das er vertreten und verteidigen wollte. Planck reicht auf diese Weise weit in die europäische Geistesgeschichte zurück, aber er dringt mit seinem wissenschaftlichen und persönlichen Leben auch weit mit ihr nach vorne. Dabei soll es zur Tragik seiner Biografi e gehören, dass sein Land in Trümmern liegt und die deutsche Kultur umfassend vernichtet ist, als er im Alter von fast 90 Jahren in Göttingen stirbt. Die für den Ruin zuständigen Politiker konnte auch der sonst eher zurückhaltend formulierende Planck nur als »Mörderbande«, »Lumpen« und »infame Dunkelmänner« bezeichnen. Sie hatten ihm noch im Januar 1945 unsägliches Leid zugefügt, als sie seinen Sohn Erwin ermordeten, weil er zu den Widerstandskämpfern um Stauffenberg gehört hatte. Es ging Plancks Sohn darum, Pläne für den Aufbau eines Rechtsstaats auszuarbeiten, der nach der nationalsozialistischen Terrorherrschaft auf deutschem Boden errichtet werden sollte. Mit Erwins Hinrichtung verlor Planck das vierte Kind zu seinen Lebzeiten. Sein erster Sohn war bereits im Ersten Weltkrieg gefallen, und seine geliebten Zwillingstöchter sind beide zwischen 1917 und 1919 im Kindbett gestorben.
Wie hält jemand solch ein Schicksal aus? Wer diese Frage beantworten will, wird bei Planck vor allem den Hinweis geben müssen, dass er seine eigene Person stets hinter übergeordneten Ideen zurücktreten ließ. Für Planck gehörte das, was man oft hochnäsig bis abwertend als preußisches Pflichtgefühl bezeichnet, zu den bürgerlichen Selbstverständlichkeiten, und er bemühte sich darum bis zur Verleugnung der eigenen Person. Weder scheute er in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg den zweistündigen Fußmarsch zur Arbeit, noch zögerte er, bei Dienstreisen die Nacht auf der Bank eines Wartesaals zu verbringen, wenn durch die Infl ation das Geld, das ihm zur Verfügung stand, nicht mehr für ein Hotelzimmer reichte. Dass Planck bei Eisenbahnfahrten niemals die erste Klasse benutzte, sondern sich in der damals noch angebotenen dritten Klasse mit den Holzbänken begnügte, sei hier nur am Rande vermerkt.
»In den vierzig Jahren, die ich Planck gekannt habe und in denen er mir allmählich sein Vertrauen und seine Freundschaft geschenkt hat, habe ich immer mit Bewunderung festgestellt, dass er nie etwas getan oder nicht getan hat, weil es ihm selbst nützlich oder schädlich sein könnte.« So hat Lise Meitner diese Qualität ihres Lehrers einmal beschrieben. Dabei stand die Verbindung zwischen beiden zunächst unter einem eher unglücklichen Stern, nachdem Planck sich früh im 20. Jahrhundert skeptisch gegenüber dem Frauenstudium ausgesprochen hatte. Doch 1912 stellte er Lise Meitner als Assistentin ein, weil er begriff, welche schöpferische Kraft in ihr zum Ausdruck kam. Planck half ihr nun, wo er konnte, wie er überhaupt sich für andere einsetzte, wenn er deren Talent erkannt hatte. Dazu gehörte auch Albert Einstein, der bis 1905 als völlig unbekannter Angestellter in Bern auf dem Patentamt arbeitete. Selbst nachdem er seine ersten Arbeiten zur Relativitäts- und Quantentheorie publiziert hatte, blieb Einstein ein obskurer Name im Reich der Physik. Erst Planck hat ihn für die Wissenschaft entdeckt, und zwar gleich doppelt: Zum einen hat sich Planck – als Freund – bereits 1906 darum bemüht, Einstein nach Berlin zu holen, und zum anderen hat er sich – als Wissenschaftler – gleich an die Arbeit gemacht und versucht, mithilfe von Einsteins Ideen die klassische Physik Newtons relativistisch zu erweitern (wie es in der Fachsprache heißt).
Doch trotz der offenkundigen wissenschaftlichen Beweglichkeit schätzte Einstein seinen frühen Förderer Planck leider als stur ein. Der liberale Einstein verstand Plancks konservative Grundhaltung nicht, die ihm weniger demokratisch und mehr aristokratisch zu sein schien. Tatsächlich stand Planck dem allgemeinen Wahlrecht (das es im Kaiserreich in Deutschland noch nicht gegeben hatte) skeptisch gegenüber, denn er sah nicht, wie ein Volk genügend Kenntnisse und Bildung erwerben konnte, um politische Fragen auf der Basis der Vernunft entscheiden zu können.
Die Farben der schwarzen Körper
Es wird Zeit, sich der Physik Plancks zuzuwenden, und Einstein bietet dazu den Einstieg, denn eine seiner Arbeiten aus dem Jahre 1905 machte Gebrauch von einer Entdeckung, die Planck genau im Jahre 1900 gelungen war und die das herrliche Haus der Physik zum Einsturz bringen sollte, an dessen Errichtung Planck bis zu diesem Zeitpunkt höchstpersönlich kräftig mitgeholfen hatte. Planck war ganz zu Anfang des 20. Jahrhunderts zum Revolutionär wider Willen geworden. Dabei sah das Problem, mit dem er sich befasste, eher harmlos aus. Es ging um die Strahlung, die ein schwarzer Körper aussendet, dessen Temperatur erhöht wird. Wie jeder weiß (oder wissen sollte), wird zum Beispiel ein Stück Stahl bei Erhitzung erst rot-, dann gelb- und zuletzt weißglühend, und die Frage an die Wissenschaft lautete, ob und wie das Auftreten dieser Farben erklärt werden kann. Der Ausdruck »schwarzer Körper« meint dabei im Vokabular der Physik einen Gegenstand, der kein Licht reflektiert und dessen Farben somit allein aus seiner eigenen Beschaffenheit verstanden werden müssen.
Warum beschäftigte sich Planck mit den Farben eines schwarzen Körpers und der Frage, wie das, was er ausstrahlte, von seiner Temperatur abhing? Zum einen ging es um das Thema der Umwandlung und Erhaltung von Energie, das die Physik des 19. Jahrhunderts dominiert hatte, wobei in diesem Fall Wärmeenergie (Temperatur) die Form von Strahlungsenergie (Licht) annimmt. Zum anderen hatten vor allem die Arbeiten von Robert Kirchhoff in Heidelberg gezeigt, dass dieser Vorgang nicht von dem Körper abhängig war, den man betrachtete, sondern dass hier ein universelles physikalisches Gesetz seine Wirkung zeigte. Genau dies hoffte Planck zu finden, wobei der besondere Reiz der Aufgabe darin lag, dass berühmte Kollegen vor ihm etwas angeboten hatten, was man »halbe Gesetze« nennen könnte: Es gab eine Formel für die langen Wellenlängen der roten Farbe, die ein schwarzer Körper bei niedrigen Temperaturen zeigt; es gab eine Formel für die kurzen Wellenlängen der ultravioletten Strahlen, die ein schwarzer Körper bei hohen Temperaturen aussendet; es gab aber keinen Weg, die beiden Ansätze zu einer Einheit zu verbinden.
Die erwähnten Formeln waren unter der Annahme abgeleitet worden, dass das Licht des schwarzen Körpers von seinen Atomen stammte. Doch so selbstverständlich sich dieser Zusammenhang heute aussprechen lässt, so umstritten war die Idee eines atomaren Aufbaus der Materie vor 1900, als unter den Physikern noch heiße Debatten über die Frage stattfanden, ob es Atome wirklich gibt oder nicht. In einem Rückblick auf diese Auseinandersetzungen und in Hinblick auf die dickköpfige Haltung vieler Physiker, die sich durch nichts überzeugen lassen wollten, hat Planck einmal folgende bemerkenswerte Formulierung gebraucht, die man als Plancks Prinzip der Wissenschaftsgeschichte bezeichnen könnte: »Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass die Gegner allmählich aussterben, und dass die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist.«
Für Planck selbst stand die Realität der (unsichtbaren) Atome außer Frage, und er versuchte ihre Existenz aus beobachtbaren (und damit sichtbaren) Eigenschaften der Dinge abzuleiten. Die für ihn grundlegende Qualität der materiellen Prozesse bestand in dem, was unter Experten als Irreversibilität bekannt ist. Damit sind Vorgänge und Abläufe gemeint, die sich nicht vollständig rückgängig machen lassen.
Doch mit dem festen Glauben an die Existenz der Atome war nur der Weg zu der Strahlenformel für schwarze Körper vorgezeichnet, ohne dass eines der Hindernisse überwunden war, die darauf lagen. Wie konnte man sich vorstellen, dass Atome Licht hervorbringen? Klar schien, dass die Aussendung der entsprechenden Strahlen erneut als Umwandlung von Energie zu verstehen war, aber wie wurde aus der Energie der Atome die Energie des Lichts?
Das Quantum der Wirkung
Als Planck im Jahre 1900 vor dieser physikalischen Frage stand, an der viele Physiker vor ihm gescheitert waren, kam ihm die Idee, es mit einem mathematischen Trick zu probieren. Planck sah nämlich, dass die beiden oben erwähnten halben Gesetze zu einem ganzen verbunden werden konnten, wenn er – zunächst als rein rechnerische Hilfestellung – annahm, dass die Energie, die Atome als Licht abgeben, nicht als kontinuierlicher Strom, sondern in Form von diskreten Einheiten entweicht. Konkret ausgedrückt: Planck führte eine Hilfsgröße in die Physik ein, die er – vielleicht deshalb – mit dem kleinen Buchstaben h bezeichnete und die er sobald wie möglich wieder aus den Gleichungen entfernen wollte, was nichts anderes hieß, dass Planck daran dachte, am Ende seiner Bemühungen das h langsam, aber sicher gegen Null gehen zu lassen, um so zu dem stetigen Strömen der Energie zurückzukehren, das der klassischen Physik selbstverständlich war. Das kleine h schien ihm so wenig Bedeutung zu haben wie der Buchstabe h in dem Wort »Wahn«. Er brauchte diese Hilfsgröße nur als ein vorübergehendes Mittel, um die beiden Halbgesetze zu der Formel zusammenzuschweißen, deren Vorhersagen perfekt mit den experimentellen Daten übereinstimmte. Übrigens lud Planck die mit diesen Messungen bestens vertrauten Physiker der Berliner Universität eigens zu sich nach Hause ein, um ihre Daten bei einer Tasse Tee aus erster Hand zu bekommen und sicher zu sein, hier auch nicht die kleinste Abweichung zu übersehen.
Das Quantum der Wirkung
Das Quantum der Wirkung legt fest, wie groß Quantensprünge sind. Plancks Konstante h – der Quantensprung der Wirkung – kann heute extrem genau vermessen werden. Ihr Zahlenwert ist extrem winzig. Er liegt bei ungefähr 6 x 10-27 (zehn hoch minus siebenundzwanzig) erg·sec, wobei die zuletzt genannte Einheit das Produkt aus der Maßeinheit für eine Energie (erg) und der Sekunde (sec) ist. Die Planck’sche Konstante wirkt jedoch noch viel winziger in der Einheit Joulesekunde (Js), in der sie in den Lehrbüchern und Lexika verzeichnet wird. Dann handelt es sich um den Wert von (ziemlich genau) 6,626 x 10-34 (zehn hoch minus vierunddreißig) – was auch beim besten Willen unvorstellbar klein bleibt.
Tatsächlich zeigte sich, dass Planck mithilfe seines Parameters h die Farben des schwarzen Körpers so präzise vorhersagen konnte, wie es sich die Physiker des 19. Jahrhunderts erträumt hatten. Doch ein Gefühl des Triumphes wollte sich bei ihm nicht einstellen, denn der Preis für diesen Erfolg war eine Unstetigkeit in der Natur, die durch das kleine h ausgedrückt wurde, das heute als Planck’sches Quantum der Wirkung zu den fundamentalen Konstanten der Natur gerechnet wird. Das h tat Planck nämlich nicht den Gefallen, am Ende zu verschwinden. Es drängte sich vielmehr nach und nach in die Mitte der Atomphysik. Es nahm immer offenkundiger physikalische Realität an, es verlangte immer mehr Aufmerksamkeit, und zuletzt zwang es die Physiker, eine völlig neue Physik, die Quantenmechanik, aufzustellen.
Es ist übrigens wichtig, sich klarzumachen, dass es nicht die Energie selbst ist, in der sich das Sprunghafte (Quantenhafte) der Natur unmittelbar ausdrückt. »Quantisiert« ist primär das, was die Physiker »Wirkung« nennen, und damit meinen sie das Produkt aus Energie und Zeit. Wenn man eine so definierte Wirkung mit einer Frequenz multipliziert, hebt sich die Zeit auf, und man erhält eine Energie, und an dieser Stelle bekommt Plancks scheinbar oberfl ächlicher mathematischer Trick seine tiefe physikalische Bedeutung. Die Energie von Licht lässt sich jetzt nämlich berechnen, wenn man seine Frequenz mit dem Wirkungsquantum h multipliziert. Doch so selbstverständlich dieser Zusammenhang heute benutzt wird, so schockierend war er für die Physiker im frühen 20. Jahrhundert. Denn da sich eine Frequenz schlecht für einen Zeitpunkt festlegen lässt – man benötigt ein Intervall, um zu zählen –, musste man annehmen, dass die Energie selbst nicht zu allen Zeitpunkten definiert ist. Diese Einsicht war aber nur schwer mit dem Satz von der Konstanz der Energie zu vereinbaren, der damals zu den Grundpfeilern der Physik zählte.
Planck kannte diese Schwierigkeiten ganz genau, und er litt darunter, wobei es ihn auch nicht tröstete, dass man ihm dafür den Nobelpreis für Physik verlieh. Als er 18 Jahre nach der Entdeckung des Wirkungsquantums am Ende des Ersten Weltkriegs die Einladung aus Stockholm erhielt, war zwar die physikalische Bedeutung des Quantums deutlicher geworden, doch eine Theorie, die als neue Mechanik die alte von Newton ersetzen konnte, zeichnete sich noch nicht ab. Sie kam erst in der Mitte der 1920er-Jahre zustande, und zwar durch Werner Heisenberg und Erwin Schrödinger. Bis es so weit war, mussten sich die Physiker mit dem begnügen, was heute die alte Quantentheorie heißt. Sie ist durch die Tatsache charakterisiert, dass man verstanden hatte, dem Wirkungsquantum einen physikalischen Sinn zu verleihen, und dass man alle Versuche aufgegeben hatte, das Wirkungsquantum in die klassische Physik einzubauen (um es so an den Rand zu drängen).
Als Meister der alten Quantentheorie ist vor allem Bohr zu nennen, dem wir bald auf den nächsten Stufen der Hintertreppe begegnen werden. Bohr hatte Plancks Quantum nutzen können, um die wichtigste Sache der Welt zu erklären: die Stabilität der Atome und damit die Stabilität aller Materie.
Die experimentellen Befunden wiesen nach 1910 darauf hin, dass Atome einen positiv geladenen Kern hatten, um den negativ geladene Elektronen kreisten, und die Frage war, wie die Natur verhinderte, dass die Elektronen in den Kern stürzten. Denn eine Ladung, die sich in einem elektrischen Feld bewegt, strahlt nach den Gesetzen der klassischen Physik kontinuierlich Energie ab, und wenn ein Elektron im elektrischen Feld des Atomkerns sich daran hält, konnte es nur dasselbe tun und in den Kern stürzen. Mit anderen Worten: Die Physik konnte nicht erklären, wieso Atome festbleiben und nicht kollabieren. Das heißt genauer, die Physik konnte es nicht ohne die Hilfe des Quantums erklären, das Planck ihr zur Verfügung stellte. Es legte als Bedingung fest, dass die Energie des Elektrons einen Sprung – den heute sprichwörtlichen Quantensprung – tun musste, um seine Lage bzw. seinen Zustand zu ändern. Wenn ein Elektron angeregt war, konnte dieser Sprung spontan in den Grundzustand gelingen. In dem saß es aber fest. Für eine weitere Änderung – etwa eine Bewegung auf den Kern zu – brauchte es einen Anstoß von außen, und solange der ausblieb, passierte dem Elektron nichts. Dann blieb es auf seiner Bahn um den Kern, das Atom konnte stabil sein – und die Welt mit ihm.
Planck und die Feinde der Wissenschaft
Das eben geschilderte Atommodell geht auf Bohr zurück, und es charakterisiert die alte Quantenversion der Atome, die noch mit anschaulichen Begriffen wie »Umlaufbahn« operiert. All dies musste bald aufgegeben werden, was Planck nicht glücklicher machte, aber hinnahm, weil die neuen Theorien der wissenschaftlichen Nachprüfung standhielten und er nicht seinem eigenen Prinzip zum Opfer fallen wollte. Aktiv hat er sich an den Entwicklungen der neuen Physik aber nicht mehr beteiligt, denn zum einen ging er auf die siebzig zu, und zum anderen hielten ihn immer mehr politische Verpflichtungen von seiner geliebten theoretischen Physik fern. Man brauchte Planck zum Beispiel nach dem Ersten Weltkrieg, um die deutsche Forschung wieder in die internationale Gemeinschaft der Wissenschaftler zurückzubringen; von ihm wurde erwartet, dass er Gelder für die 1920 ins Leben gerufene Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft erst sammelte und dann fair und zukunftsweisend zugleich verteilte. Planck diente seinem Land, wie man es von ihm erwarten konnte. Er wirkte im sogenannten Elektrophysik-Ausschuss mit, der unter seinem Einfluss die theoretische Physik förderte und dabei die große Qualität ermöglichte, die diese Forschungsrichtung in den kommenden Jahren in Deutschland bekommen sollte. Zu den geförderten Physikern gehörte unter anderem Werner Heisenberg, dessen Leben und Leistung in diesem Buch noch zur Debatte steht.
Plancks exponierte Stellung verlangte oftmals deutliche Stellungnahmen von seiner Seite, wobei vor allem seine deutliche Warnung vor dem auffällt, was er das »spirituelle Element« nannte. Er hielt Autoren wie Oswald Spengler und Rudolf Steiner für »Feinde der Wissenschaft«, die er als seine geistigen Gegner betrachtete, weil sie die Schwierigkeiten der Gesellschaft – von ihnen »Krankheiten« genannt – auf die Hinwendung zu technischen Entwicklungen und die Abkehr von spirituellen Praktiken zurückführten. Planck sah in derartigen Verkündigungen ebensolche Gefahren für die abendländische Kultur wie im aufkommenden Nationalsozialismus. In diesem Fall hoffte er zuerst, die ganze Bewegung unter Hitler sei nur ein Spuk, der rasch verfl iegen würde, doch spätestens im Mai 1933 merkte er, dass konkret etwas geschehen musste. Er bat als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft um ein Gespräch mit Hitler, dem Reichskanzler, um ihn auf die Tatsache aufmerksam zu machen, dass die von den Nazis erzwungene Emigration der Menschen jüdischen Glaubens die Wissenschaft in Deutschland ruinieren würde. Tatsächlich gelang es ihm, ein Treffen mit dem Führer für den 16. Mai 1933 zu vereinbaren, über das er erst zwölf Jahre später – 1947 als fast 90-Jähriger – etwas zu Papier bringt. Er erzählt dabei von einem Führer, der ignorant, realitätsfern und borniert wirkt und etwas der Art sagt wie: »Unsere völkische Politik wird weder rückgängig gemacht noch abgeändert werden, auch nicht für die Wissenschaftler. Wenn die Entlassung jüdischer Wissenschaftler die Vernichtung der zeitgenössischen deutschen Wissenschaft bedeutet, dann werden wir eben einige Jahre lang ohne Wissenschaft auskommen.« Doch inzwischen zweifelt die Geschichtsschreibung an der Zuverlässigkeit des Berichtes, den Planck von seinem Besuch gegeben hat, und wir müssen wohl an dieser Stelle wenigstens ein klein wenig Abschied von dem heroisierten Bild nehmen, das sich die Nachwelt von der Rolle Plancks im Nationalsozialismus machte bzw. allzu gerne machen wollte.
Wir wissen, wie traditionsbewusst Planck dachte, und als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft befürwortete er sicher den Satz, den sein Vorgänger Adolf von Harnack 1909 – also in der heilen Welt der Monarchie – formuliert hatte und der behauptete, dass die deutsche Wehrkraft und die Wissenschaft die beiden starken Pfeiler der Größe Deutschlands seien. Planck wird versucht haben, die von ihm vertretene Forschung vor »unsachlichen Beunruhigungen durch Ereignisse der Tagespolitik« zu schützen, um so ihre »im höchsten Sinne nationale Arbeit erfüllen« zu können. Und so erreichte er in dem Gespräch die Zusage Hitlers, über die bis dahin erlassenen Beamtengesetze hinaus nichts zu unternehmen, was »unsere Wissenschaft« erschweren würde. Mit anderen Worten, die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft konnte in dem gerade gezogenen engen Rahmen weiterhin eigenständig bleiben und funktionieren, was für Planck – und nicht nur für ihn – beruhigend sein musste.
Planck hielt auch wenig davon, dass Professoren gegen die nationalsozialistische Politik an den Universitäten und Forschungsinstituten protestierten. Er riet vielmehr mit der Bemerkung ab, dass solche Demonstrationen nicht helfen würden, denn »was jetzt geschieht, ist wie eine Lawine, die den Berg herunterrast; da kann sich kein Einzelner dagegenstellen; man muss warten, bis die Lawine unten angekommen ist, und dann retten, was zu retten ist. Dem Einzelnen bleibt im Augenblick nur die Wahl auszuwandern oder das Unglück mitzuerleiden.« Und er bat seine Kollegen, »trotz aller Misslichkeiten in Deutschland zu bleiben«. Planck fühlte sich seinem Vaterland und seiner Kultur sehr verbunden, und wollte seinen Platz in ihr nicht räumen. Ihn hätte sonst ein anderer eingenommen, was erst recht Unheil über und durch die Wissenschaft gebracht hätte.
Im Ausland wurde seine Haltung verstanden. Als die Royal Society in London ihre ursprünglich für das Jahre 1942 geplanten Feiern zum 300sten Geburtstag von Isaac Newton endlich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durchführen konnten, war Planck der einzige Deutsche, den die Engländer eingeladen hatten. Man schickte eigens eine Militärmaschine nach Niedersachsen, um ihn abzuholen und in die britische Hauptstadt zu bringen. Planck wurde von der Festversammlung voller Bewunderung empfangen – trotz der zeitlichen Nähe des von den Deutschen begonnenen und verlorenen Krieges, der Zahl der Toten und des Ausmaßes der Zerstörungen, die die Völkerschlacht gekostet und mit sich gebracht hat.
Doch ungeachtet des überwältigenden Empfangs, der Planck in London zuteil wurde, muss es ihm wenigstens einen leichten Stich versetzt haben, als der Zeremonienmeister, der jeden Gast vor dessen Betreten des Festsaals durch Angabe des Namens und des Heimatlands einführte, bei Planck kurz zögerte, bevor er schließlich in den Saal rief: »Professor Planck, representing no country.« Das stimmte sogar für den Augenblick. Denn tatsächlich – das Deutschland, das Planck vertreten konnte, gab es nicht mehr. Aber seine Wissenschaft blühte nach wie vor. Er konnte weiter hoffen, dass sie durch »die wertvollen Schätze ästhetischer und ethischer Art«, die sie zutage fördert, ihren Einfluss auf die Geschichte der Menschen stärken wird.
2
Arnold Sommerfeld (1868–1951)
Der große Lehrer
»Am 26. April 1951 starb im 83. Lebensjahr in München an den Folgen eines etwa vier Wochen vorher erlittenen Verkehrsunfalls Arnold Sommerfeld, einer der bedeutendsten Physiker seiner Generation. (…) Sommerfeld vereinte in glücklicher Weise den Typus des Forschers und des Lehrers, wie es nur wenigen gelungen ist. Zahlreiche Professuren für theoretische Physik in den verschiedensten Ländern wurden mit Schülern Sommerfelds besetzt, die jetzt, um ihn trauernd, sein Werk fortsetzen werden.« Mit diesen Worten verabschiedet sich einer der berühmtesten Schüler von seinem hochverehrten Lehrer. Die Rede ist von Wolfgang Pauli, den wir später noch vorstellen und der stets mit allen Kollegen – selbst mit Einstein – respektlos bis frech umgegangen ist. Er hat nur bei einem eine Ausnahme gemacht: Arnold Sommerfeld. Dieser aus Königsberg stammende Physiker, der über Göttingen, Aachen und Clausthal nach München gekommen war, ist von all seinen Schülern verehrt und dabei vielfach mit Superlativen beschrieben worden, so etwa von Werner Heisenberg, der in seiner Autobiografi e Der Teil und das Ganze beschreibt, wie Sommerfeld nicht nur als »einer der glänzendsten Lehrer der Hochschule«, sondern auch als ein Freund der Jugend seine Studenten für sich einnehmen konnte: »Der kleine, untersetzte Mann mit dem etwas martialisch anmutenden dunklen Schnurrbart machte zunächst einen strengen Eindruck«, wie Heisenberg das erste Zusammentreffen mit Sommerfeld noch vor Beginn des Studiums im Jahre 1920 schildert. »Aber schon aus den ersten Sätzen schien mir eine unmittelbare Güte zu sprechen, ein Wohlwollen für den jungen Menschen, der hier Führung und Rat suchte.«
Einer der Ratschläge Sommerfelds lautete, dass diejenigen, die sich vor allem mit der Theorie der Physik beschäftigen, darauf achten sollten, sich zunächst »mit großer Sorgfalt kleine und zunächst unwichtig scheinende Aufgaben« vorzunehmen. Denn »wenn solche großen bis in die Philosophie reichenden Probleme zur Diskussion stehen wie die Einstein’sche Relativitätstheorie oder die Planck’sche Quantentheorie, so gibt es auch für den, der über die Anfangsgründe hinaus ist, viele kleine Probleme, die gelöst werden müssen und die erst in ihrer Gesamtheit ein Bild des neu erschlossenen Gebiets vermitteln.« Sommerfeld versprach dem ehrgeizigen und unverzagt fragenden Schüler ferner, ihm »schon sehr bald ein kleines Problem vorzulegen, das mit Fragen der neuesten Atomtheorie zu tun hätte« – mit der Folge, dass sich Heisenberg begeistert und glücklich fühlte, und somit war über seine »Zugehörigkeit zur Sommerfeld’schen Schule für die nächsten Jahre entschieden.«
Theoretische Physik
Wenn Sommerfeld als Lehrer gelobt wird, dann meint man nicht nur den ehrlichen, zuvorkommenden, ermutigenden und offenherzigen Umgang eines Professors mit Studenten und seine Fähigkeit, ihre jeweilige Leistungsfähigkeit herauszufordern und anzustacheln, indem er sie vor Probleme stellte, die auf die jeweilige Person zugeschnitten waren. Man meint auch seine souveränen Vorlesungen und die populären Lehrbücher, die aus ihnen hervorgegangen sind. Sommerfeld hatte dabei das Glück des Tüchtigen gehabt, nämlich zur rechten Zeit am rechten Ort bzw. in der rechten Disziplin tätig zu sein. In den letzten Jahren des 19. und den ersten des 20. Jahrhunderts entstand nämlich eine neue Wissenschaft, in der sich das experimentelle Können und die praktisch erprobten Naturerfahrungen von Physikern mit dem analytischen Geschick und rechnerischen Vermögen von Mathematikern zusammenfand, um das eigenständige Gebiet der theoretischen Physik zu begründen. In diesem sollten bald die souveränen Gestalten der Wissenschaft ihren Platz fi nden und ihre Ideen präsentieren können: Max Planck, Albert Einstein und andere, die wir noch kennenlernen werden und denen es in großem Stil und mit höchster Eleganz gelungen ist, die theoretische Physik als eine Fortsetzung der Philosophie mit mathematischen Mitteln zu betreiben.
Sommerfeld begriff, dass er mit von der Partie war, als gerade etwas ganz Großes für unsere Kultur entstand, und er pflegte dabei voller Freude zu zitieren, was Friedrich Schiller einmal über Immanuel Kant und seine Interpreten gesagt hatte: »Wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu tun.« Es war selbstverständlich, dass sich Sommerfeld für einen Kärrner hielt – also für einen, der unter körperlicher Anstrengung den mit mathematischen Lasten bepackten Wagen (Karren) durch den Dreck zu ziehen hatte, um das theoretische Material an den richtigen Ort zu schaffen, an dem das wissenschaftliche Werk der Könige im Reich der Physik zu vollbringen war. Aber Sommerfeld gab stets Obacht, ob nicht irgendwo jemand von seiner Arbeit profi tieren und das begonnene Gebäude der Physik so besser oder verlässlicher vollenden konnte.
Schon als Student in Königsberg hatte sich Sommerfeld für geometrische Methoden in der Physik interessiert und nach und nach die Bedeutung der mathematischen Wissenschaften für die Ingenieure und ihre technischen Aufgaben kennen und schätzen gelernt. Er kümmerte sich bei seinen Forschungen um Probleme von Schwingungen, versuchte die raffinierten Bewegungen von Kreiseln genau zu berechnen und arbeitete als erster Physiker eine elegante Theorie der Reibung aus, die einem bei Schmiermitteln begegnet bzw. dabei gerne im Stich lässt und zum Ausrutschen und zu Stürzen führt.
Mit diesem mathematischen Rüstzeug aus der sinnlich zugänglichen Wirklichkeit wagte sich Sommerfeld an die submikroskopisch kleine Welt der Elektronen und Atome, wobei ihn vor allem die Frage beschäftigte, ob sich diese Partikel auf ähnliche Weise bewegen können wie Billardkugeln oder Tischtennisbälle. Seine entsprechenden Ergebnisse brachten ihm 1906 den Ruf auf den Lehrstuhl für Theoretische Physik an der Universität München ein, und von hier aus entfaltete er seine legendäre Wirkung als Lehrer der neuen Physik, die zu dem führte, was seine Schüler gerne die Sommerfeld’sche Schule nannten. Dass darunter keine Institution, sondern eine Gemeinschaft des Geistes zu verstehen ist, versteht sich von selbst.
Umsturz im Weltbild
Wie heutige Historiker im Rückblick leicht sagen können, vollzog sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts das, was man oft und gerne den Umsturz im Weltbild der Physik genannt hat. Konkret gemeint ist damit das Auftauchen der Quantentheorie von Planck nach 1900 und der Relativitätstheorie von Einstein um 1905 – wobei bemerkenswert ist, dass der Lehrer Sommerfeld bereits 1907 Einsteins revolutionäre Ideen von Raum und Zeit in seine Vorlesungen aufnahm und sie den Studenten vorstellte. Sommerfeld wurde damit nicht nur zu einem der frühen Förderer des zunächst noch unbekannten Einstein. Er sorgte überhaupt dafür, dass die neue Theorie eine erste Breitenwirkung erzielen und von der Forschergemeinde erörtert und akzeptiert werden konnte.
Dieser Vorgang gehört ebenso zu einer Revolution in der Wissenschaft wie die Generierung der ursprünglichen Idee selbst, auch wenn das oft übersehen wird. Ein neuer Gedanke, der in einem Kopf steckt und da bleibt, kann nicht die Änderung bewirken, die wir als Revolution verstehen. Diese kommt erst mit der geeigneten Verbreitung der neuen Sicht zustande, und daran war Sommerfeld zweimal beteiligt – sowohl bei der Relativitäts- als auch bei der Quantentheorie.
Wir konzentrieren uns hier auf die Quantentheorie, und die hatte nach den ersten tastenden Schritten von Planck (1900) und Einstein (1905) ihren ersten großen Erfolg, als der dänische Physiker Niels Bohr ein Atommodell vorlegte, das die Stabilität der elementaren Bausteine der Materie mithilfe von Quanten erklären konnte. Wir werden diesen Schritt genauer betrachten, wenn es um Bohr selbst geht, können an dieser Stelle aber schon einmal verraten, dass das berühmte Bohr’sche Atommodell mit seinen wohldefinierten Bahnen der Elektronen um einen Kern herum genauer als Bohr-Sommerfeld-Modell bezeichnet werden müsste. Schließlich hat der Münchener Physiker die ersten Überlegungen von Bohr um die entscheidenden Elemente erweitern können, die für eine bessere Übereinstimmung mit den experimentellen Resultaten sorgte und ihm neben Bohr weltweite Anerkennung unter den Physikern einbrachte.
Sommerfeld arbeitete seine Beiträge in enger Korrespondenz mit Bohr aus, was zwar aus heutiger Sicht selbstverständlich klingt, aber für die Zeit des Ersten Weltkriegs eine besondere Anmerkung wert ist. Denn während es Physiker gab, die die nationalen Konflikte in den Laboratorien weiter austrugen, vertraute Sommerfeld dem internationalen Charakter der Wissenschaft und pflegte im Krieg dieselben Kooperationen wie in Friedenszeiten.
Bohrs erste Vorschläge, wie sich das Umlaufen von Elektronen um einen Atomkern berechnen ließ, stammten aus dem Jahr 1912. Ab 1913 machte sich Sommerfeld daran, die ursprünglichen Kreisbahnen um Ellipsen und andere Formen zu erweitern, und er schlug zudem vor, den Zustand eines Atoms durch Quantenzahlen zu erfassen. Entscheidend ist dabei zum einen die Einsicht, dass sich die durch Quantensprünge getrennten, also diskreten Zustände von Atomen überhaupt durch Zahlen charakterisieren lassen (Letztere sind übrigens auf ihre Weise unstetig und diskret, da sie etwa bei den natürlichen Zahlen quantenartige Sprünge etwa von 1 nach 2 oder von 7 nach 8 machen, wenn wir zählen). Und zum anderen gilt die Erkenntnis, dass es mehrere solcher Quantenzahlen braucht, um etwa anzugeben, in welchem Zustand sich ein Elektron in einem Atom befindet. Die Frage, wie viele Quantenzahlen insgesamt benötigt werden, konnte erst einige Jahre später Wolfgang Pauli, der erwähnte Schüler von Sommerfeld, beantworten, wobei uns die Begründung, die er für die Antwort »Vier« gegeben hat, noch wundern wird.
Das Atomkonzept von Bohr und Sommerfeld wird oft unter dem Namen »Schalenmodell« beschrieben, da man davon ausging, dass die Natur nach außen größer werdende Schalen bereitstellte, in denen die kreisenden Elektronen unterwegs sein konnten. Die erste Quantenzahl, die dann einem Elektron in einem Atom von Sommerfeld zugewiesen wurde, gab die Schale an, zu der es gehörte, und man zählte sie wie die natürlichen Zahlen von Eins an aufwärts.
Dieser Hauptquantenzahl fügte Sommerfeld eine Nebenquantenzahl hinzu, mit deren Hilfe die Form der jeweiligen Umlaufbahn in der Schale bestimmt wurde, wobei dafür vor allem Kreise oder Ellipsen infrage kamen. Auch die Nebenquantenzahlen wurden als natürliche Zahlen von Eins an gezählt – mit der physikalisch begründeten Vorgabe, stets kleiner als die Hauptquantenzahl zu sein.
Es ist für Leser nicht nötig, dieses Zahlenspiel im Detail nachvollziehen zu können. Sie sollten sich aber klarmachen, dass die moderne Atomphysik auf diese Weise etwas Zahlenmystisches bekommt, das an den antiken Grundgedanken des Pythagoras erinnert. Der hatte betont: »Alles ist Zahl« – das heißt, alles verdankt seine Existenz den Zahlen. Pythagoras verehrte bekanntlich die Vier als heilige Zahl – als Tetraktys –, weshalb es vielleicht doch bemerkenswert erscheint, dass es, wie oben erwähnt, vier Quantenzahlen sind, die ein physikalisches System festlegen.
Aufspaltungen
Sommerfeld haben diese Zahlenspielereien gefallen und amüsiert. Mehr nicht. Ihn beschäftigte etwas anderes, nämlich die immer zahlreicher werdenden Messungen, die Physiker in den Jahren des Ersten Weltkriegs unternahmen, um mit ihrer Hilfe den Aufbau der Atome zu verstehen. Sie nahmen vor allem verstärkt Messungen der Lichtstrahlen vor, die Atome aussenden. Seit dem 19. Jahrhundert wusste man, dass dieses Licht durch eine feste Wellenlänge ausgezeichnet war, was sich im Experiment als Linie zu erkennen gab. Die Physiker sprachen dabei von Spektrallinien – Linien aus dem sichtbaren Spektrum des Lichts –, und da die Idee der Quantensprünge diese diskreten Linien unmittelbar verständlich machen konnte, nahm die Gemeinschaft der Physiker Plancks Vorschlag zunächst überhaupt ernst, obwohl viele ansonsten eher skeptisch blieben.
Die Skepsis wuchs eher, als bei Experimenten immer deutlicher wurde, dass die Linien des Lichts beim genaueren Betrachten eine »Feinstruktur« offenbarten. Mit diesem Wort drückt man aus, dass einzelne Linien durch geeignete Anordnungen dazu gebracht werden konnten, auseinanderzulaufen und sich aufzuspalten. Aus einer Linie wurden oft zwei oder manchmal drei, und zwar dann, wenn man ein Atom in ein Magnetfeld oder in ein elektrisches Feld brachte und das von ihm ausgesendete Licht unter diesen Umständen registrierte.
Erste Beobachtungen dieser Art waren bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert durch den Holländer Pieter Zeeman gemacht worden – man spricht seitdem von Zeeman-Effekten –, und nach 1913 hat vor allem der Deutsche Johannes Stark immer wieder Aufspaltungen von Spektrallinien erkundet, die entsprechend als Stark-Effekt bezeichnet werden. Sowohl Zeeman als auch Stark sind dafür mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden, wobei wir noch anfügen müssen, dass der deutsche Physiker später im Dritten Reich höchst unrühmlich und zum Teil schändlich und scheußlich gehandelt hat.
Kehren wir zur Physik und den genannten Aufspaltungen der Spektrallinien zurück. Sommerfeld fand diese Befunde wunderbar, und er konnte sie alle in seinem 1919 fertiggestellten Lehrbuch Atombau und Spektrallinien zusammenbringen, das so etwas wie die Bibel der Atomphysik wurde – allerdings nur, bis seine Schüler Heisenberg und Pauli in der Mitte der 1920er-Jahre zeigten, dass man das atomare Geschehen ganz anders verstehen kann und muss.
Richtig an Sommerfelds Darstellung der vielen Spektrallinien und ihren mehrfachen Aufspaltungen bleibt die Idee, dass die Elektronen eines Atoms über eine Möglichkeit verfügen müssen, das Magnetfeld zu spüren, dem sie ausgesetzt sind. Physiker sprechen im dem Fall davon, dass das Elektron und das Magnetfeld miteinander wechselwirken, und das geht nur, wenn die atomaren Bausteine ein magnetisches Moment besitzen, wie Sommerfeld erkannte. Er wies ihnen deshalb eine dritte Quantenzahl zu, die aus einsichtigen Gründen als magnetische Quantenzahl bezeichnet wird.
Für einen Laien muss der hübsche Begriff des »magnetischen Moments« trotz der Alliteration rätselhaft bleiben. Es soll genügen, dass wir uns an dieser Stelle die physikalische Tatsache in Erinnerung rufen, dass ein stromdurchfl ossener Draht um sich herum ein Magnetfeld aufbaut. Dies wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts entdeckt und sorgte für Verwirrung. Denn wie erzeugt etwas Elektrisches etwas Magnetisches?
Das Geheimnis bleibt zwar bis heute ungelöst, aber wir wissen jetzt, dass bewegte (elektrische) Ladungen magnetisch wirken, und da ein kreisendes Elektron eine einzelne solche bewegte Ladung ist, kann man ihm ein magnetisches Moment zuordnen. Nichts anderes hat Sommerfeld getan, wobei noch anzumerken ist, dass es sich bei diesem Moment nicht um einen zeitlichen Augenblick handelt, der zwar genauso heißt, allerdings grammatisch gesehen männlichen Geschlechts ist: Es heißt bekanntlich der entscheidende Moment, wenn es um einen Zeitpunkt geht, und es heißt das magnetische Moment, wenn es um eine Wirkung geht. Dieses sächliche Moment haben die Physiker nach dem lateinischen momentum gebildet, womit eine bewegende Kraft bzw. eine Wirkung gemeint ist. In dieser Bedeutung taucht das Wort in der Alltagssprache als Drehmoment auf. Wenn sich zum Beispiel jemand beim Autokauf nach der Qualität eines Motors erkundigt, bekommt er als Antwort eine Auskunft über dessen Fähigkeit, die Achsen möglichst schnell in Drehung zu versetzen (um so Geschwindigkeit zu erzeugen). Das magnetische Moment von Elektronen besitzt die gleiche etymologische Herkunft, erfasst aber die Wechselwirkung der Elektronen mit einem magnetischen Feld, die den Spektrallinien die beobachtete Feinstruktur (Aufspaltungen) verleiht.
Sommerfelds Konstante
Als Sommerfeld an der Feinstruktur der Spektrallinien arbeitete, bemerkte er, dass das einzelne Elektron in einem Wasserstoffatom ziemlich nahe an die Lichtgeschwindigkeit herankam. Das jedoch hieß, dass man konsequenterweise Einsteins Relativitätstheorie zur Berechnung heranziehen müsste, was die Sache rasch kompliziert macht. Etwas genauer gesagt, betrug die Geschwindigkeit des Elektrons rund 137stel der Lichtgeschwindigkeit, wobei die Zahl 137, wie Sommerfeld nachwies, als Kombination aus drei fundamentalen Naturkonstanten zusammengesetzt werden konnte: aus dem Planck’schen Quantum der Wirkung h, aus der Elementarladung eines Elektrons e und der Lichtgeschwindigkeit c. Das heißt, man musste noch als vierte Zahl die berühmte Kreiszahl der Griechen hinzufügen, das π, und schon konnte man mit ihr und den drei Naturkonstanten eine neue Konstante formen, die den Vorteil hat, eine reine Zahl zu sein und keine Dimension zu haben – also etwa Meter oder Joule oder etwas anderes anzugeben. Man spricht heute von der Sommerfeld’schen Feinstrukturkonstanten und weiß, dass sie sowohl die Häufigkeit als auch die Stärke von physikalischen Abläufen festlegt. Für viele Physiker steckt in dieser Zahl das eigentliche Geheimnis der materiellen Existenz – da ist er wieder, der Gedanke des Pythagoras –, und sie träumen von einem Argument, das ihnen erläutert, warum die Feinstrukturkonstante gerade diesen Wert von rund 137 annimmt. Erst mit einem solchen Argument glaubt man, die Welt wirklich verstehen zu können. Sommerfeld hätte das mit einem Schmunzeln gesehen: »Ich kann nur die Technik der Quanten fördern«, pflegte er zu sagen, »die Philosophie müssen andere machen.«
Sommerfelds Nachfolger
So trickreich Sommerfelds Atommodelle aufgrund mehrerer Quantenzahlen und der Feinstrukturkonstanten auch wurden und so viel Erfolg sie auch erzielten, sie behielten eine Eigenschaft bei, von der man heute weiß, dass sie mit der Wirklichkeit der Quantenwelt und ihren Sprüngen nicht zu vereinbaren ist. Gemeint ist die Eigenschaft des Sommerfeld’schen Atoms, anschaulich zu sein. Bei ihm liefen zwar winzige, aber zugleich auch irgendwie vorstellbare Elektronen auf ebenso vorstellbaren und wirklich erscheinenden Bahnen umher. Aber genau dies kann nicht durchgehalten werden, wie die beiden berühmtesten Schüler von Sommerfeld, Pauli und Heisenberg, Mitte der 1920er-Jahre entdecken mussten.
Zu deren notwendigen Erkenntnisschritten konnte Sommerfeld nur noch dadurch beitragen, dass er in den Jahren nach der Machtergreifung durch die bornierten Nationalsozialisten bestmöglich dafür sorgte, dass die Blütezeit der theoretischen Physik nicht einfach erstickt wurde. Allerdings: Wegen dieser aufrechten und allein an wissenschaftlichen Kriterien orientierten Haltung wurde Sommerfeld frühzeitig in den Ruhestand geschickt und durch einen namenlosen Nazi ersetzt. Genauer gesagt, hatte es um Sommerfelds Nachfolge zunächst einen erbitterten Streit unter den Physikern gegeben, die in zwei geistige Lager zerfi elen: in ein traditionell unpolitisches und ein opportunistisch antisemitisches Lager. Als sich herausstellte, dass Sommerfeld gerne seinen Schüler Werner Heisenberg auf dem vakanten Lehrstuhl sehen wollte, wurde beiden vorgeworfen, sich nicht ausreichend von Einsteins jüdischer Physik distanziert zu haben. So kam es, dass die Nazis sofort und brutal reagierten, als die Münchener Fakultät trotz dieser Beschuldigungen eine vom bayerischen Kultusministerium angeforderte Liste der Kandidaten im November 1935 vorstellte, an deren Spitze der Name Heisenberg stand – die anderen Kandidaten rangierten »in weitem Abstand« hinter ihm. Ende Januar 1936 erschien sodann in der offi ziellen Parteizeitung Völkischer Beobachter – mit einer geschätzten Auflage von rund 500 000 Exemplaren – ein Beitrag mit dem Titel »Deutsche Physik und jüdische Physik«, in dem Heisenberg als Schüler Sommerfelds ausdrücklich beschuldigt wurde, »die Grundhaltung der jüdischen Physik« zu vertreten. Die Angegriffenen antworteten noch im Februar, indem sie zu erklären versuchten, warum »die theoretische Physik gerade für uns Deutsche wichtig« sei – weil sie nämlich im besten Sinne etwas mit Fragen der Weltanschauung zu tun habe. Doch die Angriffe wurden nur noch schärfer, solange Sommerfelds Nachfolger nicht bestimmt und der Lehrstuhl nicht mit einem zuverlässigen Kandidaten besetzt war. Das freie Geistesleben hatte in Deutschland keinen Platz mehr. Sommerfeld zog sich resigniert aus der Öffentlichkeit zurück und arbeitete an seinen sechsbändigen Vorlesungen über Theoretische Physik, die von 1942 an erscheinen konnten. Auch hierin zeigte er die Gabe, die man immer an ihm bewundert hatte, nämlich die Fähigkeit, »die Geister Ihrer Hörer und Leser zu veredeln und aktivieren«.
3
Ernest Rutherford (1871–1937)
Der Entdecker des Atomkerns
Ernest Rutherford wird gerne durch zwei Eigenheiten charakterisiert – zum einen weist man ständig darauf hin, dass er aus Neuseeland stammt. Denn so kann man ihn als einen der größten Wissenschaftler bezeichnen, der in diesem europafernen Teil der Welt geboren wurde, und zwar als viertes von zwölf Kindern eines schottischen Stellmachers und einer englischen Lehrerin, die beide um 1860 nach Neuseeland ausgewandert waren. Die Verehrung Rutherfords in seiner Heimat zeigt sich übrigens bis heute daran, dass sein Porträt auf dem 100-Dollar-Schein der neuseeländischen Notenbank zu fi nden ist. Zum zweiten gehört es zu Rutherford, dass er nie seine Meinung zurückhielt und sie zudem gerne mit lauter Stimme verkündete – aber erst, als er Professor in England war und der Regierung selbstbewusst als Berater in Energiefragen diente. Als solcher ließ er den Minister schon einmal warten, wenn es im Labor Wichtigeres zu tun gab. Zu seinen unvergänglichen Äußerungen zählt die Ein- bzw. Geringschätzung der wissenschaftlichen Bemühungen von Kollegen in anderen Disziplinen als der eigenen. Entweder, so tat Rutherford kund, ist etwas Physik, oder es ist Briefmarkensammeln. Mit anderen Worten, die wahre Qualität des wissenschaftlichen Forschens zeigt sich seiner Ansicht nach nur in seinem Fach, das natürlich seit ein paar Hundert Jahren – seit Isaac Newton – an ihren Methoden gefeilt hat und nun weiß, wie sie aus Datenmengen Schlüsse ziehen kann. Und wenn wir Rutherford an dieser Stelle gerne zugestehen wollen, dass er ein großer Physiker war und mit seinen Experimenten wesentlich zur Entwicklung der Leitwissenschaft seiner Zeit beigetragen hat, so brauchen wir doch unser Schmunzeln nicht zu verbergen. Denn im Jahre 1908 wurde ihm zwar der Nobelpreis zuerkannt, aber eben der für Chemie – »nur« der für die Chemie, wie böse Zungen dann zu spotten nicht lassen konnten.
Auf dem Weg nach England
Rutherfords Karriere umfasst ziemlich genau die Periode, die heute als Frühphase der Kernphysik bezeichnet wird und die er begründet und lange Zeit dominiert hat. Gemeint ist die Phase, die 1896 beginnt, als der Franzose Henri Becquerel als Erster das Phänomen der Radioaktivität beschreibt, und die 1938 endet, als Otto Hahn in Zusammenarbeit mit Fritz Straßmann in Berlin bemerkt, dass Atomkerne gespalten werden können, wenn sie entsprechend beschossen werden. (Wir erfahren mehr darüber im nächsten Kapitel, das Lise Meitner gewidmet ist.) Leider hat Rutherford von der erfolgreichen Kernspaltung nichts mehr erfahren, da er völlig überraschend im Jahre zuvor an einem Nabelbruch gestorben war.
Bis 1894 besuchte der junge Ernest Schulen und Hochschulen im neuseeländischen Nelson und Wellington, wobei er durch außerordentlich gute Leistungen auffi el. Sie brachten ihm schließlich ein Stipendium ein, mit dem er nach England gehen konnte. Genauer gesagt, ging er nach Cambridge, um hier an dem damals bereits berühmten Cavendish Laboratorium zu arbeiten, das zum Trinity College gehört. Und um noch präziser zu sein, ging Rutherford zu dem Physiker Joseph John (J.J.) Thomson, der 1897 das Elektron als Baustein eines Atoms entdecken sollte, was damals als Sensation empfunden wurde. Schließlich hatte J.J. gezeigt, dass das Atom, welches seit der Antike, als unteilbar galt, tatsächlich aus Teilen bestand. Jetzt war plötzlich das Atom im eigentlichen Wortsinne (griechisch a-tomos: unteilbar) gar nicht mehr das, was es sein sollte. Aber was war es dann? Thomson schlug kurzerhand vor, sich das Atom im Modell wie einen Rosinenkuchen oder einen Plumpudding vorzustellen, in dem die Elektronen wie Rosinen in einem Teig umhertrieben und von ihm zusammengehalten wurden.
Rutherford hingegen kümmerte sich zunächst genauer um die radioaktive Strahlung, die, wie erwähnt, in Frankreich entdeckt worden war. Bei seinen ersten Untersuchungen fiel ihm auf, dass man zwei Komponenten unterscheiden konnte, die verschieden stark von Hindernissen aufgehalten (absorbiert) wurden. Rutherford nannte sie Alpha- und Betastrahlen, wobei sich die zweite Form als sehr durchdringend erwies und lange rätselhaft blieb. Sie wird uns bei Lise Meitner und Wolfgang Pauli erneut begegnen.
Die Verwandlung der Elemente
Wir benutzen die Namen »Alphastrahlen« und »Betastrahlen« bis heute, wissen aber inzwischen, dass es sich im ersten Fall um Heliumkerne und im zweiten Fall um Elektronen handelt. Herausgefunden haben dies schon Rutherford und seine Mitarbeiter, als er Professor für Physik in Manchester war. Diese Position hatte er 1907 bekommen, nachdem er zuvor einige Jahre in Kanada verbracht hatte, wo er in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts als Professor an der Universität von Montreal tätig war. In dieser Zeit kooperierte er mit dem Chemiker Frederick Soddy. Die beiden analysierten gemeinsam, was mit den Atomen passiert, die strahlen. Und bei ihren Experimenten machten sie eine fantastische Entdeckung. Sie stellten nämlich fest, dass sich die Atome umwandelten, wenn sie Alpha- bzw. Betastrahlen abgaben. Aus dem Element Thorium, einem Mineral, wurde zum Beispiel das Edelgas Argon, und damit nicht genug. Die zwei Wissenschaftler kamen regelrecht nicht mehr aus dem Staunen über ihre eigenen Entdeckungen heraus. Atome schienen einen »Hang zum Selbstmord« zu haben, wie Rutherford trocken meinte, bevor er registrierte, dass er dank der neuen wissenschaftlichen Methoden das beobachten konnte, wovon die alten Alchemisten früher geträumt hatten: die Umwandlung eines Elementes in ein anderes. Die Alchemisten des Mittelalters und der frühen Neuzeit hatten stets gehofft, Blei in Gold »transmutieren« zu können, wobei sie eher meinten, in dem Wertlosen (Blei) etwas Wertvolles (Gold) zu finden. Dies vermochte selbst jemand wie Rutherford nicht, aber mit der Umwandlung von Thorium zu Argon war ihm ein erster Schritt gelungen. (1937 publizierte er sogar ein Buch mit dem Titel The Newer Alchemy, das allerdings nur von Physik handelt.)
Rutherfords Interesse galt vielmehr der Frage, was überhaupt bei einem radioaktiven Zerfall passiert, wenn etwa aus Radium Helium entsteht, um ein anderes Beispiel zu nennen. Und er entdeckte dabei, dass es Gesetzmäßigkeiten gab, die er unter anderem mit dem wunderbaren Begriff der »Halbwertszeit« (half life) erfasste. Gemeint ist damit die Zeit, die vergeht, bis die Hälfte der Ausgangsmenge eines radioaktiven Elements sich in ein anderes umgewandelt hat.
Auf dem Weg zum Atomkern
Als Rutherford sich 1907 in Manchester einrichten konnte, wählte er zu seinen Mitarbeitern die beiden Physiker Hans Geiger und Ernest Marsden. Der Name des Deutschen Geiger ist heute berühmt durch die – ihm gemeinsam mit Rutherford gelungene – Erfindung eines Zählrohres, mit dem sich radioaktive Strahlung messen lässt. Man spricht dabei von einem Geigerzähler, der heute wenig kostet, der Forschung damals aber zunächst viel einbrachte, weil er auch in der Lage war, die Art der Strahlung zu unterscheiden. So konnten Geiger und Rutherford nachweisen, dass Alphastrahlen tatsächlich aus Teilchen bestehen, und zwar genauer aus Heliumatomen, die zwei Elektronen verloren haben. Heute würde man sofort davon sprechen, dass es sich um Heliumkerne handelt, doch als Rutherford in Manchester tätig wurde, kannte man diesen Begriff noch nicht. Die Fachwelt orientierte sich an dem Rosinenkuchenmodell von J.J. Thomson, und in diesem Bild findet sich keine Struktur, die dem heutigen Atomkern ähnelt. Er musste erst entdeckt werden, und diesen merkwürdig mühsamen Schritt verdanken wir Rutherford.
1911 erschien seine wegweisende Schrift mit dem Titel The Scattering of Alpha- and Beta-Particles by Matter and the Structure of Atoms, in der Rutherford die Messungen und Überlegungen zusammenfasste, die er in den letzten zwei Jahren dazu angestellt hatte. Es ging – wie es die Überschrift ausdrückt – um Streuversuche, bei denen besonders wirksam Alphateilchen eingesetzt wurden. Die Männer in Manchester lenkten einen entsprechenden Strahl zum Beispiel auf eine Goldfolie, und sie taten dies primär in der Absicht, genauer herauszufi nden, wie sich der Strahl hinter der Folie verteilte bzw. wie er von den Goldatomen gestreut wurde. Dies ist ein bewährtes Vorgehen in den physikalischen Wissenschaften, die dann aus den vermessenen Streuungen, den sogenannten Streuquerschnitten, auf die jeweils untersuchte Struktur rückzuschließen versuchen – ein Verfahren, das niemals einfach, oft aber von Erfolg gekrönt ist. Dieser wird vor allem dann möglich, wenn sich Überraschungen bei den Streuexperimenten zeigen, und vermutlich übertreiben wir nicht, wenn wir sagen, dass es Rutherford war, der die größte aller Überraschungen erleben durfte, die ein Experiment mit sich bringen kann.
Wie es sich gehörte, fing alles normal an, als im Jahre 1909 eine Goldfolie angefertigt wurde, die so dünn war, dass nur wenige Atome hintereinander und den Alphateilchen im Weg lagen, deren Streuung man hinter der Folie messen wollte. Tatsächlich konnte man dort im Rückraum der Folie Strahlung finden, aber ein paar Anteile schienen zu fehlen. Sie konnten erst gefunden werden, als man auch einmal vor der Folie nachschaute. Zur riesengroßen Verblüffung von Rutherford und seinen Mitarbeitern war nämlich ein Teil der Alphateilchen an den Goldatomen abgeprallt und von dort wieder zur Quelle zurückgeschickt worden. In Rutherford Worten: »Es war das unglaublichste Ergebnis, das mir je in meinem Leben widerfuhr. Es war fast so unglaublich, als wenn einer eine 15-Zoll-Granate auf ein Stück Seidenpapier abgefeuert hätte und diese zurückgekommen wäre und ihn getroffen hätte.«
Das Erstaunen war so groß – vor allem, nachdem nachfolgende Versuche das Verhalten der Alphastrahlen bestätigen konnten – dass Rutherford sich erst von dem Schock erholen musste und fast zwei Jahre brauchte, um seine Beobachtung in einem physikalischen Modell deuten zu können. Die heute leicht nachvollziehbare und längst zum Allgemeinwissen gehörende Lösung lautet: Es gibt einen Atomkern, in dem der Löwenanteil der Masse eines Atoms versammelt ist und um den die Elektronen kreisen. In Rutherfords Worten von 1911: Ein Atom besteht »aus einer zentralen, punktförmig konzentrierten elektrischen Ladung, die von einer gleichförmig sphärischen Ladungsverteilung des entgegengesetzten Vorzeichens und des gleichen Betrags umgeben ist.«
Probleme mit dem Kern
Dieser Vorschlag muss Rutherford arge Kopfschmerzen bereitet haben. Zum einen fügten sich seine neuen Daten überhaupt nicht mit dem sonst so geschätzten Rosinenkuchen- oder Plumpuddingmodell des berühmten J.J. Thomson zusammen. Zum anderen hatte Rutherfords These zum Aufbau des Atomkerns mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass dort alle positiven Ladungen des Atoms auf engstem Raum versammelt sein sollten. Während die (negativ geladenen) Elektronen auf ihren Umlaufbahnen sich noch ausweichen konnten, hockten die Kernbausteine dicht beieinander, was aber nicht sein konnte, da sie sich durch ihre gleichen Ladungen heftig abstoßen mussten. Wieso passierte das nicht? Und zum dritten schien der Atomkern im Vergleich zu dem ganzen Atom so klein zu sein, dass man sich ernsthaft fragen musste, was sich zwischen ihm und den Elektronenschalen befinden konnte. Bei dem Rosinenkuchen war alles besetzt und verklebt und in Ordnung – nur dass damit nicht die beobachtete Streuung der Alphastrahlen bzw. der dazugehörenden Partikel zu verstehen war.
Rutherford rätselte und rätselte und erfand dabei hübsche Formulierungen wie etwa die, dass in seinem Saturnmodell des Atoms »der Raum zwar besetzt, aber nicht gefüllt« sei – »space occupied but not filled«, wie es im Original heißt. Was man bei all dem Ringen um Worte festhalten kann, ist: Rutherford konzipierte das Atom als winziges Planetensystem, in dem der Atomkern die Stelle der Sonne einnahm und die Elektronen als Planeten agierten – mit viel Platz (Leere) dazwischen. Zwar wurde ihm schon früh vorgehalten, dass er damit in das Denken der Renaissance zurückfiel, in der das Große einfach analog zum Kleinen (Mikro- und Makrowelt) verstanden wurde, und außerdem wäre es doch logisch merkwürdig, das makroskopische Planetensystem durch ein mikroskopisches zu erklären, das denselben Gesetzen unterliegt. Aber Rutherford konnte und wollte die Ergebnisse seiner Streuversuche nicht leugnen, weil sich hier die eigentliche Qualität der Naturwissenschaften zeigte. Sie mussten die Welt unter der erschwerten Bedingung des Experiments erklären, und an den zurückprallenden Alphateilchen führte kein spekulativer Ausweg vorbei.
Nach dem Kern
Der Physiker, der die Idee eines Kern rettete und als Erster wirklich verstand, wie ein Atom gebaut ist, hieß Niels Bohr, und er traf 1912 in Manchester ein, um mit Rutherford zu arbeiten. Wir berichten darüber in dem entsprechenden Kapitel und wollen an dieser Stelle noch andere Arbeiten und Leistungen Rutherfords würdigen. 1919 erschien sein Aufsatz mit dem Titel Zusammenstoß von Alphateilchen mit leichten Atomen, in dem Rutherford berichtete, dass ein Beschuss von Stickstoff dazu führte, dass Wasserstoffatome entstanden. Er vermutete sogleich, dass es durch die auftreffenden Alphateilchen zu Umwandlungen bei den Atomen gekommen war, und diese Beobachtung machte ihn letztlich zum Entdecker der künstlichen Radioaktivität: Er verwandelte Stickstoff in Sauerstoff und setzte dabei Wasserstoff frei. Rutherford war wirklich ein Alchemist geworden, sodass uns nicht verwundern darf, warum ihm, erstens, der Nobelpreis für Chemie zugesprochen wurde und warum man, zweitens, das Element mit der Ordnungszahl 104 nach ihm benannt hat – eben als Rutherfordium.
1920 äußerte Rutherford in einem Vortrag den Verdacht, dass es neben den positiv geladenen Kernteilchen, die inzwischen Protonen hießen, noch weitere elementare Bausteine im Inneren der Atome geben könnte, und er vermutete, dass sie elektrisch neutral seien. Heute wissen wir, dass es solche Neutronen gibt. Entdeckt hat sie 1932 James Chadwick, ein Schüler Rutherfords. John Cockroft und Ernest Walton, ebenso geistige Ziehsöhne Rutherfords, »vergriffen« sich an der Entdeckung ihres Lehrers: Sie waren als Erste in der Lage, die Atomkerne zu zertrümmern, die Rutherford gefunden hatte. 1951 wurden sie dafür mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet.
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Lise Meitner (1878–1968)
Eine kluge Frau in der Männerwelt
Lise Meitner hat nie einen deutschen Pass besessen, obwohl sie mehr als dreißig Jahre – von 1907 bis 1938 – in Berlin gearbeitet hat. Als sie nach dem Anschluss Österreichs im März 1938 als »Wiener Jüdin«, wie es im Jargon der Nazis hieß, aus Deutschland vertrieben wurde und fl iehen musste, hat sie in Schweden eine neue Heimat gefunden. 1946 ist sie dann Staatsbürgerin dieses Landes geworden. Nach Deutschland oder in ihre Heimatstadt Wien ist sie nicht mehr zurückgekehrt. Gestorben ist sie fast neunzigjährig im britischen Cambridge.
Offen gesagt, gab es für Lise Meitner auch keinen Grund, wieder nach Deutschland zu kommen. Hier hatte sich nahezu jeder, der mit ihr zu tun hatte, blamiert so gut er konnte (von den Verbrechen der Nazis ganz zu schweigen), und von irgendeiner Art von Entschuldigung war bis zum Jahre 1991 nichts zu sehen und zu hören. Erst dann hat man ihr nach vielen mündlichen und schriftlichen Protesten einen Platz im Ehrensaal des Deutschen Museums in München eingeräumt: Als eine Art Alibi-Ehrenfrau prangt nun ihr Konterfei in der Nachbarschaft der Köpfe von Otto Hahn und Max Planck. Abgesehen von dieser reichlich spät erfolgten Geste der Wiedergutmachung stellt der Umgang mit Lise Meitner der deutschen, meist von Männern dominierten Forschungselite ein Armutszeugnis aus, und ein biografisches Lexikon, das 1985 in zweiter Auflage erschienen ist und Große Naturwissenschaftler vorstellt, informiert seine Benutzer sogar über Heinrich den Seefahrer und Marco Polo, aber von Lise Meitner keine Spur. Sie scheint den männlichen Herausgebern unbekannt geblieben oder zumindest keinen Eintrag wert gewesen zu sein.
Man hält es oft schlichtweg nicht für möglich, wie deutsche Ehrenmänner mit einer großen Frau umspringen können: Als Lise Meitner 1907 frisch promoviert in Berlin eintrifft und an der Universität die Vorlesungen von Max Planck hören will, wird sie von diesem gefragt: »Sie haben doch schon den Doktortitel; was wollen Sie denn jetzt noch?« Und als sie mit Otto Hahn zusammenarbeiten will, darf sie das Gebäude auf Anweisung des Direktors nur durch den Hintereingang betreten. Außerdem hat sie ausschließlich Zugang zu einer eher schlichten Holzwerkstatt und darf sich nicht außerhalb dieses Raumes blicken lassen. Wir wollen nicht fragen, was für eine Toilette ihr zur Verfügung stand, dafür aber erwähnen, dass sie zwar nach ihrer Habilitation 1926 die zu den akademischen Pflichten gehörende Antrittsvorlesung hält, aber dabei von der Presse grob verunglimpft wird: Den Vortrag »Über kosmische Physik«, den die Privatdozentin Lise Meitner hält, verwandelt der fantasielose Berichterstatter der Berliner Presse in einen Vortrag »Über kosmetische Physik«, den ein »Fräulein Meitner« hält.
Wer meint, mit dieser Form der Diskriminierung sei nach dem Zweiten Weltkrieg Schluss gewesen, unterschätzt die Borniertheit der deutschen Nobeleliten. (Manchmal ist zu hören, dass Otto Hahn den Nobelpreis, der Lise Meitner zugestanden wäre, bekommen hat – das könnte stimmen.) Denn als sie Anfang der 1950er-Jahre im Kreise von Kollegen über ein ausschließlich physikalisches Thema referiert, stellt man sie als »langjährige Mitarbeiterin« Otto Hahns vor und unterschlägt dabei einfach, dass sie es war, die im Winter 1938/39 als Erste verstanden hat, wie viel Energie freigesetzt wird, wenn es zu einer Kernspaltung des Elements Uran kommt.
Noch bis in die 1980er-Jahre führte das Deutsche Museum in München in seinen Katalogen Lise Meitner als schlichte Assistentin von Hahn auf, obwohl sie seit 1926 eine unabhängige Professorin war und der Akademie Leopoldina in Halle sowie der Akademie der Wissenschaft zu Göttingen angehörte. Ihr war der Enrico-Fermi-Preis und die Leibniz-Medaille verliehen worden, und im Ausland hatte man ihr zahlreiche Ehrendoktorhüte aufgesetzt und viele weitere Ehrungen zukommen lassen. Eingeweihte wussten immer schon, dass sie die führende geistige Kraft in dem zu Recht so gelobten Team Hahn/Meitner war. Aus diesem Grunde haben auch die Mitarbeiter der beiden in formalen Schreiben oftmals korrigierend eingegriffen: Den Unterschriften »Otto Hahn, Lise Meitner«, die unter amtlichen Bekanntmachungen und Anordnungen zu fi nden waren, haben sie durch eine kleine Schlangenlinie eine neue Bedeutung gegeben, die eher den Tatsachen entsprach: »Otto Hahn, lies Meitner«. Ihr häufig zu hörender Ratschlag, »Hähnchen, lass mich das machen, von Physik verstehst du nichts«, ist jedenfalls niemals ernsthaft auf Widerspruch gestoßen. Sie verstand wirklich etwas von Physik, aber sie war eine Frau und musste sich deshalb dauernd hinten anstellen oder gar verstecken.
Aller Anfang ist schwer
Die 1878 in Wien geborene Lise Meitner kann 1901 in ihrer Heimatstadt nur deshalb mit dem Studium der Physik beginnen, weil die österreichischen Universitäten ihre Tore gerade noch rechtzeitig vor der Jahrhundertwende für Frauen geöffnet haben. Sie freut sich damals darauf, die Vorlesungen des berühmten Ludwig Boltzmann zu hören, und durch seine meisterhafte Beherrschung der Wärmelehre angestachelt, steuert sie zielstrebig auf das Thema ihrer Doktorarbeit – Wärmeleitung in homogenen Körpern – zu, die sie 1906 abschließt. Sie ist jetzt 28 Jahre alt und hat bereits einige Umwege in einer von Männern beherrschten Welt in Kauf nehmen müssen. Denn obwohl ihr Vater, ein Wiener Rechtsanwalt mit jüdischen Vorfahren, ihre sich früh zeigende Neigung zur Physik förderte, hatte er verlangt, dass sie erst einen »anständigen« Beruf erlernte. Zu gering schätzte er die Chancen seiner Tochter ein, als Wissenschaftlerin je eine Stelle zu finden. Und Lise tat ihm den Gefallen. Bevor sie sich an der Universität Wien für das Studium der Physik einschrieb, absolvierte sie die notwendigen Prüfungen, um Lehrerin für Französisch werden zu können.
Doch zurück zur Physik. An der naturwissenschaftlichen Fakultät fühlt sich Lise Meitner durch und durch als »Schülerin von Boltzmann«, wie sie selbst 1958 geschrieben hat. An ihrem ersten Lehrer fasziniert sie besonders, wie sehr er »erfüllt war von der Begierde für die Wunderbarkeit der Naturgesetze und ihrer Erfassbarkeit durch das menschliche Denkvermögen«. Von Boltzmanns Schwung regelrecht »mitgerissen«, ist sie zunächst enttäuscht, als sie die unpersönlichen und eher nüchternen Vorlesungen besucht, die Max Planck in Berlin über theoretische Physik hält. Lise Meitner studiert bei ihm seit dem Herbst 1907. Anbei bemerkt, war es damals Frauen nicht ohne Weiteres gestattet, auf preußischen Hochschulen ein Studium aufzunehmen. So konnte Lise Meitner auch nicht einfach in den Hörsaal hineinspazieren – dazu war vielmehr eine persönliche Erlaubnis des Dozenten erforderlich. Und obwohl, wie bereits gesagt, das erste Treffen mit Planck eher unerfreulich verlaufen war, hat sie letztlich seine Zustimmung erhalten und im Laufe ihres Lebens immer mehr Respekt vor seiner Persönlichkeit bekommen. Max Planck sei »als Mensch so wunderbar gewesen«, hat sie gegen Ende ihres Lebens einmal erzählt, »dass, wenn er in ein Zimmer kam, die Luft im Zimmer besser wurde.«
Planck selbst hat bald begriffen, was für ein Talent Lise Meitner besaß, und sie folgerichtig zu seiner Assistentin gemacht. Diese Position behielt sie bis in den Ersten Weltkrieg hinein. 1915 meldete sie sich freiwillig als Röntgenschwester, um in einem Krankenlazarett an der österreichischen Front zu arbeiten. Sie hatte sich eigens durch medizinische Kurse auf diese Aufgabe vorbereitet.
Der Erste Weltkrieg
Aus Sicht der Wissenschaft hat der Erste Weltkrieg insofern eine entscheidende Bedeutung, als dass hier zum ersten Mal mit direkter Hilfe der Chemiker und Physiker gekämpft wurde. Bekannt geworden ist vor allem der Einsatz chemischer Waffen, den alle Kriegsparteien mit Macht erprobt haben – nicht nur die Deutschen. Deren Anstrengungen waren unter der Führung von Fritz Haber nur die größten »Erfolge« beschieden, wenn man die tatsächlich erfolgte Tötung von Tausenden von Menschen so nennen darf. Zwar hat Lise Meitner nichts mit diesem gefährlichen und inhumanen Aspekt der Forschung zu tun, aber der Gaskrieg soll hier deshalb erwähnt werden, um den Kritikern der Wissenschaft an Meitners Beispiel zu zeigen, dass man es sich nicht zu einfach machen sollte, wenn man bestimmte Handlungen von Personen moralisch be- oder verurteilen möchte. Immer gilt es, die Zeitumstände zu berücksichtigen. Lise Meitner hat nämlich trotz ihres grundsätzlichen Abscheus vor kriegerischen Auseinandersetzungen sehr wohl verstanden, warum sich einige ihrer Kollegen um den Einsatz chemischer Waffen bemühten: Denn »vor allem ist jedes Mittel barmherzig, das diesen schrecklichen Krieg abzukürzen hilft«, schreibt sie im März 1915. Und wer will sie für diesen Gedanken wirklich tadeln, der dreißig Jahre später seitens der Amerikaner erneut auftauchte, nachdem die erste Atombombe auf Hiroshima abgeworfen worden war?
Radiochemie
Lise Meitner wollte mit dem oben zitierten Schreiben ihren Freund und Kollegen Otto Hahn trösten, der damals im Fronteinsatz stand. Ihm verdankte sie viel. Denn Hahn hatte ihr acht Jahre zuvor die große Chance gegeben, selbstständig experimentell zu arbeiten. Wie kam es dazu?
Otto Hahn hatte sich im Frühjahr 1907 habilitiert und dabei für die Wissenschaft ein neues Gebiet erschlossen, das er Radiochemie nannte. Es ging darum, die radioaktiven Substanzen, mit denen zum Beispiel das Ehepaar Marie und Pierre Curie in Paris beschäftigt war, chemisch sorgfältig zu charakterisieren. Hahn hatte verstanden, dass es – modern ausgedrückt – auf Teamwork ankam, und so suchte er als Chemiker einen Physiker, der ihm zur Hand gehen konnte. Da er gerade aus den USA zurückgekommen war, wo er mit gleichaltrigen jungen Forscherinnen zusammengearbeitet hatte, und er zudem »eine ausgesprochene Schwäche für das weibliche Geschlecht« zeigte, wie es ein Biograf formuliert hat, konnte es auch eine Physikerin sein, und so bekam Lise Meitner ihre Chance in der Wissenschaft.
Wenngleich Meitner nur in einer Holzwerkstatt experimentieren durfte, erlebte sie nun in Berlin-Dahlem ihre »unbeschwertesten Arbeitsjahre«: »Die Radioaktivität und Atomphysik waren damals in einer unglaublich raschen Fortentwicklung; fast jeder Monat brachte ein wunderbares, überraschendes, neues Ergebnis in einem der auf diesem Gebiet arbeitenden Laboratorien. Wenn unsere eigene Arbeit gut ging, sangen wir zweistimmig, meistens Brahmslieder, wobei ich nur summen konnte, während Hahn eine sehr gute Singstimme hatte. Mit den jungen Kollegen am Physikalischen Institut hatten wir menschlich und wissenschaftlich ein gutes Verhältnis. Sie kamen uns öfters besuchen, und es konnte passieren, dass sie durch das Fenster der Holzwerkstatt hereinstiegen, statt den üblichen Weg zu nehmen. Kurz, wir waren jung, vergnügt und sorglos, vielleicht politisch zu sorglos.«
Bald waren die unbeschwerten Tage in der Werkstatt gezählt. Die 1911 gegründete Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft – die heutige Max-Planck-Gesellschaft – richtete in kurzer Zeit in Dahlem ein stattliches Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie ein, in welches das Gespann Hahn/Meitner 1913 umzog. Nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs und ihrer Arbeit in österreichischen Frontspitälern übernahm 1917 Lise Meitner dort ihre eigene Abteilung, die »physikalisch-radioaktive«, und durfte fortan offi ziell den Professorentitel führen.
Es ist Lise Meitner keineswegs leichtgefallen, 1917 nach Berlin zurückzukehren. Doch ein Brief von Hahn, der in höchster Aufregung war, stimmte sie um. Er schrieb, »dass unsere Abteilung für militärische Zwecke verwendet würde«, falls sie sich nicht dort blicken ließ, und zwar für längere Zeit. Lise Meitner reagierte. Denn »da unsere Untersuchungen über das [chemische Element] Proaktinium als Muttersubstanz des Aktiniums sehr genau reproduzierbare Messungen mit festgeschraubten Apparaten usw. erforderten, hätte die Wegnahme unserer Abteilung unsere jahrelange Arbeit zunichte gemacht. Daher kam ich im September 1917 für dauernd nach Dahlem zurück, um die Arbeit zu Ende zu führen« – etwas, das sie ohne die Hilfe von Planck nicht geschafft hätte, der ihr die militärischen Herren vom Hals halten konnte.
Betastrahlen
Proactinium und Actinium – damit sind konkrete Hinweise auf das wissenschaftliche Thema gefallen, um das sich das Hahn-Meitner-Team gekümmert hat. 1908 konnte das Duo seine erste gemeinsame Arbeit publizieren, die von dem chemischen Element Actinium handelte, das radioaktiv und etwas schwerer war als das berühmte Radium des französischen Ehepaars Curie. Damals gab es schon ein Periodensystem der Elemente, in das die erkannten Atomsorten mit einer Ordnungszahl eingetragen wurden. Diese Ordnungszahl reihte die Atomsorten der Größe nach auf, wobei die Zählung beim Wasserstoff mit 1 begann und vorläufi g beim Radium bei 89 endete. Was aber dieser aufsteigende Zahlenwert physikalisch bedeutete, darauf konnte sich um 1908 niemand einen so rechten Reim machen. Lise Meitner wusste nur, dass es eine »Muttersubstanz« für das Actinium gab, womit ein Element gemeint war, das selbst radioaktiv strahlte, und zwar so, dass dabei Actinium herauskam. Gemeinsam mit Hahn machte sie sich auf die Suche nach diesem Element, das sie Proactinium nannten und schließlich 1917 fanden. Sie konnten ihm die Ordnungszahl 91 zuweisen, was eins kleiner ist als der entsprechende Wert für das Uran, das als Element 92 berühmt werden sollte, nachdem mit ihm Atombomben konstruiert werden konnten.
Bei ihren Untersuchungen konzentrierte sich Lise Meitner auf Elemente, die als Betastrahler bekannt waren, das heißt auf Elemente, die von Rutherford als Betastrahlen bezeichnete Energieform aussendeten, von der man bald wusste, dass sie aus Elektronen bestand. Bei diesen Elektronen fiel Lise Meitner nun etwas Merkwürdiges auf. Sie konnte nämlich nachweisen, dass diese negativ geladenen Teilchen aus dem Atomkern kamen, also von dort, wo es gar keine Elektronen geben sollte bzw. konnte. Zudem konnten die Elektronen alle möglichen Geschwindigkeiten annehmen, was die Physiker dadurch ausdrückten, dass sie sagten, die Betastrahlen zeigen ein kontinuierliches Spektrum.
Beide Erkenntnisse waren sensationell, wenn dies auch heute nicht mehr leicht zu sehen ist. Zur Erinnerung: Die Physiker lebten damals in der Annahme, dass die Welt allein aus zwei Bausteinen besteht, dem Proton, das schwer und positiv geladen ist, und dem Elektron, das leicht und negativ geladen ist. Um 1912 hatte Ernest Rutherford bei Streuversuchen herausgefunden, dass Atome aus einem Kern und einer Hülle bestehen, wobei im Atomkern alle Protonen – und damit fast die ganze Masse – vereinigt sind, während die Elektronen dieses Zentrum auf Schalen umrunden. Zwar wurde dem Dänen Niels Bohr, der uns noch beschäftigen wird, sofort klar, dass damit das Ende der Fahnenstange der klassischen Physik erreicht war, weil mit ihr die Stabilität eines solchen kreisenden Systems nicht zu erklären war. Aber die neue Theorie, die an ihre Stelle treten sollte, kannte zunächst natürlich noch niemand. Sie wurde erst um 1925 als revolutionäre »Quantenphysik« der Atome aufgestellt. Es mussten also noch dreizehn Jahre vergehen, in denen weitgehend Verwirrung unter den theoretischen Physikern herrschte. In dieser Zeit galt es, sich an die Experimente zu halten und hier Orientierung zu suchen. Auf diesem Sektor war Lise Meitner wegweisend. Auch wenn ihre zuverlässigen und genauen Messungen eher noch mehr Überraschungen an den Tag brachten, die der klassischen Physik zuletzt das Genick brachen, so gaben ihre Daten und Beobachtungen doch den neuen geistigen Rahmen vor, in dem man Halt fi nden und sich umsehen konnte.
Meitners Ergebnisse waren tatsächlich die große Herausforderung für die Physiker: Wie kamen die Elektronen, die sie bei Betastrahlern wie Proactinium untersuchte, erstens in den Kern der Atome hinein und zweitens wieder heraus? Dass hierin eine schwerwiegende Besonderheit stecken musste, zeigte vor allem die von Lise Meitner mehrfach bestätigte – wenn auch von Kollegen gerne als Fehlmessung zurückgewiesene – Tatsache, dass die Elektronen der Betastrahler alle möglichen Energien annehmen konnten und damit deutlich von all den scharfen Linien und diskreten Übergängen abwichen, die man sonst von den Atomen her gewohnt war.
Eben dieses kontinuierliche Spektrum der beim Betazerfall freiwerdenden Elektronen hat Niels Bohr eine Zeit lang auf den kühnen Gedanken gebracht, dass bei diesem Prozess die Erhaltung der Energie aufgeweicht sein und nur statistisch gelten könnte. Gelöst wurde die Frage später durch Wolfgang Pauli, der vorschlug, dass in der Betastrahlung neben den Elektronen noch ein weiteres physikalisches Etwas – das heutige Neutrino – zu finden sei, und dass sich die beiden Zerfallsprodukte die Energie zufällig aufteilten.
Das Neutron
Der ganze Vorgang des Atomzerfalls konnte erst dann wirklich gut verstanden werden, als zu Beginn der 1930er-Jahre der Brite James Chadwick nachweisen konnte, dass es neben den Elektronen und Protonen tatsächlich noch mindestens einen anderen – und zwar ungeladenen – Baustein der Materie gibt, den man seiner Neutralität wegen Neutron nannte.
Mit dem Auftauchen des Neutrons beginnt für Lise Meitner – und nicht nur für sie – ein völlig neuer Arbeitsabschnitt. Überall auf der Welt besorgen sich Wissenschaftler Neutronenquellen, um die ungeladenen Partikel auf Atome und deren Kerne zu lenken. Sie unternehmen dies in der Hoffnung, dass es den Neutronen gelingt, bis zu den Atomkernen vorzudringen und sich in ihnen einzunisten. Dahinter steckt bis zu einem gewissen Grad der alte Traum der Alchemisten, unedle Stoffe in edle umzuwandeln; dahinter steckt auf jeden Fall aber auch die Neugierde, verstehen zu wollen, wie die Stabilität eines Atomkerns zustande kommt. Was hält die positiv geladenen Protonen dort wie zusammen? Welche Kraft agiert hier? Und können die Neutronen etwas von ihr spüren und dem Experimentator vermelden?
Aufschluss auf all diese Fragen sollte das Bombardement der Atome mit ungeladenen Teilchen bringen. Wenn diese von einem Atomkern eingefangen würden, konnte dabei ein neues, künstliches Element entstehen. Unter der Prämisse machte sich die Gemeinschaft der Physiker, unter anderem auch Lise Meitner, an die Arbeit: Bringe Neutronen in einen Urankern und produziere auf diese Weise ein größeres Element, das als Transuran bezeichnet wurde.
Vertreibung
Was für Lise Meitner eine spannende wissenschaftliche Zeit mit einem internationalen Wettlauf hätte werden können, erfuhr plötzlich eine brutale Unterbrechung. Wir sind im Jahre 1938, und die Nationalsozialisten marschieren in Österreich ein und schließen das Land an ihren Staat an. Der Schutz, den Wiener Juden bis dahin noch hatten, verschwindet über Nacht, und Lise Meitner droht die Verhaftung. Sie flieht nach Schweden, und wenn dadurch auch das nackte Leben der inzwischen 60-jährigen Frau gerettet wird, so ist sie von heute auf morgen zur Untätigkeit verdammt, da ihre sämtlichen Arbeitsmittel in Berlin bleiben. Man sollte sich da nichts vormachen. So freundlich sie in Schweden aufgenommen wird, und so großzügig man ihr ein Gehalt zahlt und Gerätschaften zur Verfügung stellt – sie ist plötzlich allein und von der Welt abgeschnitten, was auch mit der Sprache zu tun hat, die sie erst lernen muss. Im März 1939 schreibt sie: »Ihr könnte Euch nicht vorstellen, was es für einen Menschen meines Alters bedeutet, seit neun Monaten in einem kleinen Hotelzimmer zu wohnen und mit der Angst, dass niemand die nötig Zeit hat, um meine Angelegenheiten in Berlin vorwärtszubringen. Und hier im Institut bin ich auch ganz ohne Hilfe. Mein Leben ist so leer, dass es wirklich nicht dafür steht, ein Wort darüber zu sagen.«
Einige der genannten »Angelegenheiten« werden schon weitergebracht. Otto Hahn und sein neuer Mitarbeiter Fritz Straßmann untersuchen mit zunehmender Neugierde, was passiert, wenn Neutronen auf Uran treffen, und unter anderem gehen sie einer vagen Nachricht aus Paris – aus dem Laboratorium der Tochter von Marie Curie – nach, der zufolge bei dem Beschuss gar keine Transurane mit höherer Ordnungszahl (höher als 92) entstehen. Man mutmaßt nun vielmehr, dass Elemente mit kleinerer Ordnungszahl – wie das Radium mit 88 – gebildet werden. Hahn und Straßmann wollen das überprüfen und kommen bald aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die vermuteten Radiumatome verhielten sich eher wie Bariumatome, und die mussten, da das Element Barium die Ordnungszahl 56 trug, ungefähr halb so groß wie die von Neutronen getroffenen Uranatome sein. Der Schluss, den sie daraus zogen, war unumgänglich: Der Kern des Uran musste zerplatzt sein.
Kernspaltung
Lise Meitner, die untätig in Schweden ausharren musste und ungeduldig auf Nachrichten aus Berlin wartete, hat 1963 in einem Beitrag über »Wege und Irrwege zur Kernenergie« beschrieben, was im Dezember 1938 passiert war, als erst die Kernspaltung von Hahn und Straßmann in Berlin entdeckt und danach von ihr im hohen Norden Europas verstanden werden konnte: »Ich möchte betonen, dass der Nachweis des Bariums bei der geringen Intensität der zu identifi zierbaren Präparate wirklich ein Meisterstück radioaktiver Chemie war, das in der damaligen Zeit kaum jemand anderem hätte gelingen können als Hahn und Straßmann. Hahn teilte mir brieflich Weihnachten 1938 das sowohl ihn als auch Straßmann sehr überraschende Resultat ihrer letzten Versuche mit. Ich war damals an der schwedischen Westküste in Kungälv, um dort mit [meinem Neffen] Otto Robert Frisch, der von Kopenhagen herübergekommen war, ein paar gemeinsame Weihnachtsfeiertage zu haben. Begreifl icherweise klang Hahns Brief richtig aufgeregt und er fragte, was ich als Physikerin über dieses Ergebnis dächte. Ich wurde beim Lesen des Briefes selbst ganz aufgeregt vor Erstaunen und – ehrlich gesagt – auch beunruhigt. Ich kannte zu genau Hahns und Straßmanns ungewöhnliches chemisches Wissen, um auch nur eine Sekunde an der Richtigkeit ihrer überraschenden Ergebnisse zu zweifeln. Ich begriff, dass diese Resultate einen ganz neuen wissenschaftlichen Weg eröffneten – aber wie sehr waren wir in den frühen Arbeiten [bei der Suche nach Transuranen] in die Irre gegangen.«
Nach der Lektüre von Hahns Brief beginnt Lise Meitner bei einem Spaziergang durch die weihnachtliche Stille mit ihrem Neffen eine Diskussion über die Frage, was mit und in einem Urankern passiert, der von einem Neutron (oder mehreren) getroffen wird und dabei in Stücke zerspringt. Als Vorstellung legten sie ein – heute zwar als unzureichend erkanntes, damals aber hilfreiches – Modell des Atomkerns zugrunde, das auf Niels Bohr zurückging und bei dem ein Kern als Tröpfchen gesehen wurde, dessen runde Form wie die eines Wassertropfens durch eine Oberfl ächenspannung zustande kommt: »Wir kamen in der Diskussion zu folgendem Bild: Wenn in dem hochgeladenen Urankern – in dem durch die gegenseitige Abstoßung der Protonen die Oberfl ächenspannung stark vermindert ist – durch das eingefangene Neutron die kollektive Bewegung der Kerne genügend heftig wird, so kann sich der Kern in die Länge ziehen; es bildet sich eine Art Taille, und schließlich erfolgt die Trennung in zwei ungefähr gleich große, leichte Kerne, die dann wegen ihrer gegenseitigen Abstoßung mit großer Heftigkeit auseinanderfl iegen. Wir konnten aus diesem Bild auch die dabei frei werdende Energie abschätzen.« Und diese war so gewaltig, dass die beiden Wissenschaftler zutiefst erschrocken sind und den Rest des Weges schweigend zurücklegten. Das Ergebnis des vorweihnachtlichen Gesprächs im Schnee wurde Anfang 1939 in englischer Sprache publiziert, und damit kam die Spaltung – die Fission – von Atomen in die Welt und die Geschichte.
Es ist schon merkwürdig, dass die Kernspaltung ausgerechnet am Vorabend des Zweiten Weltkriegs entdeckt wird, was unmittelbar zu einem riesigen Interesse an den ungeheuren Mengen an Energie führt, die dabei freigesetzt werden können. Schon im Januar 1939 war die Information darüber via Kopenhagen in Washington angekommen, und »die weitere Entwicklung ist bekannt«, wie Lise Meitner 1963 lakonisch feststellen konnte.
Als der Krieg zu Ende ging und die erste Atombombe zum Einsatz gekommen war, schreibt sie Otto Hahn einen Brief, der seinen Adressaten leider nie erreicht hat. Sie macht ihm wegen der Kernspaltung natürlich keine Vorwürfe, aber die damit zusammenhängenden Gräueltaten der Nazis spricht sie unverblümt an: »Das ist ja das Unglück von Deutschland, dass Ihr alle den Maßstab für Recht und Fairness verloren habt. Du hattest mir selbst im März 1938 erzählt, dass [man] gesagt hat, dass schreckliche Sachen gegen die Juden gemacht werden würden. (…) Ihr habt auch alle für Nazi-Deutschland gearbeitet und habt auch nie nur einen passiven Widerstand zu machen versucht. (…) Du wirst Dich vielleicht erinnern, dass ich, als ich noch in Deutschland war, Dir oft sagte: ›Solange wir nur die schlaflosen Nächte haben und nicht Ihr, solange wird es in Deutschland nicht besser werden.‹ Aber Ihr hattet keine schlaflosen Nächte. Ihr habt nicht sehen wollen, es war zu unbequem.«
Aus diesen wenigen Zeilen geht hervor, warum für Lise Meitner nach den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs und angesichts des »verschleierten Blicks« ihrer Kollegen gegenüber dem Naziterror nach 1945 in Deutschland kein Leben mehr möglich war. Otto Hahn trifft sie noch einmal Ende 1945 in Stockholm, als ihm der Nobelpreis für Chemie zuerkannt wird. Lise Meitner selbst geht leer aus.
5
Albert Einstein (1879–1955)
Der Mann des Jahrhunderts
Albert Einstein wurde am 14. März 1879 in Ulm geboren und starb am 18. April 1955 in Princeton (New Jersey). Seine Schulzeit verbrachte er in München und im schweizerischen Aarau, sein Studium absolvierte er an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich. Nach dem Examen nahm Einstein die Schweizer Staatsbürgerschaft an, und von 1902 bis 1909 fand er Arbeit am Patentamt in Bern. In diese Zeit fällt sein als Annus mirabilis bezeichnetes Wunderjahr von 1905, in dem der 26-jährige Angestellte III. Klasse die Physik und unser Weltbild revolutioniert – zum einen, weil er eine neue Auffassung vom Wesen von Raum und Zeit vorlegt, in der beide zu einer Raumzeit verschmelzen, und zum anderen, weil er befindet, dass der Quantensprung, den Max Planck im Jahre 1900 als mathematische Hilfsgröße in die Wissenschaft gebracht hat, physikalisch real ist. Just mithilfe ebendieser mathematischen Größe, so Einstein, entsteht das Licht, und zwar in Quantenform, und das ist seiner Ansicht nach wahrlich eine revolutionäre Entdeckung.
Biografisches
Einsteins Gedanken sind so ungewohnt und geraten so sehr mit dem gesunden Menschenverstand in Konfl ikt, dass die offizielle Wissenschaft ein paar Jahre braucht, bis sie ihren künftigen Star überhaupt wahrnimmt. Er wird erst im Jahre 1909 als Professor nach Zürich berufen – und dann auch nur als ein außerordentlicher. Den Sprung zum Ordinarius schafft Einstein erst 1911, und zwar dank der Deutschen Universität in Prag, wo er aber nicht lange bleibt. Bereits 1912 kehrt er in die Schweiz zurück, die er zwar liebt, aber ihn oft genug peinlich beargwöhnt. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs folgt (der einer breiten Öffentlichkeit nach wie vor völlig unbekannte) Einstein dem Ruf von Max Planck und wechselt in die deutsche Hauptstadt. In Berlin wird er Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik ohne Lehrverpflichtung und hauptamtliches Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften.
1915 stellt Einstein auf einer Sitzung der Akademie eine wesentlich erweiterte Fassung seiner neuen Vorstellungen von Raum und Zeit vor, die als allgemeine Relativitätstheorie bekannt geworden sind und ein merkwürdiges Bild des Kosmos zeigen. Einstein zufolge leben wir nämlich auf der Oberfläche einer positiv gekrümmten vierdimensionalen Raumzeit. Das hört sich (nicht nur) für den Laien völlig unverständlich an, aber die dieser These entsprechenden physikalischen Ideen sind präzisen Messungen zugänglich und damit quantitativ überprüfbar. Als die geeigneten Experimente 1919 unternommen werden und offi ziell bestätigen, dass Einsteins Ideen das Universum besser beschreiben als die Vorstellungen von Isaac Newton, an denen man sich seit Jahrhunderten orientiert hatte, ist ein neuer Star geboren. Einstein kommt auf die Titelseite der populären Zeitungen, und die Relativitätstheorie wird zum Stadtgespräch. Von nun an wächst er in die Rolle eines Weltweisen, und sein Gesicht entwickelt sich nach und nach zu einer Ikone.
Der 1921 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnete Einstein wird nach der Bestätigung seiner Theorie bald von aller Welt umworben, nur nicht in Deutschland und erst recht nicht von den Nazis. In seiner Heimat entsteht eher eine hässliche Stimmung gegen ihn. Bereits 1920 organisiert eine »Arbeitsgemeinschaft deutscher Naturforscher zur Erhaltung reiner Wissenschaft« eine Großkundgebung gegen Einstein und die Relativitätstheorien in der Berliner Philharmonie, und die Anfeindungen nehmen mit dem wachsenden Antisemitismus zu. 1933 tritt Einstein aus der Preußischen Akademie der Wissenschaft aus und emigriert in die USA. Im Oktober trifft er in New York ein, und 1935 bezieht Einstein in Princeton (New Jersey) das Haus in der Mercer Street, in dem er bis zu seinem Tode wohnen wird. Einstein arbeitet in den ihm verbleibenden zwanzig Jahren an dem Institute for Advanced Studies, das in Princeton eingerichtet worden ist und wie für ihn geschaffen wirkt.
1939 empfiehlt er in einem berühmten Brief dem amerikanischen Präsidenten F. D. Roosevelt, möglichen deutschen Bemühungen um eine Atombombe zuvorzukommen, deren Bau im Rahmen der damals entwickelten Physik gelingen kann. Die Tatsache, dass im Laufe seines Lebens mithilfe einer abstrakten Wissenschaft der Weg zu konkreten Vernichtungswaffen gefunden werden konnte, entlockt Einstein kurz vor seinem Tod die Bemerkung: »Wäre ich noch einmal ein junger Mensch und stünde ich erneut vor der Entscheidung über den besten Weg, meinen Lebensunterhalt zu verdienen, so würde ich nicht Wissenschaftler, Gelehrter oder Pädagoge, sondern eher ein Klempner oder Hausierer werden wollen, in der Hoffnung, mir damit jenes bescheidene Maß von Unabhängigkeit zu sichern, das unter heutigen Verhältnissen noch erreichbar ist.«
Seine wissenschaftliche Neugier kann Einstein aber nicht ablegen. Bis zuletzt beschäftigen ihn Fragen der Physik, deren theoretische Grundlegung ihm unlösbare Schwierigkeiten bereitet. Unermüdlich denkt Einstein etwa über die Frage nach, was Licht wirklich ist, das sowohl als Welle als auch als Partikel (als Quantum) in Erscheinung treten kann. Zwar meinen viele Zeitgenossen, die Antwort zu kennen, wie er ironisch anmerkt, aber Einstein zufolge sind sie im Irrtum. Das Geheimnis bleibt, und das Gefühl dafür gefällt ihm.
Das Wunderjahr 1905
1905 ist Einstein 26 Jahre alt. Er lebt in Bern, und sein Leben als Angestellter des Patentamtes lässt ihm Zeit genug, fünf Arbeiten zu publizieren, die jede für sich sensationell und nobelpreiswürdig ist (vgl. Tabelle zum Wunderjahr). Genauer gesagt, schließt Einstein zunächst zwischen dem 17. März und dem 30. Juni vier Manuskripte ab, die sich mit höchst unterschiedlichen Themen beschäftigen. Zwei haben mit der Dimension und der Diffusion von Molekülen zu tun – Letztere ist als Brown’sche Bewegung bekannt –, und zwei befassen sich mit der Natur und Ausbreitung von Licht. Im September fügt Einstein dem Quartett noch als eine Art Coda seine Antwort auf die eher langweilig klingende Frage hinzu: Ist die Trägheit eines Körpers von seinem Energieinhalt abhängig?
Einsteins Antwort »Ja« ist weniger wichtig als die Form, die er ihr gibt. Die Trägheit eines Körpers steckt in seiner Masse m, und Einstein entdeckt, dass ihr eine Energie E entspricht. Er leitet zwischen den beiden Größen die wohl berühmteste mathematische Formel der Welt ab. Sie hat längst den Weg auf viele T-Shirts gefunden und lautet: »E gleich m mal c Quadrat« oder kürzer: E = mc2. Der Buchstabe c steht dabei für die Geschwindigkeit, mit der sich Licht in einem leeren Raum ausbreiten kann.
Die Lichtgeschwindigkeit taucht in der berühmten Einstein-Formel E = mc2 nicht zufällig auf. Sie bekommt in seiner Physik die Doppelrolle, eine Naturkonstante zu sein und eine obere Grenze darzustellen. Nichts kann sich schneller als Licht bewegen, was auch heißt, dass die Übertragung von Information nicht beliebig schnell sein kann, sondern so viel Zeit braucht wie das Licht. Auch die Information über die Zeit selbst braucht Zeit, die nicht so absolut sein kann, wie es sich der gewöhnliche Menschenverstand denkt. Einstein erkennt, dass sie nur relativ zum Ort ihrer Messung bestimmbar ist, und die genaue Darstellung dieser Zusammenhänge heißt heute Relativitätstheorie. Sie erscheint zum ersten Mal 1905 unter dem eher unauffälligen Titel Zur Elektrodynamik bewegter Körper und wirkt auf Einsteins Zeitgenossen so merkwürdig, dass sie sich noch mehr als ein Jahrzehnt später scheuen, ihm dafür den Nobelpreis zu geben. Diese Auszeichnung bekommt er stattdessen für seinen Hinweis, der ebenfalls aus dem Wunderjahr stammt. Der besagt, dass sich die Eigenschaften von Licht nur erklären lassen, wenn man ihm zubilligt, sowohl Welle als auch Teilchen zu sein. Einstein selbst hält diese Einsicht in die Dualität des Lichts für seine eigentliche revolutionäre Tat von 1905. Sie gibt ihm allerdings zugleich das Gefühl, den Boden unter den Füßen verloren zu haben, an dem die Physik seit Jahrhunderten gezimmert hatte. Auf ihm sollten objektive Gesetze errichtet, die unabhängig von einem Beobachter galten und ohne ihn formuliert werden konnten. Zu seinem eigenen Erstaunen musste Einstein nun feststellen, dass dieser Boden brüchig war. Denn die Natur des Lichtes hing nicht allein von der untersuchten Strahlung ab, sondern auch von der Frage, die ein Physiker im Experiment stellte. Mit anderen Worten, Einstein hatte die erste Frage der Physik entdeckt, für die es keine objektive Antwort gab. Die klassische Epoche seiner Wissenschaft war damit zu Ende. Die Zeit der Moderne konnte beginnen.
Die fünf großen Arbeiten des Wunderjahres 1905
1) Über einen die Erzeugung und Verwandlung des Lichts betreffenden heuristischen Standpunkt, Annalen der Physik, Band 17, S. 132-184; eingegangen am 18. März 1905
2) Eine neue Bestimmung der Moleküldimension, Dissertation, beendet am 30. April 1905, gedruckt bei K.J. Wyss, Bern [später geringfügig verändert erschienen unter dem gleichen Titel in Annalen der Physik, Band 19 (1906), S. 289-305]
3) Über die von der molekularkinetischen Theorie der Wärme geforderte Bewegung von in ruhenden Flüssigkeiten suspendierten Teilchen, Annalen der Physik, Band 17, S. 549-560; eingegangen am 11. Mai 19054) Zur Elektrodynamik bewegter Körper, Annalen der Physik, Band 17, S. 891-921; eingegangen am 30. Juni 1905
5) Ist die Trägheit eines Körpers von seinem Energieinhalt abhängig?, Annalen der Physik, Band 18, S. 639-641; eingegangen am 27. September 1905
Das Licht
Einsteins Weltruhm gründet sich auf seine Relativitätstheorien, die er einmal in einem Satz zusammengefasst hat: »Früher hat man geglaubt, wenn alle Dinge aus der Welt verschwinden, so bleiben noch Raum und Zeit übrig; nach der Relativitätstheorie verschwinden aber Zeit und Raum mit den Dingen.«
In diesem Kapitel geht es vor allem um seine Beiträge zu den Quanten und ihren Sprüngen. Sie alle haben zunächst mit Licht zu tun. Wer will, kann Einsteins Leben und Leistung allein im Lichte von Licht sehen und darstellen: Erstens bestand seine frühe revolutionäre Tat in der Einsicht, dass die Frage nach der Natur des Lichts keine eindeutige Antwort kennt und sowohl von Wellen als auch von Teilchen handeln muss, wenn man die Ausbreitung von Strahlung sowie das Zusammentreffen des Lichts mit Atomen erfassen will. Für diese Einsicht in die Dualität hat er den Nobelpreis für Physik bekommen. Zweitens gelangte Einstein zu Weltruhm, als sich zeigte, dass der Weg eines Lichtstrahls durch die Sonne exakt so gekrümmt wird, wie er zuvor in seiner allgemeinen Relativitätstheorie ausgerechnet hatte. Ein dritter Gesichtspunkt steckt in der fünften Arbeit des Wunderjahres, mit der die berühmte Formel E = mc2 in die Welt gekommen ist. Deren Kern hat Einstein einmal durch den simplen Satz ausgedrückt: »Masse und Energie sind wesensgleich.« Wenn aber die Masse eines Körpers ein direktes Maß für die in ihm enthaltene Energie ist, dann heißt das in Einsteins Worten: »Das Licht überträgt Masse«. Als ihm diese Einsicht kommt, kommentiert er sie mit den Worten: »Die Überlegung ist lustig und bestechend; aber ob der Herrgott nicht darüber lacht und mich an der Nase herumgeführt hat, das kann ich nicht wissen.«
Das Licht taucht erneut später in Einsteins Leben auf. 1929 stellen amerikanische Astronomen zu ihrer großen Überraschung fest, dass die Wellenlänge der von Sternen ausgehenden Strahlung zum roten (langwelligen) Ende hin verschoben wird, wenn ihr Abstand von der Erde zunimmt. Zum Glück konnten Einsteins Gleichungen die inzwischen als Rotverschiebung bekannte Beobachtung sofort erklären. Sie zeigen nämlich ein Universum, das sich ausdehnt (expandiert). Die Sterne, die wir sehen, sind also von uns weg flüchtende Objekte, und das von ihnen ausgesendete Licht verändert seine Wellenlänge so, wie es die Töne von hupenden Autos tun, die an einem Fußgänger vorbeirasen.
Es gab davor noch einen weiteren Fortschritt mit dem Licht, als sich Einstein der Frage zuwendete, wie wohl Sterne Licht aussenden. Genauer genommen, müsste die Frage eigentlich lauten: Wie senden die Atome der Sterne Licht aus? Einstein antwortet darauf im Jahre 1916, als ihm »ein prächtiges Licht aufgeht«, wie er damals schreibt. Ihm gelingt nämlich die »verblüffend einfache Ableitung« des Gesetzes, das die Lichtaussendung (Emission) von festen Körpern regelt und das ursprünglich von Planck aufgestellt worden war.
Wer sich die Aufgabe stellt, ein physikalisches Gesetz abzuleiten, muss allgemein mit einem Modell beginnen. In dem konkreten Fall der Lichtentstehung musste Einstein mit einem Modell des leuchtenden Materials beginnen und fragen, welche Eigenschaften die dort versammelten Atome benötigten, um die Strahlung zu produzieren, die im Experiment – also in der Wirklichkeit – nachgemessen worden ist. Einstein rechnete dabei mit Atomen, in denen die Elektronen auf Bahnen umliefen. Er versuchte nun, aus den Übergängen zwischen getrennten Elektronenbahnen und den frei werdenden Lichtenergien das Aussehen (Spektrum) der farbigen Strahlung vorherzusagen, die jeder beim Betätigen von Kochplatten oder beim Erhitzen von Metallen beobachten kann und sich von Physikern präzise vermessen ließ.
1917 publizierte Einstein die nur sieben Seiten umfassende Arbeit Zur Quantentheorie der Strahlung, in der er seine Ergebnisse und Einsichten vorstellte. In der Einleitung kündigt er selbstbewusst an, dass seine Abhandlung »über den für uns noch so dunklen Vorgang der Emission und Absorption der Strahlung durch die Materie einige Klarheit zu bringen scheint«.
Man kann darüber streiten, ob dieser Anspruch gerechtfertigt erscheint oder nicht. Man kann aber nicht darüber streiten, dass Einstein mit dieser Arbeit einen neuen Gedanken in die Welt der Physik gebracht hat, der heute in Lasern genutzt wird. Einstein stellt nämlich fest, dass es neben der bereits genannten spontanen Aussendung von Strahlung eine zweite höchst besondere Variante gibt, die zur Emission von Licht führt und die als erzwungene oder stimulierte Emission bezeichnet werden kann. Dieser Vorgang fi ndet statt, wenn einem Atom, in dem zuvor ein Elektron angeregt und in eine höhere Bahn befördert wurde, genau die Energie geliefert wird, die dies bewirkt hat. Dann kann das Elektron nicht nur von selbst, sondern zusätzlich noch mithilfe dieser Stimulation in seinen Grundzustand zurückkehren.
Das wirkt zunächst nicht wirklich aufregend. Einem Vorgang, der Licht aussendet, scheint lediglich ein zweiter, der ebenfalls Licht aussendet, an die Seite gestellt zu werden. Doch bekommt das Ganze eine besondere Bedeutung durch Einsteins Hinweis, dass es sich hierbei um »vollständig gerichtete Vorgänge« handelt. Nur unter dieser Annahme kann er nämlich sein Ziel erreichen und Plancks Strahlung verstehen. Was heißt das nun im Klartext? Hinter der Formulierung steckt die – intuitiv einleuchtende – Annahme, dass sich das Licht, das stimuliert wird, genau so bewegt wie das Licht, das stimuliert. Mit anderen Worten: Aus einem Lichtteilchen sind zwei Photonen geworden, die sich beide auf die Suche nach anderen angeregten Atomen machen, die ebenfalls bereit sind, nach einer Stimulation Licht auszusenden. Und so ahnt man, dass aus zwei Photonen vier, aus vier Photonen acht und dann immer mehr werden – 16, 32, 64, 128, …1024, …131072, …4194304, …536870912, … und immer die Zweierpotenzen weiter, bis so viele Photonen unterwegs sind, dass man sie als Lichtstrahl sehen kann. So entsteht ein Laserstrahl – in der Theorie. Bis zur Praxis sollte es allerdings noch viele Jahrzehnte dauern, nämlich bis zum Beginn der 1960er-Jahre, und inzwischen ist Laserlicht in fast jedem Wohnzimmer technische Wirklichkeit geworden. Oder haben Sie dort keinen CD-Player?
Die Quanten
Bleiben wir noch in Einsteins Wunderjahr 1905. In der ersten damals publizierten Arbeit, für die Einstein mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden ist, geht es um Quanten. Seine Überlegungen behandeln dabei »die Erzeugung und Umwandlung des Lichts«, was konkret heißt, dass Einstein zu erklären versucht, warum die Energie, die von Licht auf Elektronen übertragen wird, von der Frequenz des Lichtes abhängt – und nicht von seiner Intensität, wie jedermann damals erwartete. Einsteins Idee besteht darin, die jahrhundertealte Auffassung, Licht breite sich kontinuierlich als Welle aus, durch folgende Annahme zu ergänzen: Die Energie des Lichts besteht aus »in Raumpunkten lokalisierten Energiequanten, welche sich bewegen, ohne sich zu teilen« und »nur als Ganzes absorbiert und erzeugt werden können«.
Diese Worte sind als der »revolutionärste« Satz bezeichnet worden, der je von einem Physiker des 20. Jahrhunderts zu Papier gebracht wurde, und das starke Attribut stammt von Einstein selbst. Die Idee von Quanten als einem unstetigen Element war 1900 von Max Planck in die Physik eingeführt worden, aber nur als eine mathematische Hilfsgröße, die man zuletzt aus den Naturgesetzen entfernen wollte. Einstein verlieh Plancks Konzept eine physikalische Bedeutung. Er erkannte, dass es die Quanten nicht nur in der Theorie, sondern in Wirklichkeit gibt, wobei zu ergänzen ist, dass ihm diese Einsicht nicht leichtgefallen sein muss. »Es war, wie wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen worden wäre, ohne dass sich irgendwo fester Grund zeigte, auf dem man hätte bauen können«, wie er selbst einmal unter der Überschrift »Autobiografi sches« geschrieben hat. Einstein war klar, dass seine Lichtquantenhypothese das Ende der klassischen Physik bedeutete, und es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis der Ersatz in Form einer Quantenphysik kam, mit der er sich nie anfreunden konnte.
In der Geschichte der physikalischen Wissenschaften kann zwischen einer Quantentheorie und der Quantenmechanik unterschieden werden. Mit Quantentheorie werden die Bemühungen bezeichnet, die seit Newtons Tagen entwickelte klassische Physik zu erweitern, um Platz für die Quantensprünge von Planck und Einstein aus den Jahren 1900 bzw. 1905 zu schaffen. Wie ihr klassisches Vorbild wollte die Quantentheorie von messbaren Größen (Impuls, Energie) handeln, und ihre Gleichungen sollten die natürlichen Abläufe festlegen. Doch in der Mitte der 1920er-Jahre brach dieses Programm zusammen, und eine völlig neue Theorie – die Quantenmechanik – tauchte aus den Köpfen einiger Physiker auf. Sie operierte mit merkwürdigen mathematischen Größen, die nicht mehr direkt messbar waren, und ihre Gesetze waren nicht deterministischer, sondern statistischer Art. Wie sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten herausstellte, konnte die Quantenmechanik alle Phänomene im Bereich der Atome höchst genau erklären. Doch das hinderte Einstein nicht, sowohl ihre Allgemeingültigkeit als auch ihre Vollständigkeit in Zweifel zu ziehen. Für ihn konnte die Quantenmechanik »nicht der wahre Jakob« sein. Einstein bestritt nicht die Qualität der Quantenmechanik, aber er vermutete und hoffte, dass sich eines Tages eine noch umfassendere Theorie fi nden würde, die mit bislang verborgenen Parametern operiert und zeigt, dass das, was jetzt nur statistisch erfassbar wird und also Zufälligkeiten unterliegt, doch streng kausal bestimmt ist. Einstein presste seine Abneigung gegen die Quantenmechanik in das berühmte Diktum »Gott würfelt nicht«, das er vor allem in seinen Diskussionen mit dem großen dänischen Physiker Niels Bohr einsetzte.
Einstein und Bohr
Diskussionen mit Einstein über erkenntnistheoretische Probleme der Atomphysik – so heißt ein Aufsatz, in dem Niels Bohr darstellt, wie er mit Einstein um die Lektion der Atome gerungen hat. Kommende Generationen, sofern sie noch Interesse an philosophischen Fragen haben, können in dem Dialog dieser beiden Männer nachlesen, welche Qualität das Denken im 20. Jahrhundert erreicht hat. Beide Physiker hatten allerhöchsten Respekt voreinander, wie sich etwa an der Bemerkung von Einstein ablesen lässt, Bohrs Beiträge zur Physik seien »höchste Musikalität auf dem Gebiet des Gedankens«. Diese Bewunderung hat ihn aber nicht davon abgehalten, die Deutung, die Bohr der Quantenmechanik gab, als »Beruhigungsphilosophie« zu bezeichnen.
Was ist damit gemeint? Die über mehr als zwei Jahrzehnte geführte Debatte handelte unter anderem von der merkwürdigen Rolle, die den Beobachtern bzw. der Beobachtung in der neuen Physik zukam. In der Quantenmechanik bekommt ein Elektron seine Eigenschaften erst durch eine Messung. Mit ihr wird bestimmt, was vorher unbestimmt war. Während Bohr sich auf diese Unbestimmtheit der physikalischen Realität einließ und sie in ein philosophisches Gerüst namens Komplementarität einbaute, blieb Einstein der Gedanke unerträglich, dass sich die Natur nicht festlegen ließ. Er dachte sich ein Gedankenexperiment nach dem anderen aus, um zu zeigen, dass die Unbestimmtheit hintergangen werden konnte. Doch Bohr konnte sie alle als untauglich entlarven.
Die Hartnäckigkeit, mit der Einstein das Thema verfolgte, hat den Gedanken aufkommen lassen, dass es in der Debatte um mehr als ein Verständnis der Wirklichkeit gegangen ist und ihr eigentliches Thema Gott war – und zwar im Angesicht der neuen Physik, die den Kosmos so gut kannte wie die Atome. Tatsächlich stellt Einsteins stures »Gott würfelt nicht« sein letztes Wort in dem Dialog dar, auf das Bohr noch geantwortet hat. Zum einen, so meinte er, könne niemand, nicht einmal Einstein selbst, Gott vorschreiben, wie er mit der Welt umgeht. Und zum zweiten wisse ebenfalls niemand, was ein Wort wie »würfeln« bedeutet, wenn es in Verbindung mit Gott gebraucht wird.
Gedankenexperimente
Einstein ist berühmt geworden für seine Gedankenexperimente. Dabei stellte er sich stets konkrete Situationen vor, in denen jemand eine Beobachtung oder Messung vornehmen kann. Nur hatten diese Situationen immer einen kleinen Haken: Aus technischen, finanziellen oder anderen – aber niemals prinzipiellen – Gründen war das Experiment nicht durchführbar. Als sich Einstein 1920 auf einer Tagung der Gesellschaft der Deutschen Naturforscher und Ärzte in Bad Nauheim an einer »Allgemeinen Diskussion über Relativitätstheorie« beteiligte, meinte er dazu: »Ein Gedankenexperiment ist ein prinzipiell, wenn auch nicht faktisch durchführbares Experiment. Es dient dazu, wirkliche Erfahrungen übersichtlich zusammenzufassen, um aus ihnen theoretische Folgerungen zu ziehen. Unerlaubt ist ein Gedankenexperiment nur dann, wenn eine Realisierung prinzipiell unmöglich ist.«
Als Erfinder der Gedankenexperimente kann Galileo Galilei gelten, der wissen wollte, ob Körper, die unterschiedlich schwer sind, unterschiedlich schnell fallen. Er ist dazu nicht auf den schiefen Turm von Pisa geklettert, sondern hat sich Folgendes überlegt: Angenommen, ein schwerer Körper fällt schneller als ein leichter, was passiert, wenn ich beide zusammenbinde? Der neue Körper müsste sowohl langsamer als der schwere als auch schneller als der leichte sein, woraus nur ein Schluss zu ziehen ist, nämlich der, dass beide Einzelkörper gleich schnell fallen.
Einstein hat sein erstes Gedankenexperiment als 16-Jähriger unternommen, als er sich überlegte, was passiert, wenn er einem Lichtstrahl mit Lichtgeschwindigkeit nachlaufen würde. Was sieht er dann – vom Licht und der Welt? Berühmt geworden sind seine Gedankenexperimente, in denen eine Kabine im Weltraum unterwegs ist. In ihr befi ndet sich ein Physiker, der wissen will, ob seine Bewegung durch irgendwelche Raketenantriebe oder durch die Anziehungskraft zustande kommt, die das Schwerefeld eines Himmelskörpers bewirkt. In einer Kabinenwand befindet sich ein Loch, durch das Licht eintreten kann, und der Physiker hat die Möglichkeit, mit höchster Genauigkeit die Stelle zu ermitteln, an der es die gegenüberliegende Wand erreicht.
In einem anderen großen Gedankenexperiment wollte Einstein 1935 gemeinsam mit dem Russen Boris Podolsky und dem Amerikaner Nathan Rosen zeigen, dass die Quantenmechanik unvollständig ist. Ein halbes Jahrhundert später haben es theoretische und technische Fortschritte der Physik ermöglicht, das sogenannte EPR-Experiment tatsächlich durchzuführen. Das Ergebnis hätte Einstein nicht gefallen. Es zeigt, dass die Wirklichkeit anders ist, als er es sich vorstellte bzw. vorstellen wollte. Das EPR-Team dachte sich unter Anleitung von Einstein einen Versuch aus, in dem eine physikalische Größe auftaucht, die auf der einen Seite offenbar in der Wirklichkeit bestimmt ist, von der die Quantenmechanik aber auf der anderen Seite behauptet, dass sie unbestimmt ist. In dem heute durchführbaren Versuch wird aus Kalzium ein Gas bereitet, von dem aus sich einzelne Atome auf eine Kammer zubewegen. Bevor die Kalziumatome hier ankommen, werden sie von einem Laserstrahl aktiviert. In diesem angeregten Zustand treffen sie in der Kammer ein. Hier verlieren sie diese Energie blitzartig wieder, indem sie zwei Lichtquanten in entgegengesetzte Richtungen aussenden. Wenn nun eines der beiden Lichtteilchen in einem Messgerät registriert wird, kennt man auch – aufgrund von physikalischen Erhaltungssätzen – den Zustand des anderen. Sein Zustand, so die EPR-Argumentation, ist also nicht unbestimmt, selbst wenn keine Beobachtung erfolgt. Er kann sogar mit Sicherheit vorhergesagt werden und stellt folglich »ein Element der Wirklichkeit« dar. Ein solcher Tatsachenbestand ist aber in der Defi nition der Quantenmechanik nicht enthalten, weshalb Bohrs Behauptung falsch zu sein scheint, wonach ein Zustand so lang unbestimmt ist, solange er nicht registriert worden ist.
Nach Jahrzehnten des Denkens und Messens stellte sich allerdings heraus, dass Einsteins einleuchtende Gedankenführung nicht zutrifft, wie noch ausführlich auf höheren Stufen dieser Hintertreppe erläutert wird. Sie wird vor allem dann hinfällig, wenn es gilt, den rothaarigen Iren John Bell vorzustellen, der sich in den 1960er-Jahren Gedanken zum EPR-Experiment gemacht hat. Bell legt dar, dass das nicht beobachtete Teilchen doch durch die Messung seines Gegenstücks beeinflusst wird. Die Quantenmechanik bringt es nämlich mit sich, dass Objekte wie die erwähnten Lichtquanten, die einmal in physikalischer Wechselwirkung gestanden sind, miteinander korreliert bleiben, auch wenn keine direkte (physikalische) Verknüpfung mehr zwischen ihnen besteht. Die Physiker sprechen bei diesem Phänomen davon, dass die Quantenwelt »verschränkt« ist, wie es mit einem Wort von Erwin Schrödinger heißt. Und sie halten diese Verschränkung für das eigentliche Charakteristikum der Quantenmechanik, denn sie gibt uns eine Welt zu erkennen, die nur als Ganzes existiert, obwohl wir dauernd von ihren Teilen oder Teilchen reden.
Bose-Einstein-Kondensation
In den letzten Jahren ist in der Physik viel von Bose-Einstein-Kondensationen die Rede gewesen, deren Entdeckung 2001 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden ist. Bose steht dabei für den Namen eines indischen Physikers, von dem Einstein 1924 ein Manuskript bekam. In ihm behandelte Bose Licht wie ein Gas, das sich aus den Lichtquanten zusammensetzte, die Einstein 1905 entdeckt hatte. Zwar konnte Bose in seiner Arbeit unter dieser Vorgabe ausrechnen, wie leuchtende Körper ihre Strahlen aussenden, aber Einstein fiel auf, dass Bose gar nicht gemerkt hatte, welch hohen Preis er dafür zu zahlen hatte. Seine Physik funktioniert nämlich nur unter der Annahme, dass Lichtteilchen ihre Identität aufgeben. Zwischen ihnen gibt es eine »gegenseitige Beeinflussung von vorläufig ganz rätselhafter Art«, wie Einstein damals schrieb. Sie führt überhaupt erst zu der Möglichkeit, dass sich immense Mengen von Lichtquanten kollektiv in einem Lichtstrahl zusammenfinden und es hell machen können. Inzwischen hat man andere Systeme gefunden, in denen einzelne Atome ihre Individualität aufgeben, um einen kollektiven Klumpen zu bilden, der als Bose-Einstein-Kondensat bekannt ist. Was Einstein sich da ausgedacht hat, ist also Wirklichkeit geworden, auch wenn es ihn mehr wundern als freuen würde.
Einstein und die Atombombe
Die Kurzformel, Einstein habe Präsident Roosevelt empfohlen, Atomwaffen zu entwickeln, ist nicht ganz korrekt. Es gibt den berühmten Brief vom August 1939, und in ihm erwähnt Einstein Uranvorräte in Belgien und rät dazu, sie nicht den Deutschen in die Hände fallen zu lassen. Er drückt seine Überzeugung aus, dass es sinnvoll sei, die technische Nutzung von Kernenergie zu erforschen, und zwar in großem Stil.
Geschrieben hat Einstein den Brief zusammen mit dem umtriebigen ungarischen Physiker Leo Szilard, der schon über die Möglichkeiten der Energiegewinnung aus Atomen mittels einer Kettenreaktion nachgedacht hatte, als die Kernspaltung noch gar nicht entdeckt war. Szilard und Einstein kannten sich von Berlin her, wo sich beide gemeinsam an einem Kühlschrankpatent versucht hatten. Im Sommer 1939 traf sich das Duo auf Long Island, wo Einstein den Sommer verbrachte. Satz für Satz wurde der Brief formuliert, der genau zwei Schreibmaschinenseiten lang war und von Einstein alleine unterschrieben wurde.
Allerdings tauchte ein neues Problem auf, nachdem der Text fertig war. Wie konnte man dafür sorgen, dass der Brief tatsächlich bei Roosevelt landete und von ihm gelesen wurde? Der normale Postweg kam nicht infrage, und so suchten die beiden Physiker einen Überbringer. Ihre Wahl fiel auf den Bankier Alexander Sachs, der Roosevelt gut kannte und der von ihm geschätzt wurde. Es dauerte zwar etwas, bis Sachs einen Termin bei seinem Präsidenten erhielt, aber am 11. Oktober 1939 war es so weit, und Roosevelt erfuhr, wie leicht es sei, »außerordentlich gefährliche Bomben« zu bauen. Einen Tag später ernannte der Präsident ein Advisory Committee on Uranium. Die Bombe war auf ihrem Weg.
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James Franck (1882–1964)
Aufrecht im Sturm der Zeit
James Franck gehört nicht gerade zu den bekannten Wissenschaftlern. Die Historiker haben lange – bis 2007 – gebraucht, um eine Biografie des aus der Hansestadt Hamburg stammenden Physikers vorzulegen, obwohl sich sein Name in mindestens drei Fachbegriffen findet, mit denen sich die Spannweite seines Denkens und Könnens erkennen lässt.
Berühmt sollte der Franck-Hertz-Versuch werden, der die Existenz von diskreten Zuständen in Atomen nachweisen konnte und die Wissenschaftler endgültig dazu brachte, ja sie mehr oder weniger zwang, die Wirklichkeit mit Quantensprüngen zu verstehen. Erleichert wird ihnen diese Aufgabe in komplexen Fällen mithilfe des Franck-Condon-Prinzips, bei dem es um Übergänge in Molekülen geht. Und neben diesen experimentellen und theoretischen Beiträgen hat Franck auch politisch nachhaltig gewirkt, nämlich durch den sogenannten Franck-Report, den er im Juni 1945 persönlich dem amerikanischen Kriegsminister übergab. In diesem trugen er und einige seiner Kollegen unverhohlen ihre moralischen Bedenken gegen den Einsatz von Atomwaffen vor.
Spitzenentladungen und ihre Folgen
James Franck wurde 1882 als Sohn eines (jüdischen) Bankkaufmanns geboren und machte zwanzig Jahre später in seiner Geburtsstadt sein Abitur. Als er seine Studien in Heidelberg begann, bemühte er sich erst um das Juristische und Ökonomische, wechselte dann aber nach Berlin und schrieb sich dabei auch in die geisteswissenschaftliche Fakultät ein. Schließlich wandte er sich den Naturwissenschaften zu, die ihn seit seiner Jugend fasziniert hatten und die damals in der Reichshauptstadt aufblühten. Hier wirkten neben Max Planck große Physiker wie Emil Warburg und Hermann Rubens, und später kam noch Albert Einstein hinzu, was die Wahl seiner Disziplin erleichterte. Es war somit die Physik, in der Franck 1906 mit einer Arbeit Über die Beweglichkeit der Ladungsträger in Spitzenentladungen promoviert wurde.
Spitzenentladungen – der Begriff ist durchaus wörtlich zu verstehen, denn er besagt, dass elektrisch geladene Metalle, die Strom leiten, ihre Ladung bevorzugt über eine Spitze abgeben, was seit dem 18. Jahrhundert bekannt war und Rätsel aufgab. In der Seefahrt taucht das Phänomen bei Gewittern unter dem Namen »Elmsfeuer« auf, die sich an den Masten von Segelschiffen entzünden, wenn an deren scharfen Spitzen elektrische Entladungen stattfi nden. Umgekehrt kann man Blitze verlocken, statt in ein breites Hausdach in ein schmales Metallstück zu fahren – in einen Blitzableiter eben. Was genau aber hinter diesen Vorgängen steckte, verstand man noch nicht gut genug, und deshalb untersuchte Franck, wie und unter welchem Einfl uss sich die Träger der Ladungen, die Elektronen, bewegen. Diese Fragestellung führte ihn nach und nach zu dem gemeinsam mit Gustav Ludwig Hertz durchgeführten Franck-Hertz-Versuch. Dieser belegte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg die Existenz diskreter Energieniveaus von Atomen experimentell und signalisierte den Physikern, dass es nun höchste Zeit war, die Quanten und ihre Sprünge in die Wissenschaft einzuführen und ernst zu nehmen. Es gab sie wirklich.
Zu dem berühmten Versuch gehört ein Glaskolben, in dem ein Gas eingeschlossen ist – zum Beispiel Quecksilberdampf oder Neon. Außerdem befand sich in dem Kolben das übliche Trio von Vorrichtungen, das Physiker damals studierten und mit deren Hilfe sie die Röhren entwickelten, die bald in Radiogeräten oder Fernsehapparaten und damit im Alltag zu finden waren. Doch bleiben wir zunächst bei der Wissenschaft. Hier galt es, in dem Glaskolben eine elektrische Spannung zu erzeugen, und dazu brauchte man einen negativen und einen positiven Pol, insgesamt also eine Elektrode. Die negative Elektrode bzw. den negativen Pol nannten die Physiker Kathode – nach dem griechischen kathodos, das einen Weg nach unten bezeichnet. Und das Gegenstück tauften sie Anode – nach dem griechischen anodos, das einen Weg nach oben meint. Es war bekannt, dass bei geringem Druck und unter hoher Spannung von der Kathode in dem Glaskolben ein Strahl ausgeht, der aus Elektronen besteht und als Kathodenstrahl die physikalische Grundlage für die ersten Fernsehgeräte lieferte. Diese verfügten anfänglich noch nicht über Flachbildschirme, sondern ließen uns eben durch ihre Form in die Röhre schauen.
Franck und Hertz konstruierten also einen Glaskolben mit Kathode und Anode, und sie fügten zwischen den beiden Elektroden noch ein Gitter ein, an das ebenfalls eine Spannung angelegt werden konnte und mit dem man die Zahl der Versuchsanordnungen steigern konnte. Franck und Hertz erhöhten zunächst die Spannung zwischen Kathode und Gitter und beobachteten, dass der Strom in dem Glaskolben zunahm, was niemanden wunderte. Doch dann passierte etwas Merkwürdiges. Wenn die Spannung einen bestimmten Wert – nennen wir ihn U – erreichte, brach der Strom zusammen, aber nur, um bei weiter steigender Spannung wiederzukehren, bis er bei dem doppelten Wert – also bei 2U – erneut abbrach. Und das Spielchen wiederholte sich bei 3U und 4U, und weiter kam die Anlage zunächst nicht.
Die Deutung des Versuchs bzw. seines Ergebnisses gelingt mit der Quantenvorstellung und dem Atommodell, das Niels Bohr 1912 entwickelt hatte. Dabei müssen wir unsere Aufmerksamkeit jetzt von den frei fl iegenden Elektronen des Kathodenstrahls auf die Atome des Gases lenken, mit dem der Glaskolben gefüllt ist. Sie sind es nämlich, die von den Kathodenstrahlen getroffen werden, und das periodische Abbrechen des Stroms im Kolben zeigt, dass ihnen bei den Zusammenstößen nicht jede beliebige Energie (kontinuierlich) übertragen werden kann, sondern dass sie sich Energie nur in messbaren Quantenportionen einverleiben können. Und dies geschieht nur dann, wenn sie von einem Zustand in einen anderen – energetisch höheren – übergehen.
Zusammenstöße und andere Zustandsänderungen
Über Zusammenstöße zwischen Elektronen und Molekülen des Quecksilberdampfes und die Ionisierungsspannung desselben – in einer Arbeit mit diesem Titel fassten Franck und Hertz ihre Ergebnisse zusammen, für die sie erst 1925 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet wurden. Ihr wegweisender Text erschien bereits 1914, also in dem Jahr, in dem die europäischen Staaten übereinander herfi elen und das Schlachten begann, das sich zum Ersten Weltkrieg ausweitete. Franck meldete sich freiwillig zur deutschen Armee, und er konnte sich durch seinen Einsatz buchstäblich auszeichnen: 1917 verlieh man ihm das Eiserne Kreuz I. Klasse, nachdem er an der Front schwer verletzt worden war – und zwar ausgerechnet bei einem Gasangriff, mit dem die Wissenschaft der Chemie zum ersten Mal direkt in das Kriegsgeschehen eingriff.
Nach dem Ende der kriegerischen Feindseligkeiten wurde Franck nach Göttingen berufen, und damit war er zur richtigen Zeit am richtigen Ort, denn die neue Physik, die in dem kommenden Jahrzehnt geschaffen werden konnte, entstand an zwei Orten, in Kopenhagen und in Göttingen. An Francks Wirkungsstätte konnte man unter anderem auf Größen wie Max Born, Robert Oppenheimer, Werner Heisenberg treffen sowie auf den nicht ganz so berühmten Amerikaner Edward Condon. Mit ihm kooperierte Franck, und beide ersannen das Franck-Condon-Prinzip, das von Zuständen handelt, die Moleküle annehmen bzw. zwischen denen sie wechseln können.
Atome ändern ihren Zustand, wenn ihre Elektronen Energie aufnehmen oder abgeben. Im Gegensatz dazu stehen Molekülen mehr Möglichkeiten zur Verfügung. In ihnen können neben den elektronischen Änderungen noch Vibrationen, Schwingungen oder Drehungen (Rotationen) auftreten, und all dies mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit. Das Franck-Condon-Prinzip bringt nun Ordnung in diese Zufälligkeit, indem es die Tatsache ausnutzt, dass Elektronen, die ihren Zustand in einem Molekül ändern, dies sehr viel schneller tun können als die Atomkerne, zu denen sie gehören. Die schweren Kerne agieren träger als die nahezu gewichtslosen Träger der negativen Ladung, und dies lässt bestimmte elektronische Zustandsänderungen im Molekül häufi ger stattfinden als andere. Das Franck-Condon-Prinzip erfasst diese Zustandsänderungen jetzt erstmals in der Sprache der Mathematik, was es fortan erlaubt, die Übergänge mit den dazugehörigen Intensitäten zu berechnen.
Das Ende einer Kultur
Bekanntlich reichte die große Zeit der deutschen Physik nur bis zum Beginn der 1930er-Jahre, denn von 1933 an übernahmen Barbaren das Kommando, die fast die ganze Kultur, die mit dem Namen Deutschlands verbunden war, ruinierten. Als die Nationalsozialisten an der Macht waren, gab Franck am 17. April 1933 aus Protest gegen das judenfeindliche »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« sein Amt als Professor auf und emigrierte in die USA. Über Baltimore kam er nach einem Zwischenstopp in Kopenhagen nach Chicago, wo er von 1938 bis 1949 als Professor für Physikalische Chemie lehren und forschen konnte. Der genannte Zeitraum beinhaltet die Jahre des Zweiten Weltkriegs, sodass es wenig überrascht, dass sich Franck – nachdem er amerikanischer Staatsbürger geworden war – an den Arbeiten beteiligte, die zur Gewinnung von kernwaffenfähigen Elementen wie Plutonium dienten. Doch bereits vor Ende des Zweiten Weltkriegs erkannten Franck und andere Wissenschaftler, dass die Angst vor einer deutschen Atombombe unbegründet war. Folglich gab es auch keinen Grund, die eigene Konstruktion zur Explosion zu bringen. Vielmehr versuchte man, ihren Abwurf zu verhindern. Im Juli 1945 wurde das Dokument vorgelegt, das als Franck-Report dem US-Verteidigungsminister übergeben wurde und heute im Internet öffentlich einsehbar ist. Die Autoren weisen darin darauf hin, dass die USA bei einem Einsatz von Kernwaffen die Anerkennung der übrigen Welt verlieren und ein Wettrüsten einleiten würden. Die Warnung war bekanntlich vergebens.
»Aufrecht im Sturm der Zeit«
Die 2007 erschienene James-Franck-Biografi e von Jost Lemmerich trägt den ungewöhnlichen Titel Aufrecht im Sturm der Zeit. Damit erfasst der Autor jedoch einen bewundernswerten Charakterzug des Physikers, der seine wissenschaftliche Neugierde schon früh zu erkennen gab. So wird erzählt, dass Franck 1896 als 14-jähriger Knabe bei dem Physikalischen Eichamt seiner Heimatstadt vorsprach und sich nach einer Apparatur für Röntgenstrahlen erkundigte. Er hatte etwas von den erst im Jahr zuvor entdeckten neuen Strahlen gelesen, die damals noch X-Strahlen hießen, und wollte wissen, ob man damit prüfen könne, ob die Knochen an seinem Arm richtig zusammenwachsen würden, die er sich bei einem Unfall gebrochen hatte. Die Herren im Amt staunten zwar, fanden die Bitte aber angemessen, bauten die Röntgenapparatur zusammen und nahmen ein entsprechendes Bild des zwar gebrochenen, aber versorgten Arms auf. So kam die Hansestadt zu ihrer ersten Röntgenaufnahme, und alles war in Ordnung.
Längst nicht mehr in Ordnung war die Welt 1940, als deutsche Truppen unter anderem in Kopenhagen einmarschierten, was große und kleine Folgen hatte. Wir betrachten eine kleine, die damit zu tun hat, dass am Institut für Physik der dänischen Hauptstadt ein ungarischer Chemiker namens George de Hevesy den Vorschlag machte, die dort verwahrten goldenen Nobelpreismedaillen vor dem Zugriff der Besatzer zu schützen, indem man sie in Königswasser auflöste. Zur Erklärung: Das schöne Wort bezeichnet eine Mischung aus drei ätzenden Säuren. Eine dieser Medaillen gehörte Franck, der sie den Dänen zuvor aus dem gleichen Grund anvertraut hatte, nämlich um sie dem gierigen Zugriff der Nazis zu entziehen. Franck war einverstanden, und so löste man das Gold auf – aber nur, um es nach dem Krieg in gelöster Form nach Stockholm zu schicken mit der Bitte, die Medaillen neu anzufertigen. Dies wurde erledigt.
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Max Born (1882–1970)
Vom Triumph des Verstandes und dem Versagen der Vernunft
Am Beispiel von Max Born kann man zwei eklatante Schwächen der Art und Weise erkennen, wie in Deutschland gerne mit Kultur umgegangen wird. Zum einen haben wir in Born zweifellos einen großer Forscher vor uns – immerhin hat er 1954 den Nobelpreis für Physik erhalten, und das sogar für eine mutige und ihm allein anrechenbare Leistung –, aber noch erheblich mehr Eindruck und Wirkung konnte Born als Lehrer entfalten. Doch das bringt hierzulande immer noch wenig öffentliche Anerkennung, wie auch das Beispiel von Arnold Sommerfeld zeigt. Aus dieser abschätzigen Einordnung folgt die zweite Schwäche im Umgang mit großer Geisteskultur: Deutschsprachige Wissenschaftshistoriker kümmern sich nicht um die Person Max Born. Jedenfalls haben sie es bis heute nicht für nötig gehalten, eine Biografi e des bedeutenden Physikers und einfl ussreichen Lehrers zu verfassen. Die einzige buchlange Beschreibung des Lebens von Born verdanken wir Nancy T. Greenspan, einer amerikanischen Ökonomin (!), die uns im Jahre 2005 mit einem Werk über »the life and science of Max Born« überraschen konnte, dem sie den schönen Titel The End of The Certain World gegeben hat – das Ende einer Welt, in der es noch Gewissheit gab. Die deutsche Übersetzung (2006 erschienen) wagt sich weder an diese Formulierung heran, noch will sie den deutschen Lesern den englischen Untertitel zumuten: The Nobel Physicist Who Ignited the Quantum Revolution, also etwa der Nobelpreisträger, der die Quantenrevolution gezündet hat. Stattdessen verbirgt sie die Qualität des Helden hinter einem schlichten Baumeister der Quantenwelt, der Born natürlich auch gewesen ist.
Im Schatten von Riesen
Bevor wir zu einigen biografischen Daten kommen, soll noch einmal überlegt werden, was Born bei Historikern und in der Öffentlichkeit so leicht überseh- und übergehbar macht. Man könnte – neben dem erwähnten Aspekt, dass Lehre bei uns stets geringer als Forschung angesehen wird – noch darauf hinweisen, dass Born nicht nur im Schatten von wahrlichen Geistesgrößen stand, sondern darüber hinaus bereit war, dies auch neidlos anzuerkennen. Sein Ehrgeiz bestand vielmehr darin, sich sogleich an die Aufgabe zu machen, die von den Wissenschaftsriesen vorgelegten Einsichten unters Volk zu bringen. Wenn wir die beiden großen Errungenschaften der Physik als die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik anführen und diese beiden Neuerungen mit den Namen von Albert Einstein und Werner Heisenberg verbinden, dann lässt sich sagen, dass Born jeweils am Rande des hellen Lichts, das beide ausgestrahlt haben, große Leistungen erbracht hat. Er konnte zum einen Einsteins komplizierter Relativitätstheorie eine lehrbare Form geben, und vermochte es zum zweiten, Heisenbergs genialen Durchbruch bei den Quanten in ein mathematisches Gewand zu kleiden. Dieses wird bis heute in den Lehrbüchern der Physik präsentiert – nur dass Borns Name dabei nicht genannt zu werden pflegt. Sogar von den Leuten, die in Schweden in Sachen Nobelpreis das Sagen haben, wurde Max Born zunächst übersehen. Obwohl die Theorie der Quantensprünge, wie wir sie heute kennen und lehren, 1925 von drei Herren niedergeschrieben wurde – neben Born und Heisenberg war noch Pascual Jordan an der sogenannten Drei-Männer-Arbeit beteiligt –, hat zunächst nur einer von ihnen, nämlich Heisenberg, die Einladung nach Stockholm und den dazugehörigen Nobelpreis bekommen. Es gibt gute Gründe, dem Genie Heisenberg eine Sonderrolle zuzugestehen, und sein Lehrer Born wäre der Letzte gewesen, der dies geleugnet hätte, aber es muss schon eine schmerzhafte Enttäuschung gewesen sein, als man 1930 Heisenberg zunächst alleine auszeichnete. Zum Glück lebte Born lange genug, um als 72-Jähriger endlich die Würdigung zu erfahren, die er sich so lange verdient hatte. Er erhielt sie für seine Interpretation der Quantenmechanik, die noch vorzustellen sein wird.
Zur Biografie
Max Born wurde 1882 in Breslau geboren und starb 1970 in Bad Pyrmont. Seine ersten Studiensemester in den mathematischen und naturwissenschaftlichen Fächern verbrachte Born in seiner Heimatstadt, bevor er nach Heidelberg, Zü-rich und Göttingen aufbrach, um hier die großen Mathematiker seiner Zeit zu hören. In Göttingen weckten seine Talente die Aufmerksamkeit des berühmten David Hilbert, der Born bald zu seinem Privatassistenten ernannte. Als solcher fiel ihm die Aufgabe zu, eine Mitschrift der Vorlesungen anzufertigen, um sie für den allgemeinen Gebrauch im Lesesaal auszuarbeiten. Es ist anzunehmen, dass Born dabei die Geschicklichkeit zum Schreiben von Lehrbüchern erwarb. Berühmt werden sollte seine Darstellung der elektromagnetischen Lichttheorie, die unter dem Titel Optik zum ersten Mal 1933 erschienen ist und bis heute – in erweiterter Form – aufgelegt wird.
Born fühlte sich aber bald von der reinen Mathematik zur theoretischen Physik hingezogen, und 1915 publizierte er als sein erstes Buch eine Beschreibung der Dynamik von Kristallgittern, die lange Zeit als Bibel der Festkörperphysik diente. Born wurde nun als Extraordinarius nach Berlin berufen, und nach einem Zwischenspiel in Frankfurt am Main kehrte er 1922 als Ordinarius nach Göttingen zurück, wo er mit Geschick dafür sorgte, dass auch James Franck an die ehrwürdige Georg-August-Universität kam. Born und Franck waren zusammen mit dem als Lehrer unvergleichlichen Robert W. Pohl nun in der Lage, Göttingen zum Zentrum der Physik zu machen, und es waren wirklich aufregende Zeiten, die nun auf die Wissenschaftler zukommen sollten.
Dabei entwickelte sich vor allem das von Born geleitete Seminar bald zu einem hot spot der neuen Atomphysik. Ihr verliehen insbesondere zwei junge Burschen, die nacheinander Borns Assistenten wurden, eine besondere Dynamik: Wolfgang Pauli und Werner Heisenberg. Auch wenn, wie erwähnt, der entscheidende Durchbruch Heisenberg allein gelang, die bis heute tragfähige mathematische Formulierung jedoch verdanken wir Born. Einstein sprach 1926 deshalb von den »Heisenberg-Bornschen Gedanken, die alle Welt in Atem halten«.
Ein Elfenbeinturm für die Wissenschaft
Borns Seminar in Göttingen verdient noch eine besondere Anmerkung, weil dort etwas geschaffen wurde, was zwar von leichtfertigen Kritikern der Wissenschaft unserer Tage verachtet wird, aber trotzdem nötig ist, um geistig voranzukommen. Gemeint ist die Idee eines Elfenbeinturms, in dem sich Forscher zurückziehen – aber nicht, um sich vor der Öffentlichkeit nicht rechtfertigen zu müssen, sondern um den Freiraum zu finden, den ein Umsturz im Denken benötigt.
Zur Erinnerung: Als der Begriff vom Elfenbeinturm (im modernen Sinne) zum ersten Mal verwendet wurde, diente er als Symbol für die selbst gewählte Isolation eines Künstlers bzw. Wissenschaftlers, »der in seiner eigenen Welt (nur seinem Werk) lebt, ohne sich um Gesellschaft und Tagesprobleme zu kümmern« – so lässt es sich zum Beispiel im Brockhaus nachlesen. Dieser Elfenbeinturm ist eine Erfi ndung des 19. Jahrhunderts und geht auf den französischen Schriftsteller und Literaturkritiker Charles-Augustin Sainte-Beuve zurück, der damit das Werk des Dichters Alfred Comte de Vigny beschrieb. In dessen Texte treten Ausnahmeerscheinungen (Genies) auf, die innerhalb einer verständnislosen, weil materialistisch orientierten Gesellschaft keinen Platz fi nden und sich deshalb in einer eher melancholischen Gestimmtheit von ihr entfernen. Sie ziehen sich in einen Elfenbeinturm zurück, wie Sainte-Beuve es elegant und einprägsam ausgedrückt hat. Er selbst sah auch keinen anderen Weg, auf dem sonst ein dichterisches Werk entstehen konnte.
Einen solchen Elfenbeinturm hat nun Born in Göttingen geschaffen. Er hat sein Seminar als Hafen betrieben, in dem einige intellektuell höchst eigenwillig veranlagte Exemplare der Spezies »Homo scientificus« wie Robert Oppenheimer oder Norbert Wiener anlanden konnten. Mit ihren Schrullen kamen diese Wissenschaftler gesellschaftlich nicht leicht zurecht, aber ihre Ideen wurden dringend benötigt, als die Quantensprünge gebändigt werden mussten und neben dem Methodischen auch das Wahnsinnige seinen Platz beanspruchte. Born hat sie aufgenommen und seine schützende Hand über alles gehalten. Und das Resultat solch eines mit Fürsorge betriebenen Elfenbeinturms ist so überraschend wie eindeutig. Es waren gerade diese Forscher, die sich letztlich nicht der Gesellschaft verweigerten, als sie gebraucht wurden. Nehmen wir Oppenheimer als Beispiel: Sein öffentlicher Ruhm gründet erstens auf seinen Leistungen beim Bau der Atombombe und zweitens auf seinen Einsatz in den Jahren nach 1950, in denen er versucht hat, Dichter wie T.S. Eliot an dem in Princeton angesiedelten Institute for Advanced Studies mit Forschern zusammenzubringen – mit dem Ziel, die Naturwissenschaft in der westlichen Kultur zu verorten. In diesem berühmten Institut, in dem auch Einstein arbeitete, wirkte somit Borns Geist weiter, als dies in Deutschland nicht mehr möglich war.
Noch mehr Biografisches
Die frühen 1930er-Jahre müssen Born Mühe gemacht haben. Der Nobelpreis ging an ihm vorbei, seine Frau Hedi, die er 1913 geheiratet und die ihm drei Kinder geboren hatte, verkündete, ihn verlassen zu wollen – sie zog zu ihrem Geliebten und begann, Sonette zu schreiben –, und die Nazis zwangen ihn 1933 seiner jüdischen Herkunft wegen, den Göttinger Lehrstuhl aufzugeben. Aber Born hielt das alles aus. Er blieb seiner Frau treu, die bald wieder zu ihm zurückkam, und er kehrte nach 17-jähriger, vor allem im schottischen Edinburgh verbrachter Abwesenheit als britischer Staatsbürger nach Deutschland zurück, um in der Nähe von Göttingen, in Bad Pyrmont, seinen Lebensabend zu verbringen. Und in die schwedische Hauptstadt hat er es ja auch noch geschafft. Dabei muss er sich wirklich glücklich gefühlt haben.
Die Interpretation der Quantensprünge
Wie gesagt, der Nobelpreis ist Born für die Interpretation der Quantenmechanik verliehen worden, und damit ehrte man ihn für seine frühzeitige Erkenntnis, dass es nur so etwas wie statistische Gesetzmäßigkeiten im Reich der Atome gibt. Bekanntlich hat der große Einstein dies als Eingeständnis von Hilflosigkeit gedeutet. Seiner Überzeugung nach gilt, dass der liebe Gott nicht würfelt, wobei er diese berühmte Formulierung wohl zum ersten Mal in einem Brief an Born benutzt, der das Datum vom 4.12.1926 trägt.
Der Briefwechsel zwischen Born und Einstein umfasst die Jahre von 1916 bis 1955, und es gibt einige Ausgaben von ihm, die zum Teil mit Kommentaren von Born bereichert sind. Was das Würfeln angeht, so stellt sich Born eindeutig gegen Einstein, wenn er dessen Irrtum in aller Klarheit anspricht. »Einstein war fest überzeugt, dass uns die Physik Kenntnisse von der objektiv existierenden Außenwelt liefere. Mit vielen anderen Physikern bin ich langsam durch die Erfahrungen im Gebiete der atomaren Quantenerscheinungen dazu bekehrt worden, dass das nicht so ist, dass wir nur in jedem Zeitpunkt eine rohe, angenäherte Kenntnis der objektiven Welt haben und aus dieser nach bestimmten Regeln, den Wahrscheinlichkeitsgesetzen der Quantenmechanik, auf unbekannte (z.B. zukünftige) Zustände schließen können.« Mit anderen Worten, Born brachte in seinem (heute Allgemeingut gewordenen) Verständnis der Quantenphysik endgültig die Bahnen zum Verschwinden, die Niels Bohr in seinem Atommodell noch zugelassen hatte. Aus dinghaften Elektronen wurden formbare Aufenthaltsbereiche, die mit einer berechenbaren Wahrscheinlichkeit versehen waren. Im Inneren der Welt gab es keine realen Gegenstände mehr. Dort gab es nur noch eine Art von Gewebe, das sich stets bereit zeigte, aus seinen Möglichkeiten eine aktuelle Wirklichkeit zu zimmern – und zwar dann, wenn jemand in einem Experiment danach fragte. Mit Borns Deutung erreichen wir tatsächlich »das Ende einer Welt, in der es noch Gewissheit gab«, wie seine Biografin Nancy Greenspan es ausgedrückt hat. Es gibt dafür einfach zu viele Quantensprünge – wobei dies allerdings gewiss ist.
Physik im Wandel der Zeit
Vor seinem Weggang aus Göttingen hatte Born einen großen Einfluss als Lehrer der Physik ausgeübt. Die eindrucksvolle und lange Liste seiner Schüler schließt unter anderem Edward Teller und Robert Oppenheimer ein, die beide maßgeblich an der Entwicklung von Kernwaffen beteiligt waren. Born hat diese Ausnutzung der Physik aus einer humanen – humanistischen – Grundeinstellung heraus sehr bedauert und viele Aufsätze geschrieben, um auf die Gefahren hinzuweisen, die ein Missbrauch der Wissenschaft mit sich bringen kann. Sie sind als Sammelband mehrfach unter dem Titel Physik im Wandel meiner Zeit erschienen und nach wie vor lesenswert. Wer sich ihnen zuwendet, wird erkennen, was für eine radikale Revolution sich in seiner Wissenschaft vollzogen hat und welch ungeheuren Umbruch sie für unser Weltbild bedeutet.
Die Texte beginnen eher harmlos mit Überlegungen »Über den Sinn der physikalischen Theorien«, wundern sich zwischendurch über die Frage »Ist die klassische Physik tatsächlich deterministisch?« und drücken nicht zuletzt »Die Hoffnung auf Einsicht aller Menschen in die Größe der atomaren Gefährdung« aus. Born gab bei all seinem Nachsinnen nie die Hoffnung auf, dass die Menschen nicht nur zur Kenntnis nehmen, welche Gewalt von der Wissenschaft ausgehen kann, sondern auch (und vielleicht vor allem), welche Qualität in der geliebten Physik steckt: »Die Welt, die so gern bereit ist, die Gaben der Physik als Mittel zur Massenvernichtung zu benutzen, täte besser daran, die Denkmethoden der Physik zu studieren, die zum Ausgleich von scheinbar unauflöslichen Widersprüchen und zur Versöhnung geführt haben.«
Wahrscheinlich gibt es kein Buch, das besser geeignet ist, »die Denkmethoden der Physik zu studieren«, als die Textsammlung von Born, der in jedem seiner Beiträge auf die philosophischen Fragen eingeht, die sich im Rahmen der neuen Physik stellen. Er tut dies stets, ohne den Kontakt zur wissenschaftlich prüfbaren Erkenntnis zu verlieren. Borns Aufsätze sind der »Versuch, auf naturwissenschaftliche Weise zu philosophieren« und »nicht eine Philosophie der Naturwissenschaften«, wie er ausdrücklich zur Einleitung seines Essays schreibt, der sich mit der Verbindung von »Symbol und Wirklichkeit« befasst. Dieses Thema ist in der Physik deshalb relevant geworden, weil ein Atom oder das Licht nur als Gebilde beschrieben werden konnte, das sich sowohl wellenartig als auch teilchenartig verhält. Eine Möglichkeit, diesen Widerspruch aufzulösen, besteht in der Festlegung, dass Atome und Licht nur als Symbole verstanden werden können, was dem Denken die Aufgabe stellt, nach der Wirklichkeit von Symbolen zu fragen. Genau dies unternimmt Born, wenn er Wirklichkeit als etwas versteht, »das hinter den Phänomenen verborgen liegt«.
Bei all seinen philosophischen Bemühungen unterliegt Born nie dem Irrtum, ein Philosoph zu sein. Und weil das so ist, bleiben seine Beiträge – trotz einiger mathematischer Einschübe und Ableitungen – für Laien auch dann lesbar, wenn sie sich dem Thema nähern, für das Born der Nobelpreis für Physik zuerkannt wurde. Es geht dabei um die statistische Deutung der neuen Physik, die einen radikalen Bruch mit den alten Vorstellungen bedeutet: »Die in der klassischen Physik immer anerkannte prinzipielle Determiniertheit der Naturvorgänge muss aufgegeben werden.« Der Grund steckt, wie bereits erwähnt, in den »scheinbar unauflöslichen Widersprüchen«, die »zur Versöhnung« geführt werden müssen. Der Widerspruch ist am besten als Dualismus von Welle und Teilchen bekannt, den Born unter anderem so formuliert: »Zur Beschreibung der Naturvorgänge sind kontinuierliche und diskontinuierliche Elemente notwendig. Das Auftreten der Letzteren (Quantensprünge) ist nur statistisch bedingt; die Wahrscheinlichkeit des Auftretens aber breitet sich kontinuierlich nach Art von Wellen aus, die Gesetzen ähnlicher Art gehorchen wie die Kausalgesetze der klassischen Physik.«
Zwar hat sich heute die statistische Deutung weitgehend durchgesetzt – sogar mit der Konsequenz, dass sich im Innersten der Welt keine Wirklichkeit, sondern primäre Möglichkeiten befinden. Aber Born musste sich als Pionier der neuen Weltsicht mit vielen Kritikern auseinandersetzen, die meinten, dass die Quantentheorie nur etwas Vorübergehendes sei und bald durch eine bessere Physik abgelöst würde, die wieder eine traditionelle Kausalität mit sich bringt und alles erneut in einen deterministischen Rahmen spannt. Ihnen antwortet Born: »Scheint also die neue Theorie in der Erfahrung wohlfundiert, so kann man doch die Frage aufstellen, ob sie nicht in Zukunft durch Ausbau oder Verfeinerung wieder deterministisch gemacht werden kann. Hierzu ist zu sagen: Es lässt sich mathematisch zeigen, dass der anerkannte Formalismus der Quantenmechanik keine solche Ergänzung erlaubt. Will man also an der Hoffnung festhalten, dass der Determinismus einmal wiederkehren wird, so muss man die jetzt bestehende Theorie für inhaltlich falsch halten; bestimmte Aussagen dieser Theorie müssten experimentell widerlegbar sein. Der Determinist sollte also nicht protestieren, sondern experimentieren, um die Anhänger der statistischen Theorie zu bekehren.«
In diesen Sätzen zeigt sich der Physiker Born, der von der Qualität seiner Wissenschaft überzeugt ist und leidenschaftlich für sie kämpft, indem er jede Gelegenheit nutzt, um zu zeigen, was sie kann. Der selbstlose Born erkennt ohne Neid die Überlegenheit Einsteins an und bemüht sich in seinen Beiträgen, dessen Ideen vorzustellen. Das gilt nicht nur für die Relativitätstheorie und ihr Verständnis von Raum und Zeit, Born bringt dem Leser auch Einsteins statistische Theorien nahe, die vielleicht weniger bekannt sind, aber umso wirksamer geworden sind. In der Entwicklung von Lasern haben sie zum Beispiel Anwendung gefunden.
Einer von Borns Schülern, der kürzlich im hohen Alter verstorbene Edward Teller, hat in den 1980er-Jahren die Idee eines mit Röntgenlasern bestückten Verteidigungsschirms entwickelt, den die amerikanische Regierung unter Präsident Ronald Reagan im Rahmen einer Strategic Defense Initiative (SDI) zu errichten drohte. Born wäre über solch eine Anwendung von Wissenschaft entsetzt gewesen. Überhaupt fand er es unfassbar, dass sich Physiker wie Oppenheimer und Teller in Waffenprogramme einbinden ließen. Vor allem Tellers Engagement empfand Born als derart inhuman und unerträglich, dass er sich weigerte, das Land zu betreten, in dem sein Schüler lebte.
Born kritisierte an der modernen Entwicklung vor allem das Fehlen der Vernunft. Er hielt zum Beispiel die Pläne der Weltraumbehörden und die Organisation einer Reise zum Mond »für einen Triumph des Verstandes und eine Tragik der Vernunft«, wobei Born gerne allgemein formulierte: »Der Verstand unterscheidet zwischen möglich und unmöglich. Die Vernunft unterscheidet zwischen sinnvoll und sinnlos. (…) Es ist Zeit, dass die Vernunft auf den Plan tritt, um das, was heute möglich ist, noch rechtzeitig auf das Sinnvolle zu beschränken.«
8
Niels Bohr (1885–1962)
Der gute Mensch von Kopenhagen
Am Anfang seines Films Notorious (Berüchtigt) zeigt Alfred Hitch cock eine fröhliche Abendgesellschaft. Der Zuschauer sieht zu nächst vom oberen Ende einer weitläufi gen Treppenflucht auf viele Gruppen gutgelaunter Menschen, die sich zuprosten. Die Kamera taucht dann in den Festsaal ein und bewegt sich durch die lachende Menge auf ein merkwürdiges Detail zu, einen Schlüssel nämlich, den jemand fest in der Hand hält. Kommen des Unheil deutet sich an.
Die klassische Physik bot einem Betrachter zu Beginn des
20. Jahrhunderts das gleiche Bild wie diese Festgesellschaft. Ein gro ßes Gebäude war errichtet worden, und man hatte viel erreicht. Auf den ersten Blick fügte sich scheinbar alles gut zusammen, und die ungefährdete Stellung konnte gefeiert werden. Und doch! Wer näher kam und hinsah, bemerkte Unstimmigkeiten. Erste Zweifel an grundlegenden Überzeugungen tauchten auf. Jemand hielt in der Tat einen Schlüssel in der Hand, mit dem er gerade auf dem Höhepunkt der Feier und der allgemeinen Zuversicht, eine Hintertür geöffnet hatte, um den Störfaktor einzu lassen, der schließlich das Gebäude der klassi schen Physik zum Einsturz bringen sollte. Nur wenige Wissen schaftler bemerkten sofort, wie ernst die Bedrohung war. Es dauerte noch zwölf Jahre, bevor der heute als Quantum der Wir kung bekannte Stör faktor in den Mittelpunkt des Interesses ge rückt wurde – und zwar durch einen Dänen, der in einer engli schen Industriestadt zugange war.
Niels Bohr aus Kopenhagen arbeitete im Frühjahr 1912 bei Ernest Rutherford in Manchester. Der neuseeländische Physi ker hatte im Jahr zuvor mit seinen Versuchen ermittelt, wie ein Atom gebaut ist. Den Experimenten zufolge musste es einen massiven Atomkern geben, der von einer Hülle aus Elektronen umgeben war. Diese Vorstellung fügte sich nicht in das Verständnis der herkömmlichen Physik. Nach deren Gesetzen konnten Ru therfords »Saturn-Atome« nicht dauerhaft existieren, sie würden zusammenstürzen. Bohr löste dieses Grundproblem mit »einer kleinen Idee«, wie er es bescheiden nannte. Er erklärte die Stabilität der Materie, in dem er ein dem gewohnten Denken fremdes Element in seine Überlegungen einführte: den Störfaktor namens Quanten, dem Max Planck im Jahre 1900 eine Tür geöffnet hatte.
Bohrs Trilogie Über den Aufbau der Atome und Moleküle er schien 1913. Mit ihr begann die Entwicklung der Atomphysik, die Bohr fünfzig Jahre lang bestimmen sollte – als Wissenschaftler und als Mensch. Seine Vorstellungen vom Atom beschleunigten den durch das Wirkungsquantum eingeleiteten Umsturz der Physik, der in den 1920erJahren unter großen Schmerzen vollzogen wurde. Eine neue Mechanik entstand, die Quantenmechanik, die sich bis heute in allen Belangen bewährt hat. Es gibt kein Experiment, das ihr widerspricht.
Die Quantenmechanik be schreibt die atomare Wirklichkeit und beleidigt den gesunden Menschenverstand. Die Atome kann nur verstehen, wer auf manche Denkgewohnheiten verzichtet. Um diese Konsequen zen seiner Wissenschaft verstehen zu können, wandte sich der Physiker Bohr der Philosophie zu und bemühte sich bis zur Er schöpfung, die Lektion der Atome für das menschliche Erken nen zu lernen. Seiner Ansicht nach konnte die neue Entwick lung der Physik »zur Klärung der allgemeinen Voraus setzungen menschlicher Erkenntnis beitragen«. Bohr verwies in vie len Vorträgen unermüdlich »auf die Notwendigkeit einer ständigen Verallgemeinerung der Begriffsbildung zur Einordnung neuer Erfahrungen«. Man muss damit rechnen, so betonte er, dass die Sprache und die Denkformen der Menschen dort versagen, wo sie sich nie bewähren mussten. Unser Denken ist deshalb offenzuhalten, damit wir auch in die Bereiche vor dringen können, die nicht unserer direkten Erfahrung zugäng lich sind.
Die Kopenhagener Deutung
Die philosophische Interpretation, die Bohr zusammen mit Werner Heisenberg der neuen Physik in den 1920er-Jahren gab, kann kurz durch die Begriffe »Unbestimmtheitsrelationen« und »Komplementarität« charakterisiert werden. Man bezeichnet sie heute als Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik, weil sie an dem Institut für Theoretische Physik entwickelt wurde, dessen Errichtung Bohr 1920 in seiner Heimatstadt durchgesetzt hatte. Mit dieser Forschungseinrichtung erhielt die neue Wissenschaft ihr Forum. Dort kamen Physiker aus aller Welt zusammen, um die tiefge henden und weitreichenden Fragen ihres Faches zu besprechen. Dabei leitete und forderte sie Bohr mit seinen Fragen. In allen Dialogen und Seminaren blieb er immer freundlich, in der Sache war er aber unerbittlich. Bohr wurde der Sokrates unter den Phy sikern. In seinem Institut entstand der Kopenhagener Geist der Wissen schaft, das heißt, hier wurde zum ersten Mal internatio nale Team arbeit auf freier Basis verwirklicht. Bohrs Schüler gin gen fröhlich und respektlos miteinander um und bewunderten ihren Lehrer, den sie »grenzenlos liebten«.
Die Quantenmechanik, die in den 1920er-Jahren in Göttin gen, Cambridge und Kopenhagen entwickelt wurde, wird oft zu Unrecht als esoterisches Spiel von Spezialisten angesehen, das für den Laien ohne Bedeutung bleibt. In Wahrheit hat keine Wis sen schaft mehr Konsequenzen für das Denken und die Technik, für Kultur und Zivilisation als diese Physik. Ohne sie wären we der Laser denkbar noch Halbleiter nutzbar, es gäbe also keine Compact Discs und keine Computer; ohne Quantenmechanik bleibt eine chemische Bindung ohne Erklärung und damit die moderne Chemie ohne Grundlage; ohne Quanteneffekte wäre die Wis sen schaft vom Leben, die Biologie, bloß deskriptiv geblieben und hätte sich keine Molekularbiologie entwickelt. Keine Frage, die Ent stehung der Quan tenmechanik ist das wichtigste geistige Ereig nis unserer Zeit. Und Bohr hat sie ermöglicht.
Der Traum von der offenen Welt
Die Konsequenzen der neuen Physik blieben nicht auf Fragen der Erkenntnis oder Grundlagenprobleme der Wissenschaften be schränkt. Wer die Struktur der Atome verstanden hat, kann auch lernen, die Bausteine der Materie zu teilen und die hier verborgene Kernenergie freizusetzen. Diese Fähigkeit wiederum konnte zur Kon struktion von Vernichtungswaffen verwendet werden. Daraus entstand ein existenzielles Problem, als sich der Zweite Weltkrieg ausweitete. Die Physiker, die in Kopenhagen bei Bohr das Gefühl gewonnen hatten, einer internationalen Fa milie von Wissen schaftlern anzugehören, arbeiteten nun gegen einander. Bohr befand sich zwischen den Fronten. Er hatte zu beiden Seiten Kontakt und wurde von den Deutschen ebenso verehrt wie von den Engländern, Amerikanern und Russen.
Als Bohr 1943 in London von den Anstrengungen, eine Atombombe zu bauen, erfuhr, versuchte er sofort, die verantwortlichen Politiker dazu zu bewegen, die Anwendung der Bombe zu verhindern. Er dachte bereits an die Zeit nach dem Krieg und riet Winston Churchill und Franklin Roosevelt von einer Politik der Geheim haltung und einer Demonstration der Atommacht ab. Nach 1945 setzte sich Bohr in einem offenen Brief an die Vereinten Nationen für eine Ost und West umfassende und auf Ausgleich angelegte Regelung bei der Behandlung atomarer Waffen ein und beschrieb seinen Traum von einer »offenen Welt«.
Erste Gehversuche in der Physik
Bohr hat – wie kann es anders sein – Physik in seiner Heimatstadt studiert und dabei das Glück gehabt, von Beginn an daran gewöhnt zu werden, Fehler zu suchen und zu fi nden. Diese Eigenschaft ließ ihn später auch die grundlegenden Irrtümer in seiner Wissenschaft entdecken.
Während seiner Zeit an der Universität hatte ihn ein Hochschullehrer aufge for dert, sich mit den Eigenschaften von Metallen zu beschäfti gen. Bohr sollte die Vorstellungen kennenlernen, mit denen die elek trische Leitfähigkeit etwa von Kupfer verstanden werden konnte. In der damals akzeptierten Elek tro nen theorie der Metalle konnten sich die bekannten negativ geladenen Teilchen von ihren Atomen lösen und relativ frei bewe gen. Die Physik behandelte somit ein Stück Kupfer wie ein Gas aus Elek tro nen und konnte auf diese Weise mit ihren Gesetzen zum Beispiel den Strom erklären, der durch einen Draht fließt. In seiner Magisterarbeit (1909) prüfte nun Bohr, ob diese Vorstel lungen auch helfen, weitere Eigenschaften der Metalle zu verste hen. Er fand zu seiner Zufriedenheit heraus, dass er mit ihrer Hilfe die experimentell ermittelte Tatsache erklären konnte, dass eine Legierung aus zwei Metallen Strom schlechter leitet als jedes der reinen Metalle. Bohr entdeckte aber auch, dass es mit der vorliegenden Theorie keine Möglichkeit gab, die ma gnetischen Eigenschaften zu deuten, die etwa beim Eisen auftre ten. In der Theorie musste folglich ein Fehler stecken.
Bohr verstand dies als grundsätzliches Problem. Hier war man nicht einfach an einer willkürlichen Annahme gescheitert, hier hatten sich die herkömmlichen und erfolgsgewohnten Ge setze der Physik als nicht anwendungsfähig erwiesen. Wie schon bei Planck und Einstein zeigten die bewährten Gesetze Schwächen. In seiner Doktorarbeit (1911) versuchte deshalb Bohr, diese zu beheben, indem er Elektronen miteinan der in Wech sel wir kung treten ließ, ohne die grundsätz liche Annahme aufzugeben, dass sich die Elektronen und die Metallatome in einem (thermischen) Gleichgewicht befinden und Energie zwischen ihnen kontinuierlich ausgetauscht werden kann. Dass dies das Haar in der Suppe war, hatte zwar auch Planck bereits erkannt, aber noch machte man keinen allgemeinen Ge brauch von dieser Erkenntnis.
»Die kleinen Atome«
Nach seiner Promotion ging Bohr zu Rutherford. Als er in Manchester eintraf, war er von der Richtigkeit der Annahmen überzeugt, die Rutherford bezüglich des Atoms getroffen hatte. Er glaubte nämlich, dass nicht das Modell, sondern die klassische Physik falsch sei, die man bislang darauf anwendete. Woher nahm Bohr diesen Mut?
Zunächst kann man antworten, dass er seine Neugierde ein schränkte und auf genau ein Problem konzentrierte: die Frage nach der Stabilität der Atome. Den Physikern standen als Daten über die Atome Spektrallinien zur Verfügung. Das Licht, das von den chemischen Elementen ausgesandt werden konnte, setzte sich aus Komponenten bestimmter Wellenlänge zusammen, die gemeinsam das charakteristische Spektrum eines Elementes ausmachten. Jede vorhandene Wellenlänge tauchte als eine Linie im Spektrum auf, und die Physiker hofften, Einzelheiten über den Atombau aus diesen Spektrallinien ableiten zu können.
Zudem erkannte Bohr, dass Rutherfords Idee mit einem Schlag zwei fundamentale Aspekte der Materie ver ständlich machte. Denn neben der Frage nach der Stabilität erklärte das Modell, warum man zwischen physikalischen und che mischen Eigen schaften der Elemente unterscheiden konnte. Im Atomkern steck te die Physik (Radioaktivität), in der Elektronen hülle die Chemie (Reaktionsbereitschaft).
Rutherfords Atom erlaubte also, die Chemie und die Physik der Atome zugleich zu verstehen. Und seine Stabilität konnte mit den Quanten begründet werden. Das der klassischen Physik fremde Konzept hielt die Elektronen in ihrer Bahn. Wenn näm lich Elektronen ihre Energie auch nur in Form von Quanten paketen abgeben beziehungsweise erhalten können, dann ver sagt das klas sische Argument der Abstrahlung. Hier verliert nämlich eine be schleu nigt bewegte Ladung ihre Energie kontinuierlich. Das Quantum jedoch verhindert dies und schützt die Elektronen davor, in den Kern zu stürzen. Kurz, es stabilisiert die Materie.
Indem er die Wirklichkeit der Quanten anerkannte, erzwang Bohr einen weiteren revolutionären Schritt. Bevor er sein Modell vorschlug, hatten die Physiker ganz selbstverständlich angenom men, dass die Frequenzen des Lichtes, das Atome aussendet, sol che Frequenzen sind, die im Atom wirklich existieren, nämlich als Frequenz der umlaufenden Elektronen. Wenn aber das Quantum die Elektronen in ihrer Bahn halten sollte, durften die stabilen (sta tio nären) Elektronen gerade nicht strahlen. Die Abgabe der Energie erfolgte in Bohrs Modell nur beim Übergang von einer Quan ten bahn zur nächsten. Damit wurde ein physikalischer Vorgang selbst diskontinuierlich. Eine Konsequenz hieraus be steht darin, dass die Fre quenz des Lichtes nicht von der Frequenz des Elektrons ab hängt. Diese Einsicht ist eine große Errungen schaft des Bohr’schen Modells.
Bohrs Beschreibung der Atome wirkt wie das Produkt einer gespaltenen Persönlichkeit. Erst tritt der klassische Physiker Bohr auf. Er berechnet die möglichen Umlaufbahnen der Elek tronen, wie man dies für die Umlaufbahn eines Satelliten kennt. Danach zieht sich dieser Bohr zurück, und seine Quantenhälfte tritt in Er scheinung. Er betrachtet die ausgerechneten Bahnen, sucht sich diejenigen aus, die ihm (und auf die Natur) passen, und erklärt die hier befi ndlichen Elektronen für stabil, solange sie nicht gestört werden. Solch eine Umlaufbahn konnte durch eine sogenannte Quantenzahl festgelegt werden. Wenn Elektronen auf eine andere dieser zugelassenen Bahnen springen, können sie ein Quantum Energie abgeben, das als Photon entweicht. Damit ergänzte Bohrs Theorie die Lichtquantenhypothese von Ein stein, das heißt, die Quantensprünge machten die Hypothese nun zu einer Folgerung.
War diese schizophrene Theorie auch Wahnsinn, so hatte sie doch Methode, und die Physiker mussten mit ihr leben.
Sie ka men am besten dann zurecht, wenn sie sich konsequent an den klas si schen Ergebnissen orientierten und vorsichtig tastend in die Quan ten welt aufbrachen. Es dauerte aber weitere zwölf Jahre, bis die letzten beiden Stufen auf dem Weg in die atomare Wirklichkeit erklommen und ein tieferes Verständnis dieser Quantenspringerei erreicht wurde.
Kopenhagener Gründungen
Als Bohr sich mitten im Umsturz der alten Physik befand, suchte er einen festen Halt für sein Leben. Im August 1912 fuhr er nach Kopenhagen, um seine Verlobte Margarete zu heiraten. Die Hochzeit war schon lange geplant, ebenso die Hochzeitsreise nach Norwegen, die allerdings ausfallen musste. Zu viele unvoll endete Manuskripte warteten in England auf ihre Fertigstellung. Rutherford hatte dringend geraten, wenigstens eine Arbeit abzu schließen. Mit Margaretes Hilfe kam Bohrs Niederschrift voran. Seine Frau wurde seine wichtigste Mitarbeiterin. Was vorher im mer wieder steckengeblieben war, lief nun wie von selbst. Niels konnte diktieren, Margarete schrieb, nicht ohne den Stil zu verbessern, und innerhalb kürzester Zeit wurde die angefangene Arbeit über das Eindringen von Alphateilchen in Materie druck reif. Nun blieb auch Zeit für eine Reise – allerdings nach Schottland. So harmonisch, wie das gemeinsame Leben der Eheleute begonnen hatte, blieb es mehr als ein halbes Jahrhundert lang. Große Belastungen führ ten die Bohrs mit Ausdauer und Geschick zu einem guten Ende. Die Ehe kann als glücklich bezeichnet werden. Erst durch den Tod von Niels wurde das Paar getrennt – kurz nachdem Goldene Hochzeit gefeiert werden konnte.
Das Leben der Bohrs spielte sich in Kopenhagen ab. Im Sommer 1916 war Niels zum ersten Professor für Theoretische Physik in Dänemark ernannt worden. Damit war er aber noch nicht ganz zufrieden. In Manchester hatte er gemerkt, wie wichtig es für einen Wissen schaftler ist, in einem Institut zu arbeiten, in dem die Chancen groß sind, jemanden zu finden, mit dem man regelmäßig und mit Gewinn über offene Fragen diskutieren konnte. Bohr wollte ein solches Zentrum der Physik in Kopenhagen schaffen, und am 18. April 1917 schlug er der Fakultät für Mathematik und Physik an seiner Universität vor, ein Institut für Theoretische Physik zu grün den. Dort sollte natürlich der Schwerpunkt auf der Theorie liegen. Aber Bohr verlangte zugleich, dass man auch experimentieren kön nen sollte, und so wurde von Anfang an ein technisch hochwertig aus ge stat tetes Institut geplant. Bohr war fest entschlossen, ein Haus für eine wissenschaftliche Familie zu bauen, und es ist ihm gelungen. Das Institut steht bis heute und bereichert die Wissenschaft und damit die Menschen.
Bohrs Bemühungen, ein Institut für Theoretische Physik zu gründen, fanden während des Ersten Weltkriegs statt, was finanzielle Probleme mit sich brachte. Aber alte Schulfreunde wussten Rat. Sie gründeten ein Komitee und organi sierten mit dessen Unterstützung eine private Sammelaktion. Sie verwiesen auf die Verantwortung neutraler Staaten und die wirt schaft liche Bedeutung der Atomforschung, setzten den Minister für Bildung unter Druck und erreichten auf diese Weise, dass am 1. November 1918 die Baugenehmigung erteilt wurde. Als die dänische Krone an Wert verlor, griff zuletzt noch die Carlsberg-Stiftung ein. Sie schloss alle finanziellen Lücken. Im Januar 1921 zog Bohr in sein Haus der Wissenschaft ein. Seine erste Tätigkeit bestand darin, einen Brief an Ruther ford zu schreiben, um ihn zur offiziellen Einweihung einzuladen, was der Neuseeländer enthusiastisch akzeptierte.
Privat bezogen die Bohrs eine Wohnung im ersten Stock des Instituts und hielten sie von Anfang an offen für die Mitarbeiter. So ent stand von Beginn an das Gefühl familiärer Zusammengehörig keit. Bohr förderte private Kontakte, da er wissenschaftli ches und privates Leben nicht trennen wollte. Im Gegenteil, man sollte sich im Labo ratorium so wohlfühlen wie zu Hause. In dieser Atmosphäre wurde Teamwork selbstverständlich. Bohr fühlte sich glücklich. In einem Brief an Paul Ehrenfest definierte er genauer, was er un ter Glück ver stand (Original auf Deutsch): »Die einzige Definition des Glückes, mit dem ich zufrieden bin, und deren Richtigkeit ich in manchen Verhältnissen sehr stark gefühlt habe, ist aber, dass es einem besser geht als er verdiene, und wie gut es in diesen Verhältnissen passt, brauche ich nicht näher zu sagen.«
Die Idee der Komplementarität
Bis zum Sommer 1925 war den Physikern klar geworden, dass es Fragen gab, die nicht eindeutig zu beantworten waren, sondern eine Doppeldeutigkeit zuließen. Nicht nur die Frage, ob Licht aus Par tikeln besteht oder sich wellenartig verhält, konnte nicht entschieden werden. Dasselbe galt für Elektronen, was als Dualität der Materie für Verwirrung sorgte. Bohr erkannte, dass diese Situation eine durchgreifende Revision der Be griffe, die in der Physik verwendet wurden, erforderte – und hielt gedanklich inne. In den kommenden zwei Jahren publizierte er nichts. Seine Arbeitskraft widmete er dagegen vor allem den Gesprächen, die er in Kopenhagen besonders intensiv mit Heisenberg und Pauli führte. Im Mai 1926 zog Heisenberg nach Kopenhagen, um mit Bohr gemeinsam eine physikalische Deutung der neuen Quanten mechanik zu finden. Natürlich wohnte er im Institut; so konnten der Lehrer und sein Schüler bis tief in die Nacht diskutieren. Sie taten es bis zur Erschöpfung, die im Februar 1927 erreicht war. Dann brach Bohr zu einem vierwöchigen Skiurlaub nach Norwe gen auf – es wurden die längsten Ferien seines Lebens –, und hier kam ihm die entscheidende Idee zur Deutung der Quan tenmechanik. Bohr fiel plötzlich auf, dass mit den verschiedenen sich widersprechenden Bildern (Welle und Teilchen) nicht dieselben Phä nomene beschrieben werden. Vielmehr teilt man mit ihrer Hilfe Erfahrun gen mit, die unter sich gegenseitig ausschließenden Versuchsbedingungen gemacht wor den sind. Bohr schlug deshalb vor, sol che Erfahrungen als »komplementär« zu bezeichnen. Ein neuer konzeptioneller Rahmen war gefunden.
In allgemeiner Form lässt sich Bohrs Idee der Komplementarität folgendermaßen beschreiben: Beobachtungen wer den durch experimentelle Anordnungen defi niert. Einige dieser An ord nungen können nicht gleichzeitig angewendet werden. Die in diesen Versuchen gemachten Erfahrungen stehen in einer kom ple mentären Beziehung zueinander. Jede einzelne stellt einen gleichwertigen Aspekt der vollständigen Information dar, die erhalten werden kann. Zu jeder Beschreibung von Wirklichkeit gibt es eine zweite, die mit der ersten gleichberechtigt ist, obwohl sich beide widersprechen.
Um dies am Beispiel von Welle und Teilchen zu verdeutlichen: Welle und Teilchen sind zwei Bilder, die sich einerseits gegenseitig ausschließen – wenn das eine ange wandt wird, kann nicht zugleich das andere angewandt werden –, aber andererseits auch bedingen; denn keines der beiden Bilder genügt für sich allein. Die Wirklichkeit, die also die Quanten theorie beschreibt, können wir uns prinzipiell nicht mehr eindeutig an schaulich vorstellen. Sie muss deshalb durch zwei zueinander komplementäre Bilder beschrieben werden.
In aller Öffentlichkeit hat Bohr diesen Gedanken zum ersten Mal im Herbst 1927 vorgestellt, als er auf einer Tagung in Como sprach, die dem Andenken an Alessandro Volta gewidmet war. Bohr hatte den ganzen Sommer über intensiv an dem Manuskript sei ner Rede gearbeitet, immer wieder neue Fassungen diktiert und die alten verworfen. Dies war bei Bohr ein quälend langsamer Prozess, der vermutlich mehr Schaden als Nutzen bewirkte. Bohr drehte und wendete seine Formulierungen so lange, bis er sicher war, dass sie nicht zu widerlegen waren. Deshalb verunglückte auch der erste Satz, mit dem sein neuer Begriff »Komplementarität« vorgestellt wurde. Das entscheidende Wort erscheint unvermittelt, es ist versteckt und kaum zu erkennen. Komplementarität wird weder defi niert noch als wichtig hervor gehoben: »Nach dem Wesen der Quantentheorie müssen wir uns also damit begnügen, die Raum-Zeit-Darstellung und die Forderung der Kausalität, deren Vereinigung für die klassischen Theorien kenn zeichnend ist, als komplementäre, aber einander ausschlie ßen de Züge der Beschreibung des Inhalts der Erfahrung aufzu fassen, die die Idealisation der Beobachtungs- bzw. Defi ni tionsmög lich keiten symbolisieren.«
Max Delbrück, einer der späteren Mitarbeiter von Niels Bohr, wurde einmal beim Lesen eines Bohr-Manuskriptes voller Schachtelsätze so gereizt, dass er ihm »ein Verbrechen am Lesepublikum« vorwarf; was Bohr da treibe, sei sinn los. Niemand könne jemals aus den Texten herausholen, was er alles hineingesteckt habe. Dem kann man nur zustimmen und trotzdem versuchen, einfacher zu sagen, was Bohr mit dem zitierten Satz ausdrücken wollte: Was in einem Experiment ge schieht, wird von uns hergestellt und registriert. Es muss davon also eine Raum-Zeit-Beschreibung geben. Zu einem Experi ment gehört auch die gewohnte Kausalität; denn wie sollten wir sonst aus dem Messergebnis auf den Zustand des untersuchten Objekts schließen? Im Rahmen der klassischen Physik sind beide Be dingungen miteinander vereinbar, in der Quantentheo rie hin gegen sind Kausalität und Raum-Zeit-Beschreibung komple men tär zueinander. Dies zeigen die Erfahrungen, die mit den Expe ri men ten an atomaren Bausteinen unternommen wor den sind.
Übrigens – Komplementarität hängt direkt mit dem Problem der Spra che zusammen. Dies wurde Bohr klar, als er Ende 1927 aus Como zurückgekehrt war und auf einer Segeltour alten Schul- und Studienfreunden von der neuen Idee erzählte. »Das ist ja alles schön und gut, Bohr«, sollen sie ihm geantwortet haben, »aber du kannst doch nicht bestreiten, dass du das alles vor zwanzig Jahren auch schon gesagt hast.« Mit anderen Worten: Bohrs Denkfi gur »Komplementarität« war älter als das physikalische Modell, auf das er sie anwenden wollte. Komplementarität ist offenbar eine ganz allgemeine Er fahrung, die man beim Denken machen kann, wenn man es ernst meint.
Der Geist von Kopenhagen
Es ist immer einfach, ein Ganzes in Teilen darzustellen. Auch in Bohrs wissenschaftlichem Leben kann man Perioden entdecken und sich jeder einzelnen zuwenden. Mit dem Vortrag über die Komplementarität kam die zweite von vier Phasen zu ihrem Abschluss. Die erste Periode hatte 1912 bei Rutherford in Manchester begonnen und zehn Jahre später am Blegdamsvej geendet. In dieser Zeit war es gelungen, die Stabilität der Ele mente und ihre Anordnung in einem Periodensystem in den theoretisch-physikalischen Griff zu bekommen. Der Triumph dieser Phase bestand darin, dass man die Besonderheit einer chemi schen Substanz, ihre Qualität, auf die Zahl der Elektronen in einem Atom reduzieren konnte, auf eine Quantität also. Das Verständnis des Erfolges gelang in der zweiten Periode. In ihr entstand die Quantenmechanik, und eine Deutung dieser Theorie wurde erarbeitet. In der dritten Phase – sie reichte bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – standen (philosophisch) die Lehren dieser Interpretation und (physikalisch) die Struktur des Atomkerns im Mittelpunkt. In der abschließenden vierten Phase wurde Bohr zum geistigen und moralischen Oberhaupt der Physiker.
Während die erste Periode durch monumentale Publikationen Bohrs bestimmt wurde, konzentrierte Bohr sich in der zweiten Phase auf die Anregung einer internationalen Zusammenarbeit. Bohr ermöglichte in seinem Institut den Geist von Kopenhagen. Seine Mitarbeiter gingen ungewöhnlich offen und locker miteinander um. Bohr überwand bewusst die Trennung von privatem und wissenschaftlichem Leben. Er hielt seine Wohnung für alle Mitarbeiter offen, und man disku tierte bis spät in die Nacht, versorgt mit belegten Broten aus Margaretes Küche. Man gehörte und blieb zusammen.
Zu dem Geist von Kopenhagen gehört natürlich auch die große intellektuelle Anspannung, die mit den Schwierigkeiten der neuen Physik zusammenhing. Sie machte sich oft in Witzen Luft. Besonders zwei Russen, die wir noch genauer kennenlernen werden, heckten in Kopenhagen fast täglich einigen Schabernack aus und hielten den Kopenhagener Geist wach: George Gamow und Lew Landau. Bei Landau kam es vor, dass er sich während einer Diskussion auf den Boden legte, um sich auszu strecken. Bohr fühlte sich dadurch nicht irritiert – er ging einfach in die Knie und beugte sich tiefer nach unten, um das Gespräch fortzusetzen. Gamow, der gerne Hüte in flüssiges Helium steckte und anschließend zerkleinerte, um Bruchstücke davon als Postkarten zu verschicken, überredete Bohr eines Tages zu einem Kinobesuch. Man sah einen amerikanischen Wildwestfilm und diskutierte anschließend, wieso immer der gute Held den Bösewicht erlegt, wenn es zum Shoot-out kommt. Bohr wusste eine Antwort: »Weil der Gute nicht denken muss!« Gamow wollte das überprüfen, kaufte zwei Spielzeugpistolen, händigte eine davon Bohr aus und band sich die zweite selbst um. Wäh rend sie nun über Physik diskutierten, versuchte Gamow, Bohr »abzuknallen«. Doch Bohr kam ihm stets zuvor, wenn Gamow seine Waffe ziehen wollte.
Bohr erklärte das so: Eine Person, die sich vornimmt zu handeln, die also denkt, agiert langsamer als eine Person, die reagieren kann, ohne nachzudenken. Schließlich hatte Bohr aber an den Wildwestfilmen doch etwas auszusetzen: »Das ist doch alles zu unwahrscheinlich! Also, dass der Böse wicht mit dem hübschesten Mädchen davonläuft, das ist logisch. Dass die Brücke unter ihrer Last zusammenbricht, ist zwar un wahrscheinlich, kann aber akzeptiert werden. Dass die hübsche Heldin mitten über dem Abgrund hängen bleibt, das ist noch un wahrscheinlicher, aber ich akzeptiere auch das. Ich nehme sogar auch noch hin, dass gerade in diesem Moment Tom Mix auf sei nem Pferd daherkommt. Was aber mehr ist, als ich akzeptieren kann, das ist die Tatsache, dass genau in diesem Moment und an dieser Stelle ein Kerl mit einer Filmkamera steht, der das alles aufnimmt.«
Einsteins Paradoxon
Der Gedanke der Komplemen tarität enthält auch einen meta physischen Aspekt, der über die Grenzen der Beobachtung hinausgeht und versucht, das Wesen der Realität selbst zu erfassen. Er besagt, dass es etwas wie ein Elektron mit gegebener Lage und gegebener Ge schwindigkeit gar nicht gibt. Mit dieser Vorstellung Bohrs konnte sich Einstein nie ab fi n den, weshalb er nach 1930 versuchte, diesen Aspekt der Komplementarität als Unsinn erscheinen zu las sen. 1935 veröffentlichte Einstein mit zwei Mitarbeitern (Podolsky und Rosen) die bereits erwähnte Arbeit über das EPR-Gedankenexperiment, die im Titel folgende Frage stellte: Kann die quantenmechanische Beschreibung der physikalischen Wirklichkeit als vollständig betrachtet werden?
Einstein hatte damals längst aufgegeben, die Quantenmecha nik als inkonsistent zu bezeichnen. Er bestritt allerdings nach wie vor, dass sie vollständig ist, und es war klar, dass seine Antwort auf seine Titelfrage »Nein« lauten musste. Von einer voll ständigen Theorie ver langten die Autoren, dass in ihr jedes Ele ment der physika lischen Realität seine Entsprechung haben muss. Das heißt konkret: Wenn man den Wert einer physikalischen Größe mit Sicher heit vorhersagen kann, ohne ein System dabei in irgendeiner Weise zu stören, dann gibt es ein Element der physikalischen Wirklichkeit, das dieser Größe ent spricht. Die Autoren zeigten dann an einem Beispiel, dass es Größen gibt, die zwar ein Element der physikali schen Wirklichkeit sind, die aber von der Quantenmechanik nicht erfasst werden, was bedeutet, dass diese gefeierte Theorie unvollständig ist.
Wie sah ihr Beispiel aus? Das EPR-Trio schlu g vor, zwei Teilchen (A und B) zu betrachten, die aufeinander zu fl iegen, zusammenstoßen und wieder auseinanderfl iegen. Für solch eine Situation erlaubt die Quantenmechanik kurioser weise, dass sowohl die Summe der Impulse als auch die Differenz (Ab stand) der Orte gleichzeitig einen festen Wert haben. Außer dem legen die Gesetze der Physik fest, wie die entsprechenden Werte vor und nach dem Zusammenstoß korreliert sind.
Nun kann ein Beobachter am Teilchen A eine Messung vor nehmen, er bestimmt zum Beispiel seinen Impuls. Mit dem oben Gesagten wird er dadurch in die Lage versetzt, mit Sicherheit den Wert des Impulses von Teilchen B vorherzusagen. Im Sinne des Einstein’schen Kriteriums entspricht dann diesem Impuls ein Ele ment der physikalischen Wirklichkeit. Analog kann man für den Ort von B argumentieren. Dies wäre aber ein Widerspruch zur Be schreibung der Quantenmechanik. Das Teilchen B kann in dieser Theorie keine festen Werte für diese Größen haben.
Als Bohr von dem Aufsatz erfuhr, ließ er alle laufenden Arbei ten ruhen. Kaum vier Monate später traf seine Antwort bei derselben Zeitschrift ein, in der Einstein sein Paradoxon publiziert hatte. Bohr ar gumentiert dabei wie folgt: Ein beobachtetes Objekt und der zu seiner Messung verwendete Apparat bilden gemeinsam eine un trennbare Einheit, die auf der quantenmechanischen Ebene nicht in Form von getrennten Teilen untersucht werden kann. Die Kombinat ion eines gegebenen Teilchens mit einer bestimmten expe ri men tellen Anordnung unterscheidet sich wesentlich von der Kom bination desselben Teilchens mit einer anderen Anord nung. Die Beschreibung des Zustands des ganzen Systems drückt eine Rela tion zwischen dem Teilchen und allen vorhandenen Mess vor richtungen aus. Mit anderen Worten, selbst wenn keine Mes sung an Teilchen B erfolgt, so ist doch sein Zustand (also die physikalische Wirklichkeit, deren Teil es ist) nicht unabhängig von der Anwe senheit des Apparates, mit dem die Messung an Teilchen A vor ge nommen wird. Daher scheitert Bohrs Ansicht nach die Beweisführung von Einstein, Podolsky und Rosen.
So argumentierte Bohr 1935 hellsichtig. Denn natürlich stört ein Beobachter von Teilchen A das andere Teilchen B nicht direkt physikalisch. Seine Messung beeinfl usst aber die tatsächlichen Bedin gungen, welche die möglichen Voraussagen über das zukünf tige Verhalten des Systems defi nieren. Da diese Bedingungen ein Element der Beschreibung jeglichen Phänomens aus ma chen, die man »physikalische Wirk lich keit« nennen kann, sehen wir, dass Einsteins Argumentation nicht gerechtfer tigt ist und die quantenmechanische Beschreibung voll ständig bleibt. Mehr wird uns nicht zugänglich.
In dieser von Bohr 1935 beschriebenen radikalen Revision der Einstellung zur physikalischen Realität deutet sich eine seltsame Korrelation an, die man mit dem Begriff »Ganzheit« kenntlich ma chen kann. Die von der klassischen Physik beschriebene Welt konnte stets in ihre Einzelteile zerlegt werden. Die Quantenwelt ist anders. Offenbar kann sie nicht völlig reduziert werden. Wenn zwei Teilchen miteinander in Wechselwirkung treten – in Ein steins Beispiel stoßen sie zusammen –, dann werden sie Teil eines physi ka lischen Systems (eines Ganzen), das nicht mehr erfasst werden kann, wenn man nur seine Einzelteile beschreibt.
Wenn wir nun nach dem Grund dafür fragen, bekommen wir eine seltsame Antwort, an die wir aber schon gewöhnt sind: Die Korrelation besteht nicht zwischen den wirklich vorhandenen Teilchen, sie besteht zwi schen den Quantenzuständen, die mit diesen Teilchen verbun den sind, genauer gesagt, zwischen den Wahrscheinlichkeitsver teilungen, die festlegen, wie die Teilchen sich verhalten können. Im Rahmen der Quantenmechanik können diese Korrelationen die Eigen schaften der Teilchen auch dann noch beein fl ussen, wenn sie selbst längst getrennt sind und nicht mehr miteinander in Wech selwirkung stehen.
Die Ganzheit zeigt sich erst recht in der besonderen Form der Wechselwirkung, die zum Messen erforderlich ist. Durch eine Beobachtung werden der Messapparat und das untersuchte System ein Ganzes. Sie sind nun nicht mehr einzeln beschreib bar, über sie können wir noch nicht einmal mit gleichen Begriffen reden. Denn, so Bohr, das zum Versuch verwendete Gerät ge horcht der klassischen Physik und muss also mit deren Konzep ten beschrieben werden. Die Teilchen selbst gehorchen aber der Quantenphysik. Wenn wir also über ein Experiment reden, müssen wir etwas tun, was wir nicht dürfen, nämlich trennen, was ein Ganzes ist. Durch diese eigentlich verbotene Trennung verlieren wir In formationen. Wir kennen nur noch die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Quantenobjekt etwas tut. Dennoch bleibt unsere Be schreibung des Systems nach Bohr vollständig, wenn wir die ex perimentelle An ordnung, mit der wir die Teil chen analysieren, in sie mit einbeziehen. Die wichtige Konsequenz, die hieraus zu zie hen ist, macht den er wähnten metaphysischen Aspekt der Komplementarität deut lich: In der Quantenmechanik kann man nichts über ein indi vi du el les Teilchen (zum Bei spiel ein Elektron) sagen, das nicht beobachtet wird und ohne jede Wech selwirkung existiert. Ein isoliertes Teilchen gehört nicht zur physikalischen Wirklichkeit. Es bleibt sinnlos, von seinem Zustand zu sprechen. Es hat gar keinen.
Diese kuriose Ganzheit der Quantenzustände mehrerer Teil chen ist heute eine gesicherte Tatsache. Sie wurde im Versuch nach gewiesen. Man hat weder Einstein noch Bohr, man hat die Natur selbst gefragt. Und sie hat geantwortet.
So seltsam es auch zu sein scheint, Bohr hatte recht gehabt. Dass dies von einigen Phi lo sophen heute noch bestritten wird, hätte Bohr nicht ge wundert. Das reine Denken ist eben nur eine von zwei kom ple men tären Möglichkeiten, wie man von der Wirklichkeit lernen kann. Zum Begriff gehört eben die Anschauung, wie an dieser Stelle konkret zu spüren ist.
Der Weg zur experimentellen Prüfung der Ganzheit wurde übrigens durch eine Entdeckung des schottischen Physikers John Bell aus dem Jahre 1964 möglich, also zwei Jahre nach Bohrs Tod.
Eine Erfahrung beim Spülen
Als Bohr in der Mitte der 1930er-Jahre mit Einstein über die Vollständigkeit der Quantentheorie stritt, waren zwar in Deutschland die Nazis bereits an der Macht, aber noch konnte sich die Physik als ungefährlicher Spielplatz für Ideen und intellektuelle Abenteuer verstehen. Niemand dachte bislang an militärische Anwendungen. Bohr fuhr sogar noch auf Einladung Heisen bergs zum Skilaufen nach Deutschland. Heisenberg hatte bei der Renovierung einer bayerischen Almhütte am Südhang des Gro ßen Traithen mitgeholfen und als Gegenleistung das Recht erbe ten, sie im Winter als Skiunterkunft nutzen zu können. Als Bohr hier zusammen mit seinem Sohn Christian und Physikern wie Felix Bloch und Carl Friedrich von Weizsäcker einige Tage verbrachte, war alles für eine wunderbare Anekdote bereitet.
Bei der Verteilung der abendlichen Pflichten – Kochen und Spülen – wurde Bohr eines Tages mit dem Abwasch beauftragt. Er machte sich ans Werk und sah am Ende nachdenklich auf das saubere Geschirr. Verwun dert stellte er fest: »Dass man mit schmutzigem Wasser und einem schmutzigen Tuch schmutzige Gläser sauber machen kann – wenn man das einem Philosophen sagen würde, er würde es nicht glauben.«
Diese Küchenweisheit war nicht gegen die philosophische Denkweise gerichtet, die viel zu sehr seiner eigenen Ein stellung entsprach. Bohrs Überlegung wollte aber verdeutlichen, dass die Annahme falsch ist, beim Denken könne man mit klaren Begrif fen beginnen und sich zur Wahrheit vorarbeiten. Tatsächlich ste hen uns zunächst nur unklar definierte Begriffe zur Verfügung, wir verwenden weiter ungenaue experimentelle Ergebnisse, und wir formulieren unser Ergebnis in einer Sprache, deren gramma tische Regeln wir nur ungenügend durchschauen. Dennoch machen wir Fortschritte – etwa in der Physik. Wir erken nen die atomaren Phänomene, unsere Begriffe werden im Verlauf einer wissenschaftlichen Analyse schärfer. Bohr hielt es geradezu für das Charakteristikum der Naturwissenschaften, hier nicht von vorn herein die Hoffnung aufgeben zu müssen, dass die Be griffe am Ende etwas klarer sind als am Anfang.
Die Gefahr des Atoms
Die Zeit für solche Überlegungen war bald vorbei. Am Ende der 1930er-Jahre war die Kernspaltung entdeckt und von Lise Meitner verstanden worden. Man musste annehmen, dass nun Atomwaffen entwickelt würden. Die Vorstellung, sie in den Händen Hitlers zu sehen, wurde für viele Physiker zum Albtraum, als deutsche Truppen große Teile von Europa besetzt hielten, englische Städte bombar dierten und auf Moskau zumarschierten. Bohr hielt allerdings noch zu Beginn der 1940er-Jahre Kernexplosionen für mi litärisch wertlos. Er konnte nicht wissen, dass in den USA bereits der erste Kernreaktor in Betrieb genommen worden war und die Trennung der Uranisotopen vorbereitet wurde, die für eine Bombe nötig ist. Wissenschaft war weltweit zur Geheimsache geworden.
So war Bohr kaum noch auf dem Laufenden, was in Amerika gemacht wurde, und er wusste noch viel weniger, wie weit die Deutschen waren. Musste man damit rechnen, dass Deutschland versuchte, eine Atom bombe zu bauen? Wenn Bohr geahnt hätte, wie ausschließlich die Naziregierung auf Projekte setzte, die unmittelbar im Krieg verwendet werden konnten, hätte er sich keine Sorgen gemacht. Ein Uranprojekt kam dafür nicht infrage. Doch ohne jede Informa tion musste Bohr natürlich fürchten, dass an Kernwaffen gearbei tet wurde. Das Einzige, was er sicher kannte, war die Qualität der deutschen Physiker: Sie hatten alle bei ihm gelernt.
So schwankte Bohr in seiner Beurteilung der Gefahr, als er im September 1941 überraschenden Besuch aus Deutschland er hielt. Ein deutsches wissenschaftliches Institut in Kopenhagen hatte eine astrophysikalische Arbeitswoche organisiert und dazu Heisenberg eingeladen, der zusammen mit von Weizsäcker in das besetzte Dänemark reiste. Heisenberg hatte kurz nach Aus bruch des Krieges den Auftrag erhalten, zusammen mit anderen Physikern die Nutzbarkeit der Kernenergie zu erkun den. Als er sich auf den Weg nach Kopenhagen machte, war der deutsche Uranverein zu der Ansicht gekommen, dass Kernwaffen zwar im Prinzip gebaut werden könnten, dass aber der Aufwand dafür zu groß sei. Vielleicht, so zumindest hoffte Heisenberg im Herbst 1941, war man in Amerika zu ähnlichen Ansichten gekommen, und vielleicht war es den Physikern daher noch möglich, selbst »zu entschei den, ob der Bau von Atombomben versucht werden solle oder nicht«.
Heisenberg wollte die Einladung nach Kopenhagen zu einem Gespräch mit Bohr nutzen. Er hoffte, Bohr könne immer noch zwischen den ehemals befreundeten und nun verfeindeten Physi kern vermitteln. Die beiden Begründer der Kopenhagener Deu tung der Quantenmechanik erörterten das schwierige Thema der Atomwaffe bei einem Spaziergang. Was wurde dabei gesagt?
Wir wissen es nicht. Wir haben aber inzwischen ein Theaterstück – Kopenhagen von Michael Frayn –, das mit großem Erfolg weltweit aufgeführt wird und in dem mehrere Möglichkeiten angeboten werden, wie das Gespräch zwischen Bohr und Heisenberg verlaufen sein könnte. Vielleicht kann nur das Theater und nicht die Wissenschaftsgeschichte herausfinden, was Bohr und Heisenberg wirklich miteinander geredet haben.
Heisenberg selbst berichtet in seinen Erinnerungen, dass er das Gespräch mit einer vorsichtigen Andeutung darüber begonnen habe, dass Atombomben konstruiert werden können. Dies war sicher ein schwerer Fehler. Bohr musste ent setzt reagieren. Sein Land litt schon genug unter der deutschen Besatzung, und nun sprach sein bester und ehrgeizigster Schüler von der Mög lich keit, eine Atombombe zu bauen, die einen länger dauern den Krieg zu Deutschlands Gunsten entscheiden könnte. Dies jedenfalls entnahm Bohr Heisenbergs Äußerungen, wie Mitglie der der Familie berichteten, zu denen ein tief besorgter und betrof fener Bohr nach dem Spaziergang zurückkehrte.
Für eine offene Welt
Bohr hat sich immer wieder bemüht, seine Vorstellungen von einer offenen Welt durchzusetzen. Nur in ihr sah er die Sicherheit aller Staaten garantiert. Im Jahre 1950 unternahm er einen letzten Versuch. Ein Jahr nach der Gründung der NATO und des Warschauer Pakts wandte er sich an die Weltöffentlichkeit. Bohr schrieb einen offenen Brief an die Vereinten Nationen, den er auf einer Presse konferenz verlesen wollte. In ihm heißt es unter anderem: »Da es für die Menschheit kaum infrage kommt, auf die mög liche Verbesserung der materiellen Verhältnisse der Zivilisation durch Atomenergiequellen zu verzichten, ist offenbar eine tief grei fende Anpassung der internationalen Verhältnisse notwen dig, falls die Zivilisation weiterleben soll. Der entscheidende Punkt hierbei ist, dass jede Garantie dafür, dass die Fortschritte der Wissenschaft nur zum Nutzen der Menschheit angewandt werden, die gleiche allgemeine Haltung voraussetzt, die für die Zusammen arbeit zwischen den Nationen in allen kulturellen Be reichen unent behrlich ist. Das höchste Ziel muss eine offene Welt sein, in der jede Nation sich allein durch ihre Beiträge zur gemeinsamen menschlichen Kultur und durch die Hilfe behaupten kann, die sie durch ihre Erfahrungen und Hilfsmittel den anderen zu leisten vermag. Bei spiele hierfür können jedoch nur wirkungsvoll werden, falls man Schranken aufgibt und freie Diskussion über kulturelle und so ziale Fragen über Landesgrenzen hinweg zulässt. (…) Die Entwicklung der Technik hat jetzt ein Stadium erreicht, in dem die Kontaktmöglichkeiten die ganze Menschheit zu einer zusammenarbeitenden Einheit zu verbinden vermögen, aber zu gleich verhängnisvolle Folgen für die Zivilisation entstehen kön nen, wenn nicht internationale Meinungsverschiedenheiten durch Verhand lungen auf Grundlage des freien Zugangs zu Informatio nen über alle diesbezüglichen Fakten überwunden werden können. Gerade die Tatsache, dass das Wissen selbst die Grundlage je der Zivilisation ist, weist unmittelbar auf Offenheit als Weg zur Überwindung der jetzigen Krise hin. Welche rechtlichen und ad ministrativen internationalen Behörden man auch immer zu schaffen genötigt sein wird, um die jetzigen Verhältnisse in der Welt zu stabilisieren, es ist klar, dass nur vollständige gegenseitige Offenheit wirkungsvoll das Vertrauen zueinander fördern und gemeinsame Sicherheit garantieren kann.«
Als Bohr 1962 starb, ging ein heroisches Zeitalter der Wissen schaft zu Ende. Bohr war zu seinen Lebzeiten eine Legende ge worden. Die Historiker der Wissenschaft sammelten seine Briefe und baten ihn um Interviews. In seinem letzten Gespräch am 17. November 1962 erzählte Bohr davon, wie offensichtlich doch die Vorstellung der Komplementarität sei. Er äußerte sich zuversichtlich, dass sie eines Tages den Schulkindern einleuchten würde. Seine Äußerungen sind auf Tonband festgehalten worden. Wer es abspielt, hört eine sanfte Stimme, die eine leise, aber eindrückliche Melo die zu singen scheint: »You know, it is very obvious.« Am Sonntag nach diesem Interview – es war der 18. November – plante Bohr, am Abend mit Freunden zu feiern. Am Nach mittag legte er sich hin, um ein wenig zu schlafen. Er ist nicht mehr aufgewacht.